Heinrich von Petersberg

Heinrich von Petersberg
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Описание книги

"Wenn man will, geht viel." 1936, Heinrich, der Bub eines Häuslers von Petersberg, wird als fünftes Kind geboren. Im Schauflerhäusl, inmitten des Mühlviertels, war der Hunger ständig da ‒ eine Familie satt bekommen? In der damaligen Zeit schwierig. Es fehlt an Brennholz, warmer Kleidung und Schuhen. Dazu kommen Familienprobleme. Das ehemalige oft hungrige Kind Heinrich, der arbeitsame Hüterbub beim Besl, der fleißige Besenbinder und Netzwerker, der Alteisenhändler, der Händler von Museumsstücken, schlussendlich der Gastwirt ‒ er hat mit Fleiß, Mut und Ehrgeiz eine gute Basis geschaffen. Die wahre Lebensgeschichte von Heinrich ‒ eine ungeschönte und berührende Zeitreise bis ins Jahr 2019, mit kritischen Betrachtungen der heutigen Zeit kombiniert.

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Maria Weißböck. Heinrich von Petersberg

Impressum

Teil 2. Gab es Not, gibt es heute Überfluss. Sehr viel Überfluss. Die Einkaufszentren quellen über. Kommt Heinrich zufällig in einen Lebensmittelsupermarkt, fragt er sich, wer das alles kauft. Links und rechts der Gänge findet sich stapelweise Essen. Essen, das er nicht kennt, Essen, das er nicht braucht. Und Verpackung. Verpackung und nochmals Verpackung. Allein besucht er so ein halbes Fußballfeld großes Geschäft nicht. Er geht nur mit, wenn er jemanden da hin fährt. Der Parkplatz ist voll. Leute streben, mit vollgeladenen Einkaufswägen, auf ihre Autos zu. Drinnen Stau vor den Kassen. Eiliges Schlichten einer Unmenge Waren auf das Förderband. Noch ist nicht alles wieder im Einkaufswagen gelandet, präsentiert die Kassiererin schon die Rechnung und wünscht einen schönen Tag. Waren einladen in den Einkaufswagen, schnell ausladen auf’s Förderband, wieder, – fast hinein werfen –, in den Einkaufswagen, ausladen ins Auto, ausladen aus dem Auto, schlichten in Vorratskästen und auf Stellagen. Wenn seine Mutter diesen Unfug sähe. Er hat sein Geschäft, wo er einkauft. Auch ein Markt, aber überschaubar. In St. Johann gibt es seit 2018 kein Geschäft mehr, wie in vielen ähnlich großen Orten schon länger. Verdrängt von den Supermärkten. Verdrängt von gedankenlos Einkaufenden. Abgewürgt von zu viel gekauften Lebensmitteln, von denen nicht wenige verderben und entsorgt werden. In Wien zum Beispiel soll täglich so viel Brot im Biomüll landen, wie die Menschen in Graz an einem Tag kaufen. Unzählige, verlockende Angebote, nach denen fast automatisch gegriffen wird, die weder geplant noch notwendig sind. Vieles lagert dann zuhause. „Ah, ja, das liegt auch noch da. Das gehört auch verbraucht“, bleibt aber noch liegen. Oft zu lange. Ist wirklich so viel zu gewinnen bei den großen Packungen und den kleineren Preisen? Eigentlich nur die öde Ruhe in den Orten! Das verlorene Miteinander, das uns gut tat. Auch Kaufhaus Krauck, Gemischtwarenhandel, ist geschlossen. Heinrich weiß den Werdegang dieses Geschäftes und hat seit seiner Geburt auch eine besondere Beziehung dazu. Der Lehner Franzl, der als Bub die Nachricht wegen der Hebamme vergaß, war der Sohn des Gründer-Ehepaares. Das erste Geschäft befand sich in Petersberg. Zwischen 1920 und 1930 erwarben die Lehners dort das Häusl Nr. 18 und begannen einen Gemischtwarenhandel, der florierte. Sie waren bekannt als freundlich und hilfsbereit. Herr Lehner befasste sich auch mit allen möglichen anderen Arbeiten, während seine Frau das Geschäft bediente. Bekannt wurde er als Zahnzieher. Klagte ein Kunde über nicht mehr ertragbare Zahnschmerzen, setzte er diesen neben eine offene Tür, band einen widerstandsfähigen Faden um Zahn und Türschnalle. Noch bevor der Schmerzgeplagte Einwand erheben konnte, schlug er die Tür zu und weg war der Zahn, zumindest, wenn er schon etwas gelockert war. Später verkaufte das Ehepaar das Häusl wieder und erwarb ein Haus im Ortszentrum von St. Johann. Dort führten sie zusammen mit Tochter Fannie das Geschäft weiter, auf die es auch überging. Diese heiratete Herrn Alfred Krauck. Tochter Regina führte das Geschäft bis zu ihrer Pensionierung 2018 weiter. Die geschlossenen Geschäfte fehlen in den Orten. Das, was fehlt, ist in Supermärkten nicht zu finden „Diese und andere Begebenheiten hat meine Mutter erzählt“, sagt Heinrich. Der Vater war also zu dieser neuen Bekanntschaft gezogen. Diese hatte schon einige Kinder, jedes von einem anderen, so hinter vorgehaltener Hand. Danach etwas lauter: „Kinder können ja nichts dafür.“ „Nein, die Kinder nicht, auch nicht wirklich die Frau. Wo sind die in Verantwortung stehenden Väter geblieben?“ Schwanger sei sie, hatte sie Herrn Grünzweil mitgeteilt, und zwar von ihm. Das kleine alte Haus an der Straße, das sie gemietet hatte, war total heruntergekommen. An einigen Fenstern gab es statt Glas vorgespannte Fetzen. Leicht hatte es diese Frau bestimmt auch nicht. Heinrichs Vater erfuhr, es gebe einen nicht all zu weit entfernten Hof zu bewirtschaften. Auch die entsprechenden Wirtschafts- und Wohngebäude seien vorhanden. Herr Grünzweil, der auf seinen Wanderwegen als Händler einiges verdient hatte, nahm diese Gelegenheit wahr, kaufte ein paar Kühe, vergaß die Familie und lebte dort sein neues Leben mit der neuen Frau. Diese hatte eine Nachbarin, mit der sie sehr vertraut war. Die eine wusste alles von der anderen, bis auf das, was eben jeder Mensch in sich verschließt. Und jede behielt das Anvertraute solange für sich, bis sie meinte, aus Wut ein scharfes Geschoss zu brauchen. Anvertraute Geheimnisse können zu einer vernichtenden Waffe mutieren. Mit sechzehn Jahren wechselte Heinrich zu einem größeren Bauern nach St. Veit, zum Staffenberger in Keppling, der sich einen Knecht leisten konnte. Ein Aufstieg. Er war nicht mehr Hüterbub. Dort gab es bereits drei Pferde für die Arbeit anstelle von Ochsen und es gab Lohn, der aber eher klein ausfiel, Wohnen und Essen gehörten zum Verdienst. Den zwölfjährigen Bruder Adolf, der 1940 auf die Welt gekommen war, holte er zu sich, damit auch dieser genug zu essen hatte, das er sich natürlich verdienen musste, ähnlich wie Heinrich seinerzeit. So ein Kleiner arbeitete schon recht vielseitig, wie helfen beim Ausmisten im Stall, Mist und das verschmutzte Stroh in den Schubkarren laden, auf den Misthaufen vor dem Stall schieben, drei Mal die Woche auf dem Heuboden mit einer dieselbetriebenen Schneidmaschine Heu und Stroh schneiden, dieses durch die Futterlücke in den Stall hinunter werfen, Tiere putzen, Wasser und Holz ins Haus bringen, den Hof kehren, dieses da hintragen und jenes dort und natürlich das Vieh hüten. Mähen mit der Sense musste er nicht mehr, wie damals Heinrich. Der Bauer besaß bereits eine Mähmaschine mit einem seitlichen Balken, die von Pferden gezogen wurde. Auch der Knecht musste nicht mehr übers Feld laufen, er saß auf der Maschine und lenkte von dort die Pferde. Die Pferde beim Bauern Staffenberger empfand Heinrich als wirklichen Fortschritt gegenüber den Ochsen. Weniger störrisch waren sie und bewegten sich schneller. Anstelliger verhielten sie sich, ob auf Wiesen, Feldern oder im Wald. Für Einkauf und Verkauf zogen sie flott den Wagen. Heinrich, der gut sechzehnjährige Knecht, bekam die Aufgabe übertragen, mit Kornsäcken zur Schwentmühle zu fahren, unterwegs beim Hufschmied Halt zu machen, eines der beiden angespannten Pferde brauchte neue Hufeisen. Eine dreiteilige eiserne Egge hievte er auch noch auf die Säcke, der Schiefermühlner Schmied möge sie reparieren. Die erste Station war die für das Pferd. Dieser Pferdeschuhmacher war bekannt für sein Geschrei und Geschimpfe mit den Knechten. Keiner konnte den Fuß des Pferdes während des Hufeisen Wechsels so hochhalten, dass es ihm gepasst hätte. Noch dazu lehnte er sich selber abwechselnd gegen Pferd und Knecht. Dabei das Gleichgewicht zu halten wurde schwierig. Heinrich kannte diese Vorgehensweise schon und war jedes Mal froh, wenn die Arbeit bei diesem Schreihals beendet war. Wäre, was dieser Mann ausspuckte, Wasser gewesen, pudelnass müsste er weiterfahren –, Richtung Waxenberg zur Mühle. Wenn er dachte, das Schlimmste hätte er für heute hinter sich gebracht, hatte er sich getäuscht. Ausgerechnet in der sogenannten, sehr engen, sehr unübersichtlichen Kematner Kurve, kam, wie plötzlich, ein großer LKW entgegen. Die beiden Pferde, die an solche Undinger wenig gewöhnt waren, schreckten sich derartig, sie sprangen über die Böschung hinunter. Heinrich, Egge und Kornsäcke schleuderte es vom Wagen, dieser stürzte um, die Pferde schleiften ihn noch, bis sie sich ein wenig beruhigten und Halt machten. Als Heinrich wieder auf den Füßen war, die Prellungen bemerkte er vor Schreck erst einmal nicht, sah er die Säcke den Hang hinunterrollen, hinein in ein Kornfeld. Gut, dass Heinrich ein kräftiger junger Mann war. Er tätschelte die Pferde, schaffte es mit großer Mühe, den Wagen wieder aufzustellen, mit der Hand am Halfter wies er die Pferde in die Nähe der verlorenen Fracht, lud die schweren Säcke auf, dazu die Egge. Das Scheuen der Pferde saß ihm noch in den Gliedern, als er bei der Mühle ankam. Die Säcke lud er ab, mit der Egge ging’s noch weiter zum Schiefermühlner, welcher die baldige Reparatur versprach. Von dort kehrte er zur Mühle zurück, von wo er Säcke gemahlenen Mehles, einer vorigen Kornlieferung, mit nach Hause nahm. Die Monate liefen dahin. Heinrich dachte viel über seine Zukunft nach. „Mit den dreihundertfünfzig Schillingen Lohn komme ich nicht weit“, sinnierte Heinrich beim Bauern in St. Veit vor sich hin. „Ich habe keinen Beruf erlernt. Ich will mein Leben nicht als Bauernknecht verbringen. Ich muss etwas finden, von dem ich besser leben kann.“ Anfang der fünfziger Jahre besaßen die Leute, die auf dem Land arbeiteten, immer noch so gut wie nichts. Bei dem einen oder anderen gab es doch Neuerungen, ein Motorrad zum Beispiel. Das Landleben ging entfernt von Zentren seinen Lauf, alle Wege waren weit. Als er wieder einmal einen Reisigbesen für den Bauern band, fiel ihm ein, es gibt Gegenden, da wachsen nur wenige Birken und damit ist kein Reisig für Besen vorhanden. Das war’s! Schnell entschlossen band er einen solchen an sein Fahrrad und machte sich auf nach Eferding. Mutig besuchte er Firmen und Bauernhöfe und zeigte seinen Besen. Da es damals die heute industriell gefertigten Besen nicht gab, radelte er, glücklich, mit einigen Aufträgen im Hosensack, den weiten Weg hügelauf zurück. Frohen Mutes machte sich der Siebzehnjährige in seiner Freizeit an die Arbeit. Der Winter kam. Früher konnte das Mühlviertel mit Sibirien verglichen werden, was Schnee und Wind anlangte. Auf dem Bauernhof war die Arbeit zu dieser Zeit weniger. Auch der Lohn. Ließ das Wetter es zu, wurde im Wald Holz gefällt, zum Verkauf und für die warme Stube in kommenden kalten Zeiten. „Bauer, wär’s Euch recht, wenn ich keinen Lohn verlange, aber morgens und abends im Stall arbeite, für’s Wohnen und Essen?“ Der Bauer war einverstanden, so machte sich Heinrich ans Besenbinden. Diese Arbeit machte ihn zum Philosophen. Stunde um Stunde die gleichen Handriffe, ein Bündel Reisig, Draht, ein Bündel Reisig und so weiter. Zeit, um über das Leben nach zu denken. Seine Schlussfolgerungen über das Dasein und den Umgang damit, kamen nicht von Gelesenem, sie kamen aus eigenem Nachdenken, Fühlen, Tun und Sein. Außer einem Schullesebuch gab es keine Bücher in Heinrichs Welt. Von Anfang November bis Ende April band Heinrich beim Bauern unzählige Besen. Das hatte ihm mehr eingebracht, als der Lohn. Reisig gab es genug. Umliegende Bauern, die er angesprochen hatte, belieferten ihn reichlich, nachdem sie gehört hatten, er zahle sofort: da Ware, da Geld. So konnte er sich kostbare Zeit sparen. Im Frühjahr ließ er eine stolze Fuhr per Lastwagen nach Linz und Eferding befördern, zu Lagerplätzen, welche er per Rad organisiert hatte, auch direkt zu geworbenen Großkunden. Kleinere Partien erledigte er wieder mit seinem Fahrrad von den Lagerplätzen aus. „Siebzehn Jahr, dunkles Haar, nicht verwöhnt, erfolgsgekrönt.“ Etwas besonders Erfreuliches erlebte Heinrich auf diesem Bauernhof. Ein Mädel, aus der weiteren Umgebung, half oft auf dem Bauernhof und nächtigte während dieser Zeit in einer Kammer, zu der Heinrich, dessen Schlafraum sich an den Stall anschloss, über das Schredl gelangte. Die Altbäuerin entdeckte was da vorging. Besuchte Heinrich sonntags nicht die Kirche, hielt sich in der gemeinschaftlichen Stube auf, und hörte Radio, drehte sie dieses erbost ab. Wenn er nicht zur Kirche gehe, brauche er auch keine Radiomusik. Und beichten gehen müsse er ja auch. Heinrich tat, was er für gut hielt. Diese Jugendliebe heiratete später auf eine große Gärtnerei, die sich entlang der Mühlkreisbahn befindet. Heinrich war also Knecht mit Lohn und auch sein Nebengeschäft, brachte ihm Geld ein. Ein Motorrad hatte der sparsame junge Mann erworben. Dass es sechstausend Schillinge gekostet hat, betont er besonders gern. Sein Jahresgehalt, wenn er auch im Winter voll arbeite, betrug viertausendzweihundert Schillinge, also eine tolle Leistung für den inzwischen Siebzehnjährigen. Einen Führerschein besaß er noch nicht. Weil er zu jung war, brauchte er die Unterschrift des Vaters um die Fahrschule besuchen zu dürfen. Kurz entschlossen fuhr er mit dem Motorrad von St. Veit zum neuen Wohnort des Vaters. Diesen fand er arbeitend auf dem Feld, ein zwei- bis dreijähriges Mädchen daneben. Als der Vater den Sohn kommen sah, hob er das Kind auf seinen Rücken und ging auf diesen zu. „I brauchat a Unterschrift von dir“, sagte Heinrich. Schon damals war er ein Meister darin, Dinge nicht peinlich werden zu lassen. Auf dem Weg zum Haus kämpfte der Vater gegen die Tränen. Berührt von Heinrich, der war wie immer, dazu eine große Enttäuschung. Weinend erzählte er, das Kind sei nicht von ihm. Zwischen den Nachbarinnen und Freundinnen habe es in seiner Gegenwart Streit gegeben, da habe er es erfahren. „Und dös Kind is ah net von dir“, hatte die Freundin ihn aufgebracht angeschrien, heftig mit den Armen gestikulierend, den Zeigefinger auf ihn gerichtet. Leugnen war nun nicht mehr möglich, die rasende Nachbarin und Freundin packte aus. „Wenn ich das gewusst hätte, wäre ich nie von daheim weggegangen“, sagte er weinend. Aber er blieb noch einige Jahre mit dieser Frau zusammen. Mit dem Motorrad fühlte Heinrich sich sehr selbstbewusst. Er, der Häuslerbub, der um zu essen zum Bauern zog und viel arbeitete, einer der Wenigen war er, der sich in viele Kehren legte, auf schmalen Wegen und Straßen, die sich von Petersberg aus ins Tal der Steinernen Mühl winden, ebenso nach der anderen Seite über den Ederhügel nach St. Johann, St. Peter, weiter ins Tal der großen Mühl, nach Neufelden, den Ort, zu dem er vierzehnjährig damals zu Fuß laufen musste. Lustvoll setzte er sich an Sonntagen, nachdem die Stallarbeit getan war, auf sein Motorrad, fuhr durch die Gegend, auch zur Kirche, danach zum Frühschoppen, zu Tanzereien, Kirtagen, Zeltfesten, überall dort hin, wo etwas los war. An Werktagen traf er sich abends mit Freunden zum Fensterln, natürlich nicht mehr mit dem Fahrrad. Das machte doch was her! Was werden die Mädchen sagen? Sicher werden sie beeindruckt sein! Nur, so ein Motorrad kann seinen Fahrer auch ganz schön ärgern, wenn es nicht anspringt. Der Bauer Staffenberger in St. Veit liegt auf einer Anhöhe. „Es wird kein Problem sein“, dachte Heinrich, „den Weg hinunter springt es schon an.