Diaula und das Dorf am Hang
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Maya Grischin. Diaula und das Dorf am Hang
Impressum
Dritte Reise 1989. Stockholm, Februar 1989, zu Hause am Küchentisch. Vierzehn Jahre lang habe ich einen dritten Besuch in Devonn immer wieder hinausgeschoben oder gar verdrängt; vielleicht, weil ich das vermeintliche Paradies in meinem Kopf so behalten möchte, wie es einst war. Heute habe ich mich entschlossen: Ich werde diesen Sommer ins Valsass fahren. Ich muss mich den Veränderungen dort stellen. Viel ist seit meinem letzten Besuch geschehen. Am Zweiten August vor vierzehn Jahren habe ich, trotz lautstarker Proteste der Familie, mein Studium von einem Tag auf den anderen an den Nagel gehängt. Ich bin mit dem Vulkanforscher Atli Gudmundursson nach Wien gezogen, habe meine Tochter geboren und mich bald darauf wieder von dem Isländer getrennt. Ich lebe jetzt in Stockholm, bin sechsunddreißig Jahre alt und eine gefeierte Köchin. Im Kochen habe ich schließlich eine handfeste Beschäftigung gefunden und mir einen Namen gemacht in einem Beruf, in dem Männer immer noch viel besser vorankommen. Meine Tochter Meret ist bereits dreizehn. Sie gleicht ihrem Vater und schwärmt seit Jahren vom Skispringer Matti Nykänen. Ihre Zimmerwände sind voll von Bildern vom Finnen, der immer wieder alle Meisterschaften gewinnt; ein Jungadler, der sich von der Sprungschanze stürzt, als ob es kein Morgen mehr gäbe. Wenn er mit den Skiern auf der Schulter durch den Schnee zur Schanze stapft und Reporter ihn mit irgendwelchen Fragen behelligen, gibt er immer absurde Antworten. So heißt es. Das Skifliegen bringt ihn wohl ganz durcheinander. Träumt Meret auch vom Fliegen? Ich weiß es nicht. Zum Glück ahnt sie nichts von meiner Fliegerei. Ich liess mich zur Allerweltsköchin ausgebilden. Ich musste doch irgendwie anfangen! Um meinem Namen Ehre zu machen, habe ich mich dann an den Haferbrei gewagt, für den die Diaulen so berühmt waren. Haferbrei! Leider haben mir die wohlmeinenden Feen keine Rezepte in die Wiege gelegt. Ich war ganz allein auf mich selber gestellt! Wochenlang kochte, rührte und aß ich nur Haferbrei. Ich bereitete ihn mit Quellwasser, Kombucha, mit Butter oder anderen Milchprodukten zu, würzte ihn mit Ingwer, Orangen, Kardamom, Zimt, Nüssen und Berberitzen und vielen, vielen anderen heimlichen Zutaten, aber er schmeckte nicht, wie Haferbrei einer Diaula schmecken soll. Die Feen spähten wohl heimlich über meine Schultern in den Kochtopf und lachten hämisch und schadenfroh. Ich verzweifelte und wollte alles hinschmeißen. Aber Arvennüsse brachten mich doch auf den richtigen Weg, und endlich kam ich auf Honig, den hellen Alpenblütenhonig des Valsass! Ich hatte das streng gehütete Geheimnis der Diaulen gelüftet! Schlussendlich wurde ich mit meinem Haferbrei weltberühmt. So wie es einer Diaula eben ansteht. Den Honig beziehe ich seitdem vom Imker Wilhelm Tell in Devonn. Mit der Zubereitung von Nachtischen habe ich dann meinen Namen als Spitzenköchin gefestigt. Nach wenigen Jahren fingen mich besonders Süßspeisen und die Kombination von Süßem mit Saurem, Salzigem oder Würzigem an zu interessieren. Heutzutage reise durch die ganze Welt und koche. In meiner knapp bemessenen Freizeit fliege ich immer noch gerne und oft. Das Fliegen ist ein wichtiger Bestandteil meines Lebens. Meine Tochter weiß zum Glück nichts davon und meine Arbeitskameraden auch nicht. Fliegend entfliehe ich ungemütlichen Situationen und fliegend treffe ich Entscheidungen. Meine besten Menüs habe ich in der Luft zusammengestellt. Spät nachts. Ich sehne mich danach, bald wieder über die weißen Bergspitzen der Bündner Alpen zu schweben, tief unten die Täler. Warum bin ich noch nie bis nach Devonn geflogen? Erstens kann ich mit Gepäck nicht fliegen. Zweitens fürchte ich Hochspannungsleitungen und drittens habe ich Angst, gesehen zu werden. Meine Fliegerei könnte publik werden. Ich würde von den Medien gejagt und zur Heiligen stilisiert, zur Heiligen weißen Köchin … „Ist die weiße Köchin da? Zweimal muss ich rummarschieren, das dritte Mal den Kopf verlieren …“, würden die Kinder singen. Ich wäre die weiße Köchin, die levitiert und fliegt wie weiland Sankt Cupertino, von dem Blaise Cendrars in Le Lotissement du Ciel so eindrucksvoll erzählt hat. Dann hätte ich keine ruhige Minute mehr! Ich werde seit einiger Zeit das Gefühl nicht los, dass mir trotz meiner großen Erfolge am Herd irgendetwas Wesentliches fehlt. Ich wollte doch schon vor Jahren, den letzten Schritt tun, konsequent sein. Alles hinter mir lassen, Che Guevara nachfolgen oder Ulrike Meinhof; den Mutigen, die die Welt verändern! Mit meiner Art zu protestieren, nämlich Tulpen in Parkanlagen zu köpfen, was ich noch gelegentlich tue, ist es nicht getan! Doch habe ich immer wieder, immer wieder mit meinem alten Taschenmesser ritsch – ratsch gelbe Tulpen geköpft und, wenn mir das Unrecht in der Welt und die Gedanken an den Müll auf den Kopf fielen, ich nicht mehr aus und ein wusste, habe ich wieder rote Schuhe mit hohen Absätzen gekauft. Bin ich denn feige? Ich vermag nichts zu verändern; mache nur mit meinen Kochkünsten unsere verdrehte und grausame Welt ein wenig schmackhafter. Ich bin eben eine Diaula. Beim Durchblättern der alten Notizen fällt mir auf, dass sie mit der Beschreibung meines Zeitgefühls angefangen haben. Dies möchte ich auch hier im dritten Heft versuchen. Was aber ist meine Zeit? Ich weiß es nicht, denn ich nehme mir nicht die Zeit zum Nachdenken! Vielleicht ist sie mir ja gar nicht davongelaufen, sondern ich bin stehen geblieben oder ich habe einfach ihre Spur im Dschungel meiner Geschäftigkeit verloren. Kann mir das Valsass helfen, das Monster Zeit wieder einzuholen, anzuhalten und zu knebeln, um mein Leben zu entschleunigen? Was in Devonn geschieht, weiß ich nicht. Vielleicht will ich es ja gar nicht wissen. Nur die Bergsteigerin Margret Prevost schreibt mir manchmal. Sie berichtet wenig über das Dorf, denn Dorfklatsch interessiert sie nicht. Sie erzählt, dass immer mehr Gäste sommers und winters im neuen Sporthotel Urlaub machen, dass Huggentobler eine Klinik gebaut hat und richtet mir vor allem Grüße von Kollegger aus, der in Devonn auf mich wartet. Margret hat zwei Bücher über ihre neuen Kletterrouten veröffentlicht. Sie hat viele begeisterte Anhänger. Man hat ihr oft angeboten, im Himalaja fürs Fernsehen zu klettern, aber sie will in den Bündner Alpen bleiben, denn sie hat schlechte Erfahrungen mit den Medien gemacht: Vor ein paar Jahren kletterte sie eine Direttissima ohne Hilfsmittel in der Westwand einer der drei Zinnen in den Dolomiten. Ihr Aufstieg wurde gefilmt vom berühmten Schweizer Dokumentarfilmer Peter Schnoz. Margret nennt es die schlimmste Tour ihres Lebens. Als sie in der Wand kletterte, flogen immer wieder Helikopter nahe an sie heran. Deren Lärm, vom Fels zurückgeworfen, steigerte sich zum grausamen Angriff. Steine lösten sich über ihr und regneten in die Tiefe. Margret nahm an, dass ihr der Berg des Rummels wegen zürnte „Ich bin beinahe abgestürzt. Ich werde so was nie mehr tun. Eine Bergbesteigung ist eine intime Affäre zwischen dem Berg und mir“, versicherte mir Margret. Ihre Bücher sind anders als die meisten Bergsteigerbücher. Die Urbilder der Alpenliteratur – etwa die Schriften von Luis Trenker oder Reinhold Messner – haben mit der Eroberung der Gipfel zu tun; wie wenn die Berge eine Frau oder ein zu eroberndes Land wären! Es sind Testosteron-Geschichten! Margret aber geht es um die persönliche Auseinandersetzung mit dem Berg, einer Liebesbeziehung. Sie ist die Dichterin der Berührung. Sie weiß zu beschreiben, wie Felsen oder der Wind im Gesicht sich anfühlen und kennt den Puls jeder Valsasser Bergwand. Sie schwärmt von einsamen kleinen Gletscherseen, in Karen versteckt, klaren Augen, worin sich heimlich nur eitle Sterne spiegeln; von Séracs, den blaugrünen Eistürmen, die beim Überqueren eines Gletschers jederzeit brechen oder einstürzen und sie verschlingen können – einer verführerischen, kalten Hölle. Ihr fällt aber auch eine seiden im Licht glänzende Schieferplatte ins Auge oder das kleinste, schüchterne Köpfchen einer auf schmalem Felsenband überlebenden Gletscheranemone. Wenn ich