Der Geburtstag von Lenz
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Mark Zumbühl. Der Geburtstag von Lenz
Impressum
2. Kapitel. Der zehnte Geburtstag. An seinem zehnten Geburtstag, einem Donnerstag, verlässt Lenz das Haus seiner Eltern. Er ist wütend und enttäuscht. Er will nie mehr zurückkehren. Am Mittag hat er in seinem Zimmer eine blaue Hose und einen gelben Pullover aus dem Schrank genommen, die Taschenlampe und den Kompass danebengelegt und alles zusammen mit den Butterbroten und den Äpfeln in seinen Rucksack gepackt. Die Brote und die Äpfel hat er aus der Küche stibitzt, nachdem seine Mutter mit Abwaschen und Aufräumen fertig war und im Schaukelstuhl döste. Den ganzen Geburtstag hatten ihm seine Eltern verdorben und zudem hatten sie ihn vor seinen Schulfreunden lächerlich gemacht. Nun will er einfach weg von hier. Wohin, weiß Lenz nicht. Lenz geht zum See hinunter und biegt in die Straße ein, die zum kleinen Hafen führt. Er hat, wie es seine Eigenart ist, den Rucksack nicht auf dem Rücken, sondern vorne auf der Brust aufgeschnallt und schlendert an den Booten entlang, die hier festgebunden sind: Segelboote, Motorboote, Ruderboote und ganz hinten, dort wo der längste Steg ins Wasser hinausreicht: die Fischerboote. Lenz liebt Schiffe über alles. Am liebsten hätte er auf einem Hausboot gelebt statt in einem Haus mit doofer Hollywood-Schaukel. Oft, wenn er im Bett lag und nicht einschlafen konnte, träumte er sich mit offenen Augen sein Boot zurecht. Das hat ein Steuerrad aus Holz und das ist fast so groß wie Lenz selber. Rechts neben dem Steuerrad ist ein Suppenteller-großer Kompass an einem Gestell so an der Wand befestigt, dass er sich frei in alle Richtungen bewegen kann. In der Mitte des Schiffs führt eine Türe mit einem kleinen runden Fensterchen in den Bauch des Schiffes: Eine vordere und eine hintere Kabine sind hier unten, und natürlich die Kombüse. Kombüse nennt man auf einem Schiff die Küche. Der Kochherd in der Kombüse von Lenz ist so eingerichtet, dass die Pfannen nicht runterfallen können, wenn einmal Wellen aufkommen sollten oder gar ein Sturm, damit nicht die ganze heiße Schokolade oder die Spaghetti verschüttet werden konnten. In der vorderen Kabine gibt es zwei Betten und bei jedem Bett eine kleine, gemütliche grüne Leselampe und ein kleines rundes Fenster. Wenn man auf dem Bett liegt, hört man das Wasser an den Bug schlagen. Die gleichmäßigen Bewegungen der Wellen fühlen sich an als liege man in einer riesengroßen Wiege. Über dem Bett von Lenz gibt es einen großen Kleiderhaken, an dem er sein Ölzeug, Hose und Jacke aus gelbem, wasserdichtem Tuch, und seine Kapitänsmütze aufhängen konnte. Genauso eine Kapitänsmütze, wie sie in seinen Schiffsträumen vorkam, sieht Lenz plötzlich vor sich: dunkelblauer Stoff, ein kurzer Schirm und in der Mitte über dem Schirm ein kleiner, goldener Anker. Die Mütze sitzt auf dem Kopf eines Mannes mit freundlichem, braungebranntem Gesicht. Der Mann lacht Lenz entgegen und sagt: „So, junger Mann, wohin darf die Reise gehen?“ Lenz erschrickt zuerst, denn er hat gar nicht bemerkt, dass er, während er an sein Traumschiff gedacht hatte, vor einem lustigen, blau-weißen Boot stehen geblieben war. Der Mann mit der dunkelblauen Kapitänsmütze war aus der Kabine des Schiffs gestiegen, ohne dass Lenz es gemerkt hat. Und nun steht er da an der Reling seines Bootes, gerade etwa auf Augenhöhe mit Lenz, der auf dem Steg stehen geblieben ist und nun übers ganze Gesicht und beide Ohren rot wurde. Aber das lustige Gesicht und die freundliche Stimme des Bootskapitäns lassen Lenz aufatmen. Das ist kein Mann, der ärgerlich Kinder anschnauzen würde mit: „Was suchst du hier? Bist du angewachsen? Komm, geh weiter.“ Stattdessen sagt der dicke Mann: „Willst du mal auf die Traudl kommen?“ Traudl heißt nämlich sein Schiff. Das steht auch in weißen Buchstaben am Bug des Schiffs. Eigentlich hatte so einmal die Frau des Kapitäns geheißen, aber die war schon vor vielen Jahren gestorben. „So kann ich trotzdem heute immer noch rufen: Komm, Traudl, wir fahren raus!“, lacht der Traudl-Kapitän ein wenig traurig als er Lenz die Geschichte erzählt. „Ich heiße Klaus“, sagt der Mann, als er Lenz die Hand reicht, damit er über die Reling hüpfen kann. „Und wie heißt du?“ „Lenz“, antwortet Lenz und will gleich fortfahren und die Erklärung mit Leonhard anhängen. Das muss er oft machen, wenn die Leute ihn ratlos anschauen, nachdem er ihnen seinen Namen genannt hat. Doch diesmal ist es nicht nötig. „Prima, Lenz“, sagt Kapitän Klaus, „dann will ich dir mal meine Traudl zeigen. Möchtest du das?“ „Oh ja, wissen Sie, ich träume oft von genauso einem Schiff, und das hat zwei Kabinen und eine Kombüse und ein ganz großes Steuerrad und …“ „Na, na“, unterbricht ihn Klaus, „dann schauen wir uns doch mal die Traudl genauer an, vielleicht ist dies ja dein Traumschiff.“ Sie beginnen die Inspektion des Schiffes oben beim Stand des Kapitäns. Das Steuerrad ist zwar schon einiges kleiner als beim Schiff, von dem Lenz träumt. Es hat ungefähr den Durchmesser des größten Kuchenblechs in der Küche von Frau Froschmayer. Aber das stört Lenz nicht. Einen Kompass hat es auch nicht an der Stelle, die Lenz dafür vorgesehen hat. Dafür hängt dort in einem kleinen Holzrahmen das Bild einer Frau. Sie steht neben einem Schiff am Ufer eines Sees und lacht in die Kamera. „Das ist eben die Traudl“, sagt Klaus, der bemerkt hat, wie Lenz das Bild mustert. „Ja, ja, die Traudl“, sagt er und seufzt. „Komm, gehen wir runter, ich zeig dir Traudls Bauch“, sagt Kapitän Klaus und hält Lenz die Türe auf. Diese Türe hat genau das gleiche kleine runde Fenster wie das Traumschiff. Lenz steigt die vier ausgetretenen Holztritte hinunter, die in die Kabine führen. Dabei bemerkt er den feinen Schokoladeduft, der aus dem Inneren aufsteigt. „Beginnen wir mit dem Wichtigsten“, sagt Klaus lachend und streicht sich über seinen großen Bauch. „Das ist die Kombüse“, erklärt er, „hier koch ich mir meine heiße Schokolade und ab und zu auch Tomaten-Spaghetti. Magst du heiße Schokolade, Lenz?“ „Ja, und wie“, sprudelt es aus Lenz heraus, „wissen Sie, Herr Klaus …“ „Komm, lass den Herrn vor der Tür, hier drinnen bin ich einfach Klaus“, unterbricht ihn der Kapitän und schiebt sich die dunkelblaue Mütze ins Genick. „Also, weißt du, Klaus“, korrigiert sich Lenz, „in meinem Schiff hat’s genauso eine Kombüse und darauf steht eine Pfanne mit heißer Schokolade, die kann auf dem Kocher festgehalten werden, damit die Schokolade nicht verschüttet, wenn Wellen kommen.