“ So war es aber nicht. Also den Vorgang wiederholen. Wieder nichts. Nach mehrmaligem Hinaufschieben und Hinunterrollen war es bereits zu spät für’s Fensterln. Verärgert ließ er sein Vorhaben fallen und ging schlafen. Einen Mechaniker in der Nähe gab es noch nicht, er musste jemand finden, der in dieser Sache kundig war. Für die Besen-Geschäfte verwendete er es nicht, das Fahrrad war dafür besser geeignet. Mit der Bahn und für andere Fahrgelegenheiten konnte er es mitnehmen, viele Besen ließen sich darauf mit Seilen befestigen. Als Heinrich neunzehn Jahre alt war, verließ er den zweiten Bauern, bei dem er drei Jahre gearbeitet hatte. Er hatte Geld gespart und übernahm das Elternhaus an Stelle seiner Schwester Maria, die als Erbin vorgesehen war, das Erbe auch bereits angetreten hatte. Geld war nicht vorhanden, woher auch, sie hatte ein Kind, half der Mutter die Grundstücke zu bewirtschaften. Ihr Mann unterstützte sie nicht. Arbeit war nicht gerade ein Hobby für ihn, eher schon Alkohol und Raufereien, öfter das Gefängnis von innen. Maria hätte jedem der Geschwister zweitausend Schillinge als Erbe ausbezahlen sollen. Sie war daran, das Häusl mit dem Grundstück zu verkaufen und auszuhandeln, dass die Mutter weiterhin dort wohnen könne. Da griff Heinrich ein. Von ihm erhielten die Geschwister auch nicht alles auf einmal, aber nach und nach wurden alle ausbezahlt. An Maria zahlte er freiwillig das Doppelte, damit sie auf jeden Fall einverstanden war, als Erbin zurückzutreten. Heinrich wollte keinesfalls, dass die Mutter durch den Verkauf zu fremden Leuten käme. Im Übergabevertrag ließ er für sie lebenslanges Wohnrecht und Essen festschreiben. Die Mutter machte ihm gerne und fleißig alle häuslichen Arbeiten. Mit Heinrichs Heimkehr fand Mutters Not ein Ende. Lebensmittel fanden sich wieder in ihrer Küche. Nicht nur, was das Sacherl hergab. Sie konnte gelegentlich beim Fleischhauer und Gemischtwarenhändler einkaufen. Heinrich erinnert sich besonders gerne an gebackene Speckknödel mit Sauerkraut, Leberschädl, manchmal Bratl, Geselchtes, davon die Suppe. Rahm- und Mehlsuppe mit Brot, Erdäpfelnudeln. Auch die Mehlspeisen hatten es ihm angetan. Wuchteln, Schifferl, Grießkoch, gebackene Mäuse, Zwetschgenknödel. Kraut und Erdäpfel standen nach wie vor auf dem Speiseplan, aber nicht nur. Kraut und Erdäpfel machten satt und hielten die Menschen gesund. Auch wenn wir heute unsere Kost geändert haben, greifen wir mit wässrigem Mund manchmal auf diese geschmackigen Gerichte zurück. Die beiden bewirtschafteten also das Sacherl. Heinrich, der daneben immer wieder, zusammen mit einem Freund, als Taglöhner bei großen Bauern in Eferding arbeitete, – allein auf die Besen vertraute er noch nicht –, versuchte in Linz Arbeit zu finden. In St. Magdalena bei der Firma Rella konnte er schließlich anfangen. Genächtigt hatte er im Gasthof Haunschmied in Urfahr, mit dem Motorrad pendelte er zwischen den beiden Orten. Zu dieser Zeit gab es ein Gesetz, Landarbeiter durften nicht fix angestellt werden, sondern nur als Taglöhner. Ein Taglöhner wurde nicht angemeldet, hatte also keinerlei Versicherung, wurde jeden Tag ausbezahlt und der Fortbestand des Arbeitsverhältnisses war unsicher. Daher beendete Heinrich diese Tätigkeit bald wieder und kehrte zu seinen Besen zurück. Einmal noch versuchte er es. Die Baufirma Mayreder errichtete in Neufelden das große Müller-Wipperfürt-Gebäude für Modeerzeugung. Wieder als Taglöhner durfte er Bagger schmieren, später das Baggerfahren erlernen. Dann kam die endgültige Wende. Die Lenzing-AG bestellte bei Heinrich fünfhundert Stück Besen. Somit ließ er den Nebenerwerb bei Firmen fallen und beschloss, immer selbstständig zu bleiben. „Das habe ich nie bereut“, beteuert er, „und immer daran denken: wenn man will, geht viel.“ Das Fahrrad war zu jener Zeit kein Sportgegenstand um fit und gesund zu bleiben, Geselligkeit und Natur zu erleben, wie das heute oft der Fall ist. Es diente einfach der schnelleren Fortbewegung. Heinrich nutzte es auf Rückwegen von Graz, Innsbruck und anderen Orten, zu denen er mit dem Zug gereist war. Um sein Geschäft auszuweiten, radelte er kreuz und quer, ohne Straßenkarte, gelenkt von seinem Gespür für Geschäfte. Manches Mal gab es Schwierigkeiten einen Schlafplatz zu finden. Konnte er bei Bauern nicht unterkommen, weil die Herberge schon voll war, suchte er einen Heustadel auf. Ermüdet fiel er ins Weiche und schlief ein. Vor Müdigkeit ruhte er einmal sogar auf einem harten Lager. In dem Bauernhaus, das er schon öfter aufgesucht hatte, gab es einen Trauerfall. In der großen Stube war Totenwache, Verwandte, Nachbarn und Freunde füllten das Haus. Die laute, klare Stimme des Vorbeters drang ans Ohr, dann das vielfältige, kaum verständliche, aber bekannte Gemurmel: „Heilige Maria, Mutter Gottes, bitte für uns, jetzt und in der Stunde des Todes.“ Heinrich setzte sich wieder auf’s Rad. In der aufkommenden Dunkelheit sah er etwas wie einen Stadel. Es war aber keiner. Es war eine Hütte, in der Bretter lagerten. „Ein wenig Schlaf werde ich schon finden“, überlegte er. Kaum hatte er sich zurecht gerichtet, kamen Trauergäste vorbei und sahen das Fahrrad. Sie blieben stehen, schwenkten von den Gesprächen über den Toten, dessen endlich beendetem Leiden, zu der harmlosen Entdeckung, hinter der alles Mögliche lauern konnte, Gefahr nicht ausgeschlossen. Lautstark tauschten sie ihre Vermutungen aus. „Wenn sie das Rad mitnehmen, schau ich dumm aus“, sorgte sich Heinrich. Endlich gingen sie weiter und ließen das Fahrrad zurück. Nochmals richtete er die Jacke, legte den Kopf darauf und schlief ein wenig. Sobald er genug sehen konnte, machte er sich auf den Weg um weitere Aufträge. Am Wochenende wollte er wieder zuhause sein, alles genau zusammenschreiben, besorgen, was er brauchte. Am Sonntag ging er zur Kirche, danach zum Frühschoppen. Ein anderes Mal, als er auch einen Heustadel aufsuchte, und ein paar Schritte im Dunkeln tat, trat er auf etwas Festes, keineswegs Heu. Schnellstens jagte die Furcht ihn hinaus, er radelte davon, so schnell er konnte. „Wahrscheinlich war es auch nur ein Müder, so wie ich selbst“, überlegte er, nachdem er wieder zur Ruhe gekommen war. Für diesen Tag blieb jeder Heustadel unheimlich, gibt es doch im Salzburgischen und auch in Tirol, – kein Wunder wär’s, ebenso in der Steiermark –, viele gespenstische Heustadel-Geschichten. Von Erhängten und deren Geistern handeln sie, von Selbstmördern, von versteckten Verbrechern, von alten Frauen, denen die Geister sich zeigen und Botschaften vermitteln, arme Seelen, die Hilfe in Form von Gebet suchen, die Hände immer wieder bittend aneinander legen. Eine alte Frau erhielt die Nachricht, beide Töchter des Nachbar-Bauern werden ins Kloster gehen, was sich tatsächlich erfüllte. Sie hatte gesehen, wie zuerst die ältere Tochter im Kreis ging, mit beiden Händen eine Obstschale über den Kopf hob, als ob sie diese opfern wolle, danach die jüngere. Kinder auf ihren Schulwegen liefen damals so schnell als möglich an den Stadeln vorbei, den Blick zu Boden gesenkt, in der Furcht ein solch armes Geschöpf zu sehen. Einmal passierte es, Heinrichs Zug nach Innsbruck hatte Verspätung. Die Quartiere, die er normalerweise aufsuchte, waren alle schon ausgebucht. Mit dem Rad fuhr er zum Bahnhof, wo er zu übernachten gedachte, kam dort mit Leuten ins Gespräch und erzählte von seinem Verhängnis. „Kannst bei mir schlafen“, meinte einer ganz unumwunden. Seine Wohnung bestehe aus zwei Zimmern mit je einem Bett. Heinrich nahm an. Er freute sich über die Gastfreundschaft. Selbst war er ja auch hilfsbereit und gastfreundlich. Doch mitten in der Nacht kam der freundliche Mensch ins Zimmer, legte sich zu Heinrich ins Bett und fing an, an ihm herum zu nesteln. Dieser, schlaftrunken, wusste nicht, wie ihm geschah. „Lass mich in Ruh!“, wehrte er sich heftig. Schließlich sah der andere von dem Übergriff ab und beschwor sein Opfer, niemandem etwas davon zu sagen. Nachdem sich beide beruhigt hatten, der Gastgeber ein Versprechen abgeben hatte Heinrich in Ruhe zu lassen, und dieser eines, nichts zu sagen, schliefen sie, jeder in seinem Bett, wieder ein. Am nächsten Morgen, als sie das Stiegenhaus hinunter gingen, schien es Heinrich, eine Frau, die gerade putzte, schaue neugierig und recht eigenartig, mit einem schiefen Lächeln. Der Gastgeber lud Heinrich noch zu einem ordentlichen Frühstück bei einem Imbissstand ein und beschwor ihn abermals zu schweigen. Ein anderes Mal ging es etwas erfreulicher zu. Heinrich nächtigte oft in Timmelkam, immer im gleichen Gasthof. Den Abend verbrachte er regelmäßig in der Gaststube, wo mehr oder weniger immer die gleichen Gäste zukehrten, auch Handelstreibende. Es wurde geplaudert über dieses und jenes –, Smalltalk, wie wir heute sagen –, und Erfahrungen wurden ausgetauscht. Dort kehrte häufig eine Dame zu, auch eine Händlerin. Der junge Heinrich, ein kraftvoller Bursche von Arbeit und Rad fahren, fesch, beliebt seiner angenehmen Art wegen, gefiel ihr. Eines solchen Tages wünschte sie früher als alle anderen eine gute Nacht. Als Heinrich zu seinem Zimmer aufbrach fand er sie auf dem Gang vor den Fremdenzimmern auf und ab gehen. Was sie da tue, meinte er. Sie griff das Thema, das in der Gaststube aufgekommen war, erneut auf, sie diskutierten es noch ein wenig weiter. Heinrich war müde, wollte nicht weiter auf dem Gang stehen und meinte, ob sie nicht in einem der Zimmer weiterreden könnten. Das geschah im Zimmer der Dame. Sie erzählte ihm, sie vertrete Unterwäsche, „und ich Besen“, so Heinrich. Ob sein Chef zuhause sei, fragte sie. Er lachte und sagte: „Ja.“ Was weiter geschah bleibt ein Geheimnis. Eines der Gasthäuser –, der Wirt besaß auch eine Fleischhauerei, es steht in Stegen Gosau –, in dem Heinrich auch immer wieder zukehrte, Besen verkaufte, war, als er ankam, voll mit Festgästen. Alles war belegt, auch das Zimmer der alten Wirtin. Kurz entschlossen ließ der Wirt im Saal, den die Gäste bereits verlassen hatten, anstelle von einem, zwei Betten aufstellen, eines für seine alte Mutter, eines für Heinrich, den der Wirt gut kannte, dem er nicht zumuten wollte weiterfahren zu müssen. So konnte er sein Fahrrad an der Hauswand lehnen lassen, musste sich nicht erneut aufmachen und nach einer Schlafgelegenheit suchen. Die Alte störte es nicht viel, Heinrichs Peinlichkeit wich dem Schlaf. Sein erstes Auto erwarb Heinrich im Alter von neunzehn Jahren. Das war damals eine Besonderheit. Niemand hätte sich vorstellen können, dass eine Zeit kommt in der jedes Familienmitglied ein eigenes Auto fährt. 1950 gab es in Österreich 48.453 registrierte PKWs. 1958 schon ungefähr sieben Mal mehr, was trotz diesem Aufschwung bedeutete, kaum jeder Zwanzigste konnte sich einen motorisierten Personenwagen leisten. Heinrich war ab 1955 stolzer Autobesitzer. Von da an konnte er selber hinfahren, wo er wollte, war auch nicht mehr angewiesen auf den Holzvergaser-Lastwagen, der zwischen Helfenberg und Rohrbach verkehrte. Gegen Ende des Krieges und auch danach wurden viele Lastwagen, auch PKWs, auf Holzvergaser umgerüstet. Der Krieg fraß nicht nur Menschen, Nahrungsmittel, er fraß fast alles, was gebraucht wurde, natürlich auch das Benzin. Auf der Ladefläche der LKWs wurde ein Ofen, ein Holzvergaser, aufgebaut, mit Hartholz beschickt, aus dem sich durch die bestimmte Art des Heizens Gas löste und das Fahrzeug antrieb. An PKWs war das Ungetüm hinten angeschweißt. Während der LKW-Fahrt besorgte eine Person auf der Ladefläche das Nachlegen und Absperren des Ofens. Das aus drei Kilogramm Buchenholz gewonnene Gas, ersetzte einen Liter Benzin. Hartholz, für die Holzvergasung getrocknet und auf die richtige Größe zerkleinert, wurde als Tankholz bezeichnet, in Tankholzwerken produziert und auf Vorrat angelegt. Waldbesitzer auf dem Land verwendeten auch ihr eigenes Hartholz. Für Zusteigende wurde eine Leiter über die rückwärtige Bordwand auf die Straße hinuntergehoben, an der Bordwand eingehängt. War das Einsteigen geschafft, fanden sich Bänke, wie heute in Bierzelten, aber ohne Überdachung. Das Aussteigen war keinesfalls bequemer. War die rückwärtige Bordwand auch nicht so hoch, wie die seitlichen, die zum Schutz in der Höhe eines Balkon-Geländers angebracht waren, musste doch ein großer Schritt gewagt werden, hinaus auf die Leiter. Nicht alle Mitfahrenden waren von jugendlicher Beweglichkeit. Im Winter wurden die Muskeln kalt und unbeweglich, die Nase rot, die Hände gefroren, die Kittel und Hosen nass und steif, die Leiter eisig. Genagelte Schuhe waren von Vorteil. An Spaß fehlte es nicht. Scherze flogen hin und her, es wurde viel gelacht. Bequem, schweigend und humorlos sitzen wir heute in geheizten Bussen, das Handy parat, und denken nicht daran, wie schwer es für Menschen damals war. Frieden macht vieles möglich, Krieg alles unmöglich. Menschen sind stark. Im größten Elend vergessen sie nicht, immer wieder auch zu lachen. Heute starren wir eher belanglos vor uns hin, der Nächste interessiert uns wenig, die Fahrt dauert uns zu lang. Mit Bahn und Fahrrad war Heinrich wegen seiner Besen viel herumgekommen, unter anderem auch zu einem Fahrzeughändler in Hallein. Dort stand ein VW Jeep zum Verkauf, der noch aus dem Krieg stammte. Einen PKW-Führerschein besaß er schon. Das Fahrschul-Auto war ein Fiat 1400 mit Lenkradschaltung gewesen. In seinem Bekanntenkreis besaß niemand einen Traktor oder ein Auto mit H-Schaltung, wo er für sein geplantes Auto hätte üben können. „Es wird schon klappen“, dachte er, kaufte das Auto, meldete es auf der BH in Rohrbach an und machte sich mit den Nummerntafeln und Papieren per Zug auf nach Hallein um das Auto abzuholen. Der Händler fuhr übungsmäßig ein wenig mit ihm, riet ihm danach, mit dem dritten Gang nach Hause zu fahren, was Heinrich anfangs auch tat. An Straßenkenntnissen fehlte es ihm nicht, diese hatte er schon mit dem Fahrrad erworben. Auf der Bundesstraße fuhr er nach Salzburg. Von dort gab es schon die neue Autobahn bis Mondsee. Weiter ging’s nach Frankenmarkt. Da es dunkel wurde, stellte er das Fahrzeug vor einem Gasthof ab, wo er geschäftlich zu tun hatte und auch übernachtete. Als er am nächsten Morgen wegfahren wollte, war das Fahrzeug vorne zugeparkt. Er hätte unbedingt den Rückwärtsgang gebraucht, fand ihn aber nicht. Rückwärts üben, daran hatten sie nicht gedacht, nicht der Händler, nicht Heinrich. Er musste also abwarten und das hatte gedauert, bis ein anderer PKW wegfuhr, damit er vorwärts weiterfahren konnte. Nach Wels und Eferding zur Donaufähre Aschach fuhr er schon recht gut. Auf den vierten Gang schaltete er. Das war zu jener Zeit der höchste. Weiter ging’s über Gerling und Herzogsdorf. Dann geschah es. In der Gesselreib, wo Herr Gessel, ein Uhrmachermeister, sein Haus stehen hatte, in einer Linkskurve, schlitterte Heinrich mit seinem Jeep auf die Böschung, wieder zurück auf die Straße, darüber hinab in einen Erdäpfelacker. Dort blieb das Fahrzeug stehen. Wieder hätte Heinrich den Rückwärtsgang gebraucht, den fand er aber erst zuhause. Zum Glück waren zwei Wegmacher unterwegs, die er kannte. Mit deren Hilfe drehte und schob er das Fahrzeug so weit in die richtige Richtung um vorwärts weiter fahren zu können. Die beschädigten Kotflügel seines gerade gekauften Autos, das ihn so freute, auf das er stolz war, taten ihm bitter weh. Weit war es nicht mehr nach Hause. Dort angekommen, klopfte er sofort die Dellen aus. „Da Greazweil hat sei Auto scho beim Hoambringa ruiniert“, wollte er nicht so gerne hören. Weiter war Gott sei Dank nichts passiert „Das war für mich die große Lehre, vor der Kurve das Tempo zu verringern“, sagt er heute lachend. „In meiner fünfzigjährigen gewerblichen Geschäftszeit habe ich verschiedene große LKWs gehabt, mit Kipper, Kran, direkt aufgebauter Waage zum Eiseneinkauf, bin damit bestimmt fünfzig Mal um die Erde gefahren, ohne einen einzigen von mir verschuldeten Unfall“, fügt er gerne hinzu. Er habe aber sehr viele grauenhafte Unfälle, auch mit tödlichem Ausgang gesehen, das habe ihn zur Vorsicht bewogen. In Steinbruch bei Neufelden gab es eine Schmiede, Hermann Stürmer, und eine Wagnerei, Rudolf Ott. Die beiden Unternehmen sind Nachbarn und Heinrich ließ sich von diesem Gespann eine Ladefläche auf den Jeep aufbauen, war somit nicht mehr auf Zug, Fahrrad oder Fuhrunternehmen angewiesen. Mit Freude lieferte er seine Besen selber. Nicht einmal eine Typisierung war von Nöten. „Besentransporter“ wäre doch ein passender Name gewesen. Auch die Mutter brauchte sich keine Gedanken mehr zu machen, wie sie es bewerkstelligen könnte, ihre Kinder und Enkel zu besuchen. Es war üblich, den Enkelkindern um Allerheiligen