Margrets Bücher lese, werde ich froh und leicht wie eine Gämse. Ich sehne mich nach den Bündner Alpen, besonders nach dem Licht der Bernina. Stockholm, Ostern 89, die Schneeglöckchen haben. auch hier den Frühling erobert. Auf einer Arbeitsreise nach Berlin las ich in einem renommierten deutschen Wochenblatt einen Bericht über mein Dorf am Hang. Da war die Rede vom unaufgeklärten Mord an Völi Padrutt und das Verschwinden der schönen, wundertätigen Madonna, als eine Gondelbahn zum Wallfahrtsort Scalamain gebaut werden sollte. Devonn wird gebrandmarkt als ein Ort von Separatisten und unaufgeklärten Morden, von Korruption und Geldwäsche. Es wird über den illegalen Bau einer Privatklinik auf der Gemeinde-Allmend, verbotener Abholzung von Bannwald und dem Schwarzwerden der Gletscher berichtet. Der Artikel beschreibt auch die Halsstarrigkeit und die Unwilligkeit der Gemeinde, mit anderen Gemeinden zusammenzuarbeiten! Trotzdem habe ich Heimweh nach Devonn, obwohl ich weiß, dass dort oben nicht alles so sauber und eindeutig ist, wie ich früher gerne glauben wollte. Deshalb möchte ich hinfahren und mich der Wirklichkeit stellen: der Nachlässigkeit, der Boshaftigkeit und den Winkelgeschäften ebenso wie den versteckten, stinkenden Haufen von altem Fett und Plastikmüll, die illegal in Bergspalten entsorgt werden. Meine Tochter Meret möchte ihre Sommerferien mit ihrem Vater Atli verbringen. (Er hat ihr eine Schifffahrt zum Donaudelta versprochen.) So kann ich allein ins Valsass fahren. Ich erinnere mich der Worte Padrutts, seit Großvaters Tod zur Liga des „Goldenen Steinbocks“ zu gehören und will wissen, ob es das irdische Paradies auf Prada persa noch gibt. Vor allem aber möchte ich Kollegger wiedersehen. Aber ich brauche einen Reisebegleiter, der mir hilft, die verworrene Lage in Devonn und vor allem mich selber zu verstehen. Einer, der mir Ratschläge gibt, mich warnt und beschützt, denn meine eigene Rastlosigkeit, Prada persa und Huggentoblers gentechnische Vorhaben (von denen ich in durch die Presse erfahren habe), die verschwundene Madonna von Scalamain, die wachsenden Kehrichtberge sowie der unaufhaltsame Rückzug der Gletscher im Valsass und anderswo beunruhigen mich. Ich erinnerte mich an Herrn Parmenides, den ich auf Sbloc getroffen hatte; schrieb ihm, schilderte meinen Wunsch und bat ihn, nach Devonn zu kommen. Er antwortete, dass er mich wohl besuchen möchte, sich aber der Aufgabe eines spirituellen Guides nicht gewachsen fühle. Am liebsten hätte ich eigentlich eine Frau als Begleiterin gehabt. Ich dachte an Teresa von Avila, Maria Montessori, Rosa Luxemburg, Angela Davis oder etwa Camille Paglia, fünf Frauen, die ich bewundere und die auch meine Freundin Margret schätzt. Aber keine hatte Zeit, jede war mit viel größeren Aufgaben anderswo beschäftigt. Stockholm, Auffahrt 89. Der Flieder blüht! Ich hatte Inserate in großen Tageszeitungen mehrerer Länder aufgegeben und erhielt zu meinem Erstaunen Angebote von bekannten, von mir verehrten Schriftstellern wie Blaise Cendrars und Dante Alighieri, von Rilke, William Saroyan, Walter Benjamin, Joseph Roth, Curzio Malaparte, Kurban Said, Halldor Laxness und Thomas von Aquin. Alle nur sehr selbstbewusste Männer! Frauen waren leider keine dabei! Ich hatte sie um einen kurzen handschriftlichen Lebenslauf und die Darlegung ihrer Weltanschauung gebeten. Dante Alighieri zum Beispiel hat andere Interessen als ich –, die ich nicht darauf aspiriere, Gott sehen zu wollen wie er. Meine Wahl fiel schließlich auf Thomas von Aquin, aber seine Korpulenz schien mir schlussendlich doch nicht geeignet, um auf Ziegenpfaden in den Bergen zu klettern. Ich zögerte. Stockholm, Pfingsten 89, verregnet. Schließlich hat sich, verspätet, auch der Jesuit Pierre Teilhard de Chardin gemeldet! Ich habe mich sofort für ihn entschieden. Als Paläontologe ist er gewiss berggewohnt und hat sich auf seinen Forschungsreisen in China viel in den Bergen umgesehen. Als Franzose wird er sicher schnell Rätoromanisch können. Auch hat er eine überaus helle Einstellung zum Leben. Hochwürden teilte mir in seinem Brief unter anderem mit, „… dass nicht nur Menschen, sondern auch allen Dingen geistige Eigenschaften innewohnen. Die Materie“, so ungefähr schrieb er, „müsse, um Geist hervorzubringen, als Urmaterie bereits beseelt gewesen sein.“ Teilhard behauptete allerdings nicht, dass unbelebte Dinge Bewusstsein haben und zum Beispiel Schmerzen erleben können. Vielmehr betonte er, dass bei allen Lebewesen entsprechende Formen bewusster Geistigkeit anzutreffen sind. „Aber“, wie er ungefähr sagte, „nur ein ausreichend entwickeltes Lebewesen kann entsprechende, reich ausgebildete geistige Züge aufweisen. Die Entwicklung aller Wesen strebt in Richtung Omega, wo Geist und Materie eins werden. Omega ist Christus selbst, der die Dinge an sich zieht. Wir sollten alles, was geschieht, in diesem Lichte sehen!“ Ich fand Teilhards Darlegung gewagt, aber seine klare, bejahende Weltanschauung überzeugte mich. Wir wurden uns per Fax einig. Ich beschloss, mich vor dem Treffen mit meinem Mentor noch mit einem Packen Bücher über Quantenmechanik, Stringtheorie und Ähnlichem einzudecken. Stockholm, kurz vor Mittsommer 89; die Stadt ist bereits entvölkert, alle sind auf dem Land und am Meer. Teilhard hat mir geraten, nach meiner Ankunft in Devonn zuerst konzise Listen zu erstellen über die Dinge, die sich im Dorf im Laufe der Jahre verändert haben, die Häuser die gebaut, renoviert oder abgerissen worden sind. Auch sollte ich untersuchen, was auf den Feldern und in den Gärten angebaut wird, welche Berufe die Leute im Dorf heutzutage haben, welchen politischen Parteien sie angehören, was sie verdienen, wer im Dorf wen geheiratet hat, die Anzahl Kinder pro Familie und wie sie heißen, wie viele Kühe, Ziegen, Hunde, Katzen und Hühner es dort gibt und und vieles andere mehr. Erst sollte ich mich nur um die Statistik kümmern, die äußere Wirklichkeit. Alles mit klarem Kopf untersuchen, auf keine Mutmaßungen eingehen. Etwas Ähnliches hat ja einst schon Marie-Louise von Kaschnitz in den „Beschreibungen eines Dorfes“ unternommen. Ihr Versuch endete meines Erachtens in Nostalgie und Gefühlsduseleien. Deshalb hatte mein Mentor weitergedacht: Ich sollte als zweite Aufgabe das Netz der Beziehungen in den Familien und in der Gemeinde untersuchen. Das war bedeutend schwieriger. Teilhard empfahl mir dringend, auch mit Vater Vonmoos und mit Luzi Comminoth, dem Kommissar in Chur, zu sprechen über die Spannungen im Dorf zwischen Reichen und Armen, Alteingesessenen und Zugezogenen, Katholiken und den wenigen Reformierten, sowie auch über zerstrittene Geschwister, sexuelle Vorlieben und Nachbarn, die einander nicht riechen können. Eine dritte Art von Zuständen, die Teilhard mir zu ergründen auftrug, nämlich meine eigenen Träume, Vorbilder, Ziele und Ängste mit denen der Einwohner von Devonn zu vergleichen. Dies ist wohl die schwierigste Aufgabe! Da könnte mir vielleicht Kollegger, der intuitive Beobachter, weiterhelfen. Also auf nach Devonn. Devonn, einen Tag nach meiner Ankunft, in der Crousch alva. So bin ich denn, an einem strahlenden Sommertag in alller Herrgottsfrühe, wieder in Chur in die Rhätische Bahn gestiegen, den Zug, der mich bis nach Castelava brachte. Süßer, melancholischer Heugeruch wehte durch die offenen Fenster. Zu meinem Leidwesen sind Mohnblumen und Kornblumenblau an den Feldrändern fast ausgestorben, es gibt kaum mehr Unkraut auf den wenigen noch bebauten Äckern. Die blauen Kerzen der Lupinen und die weißen Ackerwinden wucherten keck an den Bahndämmen. Heckenrosen dazwischen. Aber auch sie werden bald der chemischen Schädlingsbekämpfung zum Opfer fallen und in ein paar Jahren ausgerottet sein. An Straßenrändern staubbedeckte Wiesensalbei in der schläfrigen Langeweile des Sommers, zusammen mit den letzten nickenden Akeleien und Margeriten. Die Spitzenköpfchen des Wiesenkerbels schüttelten sich eitel und Butterblumen glänzten auf der Vorbeifahrt, Himbeeren und Brombeeren reiften klandestin an den Zäunen. Der Zug hetzte an zahllosen brachliegenden Feldern und den Stationen kleiner Dörfer mit klangvollen Namen vorbei, hielt nicht mehr auf verträumten Bahnhöfen, die Fenster und Balkone einst so schön