“ „Was meinst denn du“, sagt Klaus, „das hat meine Traudl auch drauf“, stolz zeigt er Lenz die Einrichtung. „Also komm, lass uns zur Begrüßung eine Tasse heiße Schokolade trinken“, lädt der freundliche Kapitän Klaus Lenz ein. Er nimmt zwei Tassen vom Gestell. Damit die Tassen bei Seegang nicht runterfallen können, sind sie mit einer elastischen Schnur zurückgehalten. „Sehr praktisch“, lobt Lenz und er will sich diese kluge Erfindung auch gleich für sein Schiff merken. Lenz setzt sich auf die kleine Eckbank neben der Kombüse und Klaus schiebt sich den breiten Kapitänssessel gegenüber zurecht. „Also, Lenz“, sagt Klaus und hebt seine Tasse in die Höhe, „auf unsere Freundschaft.“ Sie trinken Schokolade und die Traudl schwankt vergnügt dazu „Jetzt geht’s aber weiter“, sagt Klaus nach den ersten Schlucken, „du musst ja das ganze Schiff kennenlernen.“ Er führt Lenz in die vordere Kabine, die mit einer schmalen Türe verschlossen ist. Hier sieht es fast genau so aus, wie Lenz es sich erdacht hat: Zwei gemütliche Betten und in den Außenwänden auf jeder Seite ein kleines Fenster, nicht rund zwar, aber dafür hat es rot-weiß getupfte Vorhänge davor, was Lenz sehr praktisch findet. In der hinteren Kabine öffnet Klaus eine Klappe im Boden und leuchtet mit einer dicken, runden Taschenlampe in das große Loch. Es riecht nach Maschinenöl und Metall und Lenz sieht auf ein glänzendes Ungetüm: lauter Ventile, Drähte, Kabel, Kerzen, Kurbeln, Stangen, Schrauben, ein scheinbarer Wirrwarr, den Lenz staunend betrachtet. „Volvo“, sagt Klaus mit Kennermiene und Lenz nickt dazu, als hätte er sich in seinem ganzen Leben mit nichts anderem befasst als mit Schiffsmotoren. „Wir werfen den Wolf doch am besten einmal an“, sagt Klaus, als die beiden Freunde wieder auf der Treppe zum Deck stehen. „Wolf“ ist für Klaus der Übername für den Volvo-Motor. Er kippt im Kapitänsstand einen Schalter nach links, zieht einen Hebel halb heraus und drückt dann lange auf einen schwarzen Knopf. Man hört ein zufriedenes Schnurren, das in ein regelmäßiges Tuff-Tuff-Tuff übergeht. Der Motor ist gleich angesprungen und läuft ganz ruhig. Außen am Schiff hört man ein Spucken und Paffen, der Motor braucht Wasser aus dem See zur Kühlung, und spuckt dieses dann regelmäßig auf der Seite wieder aus. Die Augen von Klaus glänzen und sein breiter Mund wird vor Lachen noch breiter, als er stolz zu Lenz rüberblickt und ein lang gezogenes „Naa?“ brummt „Das ist das größte Geburtstagsgeschenk“, sagt Lenz. „Was heißt da Geburtstagsgeschenk?“, fragt Klaus mit gerunzelter Stirn, „Wer hat denn da Geburtstag?“ „Ich“, stößt Lenz verlegen heraus und bekommt wieder knallrote Wangen und Ohren. „Waas?“, ruft Klaus ungläubig, „du hast heute Geburtstag?“ „Ja“, sagt Lenz kleinlaut und schiebt nach, „aber der ist ja schon bald vorbei.“ Es ist Lenz peinlich, dass ihm das mit dem Geburtstagsgeschenk herausgerutscht ist. „Was heißt da vorbei, der hat erst eben begonnen“, ruft Klaus und strahlt über das ganze, breite Gesicht. „Wie wär’s denn mit einer kleinen Geburtstagsfahrt mit meiner Traudl?“ Lenz glaubt seinen Ohren nicht zu trauen. „Ich, wir, jetzt??“, bringt er nur hervor. „Ja, du und ich und jetzt. Und wenn wir aus dem Hafen rausgefahren sind, übernimmst du gleich mal Steuer und Kommando. Erst brauch ich aber noch deine Hilfe: Geh doch bitte auf den Steg raus und mach, wenn ich dir das Kommando gebe, hinten und vorne die Leinen los. Aber vergiss nicht rechtzeitig wieder an Bord zu springen, sonst musst du hinterher schwimmen.“ Lenz ist ganz aufgeregt, so wichtige Aufgaben schon bei der ersten Ausfahrt übertragen zu bekommen, und er lernt auch gleich, dass zuerst die hintere Leine gelöst und über die Reling ins Schiff geworfen werden muss, und dann erst die vordere. Und der Sprung zurück an Bord der Traudl gelingt ihm vorzüglich. „Jetzt nimm die lange Stange, die da vorne liegt“, weist ihn Klaus weiter an. „Damit kannst du uns vom Ufer wegstoßen, damit wir die Fender schonen können.“ Schon wieder ein neues Wort für Lenz, „Fender“. Diese langgezogenen Ballone aus festem blauem Kunststoff hängen rund herum an Tauen aus dem Boot, damit der Rumpf nicht an der Hafenmauer anschlägt und kaputt geht. Als nächstes zeigt Klaus, wie die Leinen sauber zusammengerollt und beiseitegelegt werden, damit es an Bord keinen Leinensalat gibt. Lenz ist so beschäftigt, dass er gar nicht bemerkt, wie sich das Schiff schon mehr als zehn Meter vom Ufer entfernt und schon bald den Hafeneingang passiert hat. „He, Käpt’n“, ruft Klaus nach vorne, „kommen Sie doch mal her.“ Er meint Lenz und der eilt ganz stolz zum Steuerrad. Dort passt ihm Klaus seine dunkelblaue Kapitänsmütze auf den Kopf. „Noch ein wenig zu groß, da müssen wir dann im Laden am Hafen nach einer kleineren Nummer Ausschau halten.“ Nun fasst Klaus Lenz an den Händen und führt sie ans hölzerne Steuerrad mit der glänzenden Nabe aus Messing. Lenz fährt. Lenz ist der Kapitän. „Da, dieser Hebel rechts, das ist der Gashebel. Nach vorne heißt vorwärts, nach hinten heißt rückwärts. Aber nie in einem Zug von vorne nach hinten ziehen, du musst immer in der Mitte kurz anhalten, damit die Schiffsschraube Zeit hat umzukehren.“ Lenz hat ganz heiße rote Wangen, er ist so aufgeregt und muss sich so viel Neues merken. Doch Lenz ist so glücklich
4. Kapitel. Die Botschaft. Am Ketzelweg 9, in der Stube der Familie Froschmayer, herrscht eine bedrückte Stimmung. Mutter Froschmayer sitzt auf dem vorderen Rand des Lehnstuhls und hält ein zerknülltes Taschentuch in beiden Händen. „Jetzt wird’s dann schon bald dunkel, und der Junge ist immer noch nicht da.“ Das sagt sie ganz leise, und dann etwas lauter und an ihren Mann gerichtet: „Und du könnest endlich mal aufhören, ständig auf und ab zu gehen, das macht mich nur noch nervöser.“ „Ich muss nachdenken, und zum Nachdenken muss ich mich bewegen“, sagt Herr Froschmayer. Als die beiden am Nachmittag von ihrem Mittagsschlaf aufwachten hatten sie festgestellt, dass Lenz nicht mehr im Haus war. Sie suchten zuerst den Garten ab, sie schauten in die Putzkammer, wo Lenz eingesperrt gewesen war. Nichts. Auch oben im Zimmer war keine Spur von Lenz zu sehen. Sie hatten noch nicht bemerkt, dass der Rucksack nicht mehr am Haken an der Rückseite der Türe hing. „Er ist bestimmt zu seinen Freunden gegangen“, versucht Vater Kurt seine Frau zu beruhigen. „Der kann dann was hören, am Geburtstag einfach aus dem Haus zu laufen.