Weihnachten 1956: Zuletzt führt ihn der Weg leicht hinab; er rutscht im frisch gefallenen Schnee, fällt auf den Rücken, verliert seinen Hut. Kinder finden den Toten; die Polizei macht Fotos. Was seit dem Tod Robert Walsers am 25. Dezember 1956 geschah, ist staunenswert und fast beispiellos: Von Jahr zu Jahr wächst der Nachruhm – weltweit. Zu den ersten, die sich intensiv mit Walser befaßten, gehört Martin Jürgens. Dieses Buch versammelt elf seiner Walser-Studien aus 30 Jahren. In ihnen wird eine Haltung versucht, die begriffliche Kraftakte vermeidet, in enger Fühlung mit den Gegenständen ist und doch an Theorie, also an der Bewegung des Denkens, interessiert bleibt. Das entspricht dem Eigensinn der Texte Walsers: Sanft bewegte Leichtgewichte sind es, fern jeder Gattung. Behende führen Walsers «Helden» uns weg von kraftvollen Botschaften und hin zum Entzücken vor der flüchtigen Einzelheit. Sie wissen nicht, wo es langgeht, bauen kann man auf sie nicht; erst recht ist mit ihnen kein Staat zu machen. Das macht ihre Größe aus und unser Glück beim Lesen von Sätzen wie: «Sein Lächeln glich einer Blume, die nach dem Bedürfnis und der Kunst, zu zögern, duftete.»
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Martin Jürgens. Seine Kunst zu zögern. Elf Versuche zu Robert Walser
RÜCKBLICKE. Vorwort
ROBERT WALSER
DIE SPÄTE PROSA ROBERT WALSERS – EIN KRANKHEITSSYMPTOM?
DIE ERFAHRUNG DER HETERONOMIE IN DER SPÄTEN PROSA ROBERT WALSERS
EIN LEBENSLAUF
»… DASS MAN IHN VON NUN AN KENNE UND GRÜSSE«
ANHALTENDE ZOPFZEIT
FERN JEDER GATTUNG, NAH BEI THUN
»…SO SCHÖN BEISEIT.«
LEICHTGEWICHTE, ZARTE HELDEN
DIE AUFGABE DER IDENTITÄT
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Seine Kunst zu zögern
Seine Kunst zu zögern
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Angesichts der Zweifel, wie sie sich aus dem bisher zugänglichen, einschlägigen Material ergeben, erscheint die Frage berechtigt, ob die Internierung Robert Walsers in der Nervenheilanstalt nicht als Reaktion auf die Symptome seines sozial abweichenden Verhaltens verstanden werden muß. Seine Deviation von der gesellschaftlichen Norm hat Walser – vor allem in seiner späten Schaffensperiode – in einem unmittelbaren Zusammenhang mit der Rolle des Schriftstellers gesehen. Schriftsteller sein – so heißt es im »Tagebuch« – Fragment von 1926 – bedeutet die »Rolle eines Außenseiters« (VIII, 63) spielen zu müssen. Vor dem Anspruch gesellschaftlicher Funktionalitätsvorstellungen erscheint der Schriftsteller als das »denkbar unnützeste, unbrauchbarste Möbel« (VIII, 104f.); seine Existenz ruft – wie es im Fragment des »Theodor«-Romans heißt – »Beunruhigung« hervor; sie ist der Gesellschaft »etwas Unangenehmes, irgend etwas, was man nicht willkommen heißen kann« (VIII, 102). Die provokatorische Wirkung seines eigenen ›spaßhaften Existierthabens‹ hat Robert Walser in einer Art von ironischem Nekrolog auf sich selbst in dem späten Prosastück »Schnori«24 beschrieben:
Sein spaßhaftes Existierthaben gab ihnen zu mancherlei Betrachtungen nahrhaften Anlaß, und so ungern sie‘s vielleicht taten, mußten sie sich von Zeit zu Zeit sagen: »Ja, er war einer, obgleich er bloß den weiter keinerlei Erheblichkeit verratenden Namen Schnori trug.« Gern hätte man über ihn wegblicken mögen, aber man brachte es nicht fertig. Noch immer stand er mit der wie im lächelnden Schlafzustand hervorgebrachten gesammelten Sammetheit seines Werkes, die etwas Kostbares blieb, da. Umsonst sprach man: »Schnori, geh weg.« Er unterließ dies. War das artig von ihm? (IX, 363)