mit Hängenelken geschmückt. Die Gebäude standen beschämt schlotternd leer. Kein Stationsvorstand trat mehr mit der Kelle aus der Tür. Die Fassadenfarbe der heruntergekommenen Bahnhöfe ist abgeblättert, die Fensterscheiben sind längst eingeschlagen. Vor den Türen mit Vorhängeschlössern faulten große Müllhalden. Auf zerbrochenen Sofas lümmelten sich der Moder und die Verlassenheit. Ich stieg ins gelbe Postauto um und kam eine Stunde später in Devonn an. Den verwitterten Bildstock am Dorfeingang suchte ich leider vergebens, hörte aber das vertraute Läuten von grasenden Kühen auf der Wiese am Hang. Was hat sich alles im Dorf verändert? Das Erste, was in die Augen fällt, ist das klotzige Gebäude, die Klinik Huggentoblers auf der Allmend unterhalb des Dorfes. Bei meinem letzten Besuch war sie noch nicht einmal im Bau. Das verträumte Bauerngärtchen vor Großmutters Haus fehlt, ebenso die Holzbeigen an den Wänden. Auch den hinteren, uralten Teil unseres Hauses, mit dem zusammengebrochenen Ziegenstall, gibt es nicht mehr. Ein Hund bellte, es könnte einer von Wilhelm Tells Schäferhunden gewesen sein. Zwei Katzen räkelten sich auf dem Rücken in der Sonne. Ich hörte eine Motorsäge vom Waldrand und den Wind im alten Ahorn vor dem Gemeindehaus rauschen. Irgendwo spielte einer Klarinette. Die Melodie brach ab, setzte wieder an und stolperte über falsche Töne. So ging es eine ganze Weile. Ist Wittgenstein wieder in Devonn? Ist er es, der irgendwo in einem Gaden wie besessen auf seiner Klarinette übt? Die Gerüche von warmem Roggenbrot aus dem Gemeindebackofen, von frisch gesägtem Holz, von Miststöcken, Schweinestall und Katzenpisse schwängern nicht mehr die Luft. Das Dorf riecht nach gar nichts mehr. Vornehm und stolz wie ein Engadinerdorf sieht Devonn jetzt aus! Alle Hausruinen sind verschwunden. Die Straßen sind asphaltiert. Die alten Häuser zeigen sich im Sonntagsstaat. Die Wände sind frisch geweißt und die Dächer neu mit Ziegeln oder mit glänzenden Schieferplatten gedeckt. Die Sgraffiti der Fassaden sind sauber hergerichtet, aber hinter den Häusern häuft sich in schwarzen Plastiksäcken der Müll und wartet darauf, heimlich in die Berge verfrachtet zu werden. Ein hässlicher Hotelkasten und ein Dutzend neue Ferienhäuser kleben am Hang rechts oberhalb des Dorfes; so auch die zwei gespenstischen, nachts violett leuchtenden Gewächshäuser des Holländers Derk Vandemeer de Boer. Es gibt im ganzen Dorf kaum noch Miststöcke und frei herumlaufende, gackernde und pickende Hühner. Die großen Geflügelfarmen im Unterland haben das Hühnerhalten auch in Devonn unnötig gemacht. Eier sind billig wie noch nie. (Das erzählte mir der alte Calonder, den ich als Ersten traf. Er hat die Pfeife beim Reden nicht mehr aus dem Mund genommen.) Ein letzter Bauer hat einen Schweinestall, weit unten am Hang. Viele Wiesen werden nicht mehr gemäht, da es sich nicht mehr lohnt. Die Mähmaschinen und Erntedrescher verrosten in den Scheunen. Es gibt noch ein paar kleine Kartoffeläcker unterhalb der Kirche. Ziegenbauern gibt es nur noch einen. Jöri ist sich selber treu geblieben, hat noch den Stall voller Geißen und verkauft ihre Milch an die große Käserei im Tal. Der Bauer Bezzola hält jetzt eine große Schafherde. Man sieht die Tiere als weiße Punkte an den Steilwiesen des Piz Mulatsch grasen. Die windschiefe Hütte vom armen Clavadetscher klebt noch immer hoch oben am Hang bei der Rüfe. Tagsüber ist das Dorf wie ausgestorben. Viele Männer arbeiten auswärts, die Kinder sind in der Ferienkolonie, auf der Alp oder im Schwimmbad. Die Alten hängen den ganzen Tag mit Bier vor dem Fernseher. Ich begegne nur wenigen Frauen, die beim Einkaufen Zeit für einen Schwatz haben. Von Hedwig Tell höre ich, dass der alte Devonas gestorben ist und Alexa, meine Nachbarin, sich bald im Kantonsspital einer Knieoperation unterziehen muss. Vor fast jeder Tür steht neben einem Pick-up ein Mercedes oder ein Sportwagen. Die meisten in Devonn scheinen jetzt Geld zu verdienen wie noch nie zuvor. Zu Ferienhäusern ausgebaute Ställe werden sommers und winters an Gäste vermietet, ebenso Alpen und Wiesen. Es werden Schnitzereien und Möbel aus Arvenholz an Gäste verhökert, Handgewobenes, gestrickte Socken, Jacken und Postkarten, Kräuter, neben Schlüsselanhängern auch Trockenfleisch und geräucherte Würste. Nur die steilen grünen Hänge und die Wälder, die Felsen und Bergspitzen scheinen die alten geblieben zu sein, tröstlich unverändert, in einer sich ständig verändernden Welt. Ich gehe gemächlich an die Aufgabe, die mir Hochwürden gestellt hat. (Ich brauche dafür keinen Aleph, wie ihn Jorge Luis Borges in seiner Geschichte Der Aleph beschrieben hat – einen magischen Punkt auf der neunzehnten Stufe einer schmutzigen Kellertreppe in Buenos Aires, womit man alles in der Welt gleichzeitig, aus allen Richtungen, sehen kann, Raum und Zeit gleichermaßen. Das hatte ich Teilhard bereits mitgeteilt. Er muss Geduld mit mir haben. Wenn mich etwas fesselt – es kann für andere etwas ganz Unwichtiges sein – bleibe ich lange stehen und lasse mich darauf ein.) Mir fällt wieder Parmenides ein. Was hat er mir damals auf Sbloc klarmachen wollen? Dem Einen, und nicht der Vielfalt zu trauen? Das Gleichgewicht in der Gegenwart zu suchen? Das geschieht manchmal beim Kochen, beim Fliegen und vor allem, wenn ich mit Kollegger im Wald sitze oder mit ihm am Flipperkasten stehe. Das hätte Parmenides sicher gerne von mir gehört. Aber wo, wo ist Kollegger? Jedenfalls wünscht Teilhard, dass ich über die Vergangenheit der Dorfgemeinschaft Bescheid weiß, um die Gegenwart, die mich oft mit Melancholie erfüllt, richtig verstehen zu können. Aber jetzt bin ich hier, und weiß nicht, wo Kollegger ist. In Großmutters Haus, einen Tag später. Als es tagte, machte ich einen heimlichen Erkundungsflug. Mit gutem Aufwind schwebte ich über das Orchideenhaus von Vandemeer de Boer, der mit einer dampfenden Tasse vor der Tür stand, flog über die Klinik Huggentobler, deren große Fensterfronten in der Morgensonne leuchteten, übers neue Gemeindehaus und das Schulhaus, Wilhelm Tells Kartoffelacker bis hin zur Glasbläserei, wo Huonder bereits an der Arbeit war. (Er bläst heutzutage nur noch Glasgefäße für die chemischen Werke in Ems.) Die seit Jahren verlassene und verfallende Mühle ist von Brennnesseln, Hahnenfuß und einer Armee blauem Eisenhut umzingelt. Das Mühlrad liegt verschlammt im ausgetrockneten Bachbett. Das Haus des Kommunisten Wettstein daneben steht leer und soll abgerissen werden. Der umtriebige Schriftsetzer ist wahrscheinlich arbeitslos geworden, denn viele lokale Zeitungen erscheinen nicht mehr. Man sieht den Dorfbach, den Scaldegn, nur noch bei der überdeckten Holzbrücke und ganz oben in der Rüfe, wo das Wasser als Rinnsal aus dem Berg kommt. Oberhalb des Dorfes fließt der Scaldegn jetzt unterirdisch, sauber in Betonröhren gefasst. Alles war ruhig. Nur das Schnaufen und Rasseln von ein paar Kühen an ihren Ketten war zu hören. Dann das Gemecker und die Schellen von Jöris Ziegen in der Morgenfrische, das Horn und die Rufe des Ziegenbuben, der seine Schützlinge aus dem Dorf auf die Weide am Berg trieb. Ich kaufte flaumige Brötchen im Bäckerladen. Die italienische Verkäuferin erklärte mir, dass Brot und Kuchen nunmehr von der Brotfabrik in Chur bezogen werden. Zeitungen, Konfitüre, Milch und Butter holte ich im Konsum, begrüßte Gilgia, die immer noch dort arbeitet und frühstückte zu Hause. Ich las im überregionalen Amtsblatt, dass Prodovka, 71, der Kinderschändung angeklagt (der etwa zur Zeit meines letzten Besuches mangels Beweisen wieder freigesprochen wurde), jetzt zum dritten Mal in Zürich auf der Anklagebank sitzt; verklagt von zwei Müttern, deren fünf- und sechsjährige Mädchen er im Hinterzimmer seines Ladens angefasst hatte. Wieder waren Himbeerbonbons im Spiel. Die Kinder sind sofort zum Arzt gebracht und die Übergriffe sind medizinisch bestätigt worden. Diesmal wird Prodovka hoffentlich für den Rest seines Lebens weggesperrt! Ich erfuhr aus der Zeitung auch, dass der 80-jährige Justus Reich aus T. in seiner bis zur Tür vollgestopften und nie gelüfteten Wohnung erstickt ist. Die Polizei hatte Probleme, überhaupt in die Wohnung zu gelangen! Etwas später traf ich auf der Dorfstraße