“ Das war vor drei Stunden. Unterdessen hat Frau Froschmayer bei Ehlerts und bei Kunerts angerufen, doch Lenz ist weder bei Philipp noch bei Ken. „Du hättest den Jungen nicht einsperren sollen.“ „Das hat er verdient, so wie der sich aufgeführt hat.“ „Aber wenn er jetzt weggelaufen ist.“ „Der wird schon nicht weggelaufen sein, hm, he, weglaufen … Wohin sollte er denn laufen?“ „Ich habe mal gelesen, dass Kinder, wenn sie enttäuscht sind …“ „Enttäuscht, enttäuscht, wer hat denn da Grund enttäuscht zu sein, hm, he?“ Das war, wie gesagt vor drei Stunden. Jetzt sind Vater und Mutter Froschmayer still. Die gegenseitigen Vorwürfe sind verstummt, und verstummt sind auch die Vorwürfe an Lenz. Beide sind so angespannt und in ihnen kriecht Angst und schlechtes Gewissen hoch. „Ich schau mal draußen nach, der Lenz wird bestimmt gleich um die Ecke kommen, und dann werden wir ja sehen, was wir ihm noch zu sagen brauchen.“ Herr Froschmayer öffnet die Türe, die in den Garten führt. Er tritt auf den Rasen vor der Hollywood-Schaukel – und er traut seinen Augen nicht. Da hat sich doch tatsächlich ein weißer Vogel auf der Schaukel niedergelassen und sitzt mitten auf dem hellblauen Sitzkissen. „Willst du wohl verschwinden, du, du … Vogel.“ Der Vogel ist eine Taube. Sie hält den Kopf etwas schräg und beobachtet mit einem ihrer purpurroten Augen Herrn Froschmayer, wie er eine Fliegenklatsche vom Fensterbrett nimmt und auf die Schaukel zuläuft. Mit ihrem Schnabel zupft sie ein kleines, weißes Röllchen aus der Drahtschlaufe, die an ihrem Fuß befestigt ist
5. Kapitel. Die erste Nacht an Bord. Lenz liegt auf dem Bett in der Kajüte der Traudl. Obwohl er sehr müde ist kann er nicht einschlafen. In seinem Kopf drehen sich die Bilder dieses langen, aufregenden Tages. Vom Bett auf der anderen Seite der Kabine hört er das regelmäßige Schnarchen von Kapitän Klaus. Nachdem sie die einhundertsiebenundsiebzig Stufen der Turmtreppe wieder heruntergestiegen waren, kontrollierten sie noch alle Leinen, mit denen das Boot am Steg befestigt war. Dann stiegen sie in die Kajüte hinunter. Als beide in ihren Betten lagen erzählte Klaus von dem Tag, an dem er Frau Lundgren kennengelernt hatte. Sie wollte ihn immer dazu überreden, bei ihr im Leuchtturm zu bleiben. Mitten in einem Satz drin verstummte Klaus’ Stimme plötzlich und Lenz hörte, wie sein Atem ganz fest und regelmäßig wurde. Und bald in lautes Schnarchen überging. Der Abend oben in der Turmstube ist so verlaufen: Nachdem Lenz die Geburtstagsabenteuer erzählt hat, macht die Leuchtturmwärterin den Vorschlag, den Eltern eine Botschaft zukommen zu lassen, damit sie sich keine Sorgen machen, wenn ihr Sohn nicht nach Hause kommt. Lenz schaut sich in der runden Miniaturstube um und sucht das Telefon. Doch da ist keines. Er hätte sich auch unwohl gefühlt, in diesem Moment mit seinen Eltern am Telefon zu sprechen. Ein bisschen Angst hat er, seine Mutter könnte am Telefon zu weinen beginnen. Und dann hätte er bestimmt auch ganz starkes Heimweh bekommen. Dabei war doch alles so spannend, was er seit dem frühen Nachmittag erlebt hat. Er will nichts davon verpassen. „Nein, nein, da ist kein Telefon“, antwortet Frau Lundgren auf die besorgte Frage von Lenz, „das ist eine Aufgabe für meine Suse.“ Sie kramt in der Küchenschublade ein kleines weißes Blöckchen und einen Stift hervor. Beides legt sie vor Lenz hin auf den Tisch. „Da kannst du deinen Eltern eine kleine Nachricht draufschreiben.“ Lenz schaute ratlos zu Klaus, der ihm aufmunternd zunickt. „Schreibe einfach, es gehe dir gut und sie brauchten sich keine Sorgen zu machen.“ So schrieb Lenz: „Liebe Mami, lieber Papi, ihr braucht euch keine Sorgen zu machen. Es geht mir prima. Euer Lenz.“ Frau Lundgren unterbricht das Karottenschälen. Sie wischt sich die Hände an der Kittelschürze mit den vielen kleinen Leuchttürmen drauf ab. „So, nun gehen wir zum Postamt hinunter“, lacht sie und nimmt Lenz bei der Hand. Sie steigen zum Taubenschlag ab. Die Leuchtturmwärterin öffnet ein kleines Türchen im Drahtgitter und streckt ihre Hand hinein. „Komm, Su, Su, Su …“ Die weiße Taube, die alleine auf der mittleren Stange sitzt, schreitet mit wippendem Kopf auf die Hand zu, schlägt zweimal mit den Flügeln und sitzt ganz ruhig auf der Hand
6. Kapitel. Die Insel Weisheit. Kapitän Klaus hat auf dem Tisch neben dem Steuerrad eine große Seekarte ausgebreitet. In der Mitte dieser Karte ist eine Gruppe von drei Inseln zu sehen mit ihren zerklüfteten Ufern. Die mittlere Insel heißt „Weisheit“, das steht in großen, altmodischen Buchstaben quer über die Karte geschrieben. Es ist ein kleines, schmales Eiland, das an der breitesten Stelle ungefähr zwei Fußballfelder breit ist, an der schmalsten kaum halb so breit. Zwischen den drei Inseln liegt hellblau eingefärbt das Meer. In der blauen Fläche des Meeres sind ganz viele feine schwarze Linien eingezeichnet und neben diesen Linien stehen Zahlen. Mit diesen Zahlen ist die Tiefe des Meeres angegeben. Lenz steht am Steuerrad und konzentriert sich auf den Kurs des Schiffs. Noch ist in Fahrtrichtung nichts auszumachen, noch sehen die beiden vor sich nur die Fläche des Wassers, kein Land ist in Sicht. „Jetzt überqueren wir die Stelle, wo das Meer über tausend Meter tief ist“, sagt Klaus und deutet mit dem Finger auf eine Stelle in der hellblauen Fläche, wo diese feinen schwarzen Linien ganz nahe beisammenstehen. Er erzählt Lenz davon, dass unter der Meeresoberfläche wilde Landschaften mit hohen Bergen und tiefen Tälern liegen. Die höchsten Meeresberge ragen als Inseln aus dem Wasser, die tiefsten Täler sind die Stellen im Meer, wo kaum Licht hinkommt, wo es ewig dunkel ist. Die Fische, die in dieser Tiefe unter der Meeresoberfläche herumschwimmen, haben riesengroße Augen, damit sie auch bei wenig Licht den Weg durch die Felsenwelt finden. Die Unterwasserfelsen sind übersät mit Muscheln in allen Formen und Farben und überall haben sich Seeigel festgemacht und stecken ihre langen spitzen Stacheln von sich zur Abwehr von Angreifern. In den Felswänden gibt es wie im richtigen Gebirge kleine und große Höhlen. Die größeren werden von den achtarmigen Riesen-Tintenfischen als Versteck benutzt. Wenn ein Fischschwarm oder eine Schar Seepferdchen außen an der Höhle vorbeiziehen, schießt der Krake aus der Höhle hervor, spritzt aus seinem großen Beutel am Körper tiefschwarze Tinte rund um die