eine Ahnlsach zu geben. Der Allerheiligen-Striezel hat sich ja bis heute gehalten. Dazu gab es Nüsse, oder auch Obst aus der eigenen Ernte. „Im Jahre 1956, es war ein Sonntag“, so berichtet Heinrich, der damals gerade zwanzig Jahre zählte, „fuhren meine Mutter und ich mit der Großelterngabe nach Wildberg, wo Bruder Franz mit seiner Familie lebte. Während wir Malzkaffe tranken und plauderten, begann es zu schneien. Als wir uns, rechtzeitig für den Stall, wieder auf den Nachhause-Weg machten, trat nach kurzer Strecke am Jeep ein mechanischer Schaden auf. Ich konnte nicht mehr weiter fahren. Heftiger Schneefall kleidete uns weiß. Da ich in der Nähe eine Bushaltestelle wusste, machte ich mir weiter keine Sorgen. Öffentlichen Verkehr nach St. Johann gab es von dort nicht mehr, aber einen Bus nach Urfahr. Von dort kommen wir schon nach Hause“, meinte Heinrich, der Optimist. Das aber war weit gefehlt. Sturm setzte ein. Von Urfahr fuhr noch ein Bus ab. In Zwettl mussten alle aussteigen, das Weiterfahren war unmöglich geworden. So gingen sie, wie andere Fahrgäste auch, zu Fuß weiter, in Richtung Oberneukirchen. Auf dieser Strecke waren einige vom Stapfen im Schnee schon so müde geworden, sie klopften an Haustüren, baten um Herberge, die ihnen gewährt wurde. Heinrich und seine Mutter schafften es mit großer Mühe bis Waxenberg. In den Trittspuren ihres Sohnes, hatte die erschöpfte Frau einen Fuß vor den anderen gesetzt. Heinrich wusste einen Bekannten, Herrn Feichtl, der ein Haus besaß, klopfte und die Mutter wurde von der Familie freundlich aufgenommen. Allein kämpfte Heinrich, im dichten Schneegestöber, weiter. Niemand war zuhause, der die Tiere hätte versorgen können. Schweine und Kühe brauchten Futter, letztere mussten gemolken werden. Heinrich, der die Gegend gut kennt, suchte in der von Schnee eingeebneten Landschaft, – auch Straßen und Wege unter tiefem Weiß –, die kürzeste Strecke aus. Er nahm die Straße durch den Waxenberger Wald. „Der Schneefall und der Sturm waren so heftig, ich konnte kaum etwas sehen. Das Schlimmste waren die Bäume, die dem Schneedruck nicht mehr Stand hielten. Einmal krachte es vor mir, einmal hinter mir. Dass es mich nicht erschlagen hat, ist ein Wunder. Weglaufen hätte ich wegen des tiefen Schnees ja nicht können. Die umgestürzten Bäume, die ich umgehen oder überklettern musste, wurden immer mehr. Ich versank im Schnee. Ich rappelte mich wieder und wieder auf. Ich war voll von Schnee, im Nacken, in den Schuhen. Schnee türmte sich auf meinem Kopf wie ein spitzer Hut, die Hände schmerzten.“ Hatte er eine Haube oder eine Kappe, Schal und Handschuhe gehabt? Für die geplante Autofahrt? Eher nicht. Heinrich kämpfte sich vorwärts, es wurde Mitternacht, es wurde zwei Uhr, drei Uhr, fünf Uhr. Das Dunkel der Nacht, der heftige Wind, der dicht fallende Schnee, das Ächzen und Krachen der Bäume, dagegen sein unbeugsamer Wille. Endlich wich die Finsternis dem Morgengrauen. Heinrich war schweißgebadet, todmüde, der Kopf ohne Gefühl, schmerzhaft die Hände, kaum noch die Kraft, die Beine aus dem Schnee zu ziehen. Schritt für Schritt versanken sie erneut bis zum Rumpf in dieser unglaublichen Masse. Weiter, weiter. Stunde um Stunde rang er, Meter für Meter. Neun Uhr. Zwölf Uhr mittags. Kein Gefühl für Hunger. Nur vorwärts. Bein aus dem Schnee, Schritt setzen, Schnee bis über den Oberschenkel. Endlich das Zuhause in Sicht. Um drei Uhr nachmittags erreichte er sein Ziel und ging sofort in den Stall. Erstaunlich! Die Tiere wirkten zufrieden. Sie waren gefüttert, die Kühe gemolken. Wer hatte das getan? Die aufmerksame Hoferbäuerin hatte keinen Rauch aus dem Kamin des Schauflerhäusls kommen sehen. „Dort stimmt etwas nicht.“ Besorgt hielt sie Nachschau. Keine Öllampe flackerte hinter den Fenstern, ihr Rufen hörte niemand. Das Vieh war unruhig. Sie tat am Abend, was zu tun war, und kam wieder am frühen Morgen. Nie wird Heinrich die Hoferbäuerin vergessen. Die Mutter konnte er erst am dritten Tag, mit einem geliehenen Pferdegespann, heim holen. Zusammen mit der Mutter machte Heinrich, der auf seinen Jeep stolz war, – eines der wenigen Fahrzeuge in der Gegend –, immer wieder einmal einen Ausflug. Sie liebte die Wallfahrtsorte. Sie besuchten den Pöstlingberg, Mariazell, Maria Pötsch und andere. „So habe ich meiner Mutter, nach ihrem harten Dasein, schöne Erlebnisse vermittelt, die sie sehr freuten und sie war so dankbar dafür.“ Auch andere Ziele strebten sie an, wie die Ruine Pürnstein, Orte, wie Bad Leonfelden, Freistadt, Plätze in der Umgebung. Plätze, die sie aus ihrer Jugend kannte. Mit Vater, Hund und beladenem Ziehwagen war sie damals fröhlich unterwegs gewesen. Zweieinhalb Jahre erfreute er sich an diesem Fahrzeug. Bei einem nicht von ihm verschuldeten Unfall in Ebensee, verlor er es. Es war schrottreif. Ein schlimmer Tag für den zielstrebigen Heinrich. „Ich will aus der Armut heraus!“ Daran hielt er eisern fest. Nun war guter Rat teuer. Heinrich hatte das Elternhaus übernommen, die Geschwister ausbezahlt und zehntausend Schillinge Ersparnisse. Er brauchte wieder einen Lieferwagen, fand auch einen passenden in Gmunden, der achtzehntausend Schillinge kostete. Als Häusl- und Grundbesitzer ging er zur Raiffeisenkasse um achttausend Schillinge Kredit aufzunehmen. Ohne Bürgen gehe da nichts, erfuhr er. Mit dieser unerwarteten Absage kehrte er nach Hause zurück. „Mein Häusl, die Wiesen, die Kühe, das Schwein. Der Wert ist doch weit höher, als diese Achttausend. Warum vertraut man mir nicht? Betteln um Bürgschaft?“ Schlussendlich blieb ihm nach allem Hin- und Herüberlegen nichts anderes übrig, wollte er nicht einen Rückschritt erleiden. Zum Nachbarn, Bauer Heinrich Hofer, war gute Freundschaft vorhanden. Heinrich wagte sich daran, diesen zu fragen. Mit Geldsachen habe er nie was zu tun gehabt, meinte der junge Bauer, der Freund. Das mache nach wie vor sein Vater, den müsse er fragen. „Tu’s lieber nicht“, sagte dieser zu seinem Sohn. „Ich habe schon viel in Geldangelegenheiten erlebt, das nicht gut ausgegangen ist“. So blieb Heinrich nichts anderes, als unverrichteter Dinge heim zu gehen. Am nächsten Tag fasste er erneut Mut und ging auf den Ederhügel, zum Ederbauern. „Ich weiß“, meinte dieser, „wir sind sehr gut befreundet und du arbeitest fleißig, aber ich habe gerade den elterlichen Hof übernommen. Meine Geschwister bekommen Geld als Erbschaft, auch Grundstücke. Da tu ich mich nicht leicht. Alles ist im Grundbuch eingetragen, ich müsste alle fragen. Es tut mir sehr leid, Heinrich, aber ich mache das lieber nicht.“ Mit Verständnis für den Bauern und einer Enttäuschung mehr, ging Heinrich, schweren Herzens, den Hügel hinab. Wieso die Bank ihm keinen Kredit geben wollte, war für ihn total unverständlich. Sein Besitz war doch weit mehr wert! Sein Einkommen höher als der Lohn der Arbeiter, die bei Firmen angestellt waren. „Wie soll ich vorwärts kommen, wenn ich kein Geld leihen kann? Das Misstrauen ist schmerzlich. Holt mich meine Vergangenheit ein? Lastet sie für immer auf mir? Warum glaubt man mir nicht? Ich kann zurückzahlen! Bekommen nur seit jeher Wohlhabende Geld zu leihen? Warum wirft man mir Prügel vor die Füße?“ Viele Gedanken schwirrten durch seinen Kopf, vor allem der, aufgeben wolle er keinesfalls „Ich frage noch den Besl“, überlegte er. So querte er wieder die Wiesen, vorbei an dem Platz, wo er damals die Entscheidung von zuhause weg zu gehen getroffen hatte, stieg den Hang zum Bach hinab, auf der anderen Seite wieder bergauf, herum um das Gebäude zur vertrauten Haustüre. Der Bauer hörte sich die Unfallgeschichte an, wunderte sich, wie Heinrich selber, warum die Bank ihm als Haus- und Grundbesitzer keinen Kredit gewährte, einen Bürgen verlangte. Auch von den Misserfolgen bei der Suche nach einem solchen, sprach er. „Bua“, sagte der Beslbauer dann, „weil du viereinhalb Jahre bei mir warst und so fleißig gearbeitet hast, mache ich das für dich. Für einen anderen würde ich es nicht tun.“ Am nächsten Tag schlugen die Beiden zu Fuß den langen Weg nach St. Peter ein, zur Raiffeisenkasse. Das benötigte Auto war sein. Wie schwer es zu dieser Zeit war an Leihgeld zu kommen, hat Heinrich geprägt. Er investierte in seine Firma, wenn er Geld hatte, nahm keine Kredite mehr auf. Heinrich war voll ausgelastet mit Arbeit. Das Heuen seiner landwirtschaftlichen Grundstücke nahm anfangs viel Zeit in Anspruch. Mit der Sense mähte er frühmorgens so viel, wie möglich. Wenden mit dem Holzrechen, später zusammenrechen und auf dem Rücken einbringen, forderte Zeit. Die Sonne lachte auch nicht jeden Tag, so konnte die mühsame Arbeit auf dem Sacherl bis zu sechs Wochen andauern. Heinrich freute sich über jeden gelungenen Tag. Besonders freute er sich, als er sich einen Motormäher leisten konnte. Was für ein Fortschritt! Wie viel Gras er nun von früh morgens bis in den Vormittag hinein auf der Wiese umlegen konnte. Keine körperlichen Drehbewegungen, kein Wetzen der Sense, nur hinterher gehen und lenken. Wie ein Spaziergang schien ihm diese Arbeit nun. Nicht so sehr schweißgebadet wie zuvor. Sein eigenes Fleckchen, auf dieser Erde, freute ihn noch mehr, noch mehr liebte er es. Heimat. Mit beiden Füßen stehst du dort fest auf der Erde. Die Wurzeln. Du spürst sie. Von dort gehst du deinen Geschäften nach, in der Gewissheit, du kannst wieder nach Hause kommen in deine eigene Geborgenheit. Du kannst erneut Mut schöpfen. Drehst du dich um und schaust in die Vergangenheit, siehst du die Ahnen, die tapfer vor dir ihr Leben meisterten und nun hinter dir stehen. Der Großvater. Welch eine Kraft! Soweit lief es gut im Schauflerhäusl, aber nicht immer verlief alles nach Wunsch. Zu der Zeit als Heinrich das elterliche Anwesen übernahm, gab es nur eine Kuh im Stall, Scheckö. Bald kaufte er eine zweite dazu, Uschi, damit immer Milch, Butter und Käse vorhanden waren, wenn eine der beiden tragend ging, was bei Scheckö gerade der Fall war. Begann eine Kuh zu kalben wurde immer wieder Nachschau gehalten, Nächte oft im Stall verbracht. So auch bei Scheckö. Als es so weit war, holte Heinrich noch einen Nachbarn dazu, den Baun Seppl, der viel Erfahrung in diesem Belang, und die entsprechenden Arbeiten gut im Griff hatte. Sobald die Beine des Kalbes sichtbar sind wird ein Strick darum gebunden und das Kalb vorsichtig herausgezogen um der Kuh nichts einzureißen. Es stellte sich bei Scheckö heraus, das Kalb lag nicht richtig, es musste umgedreht werden um es ziehen zu können. Der Baun Seppl versuchte das Kalb in die richtige Lage zu bringen, es gelang ihm aber nicht. Der Bauer Grundtaler aus St. Johann, auch Heinrich mit Vornamen, war bekannt für besondere Kenntnisse in solchen Fällen. Heinrich beeilte sich diesen mit seinem Fahrzeug zu holen. Er drehte das Kalb. Es war tot, als es endlich geboren war. Der Kuh schien es den Umständen gemäß zu gehen. Es war ihr nichts Besonderes anzumerken. So verließ Heinrich den Stall um den Helfer wieder nach St. Johann zu fahren. Unterwegs meinte dieser, sie hätten beide heute Namenstag, sie könnten sich noch eine Halbe beim Holy Wirt gönnen, was sie auch taten. „Der Kepplingerwirt heißt auch Heinrich“, wusste der Grundtaler, „dem gratulieren wir auch noch.“ Dieser freute sich, zu dritt kippten sie eine weitere Halbe, eingeladen vom Wirt. Als Heinrich endlich nach Hause kam sagte die Mutter: „Die Kuh ist tot. Wahrscheinlich hat sie beim Drehen des Kalbes innere Verletzungen erlitten und ist verblutet.“ Es war doch kein so fröhlicher Namenstag gewesen, sondern ein ordentlicher Schaden. Heinrich hat sich, lange Zeit, den Vorwurf gemacht: „Wär´ ich doch in keines der Gasthäuser gegangen, hätten wir die Kuh abstechen können und das Fleisch verkaufen. Wegen meiner Sorglosigkeit, hatte ich zwei Kadaver im Stall, die mühsam entsorgt werden mussten.“ Im Jahre 1962, er war sechsundzwanzig Jahre alt, erwarb er seinen ersten Gewerbeschein für die Erzeugung von Birkenbesen, sowie die Wandergewerbebewilligung, die ihn berechtigte zum Ein- und Verkauf von Gebrauchsgegenständen, Handel mit Häuten, auch zur Durchführung der Klauenpflege, was er aber nie tat. Neben der täglich anfallenden Arbeit auf seinem kleinen Hof band er über den Winter, mit einem zeitweiligen Helfer, dreißigtausend Besen. Zehntausend kaufte er von Bauern dazu um die Aufträge bedienen zu können. Geredet wurde nicht viel. Die Beiden arbeiteten im Akkord. Keiner wollte zurückbleiben. Nächtelang saß Heinrich bei der Arbeit. Gegen Morgen schlief er ein paar Stunden, aß ein paar Bissen und schon fand er sich wieder auf dem Stuhl neben dem Reisighaufen und den Drahtspulen. Besenstiele, gedrechselt aus Buche, bezog er von einem holzverarbeitenden Betrieb in Gampern. Zuhause spitzte er diese mit der Kreissäge zu, steckte sie in die fertigen Besen, schlug einen Nagel durch Stiel und Bunddraht, so konnte sich der Besen nicht mehr verdrehen. Auch das Reisig der gebundenen Besen wurde mit der Kreissäge gekürzt. Der Verkauf dehnte sich mit der Zeit auf ganz Österreich aus. Mit Lastwagen und Bahn ließ er die Besen zu Lagerplätzen bringen, größere Mengen wurden vom Käufer selbst abgeholt, bis zu zwanzig Stück lieferte er von dort mit dem Fahrrad selbst aus. Annoncen in Gewerbezeitungen machten sich bezahlt: „Grünzweil Birkenbesen überall gut bewährt. Schriftliche oder telefonische Anmeldung, bzw. Bestellung erwünscht.“ Ebenso warb er in der Bauernzeitung um Reisig, das sparte ihm viel Zeit. Die Großabnehmer von Besen waren hauptsächlich verschiedene Erzeugerfirmen, wie Voest Linz, Voest Liezen, Papierfabriken in Nettingsdorf, Lenzing, Steyrermühl, Laakirchen, die Steyr-Werke in Steyr und Graz, Straßenmeistereien, Lagerhäuser, Brauereien wie Stiegl Salzburg, Kaltenhausen bei Hallein, Zipfer, OÖ BrauAG, Zementwerk Gmunden und Kirchdorf, das Eternitwerk in Vöcklabruck, Sägewerke, viele kleinere Betriebe und Gemischtwarenhandlungen. Große Firmen, wie die Voest zum Beispiel, bestellten gleich dreitausend Besen, oft ohne Stiel, dieser war vom verbrauchten Besen noch vorhanden. Bis Mitte, zum Teil Ende, der Sechzigerjahre kauften die Firmen und Händler, auch die Voest. Einige Zeit nachdem Heinrich das Elternhaus übernommen hatte, kümmerte er sich um den Stromanschluss. Leitungen und Dachständer waren bereits vorhanden, Strom gab es aus Geldmangel nicht. Die Mutter und die Schwester Maria, die ursprünglich vorgesehene Erbin, konnten das Geld für den Anschluss nicht aufbringen. Als Heinrich wieder genug Besen erzeugt und verkauft hatte, konnte er, – wieder ohne Kredit –, die Anschlussgebühr von zwölftausend Schillingen und die weiteren Notwendigkeiten bezahlen. Die Petroleumlampe konnte in Teilpension gehen, wurde nur dort gebraucht, wo das Wunder Licht noch nicht hingekommen war. Im Ort Bad Goisern sah Heinrich das erste Mal einen laufenden Fernseher. Ungewöhnlich viele Leute im Alltagsgewand strömten in ein Gasthaus. Also keine Hochzeit, kein Begräbnis. „Da muss was Besonderes los sein, das muss ich mir anschauen!“ Das noch recht kleine schwarz-weiß-Bild, das ein Schirennen zeigte, begeisterte die Leute und auch Heinrich. Früher horchten die Sportbegeisterten angespannt Radio. Und nun konnten sie sehen, wie Schifahrer über die steilen Hänge sausen, Fußballer laufen, dribbeln, Tore schießen. Hatte man allerdings den unvergesslichen, unerreichbaren Sportreporter Edi Finger mit seiner emotionalen Stimmgewalt im Radio gehört, brauchte man absolut kein Fernsehbild, man schnellte auch so vom Sitzen empor. Sein Lied „I wear narrisch“, zum Wunder von Cordoba, 1978, trällerte damals überall. Als wieder genug Besen verkauft waren, gab es auch im Schauflerhäusl einen Fernseher, den einzigen weit und breit. Die Nachbarn und Bekannten versammelten sich dort im alten Häusl, in der Stube, in gemütlicher Atmosphäre bei Heinrich und seiner Mutter. Die Einnahmen aus dem Besengeschäft erlaubten Heinrich das kleine Elternhaus zu vergrößern. Auf dem ebenerdigen Gebäude ließ er drei große Zimmer und ein Bad errichten. Zwei Zimmer fertigte er aus, eines blieb noch im Rohbau, in dem er von nun an die Besen band