zwei junge Einheimische mit Kinderwagen; die eine war Hedi, die jüngste Tochter vom stillen Mechaniker Guido Casutt (der in Chur unten in der Waagen-Fabrik Busch arbeitete, aktiv in der Gewerkschaft war und Großvater gut kannte). Ich beugte mich über den Kinderwagen. Da strampelte ein glucksender Säugling mit behaarten spitzen Ohren! Ich schaute schnell wieder weg. Das Kind der zweiten Mutter hatte Schwanzfortsätze, wie sie Welse haben, und anstelle der Ohren zarte und durchsichtige, bewegliche Flossen! Die jungen Frauen erzählten mir ruhig, dass solche Kinder nun sehr beliebt sind. Dass man sie bei Professor Huggentobler bestellen kann. Unerwünschtes Erbgut wird von ihm aus dem DNA-Strang geschnitten und glorios mit den gewünschten Eigenschaften ersetzt. Hedi Casutt erklärte mir, dass die Niedlichkeit gewisser Tiere, wie von Katzenjungen, Tieren mit großen Augen, wie der Koboldmaki, in ihr den Wunsch erweckt hatten, ein solches Kind zu haben … Die andere junge Frau, noch fast ein Kind, schwärmte von einem zweiten Baby mit Katzenpelz. Mir lief es kalt den Rücken hinunter. Damit also beschäftigt sich Huggentobler! Chur, im Hotel Rebleuten, vier Tage später. Ich folgte Monsieur Teilhards Rat und habe Luzi Comminoth in seinem engen Büro in der Nikolaigasse in Chur besucht. Ich wollte ihn eigentlich über die Machenschaften Huggentoblers befragen, aber der Kommissar hatte heute kaum Zeit für mich; er war gestresst, rutschte dauernd auf seinem Stahlrohrsessel und schaltete den Ventilator an und aus. Ein heißer Tag! Papiere wirbelten durch die Luft. Luzi hatte gerade einen Anruf von einer großen Geflügelfarm bekommen. Hühner sind ausgebrochen und die Hilfe der Kriminalpolizei war nötig, denn es könnte sich um einen groß angelegten Überfall von jungen Tierschützern handeln. Die besagte Hühnerfarm liegt unterhalb der Ringstraße, in den Rheinwiesen. (Auf dem Gelände stand einst eine Ziegelei.) Die Farm ist bei vielen jungen Churern verpönt. Tierschützer haben schon mehrmals gegen die unmenschliche Hühnerhaltung demonstriert und randaliert, und die Medien haben mitgemischt. Aber da es um sehr viel Geld geht, hat es bisher kaum Verbesserung in der Tierhaltung gegeben. Einzig Alarmanlagen sind installiert worden, um die Besitzer gegen Übergriffe zu schützen. Es ist eine dieser riesigen Geflügelfabriken. Die Hahnküken sind längst durch den Fleischwolf gedreht und zu Katzenfutter geworden. Die Hühner hocken zusammengepfercht auf Gittern, damit der Kot durchfallen kann. Sie können kaum stehen und sich bewegen. Ihre Flügel sind gestutzt. Auch die Schnabelspitzen werden abgeschnitten, sonst würden sie ihre Artgenossen zu Tode hacken. Das Kommissariat hat eben erfahren, dass alles mit dem Überfall zweier verschlagener Füchse angefangen hat. Die Schlauberger haben irgendwie zwei Drahttüren geöffnet und sind über das Federvieh im Gehege hergefallen. Panik ist ausgebrochen. „Die Hennen drängen zum offenen Gatter“, so wird dem Kommissar rapportiert, „um dem tödlichen Biss durch die Eindringlinge zu entkommen, klettern übereinander in wildem Durcheinander und suchen die Freiheit. Sie gackern und schreien und flattern durchs Wiesental, versammeln sich auf der Turnerwiese. Auf dem Ottoplatz sind bereits einige gesichtet und vom Hund des Tierarztes Bisaz verscheucht worden.“ Erst sind es ein paar Hundert, die sich spontan aus ihrer Hölle aufmachen, bald sind es Tausende, und nach einer guten Stunde ein paar Millionen von weißen Hühnern, die das Weite suchen. „Ich bin Zeugin einer Demonstration von geschundenen, wütenden Kreaturen, die mit ihren kaputten Schnäbeln auf alles picken, was ihnen in die Quere kommt!“, schrie eine Kindergärtnerin ins Telefon. „Die sonst friedliche Turnerwiese ist zum Bersten voller Hühner! Die Kinder müssen drinnenbleiben und machen Unfug! Immer mehr zuckende, schmutzige, verkotete weiße Vogelleiber wälzen und schieben sich flatternd weiter, der Innenstadt zu und legen hier und dort hysterisch gackernd ein Ei!“ Ich begleitete Luzi und zwei Polizisten zum nahen Postplatz. Von hier konnten wir den Geflügelaufstand am besten beobachten. Die Luft war trübe von fliegenden Federn und Kot, Staub und Hühnerflöhen. In der Altstadt – es ist Freitagnachmittag – flanierten Touristen und einkaufende Churer durch die Obere Gasse und begafften und fotografierten den chaotischen Hühnerzug, der sich vom Postplatz her auf das Regierungsgebäude und den Martinsplatz zu wälzte. Dann brach Panik bei den Hühnern sowie auch bei den Passanten aus. Die Hennen, und auch viele aufgeschreckte Churer, liefen, schrien, rannten kreuz und quer, schneller und schneller, durch Straßen und Bürgersteige. Die Hühner gackerten aufgebracht, legten in ihrer Qual Hunderte von Eiern, die von den vorbeistürmenden Artgenossen zerpickt und zerbrochen, geschlürft oder zertreten wurden. Überall Federvieh. Es stank unbeschreiblich in der sommerlichen Hitze, die Straßen waren schlüpfrig, gelb und und klebrig von Ei und Hühnerkot und viele, besonders ältere Menschen, rutschten aus. Die Leute ließen ihre Einkaufstaschen fallen und flohen ebenso kopflos wie die Vögel. Kleine Kinder, die von Hühnern angegriffen wurden, weinten und schrien wie am Spieß, und kleine Hunde jaulten und große bellten. Die Hühner drangen durch offene Türen in Läden ein, als ob eine wilde Armee von Vandalen die Altstadt eingenommen hätte und nun plünderte und brandschatzte. Mehrere Personen fielen in Ohnmacht. Einige wehrbare Churer holten eilig ihre Sturmgewehre aus den Kleiderschränken zu Hause, rannten mutig die Poststraße hoch und schossen ins wogende Hühnermeer. Es war wie einst im Wilden Westen. Immer mehr Hühner folgten nach, mehr und mehr Schüsse fielen. Das in die Enge getriebene Federvieh fiel auch Hunde und Passanten auf den Gehsteigen an, Millionen von schmutzig-weißen und einigen braunen Hühnern, eine Invasion von flatternden und schreienden, zuckenden Körpern, fliegenden Federn und Schmutz. Der apokalyptische Lärm war unbeschreiblich. Luzi rief den Notstand aus. Die Polizei kam vom Obertor her mit Blaulicht angerast, aus Lautsprechern wurde den Churern geraten, in den Häusern zu bleiben. Verletzte wurden von den endlich anrückenden Sanitätern versorgt. Die Polizei überfuhr knirschend hunderte von Hennen, und hellrotes Hühnerblut spritzte durch die Poststrasse und färbte auch den Martinsplatz rot noch für viele Wochen danach. Die Feuerwehr kam mit zwei neuen, auf Hochglanz polierten roten Ungetümen und wusste sich kaum zu helfen. Langsam beruhigte sich die Lage; und das nur, weil der kluge Kommissar Comminoth der Feuerwehr geraten hatte, sofort einen Hahn zu holen. Der Feuerwehrkommandant Chrigel Schocher hatte ratlos die Hände verworfen: „Wo gibt es heutzutage noch Güggel?“ Einer seiner Feuerwehrmänner, mit Namen Tancredi Spadini, wusste Rat. Per Helikopter wurde eiligst ein Gockel von einem Biohof im nahen Zizers geholt. Man stellte das braune Prachtexemplar aufs Dach eines Feuerwehrautos, und siehe da, der Hahn krähte! Die überlebenden Hennen, ein paar Hundert an der Zahl, beruhigten sich und konnten schließlich wieder eingefangen werden. Die Stadtreinigung war verzweifelt. Sie vermochte das Chaos nicht allein zu bewältigen. Auch die in Chur stationierten Rekruten der Schweizer Armee wurden zum Mithelfen abkommandiert. Auch am Wochenende wurde mithilfe von Freiwilligen Tag und Nacht gearbeitet, um die Straßen zu säubern von Hühnerkörpern, Kot und zerbrochenen Eierschalen, verklebtem Eiweiß und Dottern, Knochen und Federn. Hunde, Katzen, Marder und Stadtfüchse fraßen sich satt. Es wurden mehrere Millionen tote Vögel gezählt, viele ohne Kopf oder Beine. Deren Ausbruch in die Freiheit hatte verheerende Folgen. Die Bilanz des mutwilligen Aufstands und der Zerstörung ging in die Millionen Schweizer Franken. Der Preis von Hühnerfleisch wird um das Doppelte steigen. Man wusste noch nicht, ob die Gesundheit der Bevölkerung unter dem Hühner-Überfall leiden wird. In einer Baugrube im nahen Landquart wurde viel Hühnerfleisch entsorgt, ein Großteil aber in Schiffscontainer gefüllt und wahrscheinlich zum Südpol verfrachtet. Wieder zurück in Devonn, mit vielen Fragen. Das Dorf ist abends still und wie ausgestorben. Die alten Frauen