Tiere, die er sich als Opfer ausgewählt hat. So verlieren sie die Orientierung und können nicht mehr fliehen und für den Jäger-Kraken ist es ein Leichtes, mit jedem seiner acht Arme einen Fisch oder ein Seepferdchen zu packen. Wie Klaus das so erzählt, beginnen Lenz besonders die Seepferdchen leid zu tun. Im Naturunterricht in der Schule haben sie kürzlich über Tiere des Meeres gesprochen und Lena, ein Mädchen aus seiner Klasse, hat ein getrocknetes Seepferdchen mitgebracht. Sie hat es in ihren Ferien in Spanien am Strand gefunden. Das fingergroße Tierchen hat einen Schwanz, der am unteren Ende aussieht wie ein eingerollter Pfeifenreiniger. Der Kopf des Meerestierchens sieht wirklich aus wie der eines jungen Pferdchens. Die Seepferdchen haben keine Flossen und lassen sich im Wasser stehend von der Strömung treiben. Jetzt, da Lenz von dieser geheimnisvollen Welt in so großer Tiefe und den grausamen Kraken weiß, kommt ihm die Farbe des Meers rund um die Traudl noch viel schwärzer vor. Er hält das Steuerrad ein bisschen fester in den Händen und schaut angestrengt nach vorne, um den richtigen Kurs zu halten. Doch vor seinen Augen verändern sich plötzlich Sicht und Farbe der Umgebung. Alles rundherum ist in weiß-grauen Nebel gepackt. Man kann vielleicht gerade noch zehn Meter weit sehen. Lenz dreht sich um und schaut Klaus fragend an. „Siehst du“, sagt Klaus, „die Agnes hat Recht gehabt. Sie hat uns vorausgesagt, dass vor der Küste der Insel Weisheit Nebel liegt.“ Lenz übergibt Klaus das Steuer, denn nun gilt es, ganz genau auf Kurs zu bleiben. „Ich habe uns die Richtung mal ausgemessen“, erklärt Klaus, „damit wir nach dem Kompass fahren können.“ Er hat sich unterdessen die Kapitänsmütze aufgesetzt. Das ist ein Zeichen, denkt Lenz, dass die Lage jetzt ernst wird. Klaus zeigt Lenz, wie man nach Kompass steuern muss. „Auf der Karte habe ich die Richtung zum Hafen der Insel Weisheit berechnet, auf Grad und Minuten genau. Das kann ich jetzt auf dem großen Kompass hier neben dem Steuerrad einstellen, sodass wir sehen, ob wir auf Kurs sind.“ „Ein paar Drehungen am Steuerrad nach Backbord oder nach Steuerbord“, erzählt Klaus weiter, und sie würden sich entweder im Kreis drehen, oder an der Insel vorbeifahren, oder – schlimmer noch – auf die felsige Küste prallen. Der Kapitän drosselt den Motor, so tuckern sie langsam aber sicher durch den dicken Nebel. „Weißt du, genau so muss es gewesen sein, als der Himmel und die Erde entstanden sind“, erzählt Klaus, „rundherum war Nebel, sodass man nicht sehen konnte, wo die Erde aufhört und der Himmel anfängt.“ „Am Anfang“, so erzählt Klaus, „lagen Himmel und Erde in enger und liebevoller Umarmung übereinander. So konnte man die Grenzen zwischen ihnen nicht erkennen. Alles war Eins. Erst als die Götter des Meeres und des Himmels geschaffen wurden, hatten sie sich getrennt.“ „Weißt du, Lenz, die Menschen fürchten sich im Nebel, dabei sollten sie ihn lieben, denn er bringt Himmel und Erde zusammen.“ Lenz ist beeindruckt von der Klugheit von Klaus und er liebt seine Geschichten, die so viel Neues und Abenteuerliches für ihn enthalten. Inzwischen ist der Nebel noch dichter geworden und die Sonne ist nur noch ganz schwach als milchig-weiße Scheibe am Himmel zu sehen „Zum Glück ist das Meer schön ruhig“, bemerkt Klaus. Hätte es zum Nebel noch Wellen, wäre es viel schwieriger, den richtigen Kurs zu halten. „Du gehst jetzt am besten mal an die Bug-Glocke. Wenn wir näher an die Küste von Weisheit kommen, lassen wir in regelmäßigen Abständen die Glocke klingen und melden uns an. Ich sag dir dann, wann du läuten musst. Und dann müssen wir die Ohren spitzen, um zu hören, ob uns Arthur auf der Insel antwortet.“ Die Traudl gleitet fast lautlos über das Wasser, es ist eine gespenstische Stimmung. Lenz sitzt vorne am Bug und hält die kurze Schnur der Glocke in der Hand, um gleich beim ersten Hinweis von Klaus die Glocke schlagen zu können. Er schaut abwechselnd nach vorne in die weiße Nebelwatte und nach hinten zu Klaus im Führerstand. Der Kapitän hebt die Hand in die Höhe und ruft nach vorne: „Jetzt zweimal kurz hintereinander zwei Schläge, Lenz.“ Der Klang der Glocke ist hell und klar, und doch hat man das Gefühl, der Nebel verschlucke alle Töne. Klaus und Lenz horchen angestrengt nach vorne. Nichts ist zu hören außer dem leichten Plätschern der Bugwellen. Lenz beobachtet ganz genau das Gesicht von Klaus. Der hat die Augen zusammengekniffen und scheint mit allen Sinnen angestrengt vorauszuschauen und vorauszuhören „Soll ich noch mal läuten?“, fragt Lenz. „Wart nur noch, der Arthur und seine Tochter haben ja nicht gleich hinter dem Nebelhorn gewartet, bis wir kommen. Lass ihnen noch ein wenig Zeit.“ Und kaum hat Klaus das gesagt, ist plötzlich ein Horn zu hören: zweimal zwei Stöße in kurzen Abständen, die Antwort auf Lenz’ Glockenschläge. Der Klang des Nebelhorns von Weisheit kam genau von vorne, das kann Lenz gut orten. Sie sind also auf gutem Kurs „Schlag nochmals, gleich wie vorher“, befahl Klaus. Nun dauert es nur einen kurzen Augenblick, und die Antwort kommt zurück. „Gut, gut“, brummt Klaus, „wir sind noch gut und gern eine halbe Meile entfernt.“ Er kontrolliert Kompass und Steuerrad, schaut nochmals auf die Karte und nickt zufrieden. „Jetzt kannst du in Abständen von einer halben Minute läuten, und zeig mir genau, woher das Horn ertönt.“ Lenz tut genau, was ihm aufgetragen wurde, Glockenschlag, hinhorchen, und dann den Arm ausstrecken in die Richtung, wo der Ton herkommt. Nach dreimaliger Wiederholung glaubt Lenz, das Horn sei schon deutlich nähergekommen. Natürlich ist es umgekehrt, sie nähern sich dem Horn, dem Horn des Hafenmeisters Arthur auf der Insel Weisheit. Klaus hat den Motor in Leerlauf geschaltet, sodass die Traudl immer langsamer dahingleitet. Das Horn ist nun fast zum Greifen nahe. Jetzt erkennt Lenz im Nebel die Mauer der Mole, die den Hafen von Weisheit umfasst. Rechts blinkt ein grünes, links ein rotes Licht und im Hintergrund erkennt man bereits ein Haus. Als würde ein Vorhang aufgerissen ist plötzlich wieder alles klar sichtbar, der Nebel ist verschwunden, liegt hinter ihnen. Vor ihnen die kleine Hafenbucht, in der vielleicht gerade einmal drei Schiffe von der Größe der Traudl Platz haben. Auf der Hafenmauer steht ein großer, dünner Mann, der einen dicken weißen Seemannspullover und eine Mütze trägt. Er winkt dem Schiff zu. Klaus winkt zurück. „Verdammter Küstennebel“, schimpft Klaus halblaut vor sich hin. „Jetzt sieht die Welt wieder so scheinheilig aus, als sei nichts gewesen. Aber gut hast du es gemacht, Lenz. Ich ernenne dich zum Chefmatrosen der Traudl.