Das Schauflerhäusl

Der Großvater

Die Eltern

Der Vater

Der Hüterbub

Heinrich mit seiner Mutter

Teil 3. Im Herbst 1974 ereigneten sich ein schweres Unglück und gleichzeitig ein großes Glück. Heinrich stand mit der Firma Wipplinger von Vorderweißenbach in guter Geschäftsbeziehung. Dieser hatte ein großes Gebäude in Pettenbach, Bezirk Kirchdorf, gekauft. Die Grubmühle. Viel Alteisen lagerte in dem Gebäude, in verschiedenen Räumen. Herr Wipplinger und Heinrich machten einen Termin, wann sie das Eisen wegbringen würden. Am vereinbarten Tag holten Heinrich und ein Lastwagenfahrer, ein Arbeiter seiner Firma, Stöttner Hubert aus Steinbach bei Neufelden, welcher den LKW auch fuhr, Herrn Wipplinger in Vorderweißenbach ab. Die Verladung bei der Grubmühle gestaltete sich schwierig, verlängerte sich, die Schrottteile mussten erst einmal aus den Räumen, welche jeweils eigene Eingänge hatten, herausgebracht, das Fahrzeug in die Nähe der jeweiligen Tür gefahren werden. Gegen neun Uhr abends war die Ladung endlich fertig. Es war dunkel. Die drei Männer putzten sich den ärgsten Staub aus den Kleidern, stiegen ein, der Lastwagenfahrer ans Lenkrad, Herr Wipplinger, Heinrich ganz rechts. Sie würden nicht all zu lange brauchen bis zum Lagerplatz der Fa. Voest, Rohstoffhandel, in der Oberfeldstraße. Ungefähr zehn Kilometer hatten sie hinter sich gebracht, als sie ein Zischen hörten. Zum Glück war eine Ausweichstelle in der Nähe. Auf einer Seite der Hinterachse fehlte beiden Reifen die Luft. Eisenteile waren beim Vor- und Rückfahren in der Dunkelheit vor der Grubmühle in die Bereifung gedrückt worden. Reserverad gab es nur eines. Schwere Frachtteile verlagerten die drei Pechvögel auf die andere Seite der Ladefläche, um das Reserverad zu schonen. Während dieses montiert wurde, kam eine Polizeistreife vorbei. Die Polizisten kontrollierten den LKW, fragten, wie weit sie noch fahren würden, ließen sie weiterfahren, was sie natürlich gern taten, allerdings ein wenig langsamer als zuvor. Es gab keine Probleme mehr. Die Fahrt verlief gut. Dann, auf der Auffahrt zur Traunbrücke vor Ansfelden, gab es einen lauten Knall. Der Lastwagen flog über die Böschung hinunter, überschlug sich zwei Mal, blieb auf der Fahrerseite liegen. Die Drei konnten nicht fassen, was passiert war. Durcheinander geschleudert lagen sie im Führerhaus. Als der Schock den Gedanken wieder ein klein wenig Raum ließ, versuchte Heinrich sich aufzurichten, fand Halt auf den Körpern seiner Sitznachbarn, die „Au“ schrieen, fingerte nach der Türschnalle über ihm, fand sie endlich, drückte die Tür nach oben, wieder Au-Schreie, und kletterte mühsam aus dem Führerhaus. Danach half er Herrn Wipplinger und Herrn Stöttner. Immer noch hatten sie keine Vorstellung, wie das hatte passieren können. Im Dunkeln sahen sie Konturen verstreuter Eisenteile. Keiner sagte etwas. Erst als sie Gendarmerie, Rettung und Feuerwehr hörten, es hell auf der Straße oben geworden war, kletterten sie die Böschung hinauf. Da sahen sie im Scheinwerferlicht, was im Finsteren nicht zu sehen gewesen war. Einen LKW-Fernzug, halb liegend, das Führerhaus komplett eingedrückt, der Fahrer eingeklemmt. Die Ursache für ihren Flug über die Böschung war geklärt. Feuerwehrmänner schnitten den Fernfahrer aus dem Führerhaus, die Rettung brachte ihn ins Krankenhaus. „Da unten müssen Leichen liegen“, hörten sie aus der Gruppe der Retter. Was sie hörten, kam bei ihnen nicht an. Der Vorfall hatte ihnen die Sprache verschlagen. Erst langsam wurde ihnen klar, wer mit Leichen gemeint war. Wie war es möglich, dass nach diesem schrecklichen Flug der vordere Teil des LKWs nicht komplett ruiniert war, sie noch lebten? Zurück auf der Wiese fanden sie den Retter. Der Kran an Heinrichs Lastwagen, hinter dem Führerhaus, überragte dieses um achtzig Zentimeter. Er hatte sie geschützt. Mit Prellungen, Beulen und blauen Flecken waren sie davon gekommen. Die Gendarmerie verständigte auf Heinrichs Bitte die Fa. Kern – Autoverwertung. Mit Spezialfahrzeugen wurden die beiden LKWs abtransportiert. Bis auf einige Teile ließ Heinrich das Fahrzeug verschrotten. Das Eisen wurde am nächsten Tag von Voestarbeitern eingesammelt. „Das war das Ende eines meiner Lastwägen.“ Heinrich tat das Herz weh. „Aber unser größtes Glück war, wir sind am Leben geblieben.“ Der Vater, Josef Grünzweil, übersiedelte mit seiner Lebensgefährtin an einen anderen Ort, wo er noch einmal eine kleine Landwirtschaft pachtete, das Gruberhäusl. Einige Zeit lief alles gut. Dann kam ein jüngerer Mann dazwischen. Die Frau wäre nicht zimperlich gewesen. Man sprach davon, sie hätte Josef Grünzweil „hinausgehaut.“ Wie auch immer. Jedenfalls fand der Vater den Weg zum Sohn und bat diesen um Hilfe und Unterkunft. Er saß in Heinrichs Stube, weinte, lamentierte, sagte: „Sei so gut, gib mir eine Schlafgelegenheit, ich weiß nicht, wo ich hin soll, bitt gar schön, ich helfe dir dafür bei deiner Arbeit.“ Er schluchzte und schnäuzte, raunzte erbärmlich. So einfach war das nicht für Heinrich, nach allem, was vorgefallen war. Der Mutter wollte er das nicht antun. Auch um Hilfe bei der Räumung des Gruberhäusls bat er. Mit zwei Lastwägen holte Heinrich die Tiere. Einen fuhr er selbst, den anderen ein Freund. Der Vater bot den beiden, die sich im Stall umsahen, Most an. Er ging ins Wohnhaus, öffnete im Vorhaus die Bodenluke, unter der eine Stiege in den Keller führt, stieg hinunter, um das Getränk zu holen. Kurz darauf fiel die Falltür krachend zu. Die Frau lachte. Eilig holte sie schwere Sachen herbei und beschwerte damit die Bodentüre. Der Gefangene stand im Dunkeln, tapste in Richtung Treppe, schaffte es nicht die Türe anzuheben, fing an zu rufen und zu klopfen. Endlich hörten das die beiden Männer, die für die Erfrischung das Haus betraten. Die Lastwägen hatten niedrige Bordwände, waren für Viehtransport nicht geeignet. Auf der vorsichtigen Heimfahrt stieg tatsächlich eine Kuh mit den Hinterbeinen darüber, fiel gänzlich hinaus, hing an der Kette. Für die drei Männer eine schwierige Aufgabe, sie wieder auf die Ladefläche zu hieven. Zum Glück blieb sie unverletzt. In Heinrichs Stall fand das Vieh kurzzeitig Unterkunft, der Vater konnte es schnell verkaufen. Heinrich wies dem Vater eine Dachkammer zu. Nun war der Vater abhängig, nicht mehr der Sohn, nicht mehr Heinrichs Mutter von ihrem Mann. Mag das Heinrich bewogen haben, den Vater bei sich aufzunehmen? Das zu diesem Zeitpunkt umgekehrte Verhältnis? Heinrich war der Herr im Haus, der Vater ein Gast. War es eine späte Zusammenführung der Familie? War es die nicht überwindbare Liebe, die Kinder zu ihren Eltern im Herzen tragen, selbst wenn sie deren Tun ablehnen? Der Mutter sollte er nicht in die Quere kommen. Die Spannung, die sich aufbaute, löste Johanna, die Mutter, indem sie mit ihm sprach, wenn sie sich begegneten, was kaum zu vermeiden war. Untertags begleitete er Heinrich im Lastwagen und half auch bei der Verladung von Alteisen. Kamen die Beiden zu Bauern, bettelte er überall nach Most. Heinrich war das peinlich, der Vater war nicht davon abzubringen. So ging das Leben weiter seinen Gang. Öfter schlief der Vater abends nach dem Essen, während er seine Pfeife rauchte, am gemeinsamen Tisch ein. Eines Morgens kam er in die Stube und begann zu schreien, jemand habe ihm, während er schlief, Geld aus seinem Beutel gestohlen. An jenem Tag reichte es Heinrich ein für alle mal. Er wies ihn für immer aus dem Haus. Schnell fand er Unterkunft bei einer Frau in Putzleinsdorf, die er schon länger gekannt haben musste. Heinrich wollte endgültig nichts mehr von ihm wissen. Am 17. September 1975 verstarb er neunundsiebzigjährig in Linz in einem Krankenhaus. Auf dem Friedhof von Putzleinsdorf liegt er begraben. Heinrich kam durch seine Arbeit viel herum, auch ein bis zwei Mal wöchentlich nach Putzleinsdorf. Die Gemeindestraße führt entlang des Friedhofs. Er besuchte das Grab kein einziges Mal. Zu bitter war die Zeit ab 1950 für die Familie gewesen. Wehrlos dem verantwortungslosen Verhalten des Vaters ausgesetzt. Bittere Gedanken tauchten und tauchen auf, kommt Heinrich an diesem Gottesacker vorbei. Verlassen und nicht beachtet zu werden sind die schlimmsten Dinge, die Kindern widerfahren können und Müttern, die verlässliche Partner brauchen. Kommt er in Putzleinsdorf vorbei, denkt er – es ist unvermeidbar – an seinen Vater. So sehr er auch möchte, er kann die Gefühle und Gedanken nicht verhindern. Er kann nicht anhalten. Er kann nicht auf den Friedhof gehen. Er kann das Grab nicht suchen. Er kann nicht verstehen. Er kann nicht verzeihen. Mit aneinandergereihten Bildern im Kopf steigt er fester auf’s Gas. Zur Verlassenschaftsverhandlung am Bezirksgericht Lembach waren alle sechs Geschwister geladen. Sie müssten froh sein nichts zahlen zu müssen, sagte der Richter. Schon zu Lebzeiten hatte er Wertsachen und Sparbücher der Lebensgefährtin überlassen, in keiner Weise die Kinder bedacht. Einschneidende Erlebnisse: 1974 der LKW-Unfall, 1975 der Tod des Vaters, der wieder viele Gedanken aufwirbelte, 1976 starb unerwartet die Mutter. Für den noch unverheirateten Heinrich war sie eine große Hilfe gewesen. Um alle Anliegen im Haushalt kümmerte sie sich, dazu um das Vieh im Stall. Sie bearbeitete mit Heinrich die Wiesen, kümmerte sich um den so wichtigen Acker, das Essen für Herbst und Winter. Als die Schwiegertochter ins Haus gekommen war, übernahm diese die Stallarbeit, das Ausmisten, das Einstreuen, das Füttern der Hühner, Schweine und Kühe und das Melken. Die Mutter war froh über diese arbeitsame Schwiegertochter Berta, die große Entlastung. Überall griff Heinrichs Frau zu. Sie half nach wie vor die Besen zu binden, für die immer noch Aufträge einliefen, sie half Eisen und Metall sortieren. Berta hatte vor der Heirat nie in einer Küche arbeiten können. Das hätte sie gerne gewollt. Das hatte die Bäuerin gemacht, die Magd war draußen zuständig, für alle schweren Arbeiten. Bei Heinrichs Mutter konnte sie die Grundbegriffe des Kochens erlernen, machte rasch Fortschritte. Tochter Silvia erinnert sich besonders an die so guten Apfelschlangerl. Wie viele Äpfel mussten aus dem Obstgarten geholt, wie viele für die große Familie geschält, wie viele Schlangerln gebacken werden, damit für jedes Mitglied wenigstens zwei Stücke abfielen? Tochter Silvia sieht sie noch sitzen, eine Schüssel im Schoß, einen Apfel nach dem anderen in der Hand. Bald roch es phantastisch in Küche und Haus. Kann sein, der Tante Jolesch-Effekt aus Friedrich Torbergs gleichnamigen Buch, tat noch das Seinige hinzu. Als diese im Sterben lag, wollte die Familie unbedingt noch erfahren, wie sie ihre Krautfleckerln zubereite, die besten Krautfleckerln ever. Das Geheimnis kennen wir: Sie kochte knapp, was bedeutete, es landete nicht allzu viel auf den Tellern der Gäste. Nach einer weiteren Portion hätte es die Verwandtschaft gelüstet, die Pfanne aber war schon leer, der Geschmack klebte noch am Gaumen. Knapp kochte Berta nicht. Die Bleche waren voll. Die Münder viele. Zwei Stück Apfelschlangerl, wenn jedes aus der Kinderschar drei oder vier auf einmal verdrücken könnte? Wie wir sehen schmeckt das Essen am besten, wenn wir Maß halten. Berta wurde eine gute Köchin. „Wenn wir von der Schule nach Hause kamen, war immer gutes Essen für uns da“, so die Töchter Hannelore und Silvia. Herrlicher Lammbraten kam aus ihrer Küche, Blunzen machte sie selber, Bratl und gekochte Ripperl, Sauerkraut aus dem eigenen Fass, weitere gschmackige Gerichte probierte sie aus. Auch ihre Hausmannskost schmeckte hervorragend. Von den umstehenden Hollerstauden kam der Röster, Zwetschgen, Äpfel, Birnen bereicherten die Kost. Besonders in Erinnerung ist ihren Kindern die Zwetschgensuppe. Aus Wasser, Zucker, Zimt und einer leichten Einmach, entstand dieses begehrliche Gericht. Am 3. Dezember 1976, Heinrichs Mutter war im neunundsiebzigsten Lebensjahr, ging sie, wie öfter, einkaufen. Den Ederhügel hinauf, auf der anderen Seite hinunter nach St. Johann. Zurück konnte sie jeweils mit dem Milchmann fahren, also auf dem von Pferden gezogenen Wagen aufsitzen. Die leeren Milch- und Rahmkannen schepperten. Auch an jenem Tag kam sie zu der bestimmten Stelle, beim alten Feuerwehrzeughaus. Sie sah den Milchmann gerade abfahren, fuchtelte mit den Armen und rief so laut sie konnte nach ihm. Er schaute nicht zurück und hörte wegen des Fahrlärms auch nichts. Da war nichts mehr zu ändern. Mit der für die alte Frau doch recht schweren Tasche – neben anderen Lebensmitteln waren auch Nikolaussachen für die Enkelkinder darin – machte sie sich auf den Heimweg. Schnell wollte sie nach Hause, es war schon Zeit zum Kochen. Vorbei am Kepplingerwirt, wo ihr immer die Geschichte mit der Katze einfiel, weiter zur Abzweigung nach Petersberg. Von dort geht es bergan. Nach einigen Metern blieb sie stehen. Sie verschnaufte. „Es geht wieder“, sagte sie zu sich selber. Bald brauchte sie wieder eine Verschnaufpause: „Alt werde ich halt.“ Sie stellte die Tasche ab. „Wie oft bin ich diesen Weg leichtfüßig gelaufen? Hunderte Male, mehr? Wie oft werde ich ihn noch schaffen? Blöd, dass ich den Milchmann verpasst habe. Mit Vater, Hund und Ziehwagen, war ich hier häufig unterwegs. Jeden Sonntag, zur Frühmesse. Mit den Kindern zum Bus, wenn wir einen Arzt in Linz aufsuchen mussten. Der Mann? Gott hab ihn selig!“ Gerne hätte sie sich hingesetzt, was ihr im Schnee doch zu gefährlich erschien. „Und wie käme ich mit meinen alten Knochen auch wieder auf die Beine?“, fiel ihr noch ein. Immer wieder wurde ihr die Luft knapp, blieb sie stehen, stellte die Tasche ab. Mit: „Ich werd’s schon schaffen“, schloss sie erneut die Finger um die Henkel der Tasche. Wartete noch etwas zu. „Der Mann hat mich schön hängen lassen! Die Not, die wir gehabt haben. Es ist mir nichts geblieben, als das Äußerste zu tun. Niemand wird verstehen, dass ich sogar stolz bin, diese Erniedrigungen auf meinen Bitt-Gängen mit den oft mageren Ergebnissen, manchmal auch Demütigungen, ertragen zu haben. So sind wir davon gekommen. Ja, wir haben überlebt. Heute geht es den Kindern gut. Sie sind verheiratet, haben Familie. Nur der Adolf. An den Adolf denke ich oft. Es ist mir schwer ums Herz. Was ist mit ihm passiert? Trage ich Schuld? Wird er noch zu einem guten Leben finden? Adolf, mein Jüngster. Ich vermisse dich doch so sehr.“ Während einer weiteren Rast sagte sie halblaut: „Noch bis zum Elternhäusl. Das Dach sehe ich schon.“ Der Bruder wohnte dort, wo sie ihre Kindheit verbracht hatte. „Bei seiner Familie kann ich rasten, mich ein wenig hinlegen, bis es mir besser geht“, tröstete sie sich. Es war mühsam. Sie gab nicht auf. Unter dem Dach tauchte das Häusl auf. Das machte ihr Mut. Sie hielt an. „Gut, dass der Heinrich nach Hause gekommen ist und das Anwesen übernommen hat. Das war noch eine gute, schöne Zeit mit ihm, den Enkeln Heinz, Hannelore, Monika, Silvia, Herbert, Erich, dem Baby Martin. Die Hannelore ist schon recht verständig und oft bei mir. Sie begleitet mich zum Arzt und wenn ich ein Schmerzpflaster für das Kreuz brauche, klebt sie mir das auf. Ich hebe den langen Kittel hoch, es macht ihr nichts aus, dass ich keine Unterwäsche trage, wie eben die Frauen bei uns auf dem Land. Gut macht sie das. Eine große Hilfe ist sie für mich.“ Dass Erika sich noch anschließen würde, konnte sie nicht wissen. Möglich, sie hätte diese jüngste Enkelin besonders geliebt. Genau auf der Höhe des Elternhauses brach sie zusammen, blieb liegen, stand nicht mehr auf. Diesen Platz hatte sie sich ausgesucht. Diesen Platz, wo sie mit Mutter und Vater daheim gewesen war. Mutter und Vater, zu denen wir heimgehen möchten, wenn wir alt werden, das Leben uns mühsam wird. Einmal trat eine fast Neunzigjährige, das Kirchentascherl in der Hand, vor die Haustüre des Altenheimes. Auf die Frage wohin sie gehe, sagte sie: „Heim zu der Mama.