Mutig denken. Aufklärung als offener Prozess
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Marie-Luisa Frick. Mutig denken. Aufklärung als offener Prozess
Inhalt
Vorbemerkung
I. Einführung: Was war Aufklärung?
Deutung des Undeutlichen
Der Humus der Krise
Aufklärung im Plural: neue Probleme
Und wir?
II. Selbst denken
Gefährliches Selbstdenken
Selbstdenken für Alle?
Selbstdenken – aber richtig
Die mündige Frau
III. Souverän sein
Alle Macht dem Volk!
Widerstand erlaubt
Alle Macht dem Volk?
Rechte haben
IV. Zusammen leben
Wer gehört zum Volk?
Gemeinschaft ohne Nation?
Sich ertragen
Unerträgliches
V. Mensch sein
Da ist niemand
Verbrechen und Strafe
Eine Welt ohne Krieg?
Die Zukunft des Humanismus
Weiterführende Literatur. Zu Kapitel I
Zu Kapitel II
Zu Kapitel III
Zu Kapitel IV
Zu Kapitel V
Zur Autorin
Endnoten
Über dieses Buch
Hinweise zur E-Book-Ausgabe
Отрывок из книги
Marie-Luisa Frick
Mutig denken
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In diesem Zusammenhang wird manchmal behauptet, die Aufklärung sei ein wesenhaft kolonialistisches Projekt und setze das rationale, europäische Denken dem »unzivilisierten« Wesen anderer Völker entgegen. In dieser pauschalen Form ist diese These jedoch ebenso wenig haltbar. Wer sie vertritt, muss ausblenden, wie Literaten und Denker der Aufklärung über die Bande des Kulturvergleichs ihre eigene Gesellschaft kritisieren – gerade auch in ihren kolonialen Verstrickungen und ›nationalen Sünden‹. Man denke nur an den Erzaufklärer Denis Diderot und seine Kritik an der leibfeindlichen, künstlichen, verdorbenen Lebensform des christlichen Europäers in seinem Supplément au voyage de Bougainville (Nachtrag zu »Bougainvilles Reise«, 1772), in welcher der Europäer zum »Vergifter der Völker« gestempelt wird.3 Auch übersieht so ein Vorwurf die neugierige Aufgeschlossenheit vieler gegenüber außereuropäischen Kulturen und Religionen, wie sie sich in zahlreichen Klassikern des aufklärerischen Denkens andeuten. Darunter fallen etwa die dem Konfuzianismus Anerkennung zollende Rede über die praktische Philosophie der Chinesen (1721) des Philosophen und Logikers Christian Wolff oder auch die Chinastudien von François Quesnay. Sich durch die Augen der anderen zu sehen, sich in der Auseinandersetzung mit dem Fremden selbst besser zu verstehen, macht die Faszination von Verkaufsschlagern wie den Lettres Persanes (Persische Briefe, 1721) von Montesquieu oder auch Georg Forsters A Voyage round the World (Reise um die Welt, 1778) aus. Und doch haben jene Recht, die – ohne in die Falle einer pauschalen moralischen Verurteilung ›der Aufklärung‹ zu tappen – darauf hinweisen, wie widersprüchlich gerade ihre menschenfreundlichsten Köpfe manchmal waren. Humanistische Rassisten: Der Aufklärung sind sie keineswegs fremd.
Diese Schlaglichter sollten genügen, um zu unterstreichen, dass es sich bei der Aufklärung um kein homogenes Projekt und kein widerspruchsfreies Programm, sondern um ein komplexes Ineinandergreifen vielfältigster Vorstellungen und Praktiken handelt. Die Aufklärung kann also nicht als ›Große Erzählung‹ nacherzählt werden, ohne dabei auch diese Vielstimmigkeit und Uneindeutigkeiten ans Licht zu ziehen. Am nächsten kommt man der Aufklärung, wenn man sie als Mosaik vieler kleiner Geschichten vorstellt, um deren eigentlichen Gehalt und Moral man immer wieder aufs Neue ringen darf und auch soll. Es sind dies, wenn man so will, Geschichten davon, was konkrete Menschen getan und gedacht haben, was sie erschaffen haben an Bildern der Welt und niedergerissen, mit und gegen was sie gekämpft, was sie erstrebt und erreicht haben und woran sie gescheitert sind.
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