“ Lenz ist von der Glocke zurückgekehrt und macht die Leinen bereit für die Landung. „Du kannst Arthur die Leinen zuwerfen, er macht uns dann fest.“ Lenz wirft die vordere Leine, doch zu früh, sie landet im Wasser. Beim zweiten Mal klappt es. Der Hafen der Insel Weisheit besteht nur gerade aus einem windschiefen Holzsteg mit drei oder vier Anlegeplätzen. Ein armseliges Schiff liegt hier festgemacht, die Farbe blättert von ihm ab und die Fenster des Kabinenaufbaus sind blind. Neben dem Hafen steht ein einstöckiges Holzhaus. Es ist in dunkelroter Farbe gestrichen und die Fenster haben weiße Rahmen. Vor dem Haus steht eine Stange, an der ein verblichenes und zerschlissenes Fahnentuch flattert. Lenz kann nicht erkennen, zu welchem Land diese Fahne gehört, die Farben sind kaum mehr zu sehen. Neben dem Holzhaus steht ein schmales hohes Zelt aus blau-weißem Tuch. Das Zelt hat vorne auf halber Höhe eine Öffnung und das Zelttuch über dieser Öffnung ist als Dach nach vorne gespannt. Darüber steht in großen Buchstaben auf einem Karton: „KIOSK“. Jeder Buchstabe ist in einer anderen. Farbe gemalt. Das Zelttuch wird in diesem Moment auf der Seite nach hinten geschlagen und ein Mädchen tritt heraus. Es trägt einen Rock mit blauen und gelben Streifen und feuerrote Kniesocken. Ihre hellbraunen Haare sind mit einem Tuch zusammengebunden und stehen wie ein Pinsel vom Kopf ab. Das Mädchen ist vielleicht acht oder neun Jahre alt und hat ein sehr hübsches Gesicht. Es rennt zum Steg hinunter, wo bereits der große dünne Mann im dicken weißen Pullover auf die Gäste von der Traudl wartet. „Grüß dich, Klaus, was bringt denn dich durch den Nebel?“ Die beiden Männer geben sich die Hand. Lenz steht noch immer auf dem Schiff. Er hat ganz vergessen auszusteigen. Seit das Zelttuch zur Seite geschlagen worden war, hat er die Augen nur noch auf das Mädchen gerichtet „Wen bringst du da mit?“, fragt der Mann von der Insel und dreht seinen Kopf zu Lenz hin. Klaus begrüßt ihn, indem er ihm den Arm um die Schulter legt „Schön, dich wieder mal zu sehen, Arthur“, sagt er. „Der junge Mann, der jetzt vielleicht dann gleich von Bord gehen wird, ist mein Freund Lenz. Lenz, das sind Arthur und seine Tochter Sophia.“ Als Lenz seinen Namen hört zuckt er zusammen als erwache er aus einem Traum. Er wird sich bewusst, wie er unentwegt das hübsche Mädchen angestarrt hat und das wurde ihm nun so peinlich, dass sein Gesicht ganz rot anläuft und die Sommersprossen auf der Nase wie Konfetti leuchten „Hallo, Lenz“, begrüßt Arthur den Ankömmling. Seine Tochter streckt erst Klaus und dann Lenz die Hand entgegen. Lenz bekommt feuerheiße Ohren als er Sophias Hand in seiner spürt und ihre blau-grünen Augen ihn lange anblicken „Kommt erst mal ins Haus, da gibt’s kalten Kräutertee.“ Arthur geht mit Sophia voraus. Neben dem Eingang liegt ein feiner kleiner Garten mit Gemüse, Kräutern und Zwiebeln. Auf der anderen Seite ist ein gelbes Fischernetz über eine Stange gehängt. Vor dem Netz steht ein Stuhl mit schiefen Beinen und einer geflochtenen Sitzfläche. Haken und Ösen und eine Spule mit feinem, gelbem Faden liegen darauf. Arthur ist gerade damit beschäftigt gewesen, die Löcher im Netz zu flicken, als vom Meer her die Glocke der Traudl zu hören war. Er war ins Haus gelaufen und hatte das Nebelhorn aus gelbem Messing von der Wand genommen, um Antwort zu blasen. Am Eingang ins dunkelrote Haus gelangt man zuerst in einen Windfang. Kniehohe Gummistiefel in zwei verschiedenen Größen stehen neben warmen Filzpantoffeln, an den Kleiderhaken darüber hängt Ölzeug und Windjacken. Sophia hält den beiden Gästen die Pendeltüre auf, durch welche man in die Küche kommt. Hier ist es ein wenig düster, aber sehr gemütlich. Hinten an der Wand stehen ein Kochherd und ein großes Küchenbüffet, ein Tisch mit langer Eckbank vorne beim Fenster. In der Küche riecht es verführerisch aus den verschiedenen Töpfen, die auf dem Feuer stehen. Auf den Regalen steht in Reih und Glied ein ganzes Dutzend Gläser mit Schraubendeckel: Reis, Mais, Gries, Mehl, Zucker, Salz, drei Gläser mit verschiedenen Teigwarenformen. In der hinteren Ecke der Küche, wo zwei Türen in andere Räume führen, steht ein altes, breites Kanapee. Da passen gut vier Personen drauf, so groß ist das Möbel. Der Stoff ist an den Armlehnen und auf der Sitzfläche zum Teil ganz abgeschabt und hat die Farbe verloren. Doch man erkennt, dass es einmal ein schönes und wertvolles Kanapee gewesen sein muss, denn der dunkelrote Samt ist dort, wo er noch nicht speckig und abgenutzt ist, mit goldenen Fäden verziert. Sophia sitzt schon mitten auf dem seltsamen Sofa, die Beine zum Schneidersitz verschränkt. Die beiden Männer und Lenz nehmen am Tisch Platz. Lenz schaut sich in der Küche um: alles sieht sauber aus, die Pfannen sind zwar verbeult und das Geschirr hat da und dort Ecken ab, aber es gefällt Lenz hier weit besser als in der Küche seiner Mutter, wo nie ein Brotkrümel oder ein Aprikosenstein herumliegen durften. Die Möbel sind alt und haben Stellen, wo sich der Lack abgelöst hat und das Tischtuch hat an einigen Stellen kleine Löcher. Lenz fühlt sich hier sofort wohl. An den Wänden hängen unzählige vergilbte Fotografien, auf den meisten ist ein kleines Zirkuszelt zu sehen. Auf einem Bild steht Arthur mit einer Frau und einem kleinen Mädchen vor dem Eingang. Arthur hat den Arm über die Schulter der Frau gelegt. Auf einem anderen Bild ist Arthur zu sehen, zusammen mit einem Dromedar, vier Ziegen, zwei Windhunden, einem kleinen Affen mit gestreiftem Hemd. Im Hintergrund sieht man wieder das kleine Zirkuszelt. Auf einem dritten Bild steht ein Mädchen – es muss Sophia sein – auf dem Rücken eines Ponys, das in der Manege seine Runden dreht. Lenz schaut zu Sophia auf dem Kanapee hinüber und sie schaut mit einem Lächeln zurück. Es kommt ihm vor, sie schaue ein bisschen traurig drein. „Ja, ja, Lenz“, sagt Arthur, „schau dir die Bilder nur an. Das sind Bilder aus unseren guten Zeiten, als es den Zirkus Arturo noch gab.“ Arthur hat gesehen, wie Lenz die Bilder betrachtet. „Vier Jahre waren wir unterwegs von Stadt zu Stadt, von Dorf zu Dorf, und überall hatten die Leute Freude, wenn wir wiederkamen. Im letzten Jahr hatten wir sogar eine Hochseilnummer eingebaut. Da fuhr ich mit einem Fahrrad über ein Seil, das acht Meter über dem Boden gespannt war.