helfen in den Küchen Gemüse rüsten und Kartoffeln schälen, die Greise sitzen mümmelnd vor dem Fernseher, sehen immer wieder dieselben Filme und vergessen sie gleich wieder. Sie haben kaum mehr Zeit, wie früher auf der Bank vor dem Haus miteinander über die Schlechtigkeit der Welt zu klagen, jungen Frauen unter die Röcke zu schauen und einander beim Kartenspiel zu betrügen. Bei meinem Flug in der Dämmerung habe ich etwas entdeckt. In der verlassenen Mühle brannte Licht. Was geht dort vor? Ist Wettstein zurückgekommen? Ich habe mehrere menschliche Schatten beobachtet, Stimmen und eine Tür zuschlagen gehört. (Oder war es doch der Wind, der Wind, das himmlische Kind?) Wahrscheinlich halten sich hier Guerillakämpfer versteckt. Mir scheint, ich habe für einen ganz kurzen Augenblick Che Guevara gesehen, wie immer mit der schwarzen Baskenmütze mit dem Stern des Comandante auf dem Kopf und bei ihm, in Uniform und mit angelegtem Gewehr, die schöne Tamara Bunke, die Übersetzerin und Abenteurerin, die sich für die Operation Fantasma in Boliven vorbereitet. Warum ist sie dort und nicht ich? Es wäre doch mein Platz! Ich werde das Gesehene für mich behalten, heute Nacht hingehen und fragen, ob die Guerillos auch mich brauchen können. Conradin ist wieder auf der Alp Sc. Ich hörte es von seinem dementen Vater, den ich beim Briefkasten traf. Siggi Padrutt erzählte stolz, dass sein Sohn promoviert hat und Gletscherbiologe an der Universität Wien ist und als Professor der Glaziologie amtet. (Auch mein Ex-Mann, Atli Gudmundursson, der Vulkanologe, ist Professor an derselben Uni und die beiden Freunde sind vehemente Umweltschützer. Sie werden von ihren Studenten scherzhaft Feuer und Eis genannt.) Ich traf Conradin Sinfjötli im Konsum. Er hatte wie immer seinen uralten Militärrucksack dabei und sich kaum verändert. Nur seine Gesichtszüge sind schärfer geworden. Conradin erzählte eifrig von seinem Forschungsprojekt: Er untersucht mit Kollegen seiner Uni den Zustand der Alpengletscher und die Verschmutzung der Alpengewässer und arbeitet Gegenmaßnahmen aus. Mein Freund wohnt wieder auf der Alp Sc und lebt sein veganes, asketisches Leben und geht dem alt gewordenen Sennen Cadruvi immer noch zur Hand. Conradin zog mich zur Seite und bat mich, ein Auge auf den Orchideenzüchter Vandemeer de Boer und vor allem auf Huggentobler zu haben. Mit Handschlag erneuerten wir unsere Freundschaft und verabredeten uns für eine Bergtour zur Prada persa. Die Bank bei der Kirche ist frisch gestrichen. Dort saß gestern wieder der seltsame Mann mit den brennenden Augen, dieser Wittgenstein, der mir schon als Kind aufgefallen ist. Er trug einen abgewetzten schwarzen Ledermantel, der ihn noch magerer erscheinen ließ. Als ich mich auf die Bank setzen wollte, rückte er unwillig zur Seite. Er hatte eine alte Schreibmaschine neben sich auf der Bank, tippte etwas und schüttelte verneinend den Kopf. Ich bot ihm eine Zigarette an, aber er winkte ab „Die gesamte Wirklichkeit ist die Welt. Der Satz ist ein Modell der Wirklichkeit, so wie wir ihn uns denken. Die Welt zerfällt in Tatsachen“, zischte er, und hämmerte dann die Worte mit zwei Zeigefingern in die Maschine. Dann starrte er mich an, ohne mich zu sehen. Ich zog es vor, zu schweigen und nickte nur, denn ich ahnte, dass Herr Wittgenstein Frauen nicht mitreden lässt. Jedenfalls nicht eine Köchin, die in ihrer Freizeit über die Hausdächer fliegt … „Nicht wie die Welt ist, ist das Mystische, sondern dass sie ist“, glaube ich gehört zu haben, und begann etwas an den Fingern abzuzählen „Ja, so sehe ich das auch!“, nickte ich. Eigentlich gefiel mir der Sonderling. Was er sagte, macht Sinn; war sonnenklar und logisch. Die Schreibmaschine klingelte „Die Welt und das Leben sind eins, funf Punkt 621“, sagte er zu sich selbst und tippte. Ich lächelte. Das klingt nach Parmenides mit einem Hauch Sufi-Mystiker. Spannend! Sollte ich mich philosophisch vielleicht an Herrn Wittgenstein orientieren? Ich nahm mir ein Herz und fragte ihn nach der Langeweile. Ich hätte allzu gerne etwas darüber vernommen. Aber der Philosoph gab keine Antwort. Er klemmte nur seine Schreibmaschine unter den linken Arm und entfernte sich, in der Rechten die Klarinette im grauen Strumpf. Ich schaute ihm nach. Ich sehnte mich nach Kollegger. Der kann zuhören. Wieder allein, wurde mir bald klar, dass die Langeweile noch nicht aus meinem Leben verschwunden ist. Immer wieder fällt sie über mich her und würgt mich. Ob Che oder Wittgenstein je mit der Langeweile kämpften? Auch der Philosoph Heidegger hat unter anderem über die Langeweile nachgedacht. Nach ihm verschlingt vor allem die grundlose, beziehungslose Langeweile das Selbst. Auch die Zeit verschwindet in der Lähmung der Langeweile, und es entsteht etwas wie eine Nicht-Zeit. Ein schwarzes Loch. So habe ich es schon in meiner Kindheit erlebt, als ich im Haselgebüsch hockte. Nur die kleinen Handlungen lassen die Zeit wieder fortschreiten. Es gibt also gar keine Zeit außer der Zeit unseres Tuns. Das Aufraffen dazu ist, mit Heideggers Worten zu sprechen, die existenzielle Freiheit. Bei mir ist die Langeweile ein Sog, aus dem immer eine unbändige Sehnsucht ins Unbekannte und Ungebundene entsteht. Dann muss ich reisen. Irgendwohin. Weit weg. Es gibt auch nur ganz wenige Menschen, die ich nach kurzer Zeit nicht leer und langweilig gefunden hätte. Einer davon ist Aurel Kollegger, die anderen sind Großvater, Hochwürden Teilhard, Conradin und Margret Prevost. (Atli Gudmundursson fand ich anfänglich spannend, aber nach einem Jahr Ehe hatte er mir nichts mehr zu sagen und ich langweilte mich endlos in seiner Gesellschaft.) In Gegenwart von Katzen empfinde ich nie Langeweile. Mittelalterliche Kunst kann meine Langeweile für geraume Zeit überwinden, ebenso die Bilder von Tiepolo, Segantini, Manet, Klimt und Klee. Gegenwärtige Kunst haut mich nicht vom Hocker. Die Alpen jedoch, mit ihren Felswänden und Gipfeln im sich ständig verändernden Licht, grünen Tälern und Wäldern, Seen, Flüssen und Staubbächen, an denen ich mich nicht sattsehen kann, sind neben dem Kochen, dem Schreiben und dem Flippern fast die einzige Medizin gegen die Umklammerung der Langeweile. Devonn, spät nachts, 20. Juli 89. Gegen Mitternacht, als das Dorf schlief und nur irgendwo ein Hund den Mond anbellte, schlich ich mit einer Taschenlampe durchs Dorf. Alexas uralter Tigerkater Mausi war auch in irgendeiner Mission unterwegs und folgte mir. Ich wollte an der Kirche vorbei zur alten Mühle, den Guerillos meinen Dienst anbieten. Beim Eingangstor zum Friedhof lehnte eine dunkle Gestalt und rauchte. Eine Baskenmütze beschattete das halbe Gesicht. Ich konnte den süßen Pfeifentabak von ferne riechen. Es muss Che Guevara gewesen sein. Ich wagte mich näher. Er schlug sein Gewehr an und sagte mit unterdrückter Stimme: „Halt! Halt! Keinen Schritt weiter, oder ich schieße! Bleib, wo du bist! Abstand bewahren …!“ Der Mond, ein blasser Eidotter, flutschte in eine Wolke und es wurde dunkel. Als er wieder auftauchte, war die Gestalt bereits verschwunden. Ich ging mit klopfendem Herzen, unverrichteter Dinge, wieder zurück nach Hause, ohne bei der alten Mühle herumgeschnüffelt zu haben. Ich nehme mir vor, bald Huonder zu fragen, was bei der alten Mühle vor sich geht, vielleicht weiß er ja etwas. Die Tage vergehen wie im Flug. Heute ist Mariä Himmelfahrt, der Tag von Maria Schnee, der verschollenen Patronin von Scalamain. Letzte Nacht hat es in der Höhe geschneit. Ein frischer Wind weht. Der Morgenhimmel ist eine Postkarte: tiefblau, und die Berggipfel haben einen weissen Zuckerguß. Die Kapelle in Scalamain oben wird morgen für den Winter geschlossen. Es ist höchste Zeit, dorthin zu wandern. Es kommen heute wohl kaum mehr Wallfahrer an den einsamen Ort, wo einst die Mutter Gottes, in einen weißen Schleier gehüllt, einem Hirtenmädchen erschienen ist und das Dorf eindringlich zu Umkehr, Buße und zur Wallfahrt aufgerufen hatte. Jahre später wurde dort auf den Wunsch der Madonna eine Kapelle gebaut und ihr Bildnis aufgestellt. Seit dem Verschwinden der wundertätigen Lieben Frau vom Schnee ist die kleine, schmucklose Kirche leer geblieben. Bald wird Schnee fallen, viel Schnee. Bei Sonnenaufgang machte ich mich auf den Weg, im Rucksack Salsiz (lokale Wurst), Bergkäse, Brot, Wein und eine Thermosflasche Tee und erreichte den Lärchenwald oberhalb des Dorfes. Ich schaute mich überall nach Felix um, fand aber keine Spur von ihm. Rote und gelbe Frühlichtstreifen leuchteten am Firmament. Zwischen dem Lärchenwald und dem Hochwald von alten Arven ist eine sehr steile, von Erlengestrüpp gesäumte Wegstrecke, wo man wenig Übersicht über das Gelände hat. Dort klopfte mein Herz von den Mühen des Aufstiegs und mein Atem ging schwer. Das bucklige Männlein aus dem Kinderlied stellte sich mir plötzlich in den Weg. Ich hatte mich schon früher vor ihm gefürchtet. Jetzt aber sah es wirklich bedrohlich aus. Sein ungutes Gesicht zierte ein grauer Spitzbart, die Augen waren in ihren Höhlen eingesunken. Er redete leise auf mich ein und forderte einen Schluck aus meiner Weinflasche, den ich ihm versagte. Er eröffnete mir, dass ich mich nirgends verstecken kann ohne seine Hilfe, und dass ich den Löwen bei der Polizei melden muss. „Es ist nutzlos, zur Kapelle hochzusteigen, die Madonna ist ja weg, alles Unsinn“, knurrte er. „Es wird auch kalt heute. Es kann jederzeit schneien. Wölfe machen die Gegend unsicher und bewaffnete Partisanen sind unterwegs!