“ Heinrichs Mutter empfing vom Herrn Pfarrer noch die heilige Krankenölung. Vielleicht war die Seele ja noch da gewesen. Der Himmel stand ihr so und so offen. Wenn nicht ihr, wem sonst? Heinrich war geschäftlich unterwegs, als er die Botschaft erhielt. Er war sehr traurig. Er war ein guter Sohn gewesen. Die Mutter hatte es gut bei ihm gehabt. Sie fehlte ihm. Er erinnerte sich an die junge, trotz allem, fröhliche Mutter. Einmal im Jahr, meistens in der Ferienzeit, machte sie, bei schönem Wetter, zusammen mit den Kindern, einen Ausflug, nach Helfenberg, zur Waldkapelle. Alle liefen barfuß. Ausgerüstet mit einer Wasserflasche und getrockneten Apfelspalten wählte sie einen Umweg. Eine Fuß-Wallfahrt sollte schon einige Zeit dauern. In die Gegenrichtung brachen sie auf. Der weitere Weg hatte aber auch einen Vorteil. Er war besser zu gehen. Entlang des Weges vorbei an den Häusern Fischböck, Küger, Böschlhäusl, Pöschl, Putzenschuster, Lattner, Viehböck, Wirzling, Seppenhans, Haudum, Peternhäusl. Wipplinger, Ortschaft Uttendorf, den Fauxmühlerberg hinunter zur Fauxmühle, dann entlang der Steinernen Mühl, weiter vorbei an den Auhäusern, am Dorf Dobring. Bald ist Helfenberg in Sicht. Am Ende des Ortes steht das Elternhaus des Vaters. Auch dort geht es noch vorbei, weiter bis zur Waldmühle. Auf der rechten Seite zweigt der Weg ab. Aufwärts durch den Wald geht die Wanderung zur Waldkapelle. Die Wasserflasche war unterwegs mehrmals leer geworden. Bei den Häusern, an denen sie vorbei kamen, füllten sie diese wieder an. In der Waldkapelle betete die Familie und rastete, es ist kühl in diesem kleinen Kirchlein. Im Schatten der Bäume teilte die Mutter die Apfelspalten aus, eine Köstlichkeit für besondere Anlässe. Die Müdigkeit der Kinder war schnell verschwunden. Sie erforschten die Umgebung, spielten Fangen und Verstecken. Die Mutter erzählte den Kindern von den Verkaufsstandeln, die es vor dem Krieg dort gegeben hat. Kleine religiöse Statuen, Rosenkränze, Andenken und besonders auch Süßigkeiten, wurden angeboten. Der kleinwüchsige Standlmann war als das „Süße Mandl“ bekannt. Auf diesen dürften die damaligen Kinder sich mehr gefreut haben als auf die Wallfahrtskirche und das Beten. Auch wenn es das nicht mehr gab, für die Familie war es ein sehr froher Tag. „Ein zusätzlicher schöner Tag“, wie Heinrich sagt. Auf dem Heimweg wählte die Mutter die kürzere Strecke. Von Helfenberg über die Auwiese zur Kitzmühle, Gsteckenhäusl, Petern zu Kitzberg, Tonipoidl, Lindorfer-Winkler, Unterviehböck, Oberviehböck, Wurzinger, wieder der Fischböck, noch den Frauenschlägerberg hinauf und schon sind sie wieder bei ihrem geliebten Zuhause. Für Heinrichs Nachkommen und für Einheimische mag die Angabe der Wanderroute, die Heinrich wichtig ist, interessant sein. Jedem anderen Leser ist sie zu empfehlen. So ein Rundgang, besonders allein, über schlechte Wege, über Wiesen, vorbei an kleinsten Siedlungen, arbeitenden Menschen, die für uns, bis wir ein wenig anhalten, nach ihrem Tag, ihrem Tun fragen, gute Bekannte sind, die wir noch nicht kannten. Weiter durch den kühlenden Wald zur gleichnamigen Kapelle, erbaut an einem Kraftort, in der wir uns, gleich welchen Glaubens oder ohne, unseren Gedanken überlassen, geht beinahe einig mit einem Aufenthalt in entfernten Mönchsklöstern, oder auch in näheren, wohin Menschen fliegen oder fahren, wenn sie sich selbst verloren haben. Eine ruhige Wanderung führt uns heim zu uns selbst. Bist du traurig oder einsam, bleib stehen, umarme kräftige Bäume im Wald, erzähle ihnen von dir, lass die Tränen fließen, bis sie von selber aufhören. Gekräftigt trittst du den Heimweg an. Nach wie vor liebte Heinrich seine Arbeit und blieb erfolgreich. Er war dankbar für die unfallfreien Abtragungen großer Objekte. Mit Überlegung, ohne Eile, dafür mit Ausdauer ging er die Sache an. „Langsam und ziegsam“ (beharrlich), nennt er das. Der Schneidbrenner war sein Haupt-Werkzeug. Als Arbeitsschutz trug er eine blaue Latzhose, einen Hut und meistens Gummistiefel. Fragte jemand nach ihm, hieß es: „Dort drüben, der Mann mit dem Hut.“ Ein begabter Steinhauer schuf eine recht gute Skulptur von dem Mann mit dem Hut, den Schneidbrenner in der Hand, Alteisen und Buntmetall trennend. Vor seinem Geburts- und Wohnhaus steht er, einige Meter neben seiner Eingangstüre, der steinerne Heinrich. Blumenumrankt im Sommer, viel Schnee zu seinen Füßen im Winter. Höbe er die Augen, sähe er sich umringt von vielen steinernen Freunden, wie einem großen Löwen, einem Adler, einer Eule, zwei Störchen, einem Habicht, einer Schildkröte. Bisamratte und Fuchs vertragen sich dort, das Pferd hat nichts gegen die Kuh, das Kamel trägt seinen Kopf hoch. Der gestiefelte Kater, der schaut sich das an. Ein Krautbottich aus dem Jahre 1620 und verschieden große Wassergrander stehen bereit. Obstmühlsteine von ein bis ein Meter dreißig Durchmesser ruhen sich aus. Steinerne Tische sind zu sehen, dazu die Bänke, ein Marterl, wertvolle Türgerichte und Türbögen, versehen mit Jahreszahl und Namen, schließen sich an. Eine wertvolle Sammlung aus behauenem Stein, hat Heinrich zusammengetragen. Das Steinhauerblut mag ihn dazu aufgefordert haben. Am Sonntag, den 25. Jänner 1987, war in der Zeitung unter „Lokales“ zu lesen: „Augenspezialisten in Linz kämpfen um die Sehkraft des Fahrzeug- und Schrotthändlers Heinrich Grünzweil (50) aus St. Johann am Wimberg.“ Am Tag des Unglücks, am Samstagvormittag, war Heinrich zur Lagerhalle und Werkstatt gegangen. Sein Vorhaben: den Firmenlastwagen reparieren. Am Abend zuvor, am Freitag, auf der Heimfahrt von Linz war der Dieseltank schon recht leer geworden. Die nächste Tankstelle war nicht weit. Wegen großer Kälte war sie nicht in Betrieb. Alles eingefroren. „Eine kommt noch“, fährt Heinrich weiter. Selbes Pech bei der Lagerhaus-Tankstelle in Zwettl an der Rodel. Mit dem letzten Rest schnauft der LKW Richtung Petersberg, stirbt ab. Heinrich steigt aus, putzt Schauglas und Filter. Das Fahrzeug springt wieder an. Bald gibt es wieder den Geist auf. Heinrich putzt erneut. Ein drittes Mal mag er nicht weiter, der LKW. Fast vier Stunden ist Heinrich in dieser Kälte von Zwettl aus schon unterwegs. Vierzig Minuten braucht er normalerweise. Endlich stottert er zur Lagerhalle und Werkstatt. Heinrich überlegt: „Die Filter und die Dieselleitungen werden verschmutzt sein, vom letzten Rest aus dem Tank, weil er nicht mehr ordentlich ziehen wollte. Die putz ich morgen.“ Er verlässt die Werkstatt und geht durch die eisige Kälte am schon späten, dunklen Abend zum erhellten Wohnhaus hinab. Immer ein Lichtblick. Gemütlich leuchtet es aus den Fenstern. Schon fühlt er die Wärme, die Geborgenheit, die die Familie einander gibt. Müde, schmutzig und hungrig tritt er ein, zuhause bei Frau und Kindern, die schon auf ihn warten. Heinrich ist bis heute ein Frühaufsteher. „Morgenstund hat Gold im Mund“, daran hält er sich. Der vierzehnjährige Sohn Erich begleitete ihn, um zu helfen und gleichzeitig zu lernen. Heinrich werkte schon am Fahrzeug. Alles war eingefroren. Er holte den Schneidbrenner, um mit der Flamme, aus einiger Entfernung, die Dieselleitungen anzuwärmen. Da kam ein Kunde. Er schickte den Sohn hinaus zum Kunden und zum Lagerplatz, wo der Käufer etwas Geeignetes für sein Vorhaben zu finden hoffte. Kaum hatte Erich die Werkstatt verlassen, hörte er den lauten Knall einer Explosion, rannte zurück, sah eine Stichflamme, löschte den brennenden Lastwagen, sah den Vater, der sich mit einer Hand daran abstützte, die andere hielt er über die Augen. Geistesgegenwärtig rief Erich sofort den Arzt. Die Rettung brachte Heinrich ins Spital nach Rohrbach und weiter in die Augenabteilung des Allgemeinen Krankenhauses. Im Tank war der Diesel-Rest explodiert. Durch den entstandenen Druck flog der Tankdeckel wie ein Geschoß in Heinrichs Gesicht und verletzte ihm die Augen schwer. Zum Glück drohte keine Erblindung. Monika, sein drittes Kind, liegt Heinrich besonders am Herzen. Ein aufgewecktes Kleinkind soll sie gewesen sein, von dem Verwandte und Nachbarn schwärmten. Dann geschah ein Unglück. Vater und Mutter waren mit der Heuernte beschäftigt, Heinz und Hannelore mit auf der Wiese, nicht weit vom Haus. Für den Mittagsschlaf hatte die Mutter die kleine Monika in das Elternschlafzimmer im ersten Stock gelegt. Es war sehr heiß, sie ließ das Fenster auf der bereits schattigen Ostseite offen, das Kind sollte gute Luft haben. In der schweißtreibenden Hitze wendeten sie das Heu. Nach einiger Zeit hörten sie einen Schrei. Gemeinsam liefen sie zum Haus und fanden das Kind unter dem Fenster auf dem dortigen Sandhaufen, der vom Hausbau übrig geblieben war. Niemand hätte gedacht, dass Monika, die zwar schon stehen konnte, sich aber noch als Vierfüßler fortbewegte, es schaffen könnte, auf das Fenster zu klettern. Am niedrigen Nachtkästchen hatte sie sich hochgezogen, schob dieses zum nahen Fenster, kletterte hinauf um hinaus zu schauen. Dabei war es leider nicht geblieben. Beide Eltern bückten sich um das weinende Kind. In den Armen der Mutter tröstete sie sich. Es fand sich keine Abschürfung, auch sonst zeigte sich nichts. Einen Arzt besuchten sie daher nicht, was Heinrich später sehr leid tat. Als sie schließlich gehen konnte, drehte sie die Zehen nach innen und stolperte oft. War es eine Folge des Fenstersturzes? War es angeboren? Einmal fiel sie von einem Lastwagen-Anhänger herunter, genau auf den Kopf. Kinder machen oft spaßige Sachen. Die jüngere Schwester Silvia und Monika sperrten sich im Elternschlafzimmer ein. Einige Zeit später gelang es ihnen nicht, die Türe wieder zu öffnen. So beschlossen sie, aus dem Fenster auf den Sandhaufen zu springen. Silvia machte das nichts aus, Monika fiel ungünstig. Eltern wissen, es ist ein Glück, Kinder, ohne gravierende Unfälle, groß zu bekommen. Silvia und Monika besuchten gemeinsam die Schule. Miteinander gingen sie über den Ederhügel nach St. Johann. Monika brauchte für alle Arbeiten etwas länger, so beschloss die Direktorin, das Kind einer Sonderschule zuzuweisen, nach Peuerbach, in das Internat. Silvia vermisste Monika sehr. Waren sie doch ein Herz und eine Seele gewesen. Bis zum Ende der Schulzeit musste sie auf die Schwester verzichten. Dann kam diese wieder nach Hause. Körperlich schlechter, als zuvor. Das Gehen war und ist bis heute mühsam, ohne Gehhilfe kaum möglich. In der Werkstätte Elisabeth, in Altenfelden fand sie Arbeit. Bis heute – sie ist über fünfzig Jahre alt – geht sie sehr gerne dort hin. Spaß haben die Leutchen miteinander. Monika kann gut stricken, plaudert und lacht gerne. Das Schönste in ihrem Leben: Als sie wieder bei der Familie lebte, kam ein Schulfreund aus der Internatszeit zu Besuch. Die Freude war groß, Peter wieder zu sehen. Peter hatte es nicht gut. Seine Eltern waren kaum in der Lage, ihn zu unterstützen, sie hätten selber Hilfe bitter nötig gehabt. Peter war mit seinem Moped aus Steyr angereist. Seine Familie lebte dort und er hatte auch einen Arbeitsplatz. Auf der gerade begonnenen Rückfahrt verunglückte er mit seinem Moped in einer Kurve nahe dem Haus und brach sich ein Bein. Eine Woche verbrachte er im Krankenhaus. Als er in Steyr wieder zur Arbeit gehen wollte, war er gekündigt. Er hatte seinen Chef nicht benachrichtigt. Es kann sein, er wusste nicht, wie er das hätte angehen sollen. Ein Handy besaß er nicht, wer weiß schon auswendig eine Telefonnummer. Es ist schwierig, sich zu helfen, wenn man nicht weiß wie. Die Familie Grünzweil beschloss, er könne in der Firma mithelfen. Das Unglück mit dem Beinbruch wurde zum Segen für ihn. Die beiden erhielten eine geräumige Wohnung im Elternhaus. Peter führt den Haushalt und tut alles für Monika. Kann sie auf Reha gehen, ist er traurig, bis sie wieder kommt. Diese beiden Menschen, bei denen es anfangs nicht gut aussah, haben ein mehr oder weniger sorgloses, von der Familie behütetes Glück, finden dürfen. Vater Grünzweil ist von Herzen froh darüber. Essen auf Rädern genießen die beiden Männer täglich miteinander, mit Monika an Wocheneden. Anlässlich eines Frühlingsspazierganges entlang einer mit Maulwurfhaufen übersäten Wiese erzählte Heinrich die Geschichte des „Mauseimannes“. So wurde dieser genannt, hatte aber mit den damals noch nicht geschützten Maulwürfen sein Geschäft gemacht. Auf den braun gehäufelten Wiesen setzte er Fallen. Bei manchem Haus brauchte man ihn im Garten. Sein Geschäft war das schöne dunkle Fell dieser Tiere, das er gut verkaufen konnte, nachdem er es zum Trocknen aufgespannt hatte. Tabakbeutel wurden daraus hergestellt, auch Geldbeutel, Schals, Hauben und anderes. Der Mauseimann besaß ein Haus und war verheiratet. Seine große, fesche Frau wirtschaftete gut. Bei ihnen im Haus lebte eine Schwester der Frau, die klein und rund war, mit eher langsamen Gedanken. Pumbsei wurde sie ihres pummeligen Aussehens wegen, liebevoll genannt. Während des Krieges kamen Soldaten und fragten nach der kleinen Person. Sie sei nicht da, hieß es. Die nicht gerade feinfühligen Soldaten stürmten das Haus, fanden die Frau, nahmen sie kurzerhand mit, brachten sie nie wieder. Niemandem hatte das Pumbsei je etwas zu leide getan. Die einen waren erschüttert, die andern sagten: „Endli sand’s abgfahrn mit ihr.“ Der Mauseimann besaß auch einen Webstuhl. Kunden schnitten alte Kleidung, Wäsche, Stoffreste in Streifen, nähten diese zu einem Endlosband. Daraus entstanden nach Wunsch, kürzere oder längere, breitere oder schmälere, bunte Fleckerlteppiche. Als der Mauseimann längst gestorben war, der Webstuhl aber noch da stand, wie das halt so ist, dass Dinge uns weit überleben, hat Heinrich ihn gekauft und seinem Museum einverleibt. Gebrauchstüchtig zeigt er sich den Besuchern. Ja, dieser Mauseimann tat die verschiedensten Dinge, bei denen uns heute die Haare zu Berge stehen. Gab es auf einem Hof, Häusl oder Haus schon all zu viele Katzen, was eigentlich dauernd passierte – sie wurden nicht, wie heute, kastriert – brachten die Besitzer die armen Dinger zum uns schon bekannten Mauseimann. Dieser hatte ein Loch in seine Stubentür gebohrt, was ja noch nicht tragisch wäre. An einem Ende einer längeren Schnur machte er eine Schlaufe, fädelte das andere Ende durch, zog daran bis der Kreis sich der Halsweite der Katze näherte. Dieses Ende legte er der Katze an, das offene fädelte er durch das Türloch, verließ die Stube, schloss die Tür. Bis dahin hatte die Katze noch nicht geahnt, was auf sie zukommen würde. Das Fleisch aß die Familie. Das Fell spannte er neben die der Maulwürfe. Katzenfell war ein gutes Geschäft. Nicht, dass der Mauseimann ein schlechter Mensch gewesen wäre. Ganz und gar nicht. Zweifelsfrei hätte er sich ein anderes Geschäft auch vorstellen können, ein bequemeres, als auf Wiesen herum zu knien, Fallen in Gänge der zu fangenden Tiere zu setzen, Beobachtungsgänge, Einsammeln der Beute, das Fell abziehen, das schöne schwarze Fell der kleinen unschuldigen Viecherl. Ebenso mag das Töten der Katzen kein Spaß für ihn gewesen sein, sonst hätte er das Loch in der Tür ja nicht gebraucht. Das was wir nicht sehen, ist nicht so schlimm für uns. Nicht hinschauen? Nicht genau schauen? In einer Welt voller Lügen sind wir aufgewachsen, in einer Welt voller Lügen halten wir uns auf, fühlen uns nicht schlecht dabei, vergessen rasch. Kleines Geld zum Überleben wurde gemacht, wie es gemacht werden konnte. Großes bis heute genau so. Immer auf Kosten anderer. Wer in der Wirtschaft tätig ist, muss ständig flexibel bleiben. Im Sekundär-Rohstoffhandel gingen die Preise auf und ab. Konnte wenig exportiert werden, war es oft schwierig den Kunden die niedrigeren Verkaufspreise plausibel zu machen. Es konnte der vorige Einkaufspreis nicht gehalten werden. Eisen wurde auch gelagert, bis die Preise wieder anzogen, so ferne genug Platz vorhanden war und das Geld reichte. Schließlich verfielen die Preise ordentlich. Billige Importe aus China wurden von der Stahlindustrie bevorzugt. Heinrich betrieb das Eisengeschäft zwar weiter, aber es war nicht mehr so ertragreich. Ein neuer Aufschwung kam nach einigen Jahren erneut. Der Handel mit Alteisen, Buntmetallen und so weiter, ist abhängig von der Weltwirtschaft. 