“ Er machte eine lange Pause und kratzte sich in seinem Bart. „Doch dann war alles aus, als Sabine plötzlich krank wurde und ich den Zirkus verkaufen musste, um die Spitalsrechnungen bezahlen zu können.“ Sabine war seine Frau und die Mutter von Sophia. Arthur blickt abwesend zu den Fotos an der Wand, es scheint, als schaue er durch sie hindurch. Für einen Moment ist es ganz ruhig geworden in der Küche. Klaus beginnt als erster wieder zu sprechen: „Sabine war eine großartige Frau, und sie konnte so unglaublich gut jonglieren, ob mit Bällen oder Keulen. Arme Sabine.“ Er erzählt, dass Sabine, die Mutter von Sophia, nicht mehr gesund wurde und dass Arthur und seine Tochter, nachdem Sabine gestorben war und der Zirkus verkauft werden musste, hierher nach Weisheit gezogen waren. Hier wollte Arthur ein neues Leben beginnen und ein neues Geschäft aufbauen. Er begann Delphine zu dressieren, um mit ihnen von Hafenstadt zu Hafenstadt zu ziehen und sie dort vor den Leuten am Ufer ihre Kunststücke aufführen zu lassen. Zehn Delphine hatte er schon dressiert, sie lebten in einem Gehege in einer kleinen Bucht auf der anderen Seite der Insel Weisheit. Sie konnten doppelte Saltos schlagen, wenn sie aus dem Wasser sprangen und sie konnten durch Ringe springen oder miteinander Kopfball spielen „Komm, ich zeig sie dir“, sagt Sophia zu Lenz und springt von ihrem Sitz auf. „Ich darf doch, Papa?“ „Ja, geht nur“, sagt Arthur und lächelt. Sophia und Lenz verlassen die Küche „Ich zeige dir erst meinen Kiosk“, sagt Sophia und zeigt zum blau-weißen Zelt hinüber. Auf der Auslage stehen zahllose kleine Körbe, die alle mit einem kleinen Schildchen versehen sind. „Schokolade-Delphine“ steht auf dem einen, oder „Weisheits-Muscheln“ auf einem anderen. In einem dritten Körbchen sind zartfarbige Seeigel-Gehäuse unterschiedlicher Größe, ein weiteres enthält getrocknete Seepferdchen
7. Kapitel. Towezi. Der Delphin Pan schießt wie ein Pfeil durch die Unterwasserwelt und entfernt sich blitzschnell aus der Bucht, in der er Lenz und Sophia eben mit seinem Prachtsprung verabschiedet hat. In der Zeit, in der Lenz kaum zweimal mit den Augen hätte zwinkern können, ist er wieder beim Wrack angelangt. Im Rumpf des gesunkenen Schiffes hat er zusammen mit seiner Delphinfrau Ysi ein Delphinkinderzimmer eingerichtet. Hier schwimmt ihr kleiner Delphinjunge Frank vergnügt hin und her, spielt mit leeren Muscheln und mit Schwämmen so groß wie Fußbälle. Pan und Ysi haben das Zimmer des kleinen Delphinbabys ganz liebevoll eingerichtet: auf einer alten Holzkiste sind lauter dunkelblaue Seeigel aufgereiht, von der Decke schwebt ein Mobile aus zarten roten Korallenfingern, der Boden ist mit feinem Küstensand bedeckt und in der Ecke steht eine kleine Delphinwiege aus großen gelb-grünen Seegurken. Im Bullauge an der Außenwand des Schiffs schwimmen kleinste leuchtende Neonfischchen im klaren blauen Meerwasser hin und her, es sieht aus wie ein Miniatur-Aquarium, das in die Wand eingebaut ist. Hier lebt Frank, wenn seine Eltern unterwegs sind um für ihn Futter zu suchen. Pan hat Ysi, die schöne Delphinfrau, schon bemerkt, als er noch im Netzgehege mit den anderen neun Zirkus-Delphinen lebte. Sie ist oft außen am Netz vorbeigeschwommen und bald schon hat sich Pan restlos in Ysi verliebt. Er wusste, dass er hier raus musste, dass er mit Ysi zusammenleben und Kinder großziehen wollte in der großen Weite des Meeres. So schmiedete Pan einen Plan: Beim Training für die Zirkus-Nummern mit Arthur sprang Pan immer die doppelte Zahl von Sprüngen. Wenn Arthur vor lauter Müdigkeit schon bald den Sprungring nicht mehr hochhalten konnte, tauchte Pan immer wieder auf und schüttelte wie wild mit dem Kopf. Delphine nicken nicht, sie schütteln den Kopf, wenn sie „Ja“ sagen wollen. Pan übte und übte, bis kein anderer Delphin aus der Zirkustruppe so hoch und so weit springen konnte wie er. Arthur und Sophia freuten sich riesig über die große Leistung, auf dem ersten Plakat ihres Delphin-Wanderzirkus’ konnten sie stolz schreiben: „Keiner springt höher! Besuchen Sie unsere Delphin-Vorstellung mit zehn Delphinen im Hafenbecken von Herzburg und bestaunen Sie Pan. Keiner springt höher als er!“ Sie konnten zu diesem Zeitpunkt nicht wissen, dass Pan eigentlich nur eines im Sinn hatte: sobald als möglich so hoch und so weit springen zu können, dass er das Gitter in der Delphin-Bucht der Insel Weisheit überspringen konnte, um in die Freiheit zu gelangen. An einem Samstag im letzten Dezember war es dann so weit. Pan war schon den ganzen Morgen über ganz aufgeregt und unruhig, und seine neun Delphin-Kollegen im Gehege merkten, dass er etwas im Schilde führte. Sie hatten sich in einer Ecke der Bucht zusammengefunden und tuschelten in der Delphin-Sprache, was Pan wohl plane. Noch während sie wild durcheinander schwatzten schoss Pan plötzlich aus der hintersten Ecke der Bucht in einem unglaublichen Tempo hervor und setzte kurz vor dem Gitter zum Sprung an. Noch nie hatte jemand einen solch gewaltigen Sprung eines Delphins erlebt, Pan stieg blitzschnell aus dem Wasser empor und flog über das Gitter – in die Freiheit des weiten Meeres. Die anderen Delphine schwammen alle ans Gitter und schauten ihrem Leittier aus dem Gefängnis nach, wehmütig und voller Bewunderung. Pan drehte sich nochmals um, winkte mit der Schwanzflosse und schwamm eine Runde vor der ganzen Länge des Netzes und schüttelte wie wild den Kopf: Pan verabschiedete sich von seinen Delphin-Kollegen. Er wendete am Rand der Bucht und war in der Weite des Meeres verschwunden. So war Pan, der Delphin, aus dem Zirkus von Arthur und Sophia ausgebrochen. Die beiden waren unendlich traurig als sie am nächsten Morgen feststellten, dass ihr wichtigstes Tier fehlte. Doch Pan, er war glücklich wie noch nie in seinem ganzen Delphinleben. Nachdem Pan bei Frank, dem Delphinjungen, im Schiffswrack vorbeigeschaut hat und ihn zärtlich dreimal schwimmend umrundet hat, schießt er aus dem alten Rumpf heraus und macht sich auf die Reise. Er will heute Abend noch bei Frau Süß vorbeischauen. Frau Süß ist die Nachbarin, sie wohnt auf der dritten Insel, auf der Insel Zimt. Torg, die Insel von Frau Lundgren ist die östlichste Insel, Weisheit, die Heimat von Arthur und Sophia, liegt in der Mitte, und Zimt, die Insel von Hans und Helga Süß, liegt ganz im Westen der Gruppe. Die Insel Zimt hat die Form eines Zuckerstocks, ihre Uferlinie war kreisrund und schon bald hinter der flachen Küste steigt das Gelände überall gleichmäßig steil an bis zum Gipfel, der im Durchmesser nicht größer ist als ein runder Schachtdeckel auf der Straße. Gleich neben der Anlegestelle im kleinen Hafen der Insel Zimt steht ein rotes Backsteingebäude mit einem dreiteiligen, gezackten Schrägdach. Am hinteren Ende des Gebäudes ragt ein Schornstein in den Inselhimmel und aus dem Schornstein steigt weißer Rauch. Über dem Eingang der Miniaturfabrik steht in schnörkliger Schrift: „Schokoladefabrik H. & H. Süß.