“ Der Gnom lachte schallend, zeigte auf mich mit seinem langen Spinnenzeigefinger, verschwand im knackenden Gehölz. Ein eisiger Wind kam auf und warf mir eine Handvoll Schnee ins Gesicht. Die kleine Kapelle duckte einsam unter einem überhängenden Felsen. Tau lag auf dem Gras und funkelte in den Strahlen der Morgensonne wie Tausende von Diamanten in den Kelchen der runden, gezackten Blätter der Frauenmäntelchen, der Alchemilla vulgaris. Ich sammelte einen Armvoll Blumen und Gräser auf der feuchten Wiese; violette Flockenblumen, Flughafer, Zittergras, Schafgarbe und Habichtskraut, mit denen ich die leere Nische der Madonna vom Schnee schmücken wollte. Ich drückte die schwere Klinke und die Tür sprang auf! Ich drehte mich um. Der Zwerg stand bereits hinter mir. Er war mir heimlich gefolgt. Ich suchte das Taschenmesser in meiner Jackentasche. Der Gnom zog sich hämisch grinsend zurück. Ich trat über die Schwelle ins Halbdunkel und hörte ein anhaltendes silberhelles Lachen, das in ein Kichern überging. Erstaunt blickte ich mich um, aber ich war allein. Bald hörte ich Schritte von schweren Bergschuhen und das Rasseln eines Schlüsselbunds. Mit silbern gewordenem Krauskopf trat der Flipperkönig Kollegger über die Schwelle. Er schob den Zwerg zur Seite. Beleidigt verschwand das bucklige Männlein. Aurel blieb im Gegenlicht stehen. Sein Lockenkranz leuchtete auf wie ein Heiligenschein. „Meine Diaula ist wieder hier! Ich habe so lange auf dich gewartet!“ Ich stürzte in seine ausgebreiteten Arme und schloss die Augen. Ich wurde ruhig, und alle Ängste und Zweifel der letzten Zeit fielen von mir ab. Kolleggers Waldgeruch, der mir seit meiner Kinderzeit so lieb ist, umnebelte mich wieder „War die Tür offen?“, wunderte sich Aurel und fuhr fort: „Ich nehme an, dass dir Unsere Liebe Frau geöffnet hat!“ und zeigte auf die leere Nische „Sie ist immer noch hier, auch wenn ihr Standbild verschwunden ist! Wir müssen sie gar nicht suchen! Sie ist überall, nicht nur an diesem abgelegenen Ort! Eigentlich brauchen wir gar kein Bildnis von ihr. Sie ist in uns drin. Wir müssen nur still sein, dann hören wir ihre leise Stimme, ihren Trost und ihren Rat!“, meinte Kollegger. Ich blickte auf zu den Votivgaben, den zahlreichen Silberherzen, Wachsfüßen und Holzhänden an der Wand, die von der Güte der Madonna zeugten „Ich habe ihr glockenhelles Lachen gehört, als ich hereinkam!“, sagte ich dann und Kollegger sah mich an: „Das ist sie! Unsere Liebe Frau vom Schnee, der Meerstern, der verschlossene Garten, unsere liebe Regina Coeli … Salve, regina, mater misericordiae, vita, dulcede et spes nostra, salve …“ Der Jenische kniete nieder und betete still. Dann, aufstehend: „Es ist schön, dass du endlich zurückgekommen bist, Diaula! Ich bin so froh. Ich habe lange auf dich gewartet. Du hast mir sehr, sehr gefehlt. Aber ich wusste, dass du irgendwann wiederkommst.“ Wir schauten uns lange in die Augen, und mir wurde warm von seinem Blick. Ich hatte das Gefühl, endlich, nach langer Reise, zu Hause angekommen zu sein. Ich breitete ein weißes Tuch auf dem Steinboden aus. Kollegger öffnete die Weinflasche, indem er sie dreimal sanft an die Wand schlug und den Zapfen herausspringen ließ, schenkte uns vom Wein ein, der rotbraun und klar in die Blechtassen floss und sagte: „Der Wein des Bischofs von Chur, dieser Churer Schiller, der tut gut. Zum Wohl, Monsignore! Zum Glück so weit weg und nicht ahnend, was in unserem Dorf im Valsass so alles so vor sich geht!“ Wir setzten uns in die hinterste Bank und aßen, nicht ohne vorher einen Teller mit etwas Brot, Käse, Wurst und auch einen Schluck Wein in einer Tasse vor die Nische der lieben Frau hinzustellen. Der an die Außenwand gemalte heilige Christophorus – der durch Wände hindurchzuschauen vermag – bewachte die Gabe mit begehrlichen Augen. Aurel vergewisserte sich, dass der Zwerg verschwunden war, schloss das Tor und drehte den Schlüssel und setzte sich wieder zu mir. Er erzählte leise, was sich in den Jahren meiner Abwesenheit in Devonn alles zugetragen hat. Er schilderte den illegalen Bau der Privatklinik Huggentobler auf der Allmend – mit Steuergeldern des Kantons und Subventionen des Bundes –, obwohl die Bürger der Region mit großer Mehrheit gegen den Bau waren. (Aber die sind ja sowieso immer erst gegen alles Neue.) Ich erkundigte mich nach den Eskapaden des buckligen Männleins. Aurel berichtete, dass der Zwerg, der sich jetzt Frocin N.N. nennt, sich als Anwalt und Alchemist ausgibt, der kurz vor dem Durchbruch stehe, wie Rumpelstilzchen Gold herstellen zu können! Er verbreite es überall, aber bislang sei er nur um Huggentobler geschwänzelt und erledige grobe Arbeiten für ihn, wie etwa das Entsorgen von Klinikabfall. Aurel erzählte leise von Huggentoblers großen Erfolgen und von dessen Freund und Mitstreiter, dem Chirurgen Professor Béranger Brechbühl aus Lausanne und dem gerissenem Prokuristen Heini Bindschädler. Er erwähnte die vielen reichen Fremden aus aller Herren Länder, kinderlose Patienten, die mit neuer Hoffnung auf Nachwuchs sich von Huggentobler in der Klinik beraten und behandeln lassen, wo viele Männer und Frauen aus dem Dorf Arbeit gefunden haben. Auch der Zerfall des alten Kurhotels – mit der geschnitzten Holzveranda und den halb blinden Spiegeln im Speisesaal – wurde von Kollegger beschrieben. Da das neuerbaute Sporthotel auf der Höhe viel mehr Bequemlichkeit bietet, musste das verträumte Kurhotel nun endgültig die Pforten schließen. Was damit geschehen soll, ist noch ungewiss. (Wahrscheinlich wird die Gemeinde damit spekulieren.) Er berichtete auch von der hässlichen Überbauung des Scaldegn und den illegalen Abwasserleitungen und von den endlosen und heftigen Streitereien über den Müll in den Gemeindeversammlungen. Ich erfuhr auch, dass Sep Gadient im Frühjahr immer noch mit seinem klapprigen Pferd den Kartoffelacker pflügt, die Tochter von Venzin einen Griechen geheiratet hat, Gion Barandun junior im letzten Winter das Ski-Abfahrtsrennen in Valbella gewonnen hat und der jüngste Sohn von Calonder bereits in der Rekrutenschule ist. Kollegger erwähnte stolz die Steinadler, die sich endlich wieder vermehren. Aber vor allem erzählte er mit glänzenden Augen von unserer Prada persa, wo er neulich drei mit Wolfswelpen spielende Jungbären beobachtet hat, und von einer Wölfin, die ein Gämskitz säugte. Die einst steinige und verfluchte Wiese, jetzt ein Paradies, grünt und blüht. Dann saßen wir lange still. Kollegger hatte seinen Arm um mich gelegt und ich schmiegte mich an seine Schulter, genoss die Ruhe seiner Gegenwart und ließ mich in etwas unbeschreiblich Helles und Warmes fallen. Wir gingen ins Freie. Kollegger schloss die Kapelle ab und wir wanderten zusammen weiter ins hintere Scalafundastal. Bei einer Weggabelung trafen wir auf Margret Prevost mit zwei vornehmen, altmodisch gekleideten Bergsteigerinnen aus England. Sie waren auf dem Weg zum Piz Mulatsch. Ich verabredete mich mit Margret für den nächsten Abend. Aurel und ich wanderten