2019 gibt es erneut einen Einbruch. Hat der strohblonde Amerikaner etwas damit zu tun? Heinrich hatte schon vorausgedacht. Einen tragfähig gemauerten Keller an der Hanglage abwärts von der Straße hatte er erbaut, der die Grundlage für seinen geplanten Gasthof mit Fremdenzimmern bildete, den er bis zum Weiterbau als Lagerraum benützte. Auf seinen Geschäftsreisen hatte er den florierenden Tourismus gesehen, der ihn bewogen hatte, diesen Abstellraum so zu gestalten, dass das Vorantreiben des Gebäudes flott vor sich gehen konnte. Die Hanglage war mit dem Keller überwunden, der Eingang konnte ebenerdig zur Straße errichtet werden. Die Schlackenziegel für die Grundmauern hatte er selber geschlagen. Seine Frau Berta, die immer eine gute Arbeitsgefährtin für ihn war, unterstützte ihn. Hatte er Geld, kauft er Ziegel und baute weiter. Seinem Grundsatz, keinen Kredit zu nehmen, blieb er auch bei diesem Unternehmen treu. Nachdem das Erdgeschoss mit Decke fertig war, gab es eine Bau-Pause. Als er dachte, das Geld müsse für den Weiterbau reichen, wuchs der erste Stock hinan, darüber das schützende Dach. Nach der Ausfertigung präsentierte sich ein großes, ansprechendes, herrschaftliches Gebäude, alleinstehend, nahe der Straße, neben Wald und Wiese. Die Gaststube ging bald in Betrieb. Heinrichs Töchter hatten das Kochen erlernt, Sohn Martin die Tourismusschule in Bad Leonfelden abgeschlossen. Ein Koch wurde eingestellt, die Töchter und Söhne, die nicht in der Küche beschäftigt waren, servierten. Jedes von Heinrichs erwachsenen Kindern hatte seine Aufgabe. Speisenplanung, Einkaufen, Vorratshaltung, Speisen-Berechnung, Getränke, Kochen, Gedecke auflegen, Servieren, Kassieren, Abwaschen, Putzen. Heinrich kümmerte sich um die Gäste. Viele kannte er, fragte nach ihrer Zufriedenheit, andere, woher sie kämen, wie es dort sei. Er erzählte vom Mühlviertel, die Geschichte der Ruine Waxenberg, von Maximilian dem I., dem letzten Ritter, der 1486 römisch deutscher König geworden war und ab 1508 Kaiser des Heiligen römischen Reiches, in dessen Besitz die Grafschaft Waxenberg war. Weiter, von den Waxenberger Rittern, die nicht aussterben. Alle zwei Jahre gibt es Ritterspiele, die an das ritterliche Gedankengut erinnern. Die Ritterschaft Waxenberg ist Mitglied des Bündnisses abendländischer Ritterschaften. Er erwähnte einen Türüberleger eines noch erhaltenen Nebengebäudes der Ruine Waxenberg, in den ein damaliger Steinmetz die Jahreszahl 1291 gemeißelt hatte. Viel könnte dieser Stein erzählen, von den Jahrhunderten, die an ihm vorbeizogen. Vom Landgericht zum Beispiel, das eines der bedeutendsten und ältesten im mittleren Mühlviertel war. Oder vom zweihundert Meter entfernten Schloss Waxenberg, das vermutlich Anfang des 17. Jahrhunderts erbaut wurde, in das die Starhembergs 1756 übersiedelten. Schon mehr als hundert Jahre zuvor, 1644, hatte ein Vorfahr, Konrad Balthasar von Starhemberg, Burg und Herrschaft gekauft und bis heute sind sie im Besitz dieser Familie. Um 1750 sollen 745 Untertanen beschäftigt gewesen sein. Schloss Wildberg erwähnte er, Burg Piberstein, die kulturellen Veranstaltungen dort. Auch das schöne Schloss Revedera bei Helfenberg, das bis heute bewohnt ist, vergaß er nicht. Viele Jahrhunderte sind seitdem über das Land gegangen und jedes hat seine Geschichte. Mehr schlimme als gute Zeiten für die Bauern, die Häusler, die Werktätigen. Die zur gleichen Zeit guten Jahre, waren reserviert für die Adeligen. Heinrich ist ein guter, bedächtiger, launiger Erzähler. Mit einem Glas Bier saß er bei den Gästen, die seine Geschichten gerne hörten. Wenn er abends die Abrechnung machte, freute er sich. Es lief. Lange Zeit hatte das Mühlviertel gebraucht, um sich aufzurappeln, zu lange. Geographisch am Nabel Europas, politisch vierzig Jahre am Ende der Welt. Mut, Fleiß, Ausdauer zeichnen die Mühlvierter aus. Bis heute sind die Menschen aus dem Mühlviertel begehrte Mitarbeiter. In Spitälern die Ärzte und vor allem die Krankenschwestern. In großen und kleinen Betrieben wird ihre Verlässlichkeit, ihr Wissen, ihr Fleiß hoch geschätzt. Auf Granit aufgewachsen, den kargen Böden Leben abgerungen, über Jahrhunderte formte das die Menschen zu festen Charakteren. Kriege, vor allem Religionskriege, fegten über die ohnehin bedürftigen Menschen, ließen sie misstraurisch, scheu und verschlossen werden. Die digitale Welt, die in den letzten Jahrzehnten, wie ein Sturm, gnadenlos, bis in unsere Stuben eindrang, veränderte Menschen und Land. Was traurig ist, viele Jugendliche kommen nach abgeschlossenem Studium nicht mehr zurück in ihre, nach wie vor, geliebte Heimat. Sie verstädtern, gewöhnen sich an Häuserzeilen, oft ohne Bäume, nehmen, außer den Kinos, kulturelle Angebote kaum wahr. Ein ordentliches Kino gibt es im Bezirk Rohrbach 2019 noch immer nicht, auch kein öffentliches Hallenbad. Versäumnisse an Jung und Alt. Natürlich wusste Heinrich, ein abgelegenes Gasthaus, wenn auch in heimeliger, hügeliger, Wald und Wiesen umgebener Landschaft, die sein Großvater als Paradies bezeichnet hatte, braucht Events um Gäste anzulocken. Seit er zu bauen begonnen hatte liefen Bilder in seinem Kopf. Da kam ihm 1980 zu Ohren, das Stift Schlägl verkaufe den Dampfkessel der aufgelassenen Huber-Säge in Aigen, die in einen Folgekonkurs geschlittert war, was schlimme Folgen für den ehemals erfolgreichen Besitzer zeitigte. Die Familie fand ihn in der Garage. Heinrich nahm mit dem Stift Kontakt auf und bot zehntausend Schillinge. Man teilte ihm mit, ein Unternehmer aus Deutschland biete vierzigtausend. Das war Heinrich zu teuer. Mehr als Zehntausend wollte er keinesfalls zahlen. Nach einigen Monaten erhielt er einen Anruf aus der Stiftskanzlei. Der Deutsche sei zurückgetreten, er könne den Dampfkessel für sein Angebot haben. Das war eine große Freude für den vorausschauend planenden Mann. So schnell wie möglich, machte er sich an die organisatorischen Arbeiten, für die Abholung des Dampfkessels. Von der Firma Kern in Linz lieh er ein großes Kranfahrzeug, ein anderer Freund kam mit LKW und Tieflader. Von besonderer Bedeutung war die Seilwinde. Der Dampfkessel stand im Kellerbereich des Sägewerkes. Es war eine langwierige Arbeit, diesen ohne Beschädigung herauszuholen. Der große eiserne Rauchfang musste abgebaut werden, dazu verschiedene andere Teile. Das Gewicht belief sich auf dreißig Tonnen, zweihundertfünfzehn PS schaffte er. Den ganzen Tag arbeitete Heinrich mit Helfern, auch seine Söhne packten mit an. Um einundzwanzig Uhr war es soweit. Langsam fuhren die Fahrzeuge an, nur langsam ging es weiter nach Petersberg. In den Dörfern, durch die sie kamen – das erste Baureith – liefen die Leute aus den Häusern, oder schauten aus den Fenstern, sobald sie den außergewöhnlichen Lärm hörten. Auf den schmalen Straßen bergauf, mit den vielen Kurven auf der letzten Strecke heimwärts, war besondere Aufmerksamkeit nötig. Ein Platz für diese, für Heinrich ganz besondere Kostbarkeit, war vor dem Gasthof schon vorbereitet. Das mühsame Herbeiholen, das Abladen und Aufstellen haben sich gelohnt, wie wir noch sehen werden. Es entstand ein neues Ausflugsziel im Oberen Mühlviertel, das „Gasthaus zum Dampfkessel“ der Familie Grünzweil. Das erste Dampfkesselfest fand 1981 statt, zusammen mit dem Feuerwehrfest. Dabei stand der 1943 in Nürnberg gebaute Dampfkessel, nicht nur ruhig zum Anschauen da. Repariert, renoviert und frisch gestrichen wurde er zum Leben erweckt. Fünftausend Liter Wasser schluckte er und eine Menge Holz. Die Maschine, die, in der Zeit der Industrialisierung, eine große Rolle gespielt hatte, ratterte, die Riemen liefen über die Scheiben, was aus dem Rauchfang kam, war nicht zu übersehen. Ein aufgetürmter Stoß von Scheitern, dazu ein Heizer, der diese nach Bedarf ins Feuer schob, sorgten für den Fortgang der Belustigung. Musik spielte auf. Heinrich war glücklich, rundum glücklich. Seine Idee ging auf. Von weit und breit kamen die Gäste, neugierig, fröhlich, hungrig, durstig. Viele Tische, Gegrilltes und jede Menge Getränke sorgten für Wohlbefinden. Die ganze Familie war beschäftigt. Heinrich war das noch nicht genug. 1982 gründete er den Dampfkessel-Verein Petersberg. Zehn Mitglieder, darunter Heinrich und sein Sohn Heinz, alle hatten beim Abbau in Aigen-Schlägl und beim Wiederaufbau vor dem Gasthof mitgeholfen, trafen sich, waren lustig, zogen andere an. Neben der Mithilfe beim Kulturgüter Sammeln und Vorführen bei Festen, galt als Hauptziel, die örtliche Kultur zu fördern. Talenten aus der Umgebung sollte die Möglichkeit gegeben werden, aufzutreten, sich darzustellen, gleich, ob es sich um volkstümliche Musik, Literatur oder Kleinkunst handelte. Dampfkesselfeste wurden immer wieder veranstaltet, dauerten bis zu drei Tage. Ein eigens für diese Feste zusammengestelltes Dampfkesselessen und eine Dampfkesseljause gaben dem Ganzen eine besondere Note. Was gängig war, wurde gekocht: Ein Teller, gefüllt mit Geselchtem, mit Schopfbraten, dazu warmer Krautsalat, Mehlknödel und Kartoffeln. Die Mühlviertler Mehlknödel sind eine besondere Delikatesse, nicht jede Hausfrau bringt sie so zustande, wie sie sein sollen, schön trocken im Inneren, zum eher fettigen Bratensafterl. Auf einem Holzteller wurde die Jause serviert. Zu Geselchtem und Gebratenem durfte Speck nicht fehlen, Krakauer, Topfenkäse, Gurkerl, Kren, Senf und als Draufgabe ein, Stamperl Schnaps. Mit Freude und Stolz, geht der alternde Heinrich heute noch zum Dampfkessel, der gewartet glänzt, wie eh und je, und zum Gasthof. Seine Pläne sind aufgegangen. Auch ein wenig Wehmut schwingt mit. Das Leben ist ein Geschenk, das einem auch wieder genommen wird. Dennoch blickt er dankbar zurück. Zurück auf seine Erfolge, zurück auf das Leben mit seiner fleißigen Frau, der liebevollen Mutter, zurück auf alle seine Kinder und Enkelkinder. Das Leben wird vollendet sein, eines Tages. Nach dem Ausbau des großen Saales, der einhundertsiebzig Sitzplätze bot, wurde der Gasthof ein bevorzugter Platz für Bus-Reisende. Für die Bus-Chauffeure gab es kein Parkplatzproblem. Vor der Eingangstüre stiegen die Gäste aus. An nicht wenigen Tagen reisten drei Busse an, was bis zu einhundertfünfzig hungrige Menschen bedeutete. Da die Familie fest zupackte, alles gut geregelt war, liefen auch solche Tage zur allgemeinen Zufriedenheit ab. Die Familie bot gute, bürgerliche Küche, dazu Spezialitäten des Hauses, wie Entenschmaus, Wildbret-Wochen, hausgemachte Mehlspeisen, das alles zu gediegenen Preisen. Mutter Berta half, wo es Not tat. Sie sorgte für die Familie mit Zwischenmahlzeiten, wie zum Beispiel Toast. Sie war der Ruhepunkt im Getriebe. Heinrich hatte viele Interessen. Immer schon hatte er alte Dinge gesammelt. Im Untergeschoß des Gasthofes richtete er sein „Mühlviertler Kulturgüter-Museum“ ein. Dort fanden sich alte Werkzeuge und wunderbare Möbelstücke. Kästen, Truhen, Tische, Uhren, Kreuze, zierliche Küchenborde für Teller und vieles mehr, alles aus dem 18. und 19. Jahrhundert. Es gab Führungen für interessierte Gäste. Ein Verwandter von Heinrich, der begnadete Hobbyfotograf Fritz, gestaltete ein wunderbares Buch über diese Altertümer. Verwandte und Freunde sind im Besitz eines solchen Werkes. Als Heinrich in Pension ging, wieder zurück in sein Geburtshaus zog, übersiedelte er auch die Museumsstücke dahin, ansehnlich auf den großen Dachboden. Fast jeden Tag geht er hinauf, denkt an die Geschichten, wie er die Artefakte erwarb, ordnet, wischt Staub, kehrt Fliegen, stellt vor dem Haus eine neue Kreation auf. Eine alte, verbeulte, blaue Rein setzt er auf einen ebenso alten Tisch, Eisenkugeln in Knödel-Größe kommen hinein, dazu ein blecherner, etwas verbogener Schöpflöffel. Fertig ist die Suppe für das Mittagessen erst dann, wenn es geregnet hat. Eine wirkungsvolle Einladung, das Museum zu besuchen. Das erste Oktoberfest, das Heinrich ausrichtete, ging im Kulturgüter-Museum über die Bühne. Als Festwirt hatte er sich einiges einfallen lassen. Alte handwerkliche Arbeiten wurden vorgeführt, unter anderem das Holzwasserrohr-Handbohren, Bauholz hacken, Fassbinder-Arbeiten. Auch die Gäste konnten ihre Geschicklichkeit unter Beweis stellen. Ein Gewinnspiel hatte er vorbereitet, an dem rege Anteil genommen wurde. In schmucken Trachten tauchten die Besucher auf, es wurde das schönste Trachtenpärchen gesucht. Ein Publikumsmagnet war die Mitternachtseinlage. Die Behans’n Musi sorgte für gute Stimmung im Saal. Die Schuhplattler-Gruppe aus St. Peter begeisterte mit gekonnten Showeinlagen. Nebenan im Tanzcafé „Paradies“, welches Heinrich der Gaststube und dem Saal anschloss, herrschte Hochbetrieb. Von Freitag bis Sonntag ging es lustig zu in dieser einsamen Gegend von Petersberg. Die Leute freuten sich, es war etwas los im sonst eher eintönigen Leben. Der Dampfkessel, immer wieder eine Sensation, war an allen drei Tagen in Betrieb. Heinrich übersiedelte mit der ganzen Familie ins Obergeschoss seines Gasthauses. Viel Freude hatte ihm die Ausfertigung der Räume gemacht. Immer wieder war er von Tür zu Tür gegangen, konnte es selbst kaum glauben wie schön alles war. Manchmal kam ihm der Gedanke an die dunkle Kammer neben dem Rübenkeller, in die er mit zwölf Jahren gezogen war. Ein wenig blieb er mit diesen Bildern im Kopf stehen. Dann überwältigte es ihn wieder: Jedes der acht Kinder bekommt nun ein eigenes, neues Zimmer. Das hat er geschafft, er, Heinrich. Mit sechzig Jahren, für seinen Tatendrang viel zu früh, zog sich Heinrich von den geschäftlichen Arbeiten zurück und ging in Pension. Die Söhne Heinz, Erich und Martin arbeiteten in einer KEG zusammen. Nach drei Jahren wurde diese wieder aufgelöst, der Betrieb ging auf Sohn Martin über. Nichtstun hielt Heinrich nicht aus. Erneut kaufte er einen Lastwagen, meldete das Gewerbe wieder an, kaufte und verkaufte Alteisen. Er erzählt, er habe sich ein anderes Gebiet gesucht, einen Lagerplatz in einer Schottergrube in der Nähe von Eferding, um seinem Sohn Martin geschäftlich nicht zu schaden. So ganz einfach war das bestimmt nicht. Mit Sohn Heinz, der mit ihm arbeitete, war er unterwegs wie eh und je. Erst als er beinahe achtzig Jahre alt geworden war, seine Frau erkrankte, überließ er dem Sohn den Lastwagen und zog sich zurück. Öfter erzählt er beim Frühstück heute Nacht hätte er wieder gute Geschäfte gemacht und lacht. Der kleine, beliebte Hüterbub, der erfolgreiche Geschäftsmann kann auf ein erfülltes Leben zurückblicken. An einem Samstag im Herbst, es muss im Jahre 2000 gewesen sein, Heinrich war vierundsechzig Jahre alt, lehnte er um die Mittagszeit eine Leiter an einen kräftigen Ast seines Zwetschgenbaumes, nahm einen Kübel zur Hand, stieg hinan, hinein in das Blau der Früchte. Den Geschmack fand er herrlich, wie jedes Jahr. Wie die Natur uns doch beschenkt! Hier kann er essen, so viel er will, es ist nicht wie damals bei den Erdbeeren, auch nicht wie damals, als seine Schwester Wilhelmine ihm drohte. Der Kübel füllte sich. Ein Knacksen, ein Krach, der Ast brach, Heinrich stürzte samt der Leiter über die Böschung an der Ostseite seines Elternhauses. Nach dem ersten Schock versuchte er trotz der Schmerzen aufzustehen. Es ging nicht. Er rief um Hilfe. Niemand hörte ihn. Die ganze Familie arbeitete im Gasthaus, hundertfünfzig Meter oberhalb westlich des Wohnhauses. Sie bekochten und bedienten Reisebusgäste. Es war üblich, die Belegschaft setzte sich nach der Hauptarbeit zusammen, aß und plauderte. Auch Vater Heinrich kam dazu, er machte ja die Kasse. An jenem Tag kam er nicht. „Was macht er denn?“, überlegten Mutter Berta und Tochter Silvia, welche anschließend Nachschau hielt. Im Museum war er nicht, nicht im Haus. Sie lief bergab, Richtung Teich. Da sah sie ihn schwer verletzt auf der Wiese liegen. Über eine Stunde hatte er auf diese Weise ausgeharrt. Sofort verständigte sie Notarzt und Rettung. Angefordert wurde dann ein Rettungshubschrauber, der den Schwerverletzten ins Krankenhaus Rohrbach brachte. Die rechte Hand war gebrochen, das Becken vierfach, die Milz verletzt, dazu Prellungen und genug blaue Flecken. So schnell konnte er das Spital nicht wieder verlassen. Da seine Geduld beim Nichtstun nicht allzu groß ist, verlangte er nach Hause. Das war aber nur möglich, weil seine Schwiegertochter Klaudia, die zuhause mit ihrer Familie im schönen Anbau wohnt, sich von den Ärzten auf Behandlung, wie zum Beispiel tägliche Infusionen und Pflege, einschulen ließ. Er sagt, zuhause habe er ein sehr gutes Heilergebnis gehabt, habe seine Arbeiten nach einiger Zeit wieder aufnehmen können, wenn auch noch vier Wochen im Rollstuhl. Schmunzelnd meint er: „Alles ist wieder gut ausgegangen, wie es halt bei Sonntagskindern ist.“ Seine Schwiegertochter Klaudia schätzt er sehr