“ Auf dem Platz vor der Fabrik schiebt Hans Süß eine riesengroße Holzkiste auf einem klapprigen Gabelstapler zur Rampe. Hans Süß trägt wie immer einen dunkelblauen Overall und eine rote Schirmmütze. Die Kiste ist bis über den Rand hinauf mit dunkelbraunen Kakaobohnen beladen. Diese sind eben gerade in einem runden Becken auf dem Vorplatz gewaschen worden und nun schiebt Hans die Früchte in die Rösterei. Rund um die Fabrik riecht es verführerisch nach Schokolade, ja, auf der ganzen kleinen Insel und weit darüber hinaus ist zu riechen, was hier fabriziert wird. In der vorderen Halle der Fabrik steht Helga Süß mit ihrer viel zu großen rosaroten Gummischürze an einer Maschine und füllt aus einem trichterförmigen Tank, der an einer Laufkatze an der Decke befestigt ist, hellbraune, flüssige Schokolade in kleine Formen. Im Moment sind es gerade kleine Delphine, die aus der zarten und süßen Masse gefertigt werden. Eben solche Delphine, wie sie Lenz in der Auslage von Sophias Kiosk gesehen hat. An der Wand hinter Helga steht ein Gestell, das bis an die Decke der Halle reicht. Eine lange Holzleiter steht davor, am oberen Rand des Gestells wird die Leiter mit Rollen auf einer Schiene geführt, sodass man sie bequem hin und her schieben kann. Dieses Gestell enthält unzählige große Bleche, in welche die unterschiedlichsten Formen eingepresst sind: Hasen für Ostern, Weihnachtsmänner für Weihnachten, dann aber auch kleine Schiffchen, Dampflokomotiven, Sterne, Monde, Palmenbäume, Glocken, Schubkarren, Henkelkörbe, altmodische Telefone, Äpfel, Birnen oder Nüsse. Ganz besonders niedlich sehen die Seepferdchen aus, die sehen mit ihrem Ringelschwanz wie echt aus. All diese Formen werden abwechslungsweise – je nach Jahreszeit – von Helga Süß hervorgenommen und mit Schokolade ausgegossen, mit der süßen, hellen, die jetzt gerade in der Verarbeitung ist, oder mit bittersüßer, die fast schwarz ist, oder dann speziell auf Ostern hin mit milchig-weißer. Helga führt den Schlauch, der aus dem Schokoladetank hängt, geschickt von Form zu Form und füllt jede Figur mit der gleichen Menge Schokolade ab. Sind auf einem Blech alle Figuren gefüllt, hebt Helga dieses Blech auf einen Wagen, der neben ihr bereit steht und verschwindet damit gleich darauf im Kühlraum. Nachdem sie das Delphin-Blech gefüllt und an die Kälte gebracht hat, reibt sich Helga Süß die Hände am Handtuch ab, rückt ihr Kopftuch zurecht und tritt aus der Fabrik „Die Delphine sind gemacht“, sagt sie zu Hans, der eben daran ist, die Kakaobohnen in den Röster zu füllen. „Gut“, erwidert Hans, „dann können wir uns ja als nächstes die Schiffchen vornehmen. Irgendwann wird sicher wieder mal Klaus vorbeischauen und der nimmt sicher gerne eine frische Ladung Schoko-Schiffchen mit nach Blauenberg. Im Laden dort sind die Leute ja ganz verrückt danach.“ Helga ist unterdessen ans Wasser hinuntergestiegen. An der Hafenmauer steht ihre Lieblingsbank, auf die sie sich gerne setzt um ins Meer hinaus und Richtung Insel Weisheit zu blicken. An Tagen mit besonders schönem Wetter kann man von diesem Platz aus hinter der Insel Weisheit sogar noch schwach die Insel Torg mit ihrem riesigen Leuchtturm erkennen. Wie gern wäre sie wieder einmal ausgefahren, zu Arthur und Sophia oder zu Frau Lundgren. Aber Hans ist mit fast nichts von seiner Insel weg zu bringen. Das hat einen Grund: Hans und Helga haben zwar ein kleines Boot, mit dem sie hätten ausfahren können. Aber Hans hasst Schifffahrten, denn er wird immer seekrank. Selbst wenn er hinter dem Steuer steht zieht es ihm nach kurzer Fahrt schon immer den Magen zusammen, er wird ganz grün im Gesicht und er muss sich sehr konzentrieren, dass er sich nicht übergeben muss. Er sieht schwarze und weiße Sterne vor seinen Augen tanzen und seine Knie fühlen sich schwabbelig weich an. Dann muss Helga jeweils das Steuer übernehmen und Hans legt sich unter Deck aufs Bett. Doch dadurch wird seine Seekrankheit nur noch viel schlimmer. Nach jeder Bootsfahrt ist Hans für mehrere Tage so krank, dass er nicht in die Schokoladefabrik zur Arbeit gehen kann, und den süßen Geruch erträgt er dann jeweils erst recht nicht. Helga kocht ihm dann literweise Kamillentee, sie hat hinter dem Fabrikgebäude im kleinen Garten zwei ganze Beete nur mit Kamille bepflanzt, um ihren Mann nach einer Reise gesund pflegen zu können. Während Helga so auf der Hafenbank sitzt und den Bootsfahrten nachträumt, die sie nicht unternehmen kann, taucht vor ihr im Wasser des Hafenbeckens plötzlich der Kopf eines Delphins auf: Pan ist in Rekordzeit von Weisheit nach Zimt geschwommen und nun bettelt er und zeigt die schönsten Kunststücke, um ein Stückchen Schokolade zu bekommen. Zuerst steigt er vor Helga so weit kerzengerade aus dem Wasser, dass er mit den beiden kleinen Vorderflossen in die Hände klatschen kann. Dann taucht er ab und kurz darauf erscheint nur seine Schwanzflosse aus dem Wasser. Er dreht sich so schnell um die eigene Achse, dass es aussieht als rage die Schraube eines großen Lastkahns aus dem Wasser. Helga Süß kennt diese Kunststücke schon alle, denn Pan kommt regelmäßig hierhin, um ein paar Stückchen Schokolade für sich und seinen kleinen Frank zu ergattern „Ja, ja, mein Lieber, ist schon gut, ich hol dir ja gleich etwas“, brummelt sie vor sich hin und erhebt sich von der Bank. Pan schüttelt ganz wild den Kopf, als ob er ihre Worte verstanden hätte. Nun ist es ja eigentlich so, dass Delphine sich von Fischen und Krabben ernähren. Aber Pan hat früher einmal von Sophia ein Stückchen von der Delphin-Schokolade aus ihrem Kiosk zugeworfen erhalten, und die hat ihm unglaublich gut geschmeckt. Das will er seinem kleinen Delphinjungen natürlich auch bieten. Er schwimmt regelmäßig zweimal die Woche von Weisheit nach Zimt, um frische Schokolade zu holen. So sind Pan und Frank die ersten und einzigen Delphine auf der ganzen