weiter, der Flanke des Madrisahorns entlang, und begannen den mühsamen Aufstieg zur Prada persa. Es regnete. Plötzlich tauchte Felix auf und lief neben uns her. Seine Mähne war klatschnass. Der Löwe begrüßte uns freudig, brüllte, schüttelte sich, dass die Tropfen flogen, tobte und rollte sich im Gras. Als wir nach ein paar Stunden auf Prada persa ankamen, hatte der Regen bereits aufgehört, der Himmel strahlte wolkenlos und es war wärmer geworden. Die Alpenrosen glühten. Die Wiese war übersät mit Enzian, dessen Bläue so tief war, dass sie in der Seele schmerzte. Lichtnelken, Arnika, Silberdisteln, Glockenblumen, Türkenbund, Katzenpfötchen, saftige Alpenkräuter, Bergorchideen und Männertreu leisteten dem Enzian auf der Bergwiese Gesellschaft und blühten um die Wette. Ich streute letzte Flughafersamen, die ich in der Jackentasche trug. Gämsen flitzten vorbei, blieben aber neugierig stehen und äugten zu uns herüber. Gämskitze tobten unter einer Arve mit Fuchswelpen herum. Eichhörnchen legten uns Föhrenzapfen vor die Füße. Ein stattlicher Steinbock postierte sich auf einem nahen Felsvorsprung. Auf der Wiese landete ein Bartgeier mit leuchtend roten Augenringen, und ein Murmeltier stand auf den Hinterbeinen im Gras. Es hatte keine Angst und ließ uns und den Geier ganz nahe herankommen, während seine Familie im Gras balgte. Schmetterlinge setzten sich auf Aurels wirre Locken. Eine Gämsgeiß säugte einen Wolfswelpen, ein zweiter schnupperte an unseren Schuhen. Der Vanilleduft des Männertreus, der Nigritella nigra, zog durch die Luft. Felix rollte sich im Gras, beäugt von den Tieren, aber keine der Gämsen noch der Murmeltiere ergiff die Flucht, und unter einer alten Lärche graste ein Einhorn. In der Ferne sah ich eine Frau am schäumenden Wildbach stehen, sah, wie sie ihre weißen Söckchen auszog und, zu uns hinüber winkend, mit hochgeschürztem blauem Rock in den rauschenden Bergbach watete und verschwand. Ich fühlte mich froh und zufrieden. Wir hatten Zeit! Wir wollten noch den kurzen, aber steilen Pfad zum Gipfel des Piz Scasura hinauf, der das schwer begehbare, wilde Scalafundastal abschließt. (Wasser aus dem zerklüfteten Berg stürzt hier über steile Felswände und hat sich als Scalafundasbach tief unten ein enges, zerklüftetes Tobel gefressen und vereinigt sich im Talausgang mit dem reißenden Plimizöl, der durchs Valsass eilt und irgendwo, weit draußen, mit dem Hinterrhein zusammenfindet.) Ich geriet beim Aufstieg schnell außer Atem, aber Kollegger passte sich geduldig meinem Tempo an und ich genoss den steilen Auftstieg an seiner Hand. Es war Mittag geworden. Nahe am Gipfel machten wir eine Pause am verträumten hellgrünen Karsee, dem kleinen Lai Scasura, auf dessen stillem Grund man jeden Stein sehen konnte. Am anderen Ufer lagen Äste einer alten Arve, die Kollegger zum Feuermachen brauchte. Kurz entschlossen zog er seine Schuhe aus. Wollte er durchs Wasser waten? Es muss eiskalt sein! Aber er ging in durchlöcherten braunen Socken übers Wasser. Aurel schien es gar nicht zu merken. (Ich nahm mir vor, dies niemandem zu erzählen.) Er kam mit trockenen Füßen und Holz unterm Arm zurück übers Wasser, baute einen kleinen Herd aus Steinen und bald duftete der Kaffee. Ich schaute in die tanzenden Flammen und fühlte mich lebendig und hellwach. Bergdohlen krächzten. Ein paar ziehende Schäfchenwolken am Himmel spiegelten sich im kleinen See. Manchmal kräuselte sich dessen Oberfläche vom Hauch des Bergwindes. Ich sah, wie damals als kleines Mädchen, wie Kollegger den dampfenden Kaffee in unsere Tassen schüttete. Aurel und Bergfrieden! Für mich das Prinzip Hoffnung! Alle Langeweile und alle Mühsal der letzten Jahre waren wie weggeblasen. Ich hätte ewig hier oben bleiben mögen mit Aurel, obwohl er eingenickt war, unter dem Kopf das Handbuch der Stadtguerilla, in dem er eine Weile gelesen und nachdenklich Randanmerkungen gekritzelt hatte. Ich horchte in den Wind. Dann beobachtete ich mit dem Fernglas auf dem Nachbargipfel, dem finstern Piz Cavetsch, einen verwahrlosten Wanderer, der seinen Hut tief in den Nacken gezogen hatte. Der fremde Bergsteiger hatte sich wohl im Fels verirrt. Sucht er Edelweiß? Wohl kaum! Seine Kleider waren zerrissen. Als Kollegger eine Weile später wieder erwachte, kletterte der Fremde immer noch im Geröll und suchte seinen Weg. Eine Nebelwand schob sich vor ihn, und wir sahen ihn nicht mehr. Kollegger zog seine Schuhe wieder an und erzählte, dass der Wanderer, den ich beobachtet hatte, Lado Tajovic’ sein musste, von dem Mihailo Lalic´ im Lelejska Gora (dem Berg der Klagen) geschrieben hat. Warum kletterte er jetzt hier? „Der Partisan hatte sich im Zweiten Weltkrieg fern von seinen Kumpanen in den Bergeinöden Montenegros im Nebel verirrt. Er war Kommunist, hasste die in sein Land eingefallenen Italiener und Deutschen ebenso wie die einheimischen Kollaborateure, und, da er nicht mehr wusste, wer Feind und wer Freund war, schoß er jeden ab, der ihm über den Weg lief. Er konnte sich in keinem Dorf mehr zeigen. Er war vogelfrei. Seine Kameraden hatte er längst unterwegs auf der Flucht verloren, war schon sehr lange einsam im Gebirge unterwegs und war fast zum Tier geworden. Er traute niemandem mehr über den Weg, versteckte sich vor allen Lebenden. Hunger und die Albträume der Einsamkeit hatten ihm so zugesetzt, dass er raubte und mordete, um zu überleben „Bergeinsamkeit ist wohl gut, um sich zu besinnen, um sein inneres Gleichgewicht wiederzuerlangen, aber nichts auf die Dauer“, schloß Kollegger nachdenklich. Unterdessen hatte der Nebel auch den Piz Scasura erreicht und legte sich erst in einzelnen Fetzen, dann in immer dichteren Schwaden um uns, ein dickes, mufflig riechendes Halstuch. Felix war bereits in der Suppe verschwunden. Ich wurde unruhig und wollte aufbrechen, aber Kollegger hielt mich zurück „Wir müßen warten“, sagte er. Wir setzten uns auf einen Stein. An seiner Seite blieb ich ruhig, bekam auch keine Panik, als der Nebel uns vollständig umhüllte. Ich wußte nicht, wie lange wir warteten, denn die Zeit schien sich im Kreis zu bewegen. Endlich, nach einer Ewigkeit, riss der weiße Umhang auf, und ein kalter Wind blies. Lado Tajovic´war verschwunden. Wir machten uns still an den Abstieg. Die Schatten wurden länger und hefteten sich an unsere Fersen. Felix trottete zufrieden hintendrein. Aurel verabschiedete sich oberhalb des Dorfes und zog sich in seinen Wohnwagen zurück. Der Löwe verkroch sich ins Gebüsch. Ich flog später noch übers Dorf und in die Talschlucht unterhalb Devonns, zum wilden, weiß schäumenden und gurgelnden Plimizöl hinab. Ich hielt überall Ausschau nach dem Partisanen Lado Tajovic´, konnte ihn aber nirgends mehr entdecken. Auf dem Rückweg flog ich in der Dämmerung über die verlassene Mühle, aber da rührte sich heute nichts und alles war dunkel. Che war wohl mit seinen Leuten unterwegs, und Wettstein druckte vieleicht im Keller Pamphlete. Ich schlief in dieser Nacht sehr lange und tief und erwachte ausgeruht. Ich blätterte in meinem Kalender. Noch fast drei Wochen mußte ich auf Teilhard warten! Devonn, ein paar Tage später. Mit der Ruhe des Bergdorfs ist es vorbei. Eine indische Produktionsfirma aus Bangalore hat die Wiese am Hang (wo ich mit Atli eng umschlungen durch die Margeriten gerollt bin) als Drehort einer Filmschnulze gemietet. Auf dieser Wiese, wo sich Bienen, Hummeln und Schmetterlinge tummeln, wachsen im Gras bunte Scharen fetter Margeriten, Glockenblumen, Wiesensalbei und die dieses Jahr verlausten violetten Kugelköpfchen der Flockenblumen. Den Hintergrund bildet der stolze Gipfel des Hausbergs von Devonn, der Piz Berantschun, und darüber spannt sich ein filmreifer Himmel mit Wolkentürmen. Die Filmleute kommen täglich mit auf Hochglanz gebrachten Limousinen vom Nachbardorf an (wo es jetzt ein erstklassiges Hotel mit fünf Sternen gibt, eigenem Wellness-Center und Swimmingpool). Kräne werden an die Wiese gefahren, Scheinwerfer und Kameras in den Blumen aufgebaut. Wenn das exotische Filmteam morgens ans Set kommt, in einer staubenden Schlange von fast einem Dutzend Fahrzeugen, mit Kabeln und riesigen Folien, geht es hoch her. Die fremden Männer tragen alle Jeans und bunte Hemden und rufen einander laut zu. Die Frauen hüllen sich