Der Geschäftsmann

Der Mann mit dem Hut

Heinrich heizt den Dampfkessel

Der Gasthof im wunderschönen Mühlviertel

Heinrich der Alteisen-Händler

Der alternde Heinrich vor seinem Haus

Der Gastwirt

Die Lagerhalle

Goldene Hochzeit. Mehrmals im Jahr fährt Heinrich nach Hartkirchen. Dort besucht er den Friedhof. Er steht vor einem Grab, vor dem er lieber nicht stünde. Der Herbert. Er hat so viel zuhause gearbeitet. Beim Vater. In der Halle. Auf dem Lagerplatz. Mit dem Lieferwagen ist er weit herumgekommen. Ein guter Schüler war er in der Hauptschule. Wiederholen sich Ereignisse in Familien? Bruder Adolf war auch ein guter Schüler gewesen. Nach der Schule arbeitete Herbert bei der Baufirma Simader als Bauhelfer. Große Hände hatte er zum Zupacken. Hätte er besser einem Lehrberuf nachgehen sollen? Oder eine weitere Schule besuchen? Später arbeitete er bei der Steinbaufirma Strasser in St. Martin. Als Stapler-Fahrer. Warum ist die Beziehung zu Freundin Daniela auseinandergegangen? Eine neue Freundin aus Hartkirchen kam in sein Leben. Dort hin übersiedelte er. Auf Katharinas Bauernhof. Auch die Arbeit verlegte er in die Nähe, nach Aschach, zur Firma Garant. Wieder fuhr er mit dem Stapler. Zusätzlich half er auf dem Bauernhof. Sohn Dominik wurde geboren. Hätte sein Leben nicht schön sein können? Warum war es das nicht? Er liebte seinen Sohn über alles. Es heißt, öfter sei er nach der Arbeit nicht gleich nach Hause gekommen, hätte sich irgendwo noch ein Bier gegönnt. Es kam zu Zwistigkeiten zwischen Katharina und Herbert. War es mehr als ein Bier? Blieb er lange sitzen? Heinrich weiß das nicht. Selber kehrte er nach der Arbeit auch noch gerne zu, kam er mit dem Lastwagen an einem bekannten Wirtshaus vorbei. Dort konnte er Neues erfahren. Herbert wurde krank. Zwei Kopftumore. Der bösartige wurde im Wagner-Jauregg Spital operiert. Es hätte ihm besser gehen müssen. Die Familie war voller Hoffnung. Aber: Wann hat Herbert angefangen mehr zu trinken als ihm gut tat? Was steckte in ihm? Wie war sein Verhältnis zu seinen nachfolgenden beiden Brüdern? War er nicht selbstbewusst genug, sich inmitten der Geschwisterreihe zu behaupten? Trug er etwas in sich, dessen er niemals inne wurde? Fühlte er sich nicht zugehörig? Auch das weiß Heinrich nicht. Eines Tages schmiss Katharina Herberts Bekleidung die Stiege hinab. Das Schlafzimmer war somit tabu für ihn. Dann auch das Haus. Seinen Hund, den er aufgezogen hatte, ließ sie erschießen. Er zog in eine Wohnung in einem Haus neben dem Schulgebäude. Dort konnte er zuschauen, wenn die Kinder zur Schule kamen und ebenso, wenn sie diese wieder verließen. Seinen Sohn wollte er sehen, zu dem der Kontakt unterbunden war. Er stand am Fenster, wenn die Kinder zur Schule kamen, er stand am Fenster, wenn sie diese verließen. Nach kurzer Zeit sah er den Sohn weder kommen noch gehen. Dieser benutzte den Hintereingang. Warum? Wer hat ihm das befohlen? Die Mutter? Ihn, Herbert, sollte das treffen. Schwester Silvia kümmerte sich um den alkoholkranken Bruder. Ein Spielzeug für seinen Sohn hatte er erworben. Gemeinsam versuchten sie das Geschenk zu überbringen. Katharina verjagte sie, warf ihnen das Paket hinterher. Durfte der Vater keinen Sohn mehr haben und der Sohn keinen Vater? War sie so enttäuscht von der Beziehung? Hatte sie ihn, als es mit dem Trinken noch in Ordnung ging, so geliebt? War daher die Wut so groß? Oder ging es um die Arbeitskraft am Abend und an Wochenenden? Das kann nur Katharina wissen. Vielleicht beides. Auch wenn ein liebenswerter Mann in diese Krankheit triftet, ist das für alle ein Elend. Schwester Silvia, die selbst genug zu tun hatte, fuhr wenigstens drei Mal die Woche zu Herbert. Die beiden kleinen Töchter nahm sie mit. Herbert liebte sie und die beiden ihn. Silvia putzte, wusch die Wäsche, kochte. Gerne erinnert sie sich an die gemeinsamen Essen. Ein wenig lustig war Herbert mit den Kindern. Silvia redete ihm auch gut zu, was natürlich nicht half. Manchmal fand sie eine Flasche von hartem Zeug und schüttete es aus. Später tat sie das nicht mehr. Sie hatte verstanden. Vater und Mutter besuchten ihn. Die Hoffnung blieb. Die Mutter setzte sich zu ihm und hielt ihm die Hand. Wie hat das alles passieren können? Herbert, das liebe Kind. Herbert, der warmherzige, gutmütige Mann, der sich leicht ausnützten ließ. Dachte er, Zuneigung müsse man kaufen? Wie kam es, dass er den Halt verlor? Wäre es nicht besser er käme nach Hause? Kurze Zeit lebte er im Elternhaus. Wieder zog er nach Hartkirchen. In die Nähe seines Sohnes, wie er sagte. Zuhause, das wollte er nicht. Er wollte auch nicht im Familiengrab beerdigt werden. War da etwas, worüber er nicht sprach? Vater Grünzweil sagt, er liebte und liebe alle Kinder gleichermaßen, jedes auf seine Weise. Mit den Brüdern lief es für Herbert nicht mehr gut. Sollte man ihn zu Familienfesten überhaupt einladen? Was findet sich in Menschen, tief drinnen in ihrer Seele, das sie bearbeitet, sie nicht herausfinden können, sie auf ungewollte Bahnen drängt? Was konnte Herbert nicht finden? Was Adolf? Herberts Leber litt sehr. Für Innsbruck setzte man ihn auf die Warteliste. Das wurde wieder abgesagt als sein Zustand bekannt geworden war. Es gab nichts mehr. Er wollte auch nicht mehr. „Wofür“, meinte er zu Silvia. Er litt mehr und mehr. Durchfälle und Erbrechen bestimmten seinen Tagesablauf. Silvia putzte und putzte und putzte, wusch und wusch. „Man kann sich das gar nicht vorstellen“, sagt sie. Manches Kleidungsstück konnte nur noch entsorgt werden. Dann das Spital in Grieskirchen. Etwas Hilfe gegen seinen schlimmen Zustand fand er noch. Seinen Sohn wollte er sehen. Nur seinen Sohn. An der Hand seiner Mutter betrat er das Krankenzimmer. In diesem Augenblick, so wird erzählt, erlitt er einen Schlaganfall. Hätte die Frau nicht draußen warten können? Was wollte sie? Wollte sie sein Elend sehen? Hatte sie Angst um das Kind? Herbert sah seinen Sohn nicht wieder. Vom Schlaganfall erholte er sich. Nach der Reha konnte er sogar wieder halbwegs gehen, was er zuvor, aus Schwäche, kaum schaffte. Arm und Bein waren aber beeinträchtigt. Mutter und Schwestern schöpften Hoffnung. Diese hielt nicht lange. Herberts Suchtkrankheit brachte ihn erneut ins Krankenhaus. Die Eltern wurden verständigt. Die Mutter war verzweifelt. Es fiel ihr schwer ihn zu besuchen. Sie musste das Krankenzimmer verlassen, das Weinen schüttelte sie zu sehr. Am letzten Tag war Silvia noch bei ihm. „Morgen komme ich wieder“, sagte sie. Sie kam. Sie kam an sein Totenbett. Es war der 12. Juli 2010. Der 12. Juli ist Heinrichs Geburtstag. Heinrich und Berta trauerten. Die Mutter konnte nur schwer akzeptieren, was geschehen war. Die Tage kamen und gingen. Das Alter wurde spürbar. Klaudia, die Schwiegertochter, die mit ihrer Familie im angebauten Haus an das längst stattliche Häusl wohnt, unterstützte die beiden. Bis heute ist sie ein Glücksfall für Heinrich. Herbert, der nicht mehr arbeiten hatte können, hinterließ Schulden. Die Hoffnung, wieder arbeiten zu können, diese zu bezahlen, hatte er gehabt, bis er an nichts mehr denken konnte, sein Zustand ihn überwältigte. Eine nette Frau hatte ihn, als es ihm noch besser ging, öfter besucht. Er dürfte noch einmal das Gefühl von Verliebtheit und Liebe erfahren haben, denn er finanzierte ein Schlafzimmer für sie, in der Vorstellung, später dort mit ihr leben zu können. Dass die Hoffnung zuletzt stirbt, hatte sich auch bei Herbert bewahrheitet. Vater Heinrich machte recht, was auf Erden noch recht gemacht werden konnte. Er übernahm die Schulden. Verschüttetes Wasser kann nicht zurückgeholt werden. Mutter Bertas Verzweiflung über das verstorbene Kind hielt an. Wie hatte alles so kommen können? Etwas Ablenkung fand sie mit den Kindern von Erich und Klaudia, Patrick, Kerstin, und Cornelia. Diese konnte sie aufwachsen sehen. Auch fernsehen lenkte sie ab. Abends saßen Heinrich und Berta oft gemeinsam auf der Couch, hörten Nachrichten, sahen Filme. Eines Abends sagte Berta, sie gehe noch ins Bad. „Wo bleibt sie denn heute so lange?“, fragte Heinrich sich. Da kam auch schon Patrick zur Tür herein, die Oma rufe aus dem Badezimmer und brauche Hilfe. Beim Heraussteigen aus der Badewanne war sie ausgerutscht und konnte nicht mehr aufstehen. Wie sich herausstellte hatte sie sich den Oberschenkelhalsknochen gebrochen. Von da an, so erzählt Heinrich, wurde sie nicht mehr richtig gesund. Es kam noch eine andere, gefährliche Krankheit dazu. Die Ärzte rieten ihr zu einer Operation. Sie wollte das nicht. Es müsse auch so wieder gut werden, war ihre Meinung. Ob sie das wirklich glaubte, da ist Heinrich nicht sicher. Er selbst fuhr zum Spital, die Ärzte mögen sie doch operieren. „Wenn Ihre Frau nicht einwilligt, können wir gar nichts machen“, war die Antwort. Alles gute Zureden der Familie überzeugte sie nicht. Einige Zeit ging es noch halbwegs gut. Sie wurde schwächer, bekam Schmerzen, konnte nicht mehr aufstehen. Heinrich legte alle Arbeiten, denen er noch nachging, nieder. Zu ihrem Krankenbett, das im Wohnzimmer stand, stellte er eines für sich. Klaudia und besonders die Töchter Hannelore und Silvia, letztere hatte schon Herbert gepflegt, kümmerten sich um die Pflege der Mutter. Dieser ging es schlechter und schlechter. Immer wieder klammerte sie sich an Heinrichs Arm fest. Heinrich war sehr berührt von dieser Umklammerung, wie Klammern ans gemeinsame Leben schien es ihm, welches wohl bald zu Ende gehen würde. Immer stärkere Schmerzmittel brauchte sie. Einmal umklammerte sie Heinrichs Arm und Hand besonders fest. „Kannst du mir verzeihen?“, sagte sie dann. Heinrich wusste in diesem Moment nicht, wie ihm geschah. „Nein“, dachte er im ersten Moment. Ein Strom von Gefühlen überlief ihn. Gut hatten sie die letzten Jahre miteinander gelebt, gewöhnt und vertraut. Freude an den vielen Enkelkindern gehabt. Sonntags gab es Kaffee und Kuchen in der elterlichen Stube, wenn die Familien zu Besuch kamen. „Nie mehr wird es so sein. Nie mehr werden wir gemeinsam auf der Couch sitzen, die Kleinsten im Arm. Die Goldene Hochzeit feierten wir, die Geburtstage aller Familienmitglieder. Arbeiten sehe ich sie. Immer und überall fleißig zupacken. Immer war Essen im Haus, wenn die Kinder von der Schule kamen. Habe ich sie vernachlässigt? Ich habe es nicht anders verstanden. Überall sah ich nur Arbeiten. Die Eheleute redeten nicht viel, sie taten, was zu tun war. War das Liebe? Abends, war das Liebe? Ist das Liebe genug? Ich war besessen von meiner Arbeit.“ Eines Nachts war es so weit. Heinrich wachte über seine Frau als sie starb. Gesagt hatte sie nichts mehr. Nachdem er ihr die Augenlider zugemacht hatte blieb er noch eine lange Weile bei ihr sitzen. Endlich war es Zeit die Kinder zu verständigen. Es war der 2. Dezember 2015. Dreiundfünfzig Ehejahre waren Vergangenheit. „Ich bin ihr immer noch für ihre viele gute Arbeit in allen Bereichen sehr dankbar“, sagt Heinrich, wenn das Gespräch auf seine verstorbene Frau kommt. Einige Zeit nach dem Begräbnis ging Heinrich auf den Friedhof. Lange stand er vor dem Grab. Dann ging er einige Schritte zurück. Unbewusst nickte er mit dem Kopf und sagte: „Ich verzeihe dir.“ Schnell trat er durch das Tor auf die Straße, als ob er Angst hätte es zu widerrufen. An einem anderen Tag kam er wieder, sagte er wisse er habe sich nicht genug Zeit für sie genommen. Bis heute geht er öfter hin, sprengt Weihwasser und macht drei Kreuze über der Ruhestätte. Nach dem Tod seiner Frau wurde es einsam für Heinrich. Klaudia, die liebe Schwiegertochter, kümmert sich bis heute so gut sie kann, auch Erich. Heinz tritt unvermutet durch die Tür, sein Ältester. Martin mit Frau Evelyn trifft er in der Firma, wohin es ihn immer noch zieht. Alles geht doch so gut weiter. Erika kommt zu Besuch. Monika hat mit Freund Peter ihre eigene Wohnung im Haus. Sie sehen sich. Hannelore, Mann und Kinder, besonders Silvia und ihre Töchter, besuchen ihn häufig, machen dies und das, was er möchte, wie Abstauben in seinem geliebten Museum. Die meiste Zeit ist er doch ganz allein zuhause. Ins Museum geht er jeden Tag selber nachschauen und nachdenken. An den Stücken haften Geschichten, die ihm durch den Kopf gehen, die er genießt. Menschen, die er getroffen hat, Menschen, die er gerne mochte, Menschen, die Interessantes erzählten. Menschen und Schicksale. Anhand der wertvollen Zeugnisse aus früheren Zeiten versammelt er sich mit ihnen. Es kann vorkommen, dass er sagt: „Du liegst schon auf dem Friedhof.“ Oder: „Lang haben wir uns nicht gesehen. Ich muss einmal vorbeischauen bei dir.“ Oder: „Ich erinnere mich noch, ich hab dir deine Frau zugebracht.“ Er denkt nach, wie vielen Freunden er eine Frau zugebracht hat. Als junger Mann war er auf allen Unterhaltungen zu finden gewesen. Nette Mädchen waren ihm untergekommen. An einen guten Freund erinnert er sich, der viel in seiner Firma gearbeitet hatte, ja, er ist auch schon gestorben. Nach und nach wird es einsam. Damals war dieser mit einer jungen Frau befreundet, erinnert Heinrich sich. Sie stammte von einem bereits geschlossenen Wirtshaus ab, wohnte auch dort, Leute trafen sich noch in der Stube. Vor Längerem habe er private Sachen zu ihr gebracht, erzählte der Freund, sei aber nicht mehr glücklich. Sie kepple die ganze Zeit. „Die passt nicht zu dir“, sagte Heinrich. „Ich hol deine Sachen.“ Das hatte dem Freund gut gefallen. Gedacht, getan. Mit zwei Helfern nahm Heinrich in besagter Stube Platz. Mit einem Lieferwagen waren sie gekommen. Nach einiger unbedeutender Plauderei standen die drei auf, flitzten die Stiege hinauf, holten die besprochenen Sachen und verließen das Haus, schnell war alles verstaut. Großes Gezeter folgte ihnen. Sie kümmerten sich nicht, stiegen ein und weg waren sie. „Man soll nicht dauernd keppeln“, ob sie diese Lehre zog, wissen Heinrich und der Freund nicht. Die Frau, mit der er später gut verheiratet war, hatte Heinrich ihm verraten. Immer zu Allerheiligen besucht er auch dieses Grab und schaut bei der Witwe vorbei. Überhaupt besucht er um Allerheiligen alle Gräber der Familienangehörigen, ausgenommen das seines Vaters. Viele Fliegen auf dem Boden des Museums bringen ihn wieder in die Gegenwart zurück. Mit Besen und Schaufel rückt er ihnen zu Leibe. „Ein interessantes Leben habe ich geführt. Jetzt bin ich alt und fühle mich an vielen Tagen einsam, um nicht zu sagen sinnlos.“ Eines Tages, Heinrich war einundachtzig Jahre alt, seit zwei Jahren Witwer, erhielt er einen Anruf von einer Frau, sie hätte einen Drucker aus den siebziger Jahren. Sie fragte, ob er diesen für sein Museum möchte. „Eigentlich passt so ein Ding nicht zu meiner Sammlung“, dachte Heinrich. Dennoch stand er eines Tages an der Haustüre der angegebenen Adresse. Ob er sich etwas setzen wolle, meinte die Frau, als sie nach Begutachtung und Absage aus dem Keller zurückkamen. Ihr schien, er hätte das recht nötig. Ein Glas Wasser tischte sie auf. Da sie sich nicht kannten, plauderten sie ein wenig von sich selbst, von ihren jeweiligen Lebensumständen. „Haben Sie denn keinen Freund, so gut, wie Sie aussehen, richtig jugendlich gehen Sie umher.“ „Ja, wo ist denn ein passender, ich sehe keinen“, lachte die Frau. Nachdem er gegangen war läutete es wieder an der Tür. Mit einer Flasche Maitrunk, eine Mixtur nach Hildegard von Bingen, stand Heinrich da und schmunzelte. Die Frau wollte das nicht, ihn kränken aber auch nicht. So nahm sie das Geschenk an sich, versperrte die Haustüre und wandte sich wieder ihrer Tätigkeit zu. Schnell war der Besuch vergessen. Nicht für Heinrich. „So eine nette Frau“, sagte er sich. „Gut reden ist mit der. Aussehen tut sie auch nicht schlecht. Und ganz allein ist sie“, phantasierte er vor sich hin, „so eine nette Frau und ganz alleine. Ganz so schlimm ist es ja nicht. Sie hat Kinder, Enkelkinder und zahlreiche Freunde, wie sie sagte. Und ich? Ich sitze zuhause herum, ohne viel zu tun. Meistens freut mich nichts. Allein vor dem Fernseher, das interessiert mich auch nicht. Genau genommen fühle ich mich trotz Familie, die sich um mich kümmert, nicht lebendig. Richtig nutzlos kommt mir das Leben oft vor. Ich habe viel und gerne gearbeitet, das hat mich ausgefüllt. Jetzt überfällt mich nicht selten eine große Leere.“ Bald fuhr er wieder zu diesem Haus. „Ich darf nicht locker lassen“, sagte er sich. Tat es auch nicht. „So eine Gute, Fesche mit einem angenehmen Gemüt, finde ich nicht schnell wieder.