Cajetan Schaltermann
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Max Herrmann-Neisse. Cajetan Schaltermann
Cajetan Schaltermann
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Über Cajetan Schaltermann
Отрывок из книги
Max Herrmann-Neiße
Gregers (leise): Ich habe dich zu sehr in der Nähe gesehen.«
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Der musikalische Teil (der immer dieselbe Mischung aus Langeweile und offiziellem Drill darstellte und je nach der Signatur des Festes »Die Himmel rühmen« oder »Nun laßt die Glocken« oder »Wir treten zum Beten« hieß) war zu Ende, und, wie in Theaterpausen, brodelte für einige Minuten das Stimmengewirr einer so oder so erwartungsvollen Menge durch den Saal. Dann stakte umständlich der Historiker ans Rednerpult und trompetete seine geschwollenen Phrasen, in denen Wendungen wie »Wer möchte nicht einstimmen mit dem Dichter . . .« oder »O daß doch jeder Deutsche sich immerdar bewußt wäre . . .« sozusagen aufdringlich dominierten. Etliche nickten sowieso, und der alte Direktor ließ in mechanischer, halbkreisförmiger Bewegung sein wächsernes Antlitz von links nach rechts pendeln. Der Pedell, der bestochen war – eigentlich hatte er den Auftrag, die Tür zu hüten ‒ gönnte den ersten vorsichtig leises Entrinnen.
Die Rede zog sich wie Gummi. Der Tochter des Griechischprofessors entfiel unversehens der Schirm, sauste in die erste Schülerreihe hinab, wurde unter umständlichem Gescharr heraufgeholt und der mehr als nötig Errötenden zurückgereicht. Schwüle drückte wie Bauernbettlaken; ein Sekundaner heuchelte einen Ohnmachtsanfall. Cajetan hüpfte im Käfig seiner Vorstellungen von Ast zu Ast. Seine Gedanken wollten einen Ausweg finden, stießen sich, turnten an den Gemälden der Aula herum, machten ein paar Aufschwünge an der Kopie von Menzels »Flötenkonzert«, die ganz vorn, von einer Lichtflut übergossen, protzte, blieben schließlich doch an den historischen Porträten kleben, die Stifter und Gönner des alten Jesuitenkollegs, Bischöfe und Fürsten widergaben, und eine frische Flamme der Erkenntnis schwelte aus dem Innern dieser goldüberladenen Rahmen dem überreizten Gemüte entgegen. Ein Oberlehrer hatte, obwohl er im Akzent eine slawennahe Abkunft nicht ganz verleugnen konnte, in schlecht und recht gehobelten Carminas zu Flottenvereinsfeiern oder so das Äußerste in Servilität getan und war promptest avanciert. Den Cajetan schwindelte. War er bis heut mit Blindheit geschlagen von einer Pensumsöde zur andern geschlürft? Er ballte die Fäuste, karambolierte mit seinem Nachbar, der aus süßem Schlummer prallte, und entschuldigte sich nicht. Der Redner hob seine Stimme, klomm mit einer Gelenkigkeit, die unerklärlich blieb, von den gracchischen Reformen zu Wilhelm II. und klatschte sein dreifaches »Hoch!« wie ein rotes Sacktuch der Versammlung um die Ohren. Füße räusperten sich schwerfällig ihr Gleichgewicht zurecht, »Heil Dir im Siegerkranz« prasselte an die Fenster, und in einem übertriebenen Schnörkel unterschrieb das Klavier das knisternde Pergament des allgemeinen Niedersitzens. Gleichförmig schnurrte die Reihe der Schülervorträge herab. Aus jeder Klasse quälte sich einer aufs Podium, versuchte eine Verbeugung und haspelte mit dem einstudierten Klapperpathos korrekter Schulbetonung seine Deklamation herunter; fast dieselben verschollenen Drehorgelstücke hatte man jedesmal aus dem Lesebuch geklaubt: »Das Glück von Edenhall«, »Zu Limburg auf der Veste«, »Lied eines deutschen Knaben«. Cajetan stellte den Guckkasten seiner Erinnerung um fünf, sechs Jahre zurück: er sah sich selbst dort oben, einen schmächtig aus den Kleidern angelnden Quintaner, er hörte sich die Pointe jenes ihm aufgegebenen Schmarrens vom »Mutteraug« mit der Begeisterung seines ehrlich erschütterten Gefühls hinauskreischen und wie das wiehernde Hohngelächter des ganzen Auditoriums sein hilfloses Aus-allen-Himmeln-stürzen vom Ehrenplatz fegte. Warum lachten sie nicht über den Geschichtslehrer oder den Uniformierten, wenn sie so schnell bereit waren, jugendlicher Ahnungslosigkeit, die alles ernst nahm, ein Bein zu stellen? Er blickte genauer auf, und mit einemmal erkannte er hinter all diesen abgerichteten Mienen wie hinter Masken die wüsten Konturen anderer, wahrhaftigerer Gesichter, Fratzen, aber in ihrer Fratzenhaftigkeit deutlicher den letzten Sinn von Charakter und Bestimmung offenbarend, und immer verzerrt von irgendeinem geheimnisvoll bösen Despotismus, dem sie alle unterlegen waren und der sein Zeichen verräterisch genug auf Stirnen und Lippen eingebrannt hatte. Und zwischen den toten Menschen auf den Bildern mit den dicken Goldrahmen, und den Lebenden, die da oben so unglücklich Herrn und Hirten spielten, mußte es eine mysteriöse Verwandtschaft geben: fast mit den gleichen verstellten Gesten duckten die Gemalten sich unter entwürdigender, unsichtbarer Geißel. Cajetan wand sich, langte wie in Krämpfen nach dem Begriff, der alles übersichtlich machen könnte; er focht gegen einen Feind ohne Herz und Augen, wer würde ihm helfen können? Er beschloß, sich den Rottner, Pawitzeck, Burg, Mannshof, Hitzelmann, Fritz von Riedler zu nähern. Die hatten wohl eine Art Rüstung, immer waren sie für sich, stachlig wie Igel, schimpften auf das »Lausenest« und schwärmten von einem abenteuerlichen »Draußen«.
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