Welt, die regelmäßig Schokolade essen. Ysi hat nicht besonders große Freude an dieser Schleckerei, denn sie weiß, dass Schokolade gar nicht gut ist für die Zähne. So bastelte sie aus einem langen, dünnen Korallenstück eine Delphinkinder-Zahnbürste. Damit schrubbt sie jeden Abend Franks feine, scharfe Delphin-Milchzähne. Dazu nickt sie immer mit dem Kopf, und das hieße natürlich in der Delphinsprache genau das Gegenteil. Helga ist in der Zwischenzeit aus der Fabrik zurückgekehrt und hält zwei große Stücke Abschnitt-Schokolade in der Hand. Am Ufer wirft sie eines nach dem anderen in die Höhe und Pan springt mit einem Prachtsprung den Süßigkeiten nach. Das erste Stück verspeist er gleich selbst, das zweite aber scheibt er sich hinter die Backenzähne, um es so ins Delphinkinderzimmer auf dem Schiffswrack transportieren zu können. Auf der Insel Weisheit ist die Sonne allmählich am Untergehen. Sophia und Lenz haben sich aus der Bucht entfernt, in welcher sie Pan verabschiedet hatten. Sophia hat Lenz bei der Hand genommen und ihn über eine kleine Düne geführt. „Ich möchte dir noch Atlas zeigen, unsere Meeresschildkröte“, sagt Sophia. „Sie hat uns damals hierhergeführt.“ „Eine Meeresschildkröte?“, fragt Lenz ungläubig. „Die soll euch hierhergebracht haben?“ „Du wirst schon sehen.“ In einer Senke hinter der Düne ist Lenz dann beinahe auf die Schildkröte getreten. Ihr Panzer hat fast die gleiche Farbe wie der Sand und die Pflanzen rundherum, und so hat Lenz Atlas nicht erkannt. Als sich das Tier aber plötzlich ganz langsam zu bewegen beginnt, erschrickt Lenz so sehr, dass er sein Herz in den Ohren schlagen spürt. Und diese Ohren werden gleich darauf auch krebsrot, denn Sophia lacht laut auf als sie bemerkt, wie Lenz das Herz beinahe unten zu den Hosenbeinen herausgefallen wäre „Entschuldige“, sagt Sophia und streicht Lenz mit dem Handrücken über den Arm. „Ich will dich nicht auslachen, aber es ist so lustig, weil Atlas das friedlichste Tier überhaupt ist. Er könnte keinem Sandfloh etwas zuleide tun.“ „Ich … ich … ich weiß schon, das heißt, ich glaube, ich weiß es schon. Aber ich bin halt eben erschrocken, weil ich noch nie so eine riesige Schildkröte gesehen habe.“ „Atlas ist uralt. Mein Vater sagt, er sei vielleicht mehr als hundert Jahre alt.“ Atlas streckt seinen Kopf unter dem mächtigen Panzer hervor und blickt zu Lenz hoch. Der kleine Schildkrötenkopf und der lange, dünne Hals sind ganz runzelig. Der Blick seiner dunkelgrünen Augen ist so traurig, als hätte Atlas sein ganzes, hundertjähriges Leben lang nichts Erfreuliches erlebt. Jetzt wiegt er den Kopf ganz langsam hin und her. „Er begrüßt dich“, sagt Sophia. „Halte ihm deine Hand hin, dass er sie beschnuppern kann. Er wird dich dann ein Leben lang immer erkennen. Schildkröten haben ein unglaubliches Gedächtnis. Weißt Du, sie können nie etwas vergessen, vor allem nicht das Schlimme und das Böse, das sie erlebt haben. Alles bleibt in ihrem Gedächtnis. Deshalb schauen sie auch so traurig drein.“ Lenz streckt Atlas seine Hand hin, und tatsächlich beschnuppert dieser seine Finger, einen nach dem anderen und es kitzelt. Dann wiegt Atlas den Kopf wieder langsam hin und her. Dabei schließt er langsam nach einander beide Augen mit seinen schrumpeligen Augenlidern, es sieht aus als blinzle Atlas ihm weise und traurig zu. Lenz war in Atlas’ Gedächtnis eingeprägt. Er wird ihn immer wieder erkennen. „Wie hat er euch denn hierhergebracht?“ „Schau genau auf seinen großen Rückenpanzer.“ Sophia kniet neben dem Tier nieder und wischt mit der Hand Staub und Sand ab. Auf dem gewölbten Rücken wurden Linien, Zeichen und Buchstaben sichtbar. „Das ist Towezi.“ „Was heißt denn Towezi?“ Sophia zeigte mit dem Finger auf den Rand des Schildkrötenpanzers. „Das hier ist Torg, wo ihr heute hergekommen seid. Hier in der Mitte siehst du Weisheit, unsere Insel, und links davon, das ist die Insel Zimt, die kennst du noch nicht. Towezi ist der Name unserer Inselgruppe: Torg, Weisheit, Zimt.“ „Das ist ja tatsächlich eine richtige Landkarte“, staunt Lenz, „und die Namen sind auch drauf.“ Die Schildkröte Atlas trägt auf ihrem Rücken eine regelrechte Karte von Towezi. Alle Namen sind drauf, und die Wasserfläche rund um die Inseln ist mit kleinen Wellen verziert. Die Inseln sind in verkleinerter Form exakt abgebildet, man kann jede Bucht erkennen, der Hafen von Weisheit ist zu sehen, die Leuchtturmbucht auf Torg. Und das Erstaunliche ist, dass diese Karte nicht etwa aufgemalt ist auf dem Rücken von Atlas, die Linien, Zeichen und Buchstaben waren regelrecht eingewachsen im Panzer der Schildkröte „Wir trafen Atlas vor Jahren zum ersten Mal, als wir an einem Strand am Festland zum Baden gehen wollten. Mir ist es damals ganz ähnlich gegangen wie dir eben, lieber Lenz. Ich erschrak furchtbar, als der Stein, über den ich meine Kleider gelegt hatte, plötzlich begann davonzulaufen. So lernten wir Atlas kennen. Er beschnupperte unsere Hände und wiegte langsam seinen Kopf hin und her. Wir waren ihm offenbar von allem Anfang an sympathisch. Dann drehte er den kleinen Kopf auf seinem langen Hals ganz nach hinten und deutete mit seinen Augen auf seinen Rücken
11. Kapitel. Die Geburtstagsfeier. „Ladies and Gentlemen“, krächzt es aus dem Megafon von Arthur. „Treten Sie näher, Sie werden in wenigen Augenblicken die unglaublichsten Kunststücke sehen, vorgeführt von Pan und seiner Delphintruppe.“ Die Leute drängen sich an der Hafenmauer und es muss bald befürchtet werden, dass die vordersten von hinten ins Wasser gestoßen werden. „Nicht drängeln“, ruft Arthur, „alle werden etwas zu sehen bekommen. Nicht drängeln!“ Arthur ist nicht wieder zu erkennen. Der traurige Mann von der Insel Weisheit steht in seinem Frack vorne auf der Hafenmauer von Blauenberg und wirbelt mit seinen Armen durch die Luft, weist die Leute dahin und dorthin. Er zieht das Publikum, das in der Zwischenzeit zu Hunderten angekommen ist, in seinen Bann. Er nimmt das goldfarbene Nebelhorn aus seiner Tasche und bläst darauf drei kurze Töne. Seine Hand weist hinaus aufs offene Wasser. Alle Zuschauer folgen mit den Augen seiner Handbewegung. Nichts geschieht. Das Wasser ist glatt wie ein Spiegel. Plötzlich schießt ungefähr zehn Meter vor der Hafenmauer ein Delphin kerzengerade aus dem Wasser in die Luft, wirbelt einen doppelten Salto hin und plumpst ungebremst mit dem Rücken auf die Wasseroberfläche zurück
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