“ Heinrichs geweckter Wunsch war so stark, dass er seine eigenen guten Eigenschaften in die Frau projizierte. Neu gewecktes Leben fühlte er im ganzen Körper. Glück erfüllte ihn. Sehr erfreut war die ebenfalls alte Frau anfangs nicht. Eigentlich wollte sie ihr Leben nicht umstellen. Ein Glas Leitungswasser tranken sie und plauderten. Mit der Zeit verstand sie, dieser Mann hat einen guten, liebenswürdigen Charakter. Ein wenig öffnete sie ihr Herz. Vorsichtig war sie. Ihre Erfahrungen waren nicht die besten gewesen. Sie hatte durchgehalten bis die Kinder groß genug waren. Dann endlich reichte sie die Scheidung ein. Ein heiliges Gebäude hätte nach ihrer Vorstellung eine Familie sein sollen: Vater, Mutter, Kinder in Geborgenheit. Harmonie gab es kaum. Wie die Frau sich erinnert, der längste Zeitraum, in dem es kein großes, unheilvolles Geschrei und mehr gab, war drei Wochen. Oft dachte sie über Schuld oder Nicht-Schuld nach. Darüber, was sie selbst anders machen müsse. In seinen Augen war sie an allem schuld. Passierte ihm fünfzig Kilometer entfernt ein Missgeschick, schrie er sie zuhause nieder. Der für ihn beste Platz seinen Frust abzuladen. Nachdem sie viele Jahre den Familienwagen gezogen hatte, dieser nicht mehr da war, kam sie aus dem Gleichgewicht. Bis sie aufhörte zu wackeln dauerte es. Eigene Bedürfnisse hatten selten Erfüllung gefunden. Fast immer war es um das Wesentliche, um Heilen, um Trösten, um Zusammen-Flicken, um das Ertragen von Demütigungen, gegangen. Darum, immer wieder zu sich selbst zurück zu finden. Nach der Scheidung hatte das Unglück ihr sogar einige Zeit gefehlt. Auch an Unglück kannst du dich gewöhnen. Die Höhle in der Magengegend blieb lange Zeit. Für wen sollte sie nun sorgen? Wofür war sie jetzt verantwortlich? Die Kinder, die sie sehr liebte, auch wenn sie oft keine gute Mutter gewesen war, sich aber bemüht hatte eine zu sein, wurden langsam erwachsen. Sie war gewöhnt daran, sich um den schwierigen Mann zu kümmern, der sich auch anderswo immer wieder etwas einbrockte, die Frau öfter auch Auswärtiges schlichten musste. Sie war gewöhnt daran, sorgsam die Finanzen zu planen, damit das Geld für alles reichte, auch für die studierenden Kinder. Sie war gewöhnt daran, für Haus und Garten zu sorgen, was Arbeit bedeutete. Sie bereitete Familienfeste vor, die oft genug von den Launen des Mannes verdorben wurden. All das war ihr neben ihrem Beruf zur Gewohnheit geworden, dass sie sich ohne diese Verpflichtungen beinahe nackt vorkam. Das Leben ging weiter. Es fragt nicht, ob jemand leidet, oder glücklich ist. Mit der Zeit fand die Frau ein zufriedenes, erfülltes Dasein. Sie erkannte, sie müsse für sich selbst sorgen. Neue Ziele hatte sie sich gesetzt, neue Freunde gewonnen, ihre Fähigkeiten baute sie aus. Endlich konnte sie sein, wer sie war. Das viele-Leute-Gerede, wie zum Beispiel „ein Schilling allein scheppert nicht“, an dem sie während der Scheidung sehr gelitten hatte, fegte sie zur Seite. Besonders geschmerzt hatte sie damals die Haltung der eigenen Herkunftsfamilie. Der noch recht junge Neffe, Heribert, sagte anlässlich einer Hochzeitsfeier, bei der die erweiterte Familie zusammengekommen war, recht abfällig zur Frau: „Scheidung“, und schüttelte mit urteilendem, schrägem Lächeln den Kopf. Die Frau trafen die Worte des Grünlings. Sie konnte sich vorstellen, was zuhause, bei ihren fleißig zur Kirche gehenden Verwandten, geredet wurde. Zu deren Entschuldigung muss gesagt werden, sie wussten nicht, was sich abgespielt hatte, denn Frauen in solchen Situationen schweigen. Handelten sie nach dem Motto: Was im Himmel verbunden ist, kann auf Erden nicht getrennt werden? „Nun, im Himmel war ich noch nicht“, dachte die Frau. „Ich bin ich“, sagte sie sich später, „niemand bestimmt über mich. Ich kann tun, was ich will und zwar für alle Zukunft! Dafür Trage nur ich die Verantwortung. Kleinkariertes Gerede lasse ich ins Leere laufen.“ Sie hatte aufgehört erklären zu wollen. Den Kontakt zu den Verwandten reduzierte sie. Der liebende Gott ist eben noch immer nicht fertig erschaffen worden. Während dieser Zeit verglich die Frau öfter die Erfahrung, einen Partner durch Tod zu verlieren, oder durch Scheidung. Stirbt ein Partner, es bedeutet Schmerz, drücken die Verwandten und Bekannten ihre Anteilnahme aus, ganz gleich, wie gut oder schlecht die Ehe verlaufen war. Die Erbschaft ist geregelt, Schulden sind kaum der Fall, das Leben geht weiter wie zuvor, bis die Trauer sich ein wenig legt, der neue Zustand mit den alten Freunden Gewohnheit wird. Scheidung bedeutet ebenso Schmerz. Gerne hätte man gut mit dem Partner gelebt. Es gibt Urteile, üble Nachrede, gemeinsame Freunde verlassen fast immer die Frau. Es gibt bösen Tratsch, oft auch von neidischen Nachbarn, Verleumdung, auch durch den Partner, Stalking, oft unbezahlbare Schulden, Einsamkeit. Scheidung ist ja nur selten einfach ein Wunsch, meist ist sie die einzige, leidvolle Alternative. Sie kann zur Lebensnotwendigkeit werden, wie Luft und Wasser. Nun war Heinrich aufgetaucht. „Lieben ist ein Verb“, dachte sie. Lieben ist etwas, das man tut. „Liebe kommt erst später“, singt Golde, Tevjes Frau, im Musical „Der Fiedler auf dem Dach.“ Tevje, dem alle Traditionen, von denen sein Leben bestimmt war, im „Schtetl“ Anatevka zerbrachen. Gleich ein weiteres Unglück traf ihn und seine Frau. Binnen drei Tagen mussten alle Bewohner auswandern. „Nun, ich habe ihm seine Haushälfte abgekauft“, sagte die Frau halblaut zu sich selbst. „Ich bin zuhause geblieben. Alles auf Kredit. Bargeld besaß ich nicht, die Kinder haben studiert. Ich habe die Schulden abgezahlt, auch wenn es schwer war und lange dauerte.“ Ein paar Jahre nach der Scheidung starb der Mann. Das machte für die Frau alles leichter. „Er hat sterben müssen, damit die anderen leben können“, sagte die Therapeutin, zu der sie während der Scheidung schmerzvoll geflüchtet war. Das war stimmig für die Frau. In Gedanken hatte sie ihn oft gebeten, sie endlich in Ruhe zu lassen. „So“ hatte sie es nicht gemeint. Heinrich besuchte die Frau immer wieder. Sie lernte ihn mehr und mehr schätzen. „Wenn ich mich einlasse, will ich ihm alle Liebe geben, die ich habe“, sagte sie sich. So geschah es. Aus dem Verb wurde ein Noun. Aus dem Tun ein Gefühl. „Heinrich ist ein unglaublich liebenswürdiger Mann. Nichts, an dem ich Anstoß nehmen könnte.“ Sie fing an Vertrauen zu fassen. Eine schöne und immer schöner werdende Zeit mit gegenseitigen Besuchen begann. Heinrich, der Unternehmer, war immer noch unternehmungslustig. Die beiden machten Ausflüge. Heinrich zeigte der Frau das wunderschöne östliche Mühlviertel, das sie nur wenig kannte. Heinrich war beruflich viel in Österreich herumgefahren, ins Ausland war er kaum gekommen. Er bekam das Gefühl etwas nachholen zu wollen. Ausflugsziele in Österreich, an denen er früher nur vorbeigefahren war, strebte er an, wie Hohenwerfen, Maria Taferl, Gmunden, Salzburg und viele andere. Auch in die Wachau zog es ihn, zu den Marillen, dem Wein und der wunderschönen Landschaft. In Dürnstein erzählte ihm die Frau die Geschichte, die sich auf der von den Kuenringern im 12. Jahrhundert erbauten Burg abgespielt haben soll. Im Jahre 1191, auf dem dritten Kreuzzug, wurde die israelische Hafenstadt Akkon von Kreuzrittern eingenommen. Leopold der V., Herzog von Österreich, aus der Familie der Babenberger, und der englische König Richard Löwenherz mit ihrem jeweiligen Heer wetteiferten, welcher als erster die Festung erstürmen und sein Banner auf dem Wall aufrichten würde. Herzog Leopold hatte sich besonders hervorgetan. Der englische König war darüber derart erzürnt, er ließ das Banner umstoßen und durch den Schmutz ziehen. Das gefiel dem Herzog nicht. Auf dem Heimweg lauerten seine Leute dem König auf und sperrten ihn in der Burg ein. Lösegeld solle er zahlen für diesen Frevel. In England warteten seine Getreuen. Der König aber kam nicht, doch die Botschaft, er sei in Deutschland oder Österreich in Haft. Der Sänger Blondel liebte seinen Herrn. Mit seinem Saitenspiel machte er sich auf den Weg, von Burg zu Burg. Er schlich um Kerkermauern und sang das Lieblingslied des Königs. Traurig und verzagt wurde er. Es kamen keine Rückmeldungen. Endlich, als er an den Mauern der Burg Dürnstein spielte und sang, gesellte sich eine bekannte Stimme dazu, die Stimme seines Königs. Blondels große Mühe hatte sich gelohnt. Englands Geld befreite den König aus der Haft. Heinrich gefiel die berührende Geschichte von Mut, Durchhaltevermögen und Treue. Seine eigenen Eigenschaften, deren er aber anhand der Erzählung nicht gewahr wurde. Nach Friedberg in Tschechien machte er einen Ausflug, im Gedenken an seinen Großvater, dessen Ziehwagerl, Hund und Revolver, mit dem er sich im nächtlichen Wald geschützt gefühlt hatte. Das Fest der Fünfblättrigen Rose in Krumau besuchte er und staunte über die vielen wunderschönen Gewänder. Mehrere Damen luden ihn zu gemeinsamen Fotos. Ein Herr, verkleidet als Witigone, lehnte an einem Geländer und tippte auf seinem Handy. Die Frau lachte als sie ihn sah. Die Witigonen sind ein böhmisches Adelsgeschlecht, welches vom 12. Jahrhundert an vierhundert Jahre lang Südböhmen und Teile Österreichs beherrschte. Auch auf das Wellnessen war Heinrich inzwischen gekommen. Hätte er sich früher kaum vorgestellt, so etwas zu tun. In Gmünd traf er zufällig seinen Cousin Sigfried mit seiner Frau und verbrachte gesprächige Abende. Heinrich, der nicht schwimmen kann, geht mit einer Poolnudel überall ins Wasser, selbst ins Meer. Seit seiner Kindheit war er nicht mehr zum Baden gewesen. Damals hatten er und Freunde in der Steinernen Mühl ihren Spaß gehabt. Ins Ausland lockte es ihn. Nach Polen, nach Südfrankreich, nach Ungarn und Norwegen und so weiter, reiste Heinrich, der inzwischen zum ältesten Einwohner von Petersberg geworden war. Er möchte noch viel sehen. Plötzlich fing er an, den Nachholbedarf zu spüren. Mit der Frau, an der er nicht locker gelassen hatte, kam das Interesse. Die beiden genießen, was sie aneinander haben und nehmen sich noch viel vor. Öfter muss Heinrich auch zum Arzt. Bluthochdruck, Alterszucker, Durchblutungsstörungen. An einem heißen Sommertag hatte er einen Termin im Krankenhaus Rohrbach zur Untersuchung der Beinvenen. „Ziehen Sie die Hose aus“, sagte die Schwester. Heinrich trug eine kurze, leichte, weite Sommerhose mit Netzeinsatz. „Ich hab nur diese Hose an“, erwiderte Heinrich, der wusste, die Hosenröhren lassen sich bis zur Leiste aufstülpen. „Das macht nichts“, so die Schwester. „Wir legen ein Papier drauf.“ Sie legte das Papier sorgfältig. Heinrich schmunzelte. Als dann das Papier verrutschte lächelte er. Heinrichs Interesse für Politik hatte sich sein Leben lang in Grenzen gehalten. Er erwartete sich nicht allzu viel davon. Seine eigenen, überdachten Entscheidungen waren ihm wichtiger. Er wusste, den Sieg musste er selbst erringen. Auf Hilfe hatte er ja schon bei der Geburt nicht gewartet. Im Jahr 2019 war auch Heinrich höchst erstaunt, welche Machenschaften Politiker liefern. Seit diese beiden Parteien, Türkis und Blau, 2017 vom Volk ans Ruder gerufen worden waren, hatte sich einiges getan. Der Verwaltungsapparat wurde verändert. Kritische ORF-Moderatoren wurden angegriffen. Um den Verfassungsschutz stand es schlecht. Bei Nacht wurde, von nicht zuständiger Seite, geheimes Material entwendet. Die Sozialversicherungen sollten zusammengelegt werden, den Arbeitgebern mehr Einfluss gewährt werden. Die Mindestsicherung wurde abgeschafft, eine Sozialhilfe Neu eingeführt. Kinderreiche Familien, Schutzbedürftige und Flüchtlinge damit benachteiligt. Der Familienbonus ist ungerecht und bleibt es, auch wenn das Gegenteil erklärt wird. Frau Sozialministerin äußerte: hundertfünfzig Euro pro Monat, damit müsse man auskommen, sie könne das. Bewiesen hat sie es allerdings nicht. Wie auch? Mit Schlafsack auf der Donauinsel? Begutachtungsfristen für Gesetze wurden gekürzt, der zwölf-Stunden-Tag eingeführt, ein Euro und fünfzig Cents pro Stunde für Flüchtlingsarbeit vorgeschlagen. Hetze gegen Flüchtlinge kam beinahe Stunde um Stunde aus FPÖ-Mündern, ebenso gegen ganz normale Muslime, jüdische Bevölkerung nicht ausgenommen. Ein Satz von da, ein Wort von dort. Den Österreichern muss das Fürchten gelehrt werden, damit die Rechten sich als Retter verkaufen können. Immer gibt es Menschen, die aufgrund eigener Erfolgsdefizite Frust entwickeln, diesen auf andere projizieren, anderen dafür die Schuld geben. Schimpfen auf Zuwanderer, zum Beispiel, um sich abzureagieren. Fragst du einen Flüchtlings-Ablehner: „Geht es dir schlechter seit 2015?“ Zögernd kommt die Antwort: „Nein, eh nicht.“ „Kennst du einen Flüchtling, eine geflüchtete Frau, persönlich? Oder Kinder?“ „Nein.“ „Wie würdest du dich als Flüchtling fühlen, in einem Land, in dem du die Sprache nicht verstehst, auf fremde Hilfe angewiesen bist?“ Achselzucken. Wozu wird Angst geschürt vor Menschen, die Leid erfahren haben? Wegen Wählerstimmen? Sind Fremde nicht einfach Freunde, die man noch nicht kennt? Österreich kann nicht alle Flüchtlinge aufnehmen, seinen angemessenen Teil aber soll es leisten. Der Innenminister, er ist es nicht mehr, vertritt die Meinung, das Recht müsse der Politik folgen und nicht die Politik dem Recht. Das hatten wir doch schon, oder? Wir wissen, wozu das geführt hat. Eine Partei erklärt sich besonders als Heimat-Partei. Dann tauchte das Ibiza-Video auf. Der Bundespräsident sagte: „So sind wir nicht.“ Heinrich sagte: „Da geht’s zu!“ Kaum jemand konnte glauben, was er da sah und hörte. Von der Wichtigkeit der Heimat keine Spur. Dann zerbrach diese Regierung. Der Vizekanzler bereichere sich unrechtmäßig, kam dazu ans Tageslicht. Übergangsregierung. Erste Frau als Kanzlerin. Neuwahlen: Türkis weit vorne, und Grün, Zuwachs für Neos. SPÖ, schlechtes Ergebnis, FPÖ verliert fast zehn Prozent. Immer mehr negative Details kamen ans Tageslicht. Fast schämte Heinrich sich für einige Politiker in seinem Heimatland. Quo vadis? Ubi ergo dicemus quod? Ja, wohin gehen wir? Heinrich ist bald Mitte Achtzig. Gedanken macht er sich über seinen Tod nicht allzu viele. Mehr geht es ihm darum, wie er gerecht die Reste seines Erbes an die Kinder verteilen kann. Er wünscht sich weiterhin Frieden unter seinen Kindern. Einmal sprach er von seinem steinernen Ebenbild an der Hauswand. Dass es dort auch nach seinem Tod noch stehen bleiben möge. Vor seinem Haus, in dem er jetzt nur noch das Wohnrecht hat. Vor dem umgebauten Geburts- und Elternhaus. Dort hatte er in Armut begonnen, dort war seine Mutter gewesen, hatte er mit seiner Frau gelebt, dort waren seine Kinder aufgewachsen, von dort aus war er zu einem wohlhabenden Unternehmer geworden. „Daheim ist daheim“ ist diesem erdverbundenen Mann sein Lieblingsspruch. Wenigstens aus Granit wünscht er weiter daheim zu sein. Heute ist wieder der 27. August. Der Tag, an dem Heinrich, seit er alt ist und Zeit hat, zu Fuß zum Besl geht. Den Weg nimmt er, den er entlang lief, nachdem er – eine günstige Gelegenheit abwartend – vom Zwetschgenbaum herabgesprungen war, das Weite suchend. An der Stelle, an der er sich damals, mit zwölf Jahren, hingesetzt hatte um nachzudenken, was nun zu tun sei, hält er Rast. Auf einen großen Stein setzt er sich. „Wie lange das alles zurück liegt“, denkt er und zählt die Jahre. Doch nah ist ihm das Geschehen, sehr nah. Als ob es gestern gewesen wäre. Ein paar Tränen laufen seine Wangen hinab. Mit dem Taschentuch wischt er sie weg. Damals hatte er kaum bemerkt, wie steil es von da bergab geht. Heute nimmt er Stöcke. „Und vergiss das Handy nicht“, wurde ihm aufgetragen. Das Bächlein im Tal gurgelt, wie eh und je. Immer gleich. Es wird nicht alt. Auch nicht die Tiefwiese. Nur der Baum, in den er seine Initialen geschnitzt hatte, steht nicht mehr. Den Berg hinan geht es recht langsam, wegen der Luft. Ein wenig bleibt er stehen um durchzuatmen. Vieh sieht er auf der Weide. Sein Vieh. Die Nachkommen der damaligen Beslleute freuen sich. In der Stube reden sie dies und das und von alten Zeiten. Immer wieder erfahren die Jungen während der angenehmen Plauderei von Geschehnissen auf ihrem Hof, die ihnen unbekannt sind. Dafür sind sie ihrem Ehrengast dankbar. Glücklich fühlt Heinrich sich an diesem Tag. Wirklich glücklich. Mit Stöcken und Handy macht er sich nach ein paar Stunden wieder auf den – jetzt für ihn doch recht weiten – Heimweg. Nach Hause. Nach Petersberg. Zum Wohnhaus, zu Halle und Lagerplatz, zum Gasthof mit Disco „Paradies“. Ob er am nächsten Jahrestag wieder kommt? „Wir werden sehen“, sagt er und lächelt

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