in teure Seidensaris und sehen sich alle zum Verwechseln ähnlich aus. In der Crousch alva hatten die zwei Hauptstars tagsüber Zimmer, wo sie sich ausruhen konnten und geschminkt wurden. Da die Leute im Dorf kaum Englisch sprechen und das Englische mit indischem Akzent nicht verstehen, fragte man mich, die im Dorf als Weitbereiste galt, ob ich manchmal übersetzen könne für die täglichen Belange der Hauptdarsteller. So kommt es, dass ich in der Nähe der Wiese herumlungere und beim Drehen zuschaue. Der Film, eine klebrige Liebesromanze, hat keine besondere Handlung und die Charaktere sind die üblichen Stereotypen, ein verliebtes junges Paar und ein reicher Bösewicht, der die Schöne selber haben will. Der weibliche Star, Chandrika, ist schlank und vollbusig und hat große Augen und langes pechschwarzes Haar. Sie beschäftigt sich mit nichts anderem als ihrem Aussehen, ihrem Haar, ihrer Haut und ihren bunten Gewändern aus Seide. Der männliche Star wird Arjun oder the Hero genannt und ist immer von zwei Leibwächtern umgeben. (Sie tragen auch in der Sommerhitze Schlipse und schwarze Anzüge und tragen Pistolen am Gürtel. Sie begleiten den Star überallhin und beobachten ihn unentwegt.) Arjun hat tiefschwarz glänzendes Lockenhaar, den üblichen Schnurrbart und Zweitagebart und ist das gängige Klischee des südindischen Filmhelden. Ich schätze ihn auf etwa vierunddreißig Jahre. Er ist nicht besonders groß oder muskulös. Er ist keiner von denen, die sich wie Pfauen benehmen. Er ist eher still und zurückhaltend. Hedwig Tell hatte mir im Konsum erzählt, dass er aus einer guten Familie in Kerala stammt. (Woher sie das nur weiß!) Der Schauspieler strahlt etwas Besonderes, Kontrolliertes und Hochmutiges aus, doch etwas Verletzliches spielt um seinen vollen Mund mit der schön geschwungenen Oberlippe. Er ist sich seiner Ausstrahlung sehr wohl bewusst und setzt sie für seine Zwecke ein. Das macht ihn noch anziehender. Mich hat er sofort in seinen Bann gezogen. Abends, wenn die Filmcrew in einer Staubwolke wieder bergabwärts verschwindet, bleibt im platt getretenen Gras nur Kehricht zurück: Tote Schmetterlinge und zertretene Käfer, Essensreste, Strohhalme, Plastikgeschirr und Zigarettenstummel, Spritzen, Verpackungen mit Medikamenten, Papiertaschentücher, Plastiktüten, Wegwerfbesteck und leere Limonadenflaschen. Verärgert sammle ich täglich alles ein. Ich habe mich in Arjun verknallt und warte jeden Morgen bis er aus dem Auto steigt, um wenigstens einen Blick von ihm zu erhaschen. Arjun! Im Bett, vor dem Einschlafen, stelle ich mir den Inder als Faun vor, mit Bocksfüßen, im hohen, saftigen Gras liegend, an einer Blume kauend und einer Amsel pfeifend, so wie ihn Arnold Böcklin gemalt hat. Der Nachmittag eines Fauns! Arjun hat mir alle Ruhe geraubt. Wenn ich ihn sehe; hackt mein Herz wie ein Specht. Es wird von Tag zu Tag schlimmer. Ich kann einfach nicht mehr von ihm lassen! Drei–vier Tage später, abends im Bett. Am Nachmittag wollte Arjun Honig haben, weil er von dem vielen Nieselregen der letzten Tage erkältet war. Ich brachte dem Star ein kleines Glas Honig von Wilhelm Tell und einen kleinen Silberlöffel. Die Leibwächter ließen mich ungern nähertreten. Arjun tauchte den Löffel in den hellen, flüssigen Honig und steckte ihn erst mir in den Mund und schaute mir lachend in die Augen. Betreten schluckte ich. Es blieb immer noch viel Honig auf dem Löffelchen. Arjun schaute mich wieder an und leckte das Löffelchen ab. Er dachte sich sicher gar nichts dabei. Aber ich errötete. Er bemerkte es und nahm mich lächelnd bei der Hand. Leider wurde Arjun in dem Augenblick von seinem Regisseur gerufen. Ich stürzte davon, nach Hause. Es war mir peinlich. Ich, eine sechsunddreißigjährige Frau, geschieden, mit Tochter, errötete wie ein kleines Mädchen! Es war ein schwüler Tag. Ich musste fliegen. Ich kletterte durch eine Luke aufs Dach unseres Hauses, breitete die Arme aus, flog übers Tal und über den Piz Mulatsch mit dem Eisenkreuz auf der Steinröse. Schwarze Gewitterwolken jagten über den Himmel. Höher und höher trug mich der Wind, durch dichte Wolken. Feuchtigkeit durchdrang Kleider und Haar. Irgendwo flog ich irgendwann durch einen Regenbogen. Dann glitt ich hinab, schwerelos, glücklich, bis nach Hause ins Bett und schmiedete Pläne. Devonn, zehn Tage später. So ging eine Woche vorbei, ein Tag schöner als der andere, wenn ich nur Arjun und sein Lächeln sehen konnte. Ich vergaß, dass ich auf Teilhard wartete und vergaß sogar, Kehricht einzusammeln. Nach ein paar weiteren Tagen eröffnete mir der Inder, dass heute sein letzter Drehtag ist. Ich fiel aus allen Wolken. Sollte alles schon vorbei sein? Ich nahm mir ein Herz, kramte die rote, bestickte Bluse Subhadras, die ich sorgfältig aufbewahre, aus meinem Rucksack, stellte mich Arjun während einer Drehpause in den Weg und redete ihn an: „Arjun – Sir, ich möchte Ihnen etwas zeigen! Ich glaube, ich habe Subhadras gatrika gefunden. Hier. Ich habe sie wochenlang versteckt.“ Er warf einen schnellen Blick auf die Bluse und einen längeren auf mich, lächelte und sagte dann theatralisch: „Dann bist du ja – Kalpalathika! Du weißt doch, wer Kalpalathika ist! Ich darf dich doch so nennen?! Kalpalathika! Die innig Vertraute und Dienerin von Subhadra aus der Mahabharata, dem größten indischen Epos. Die Nymphe Subhadra, Schwester von Arjunas Freund Sri Krishna, hat diesen Büstenhalter verloren und Kalpalathika hat den Auftrag bekommen, ihn überall zu suchen! Endlich! Meine Kalpalathika hat die gatrika schließlich doch noch gefunden!“ Er flüsterte, damit seine Leibwächter nichts hören konnten: „Du musst mir später mehr davon erzählen! Ich habe eigentlich geplant, heute Nacht nach Mumbai zurückzufliegen. Ich ändere meine Pläne. Wir können uns heute Abend treffen, vor der Kirche! Erzähl niemandem was davon!“ Endlich läutete die Abendglocke. Ich wartete und wartete. Die Limousinen der Filmleute waren längst Richtung Tal verschwunden. Es war immer noch drückend heiß. Auch Felix spürte den Föhn, war dicht auf meinen Fersen, hechelte, gähnte und rollte sich im Gras. Es war Abendbrotzeit. Ich wollte schon aufgeben, als Arjun auftauchte, zum Glück ohne seine ständigen Begleiter. Er trug jetzt Jeans und ein ungebügeltes, verwaschenes braunes Hemd, etwas dunkler als die Farbe seiner Haut. Seine Füße steckten in einfachen Sandalen. Die Filmstar-Manieren waren von ihm abgefallen. Er nahm mich bei der Hand und wir setzten uns auf die Bank bei der Kirche. Er roch nach Sandelholz-Seife „Kennst du die Geschichte der Bluse?“, fragte Arjun und flocht seine Hand in meine. Bevor ich antworten konnte, fing er an zu erzählen von seinem Namensvetter Arjuna aus der Mahabharata. Er sprach vom Helden Arjuna als ich, und berichtete, wie er damals die schöne Nymphe Subhadra, die Schwester seines Freundes Krishna, aus den Klauen des Bösewichts Alambusa gerettet hat: „Der rothaarige Dämon hatte den Auftrag, die schöne Subhadra Arjunas Vetter und Widersacher Duryodhana zu bringen, der sie heiraten wollte. Subhadras Bruder, Balarama, war einverstanden damit und hatte schon alles für ein rauschendes Hochzeitsfest vorbereitet. Subhadra wollte aber nicht Duryodhana heiraten, denn sie war heimlich in Arjuna verliebt. Deshalb gab Duryodhana Alambusa den Befehl, die Schöne mit Gewalt zu holen. Alambusa packte die Widerstrebende am Haar und trug sie durch die Lüfte. Subhadra trug an dem Tag die gatrika, einen Büstenhalter, eine Art Leibchen, auf den sie mit Goldfaden heimlich Arjunas zehn Namen gestickt hatte. Sie wehrte sich tapfer gegen ihren Entführer. Das Oberteil öffnete sich im Gerangel und fiel aus der Luft irgendwo auf die Erde. Ich, Arjuna, mit Adlerblick, sah die Not des Mädchens von weitem. Ich spannte nur den Bogen und drohte dem Dämon, und der ließ aus Furcht vor meinem Pfeil das Mädchen aus großer Höhe fallen und floh. Ich fing sie in meinen Armen auf und stellte sie sanft auf den Boden. Sie bedeckte ihre nackten runden Pfirsichbrüste mit den Händen und zitterte. Ihre Augen hatten die Form der Blütenblätter der Lotosblume und waren mit Kajal schwarz umrandet. Tränen der Angst glitzerten wie Diamanten in ihren Augenwinkeln. Ich konnte sie kaum auf den Boden stellen, als sie schon verschwand, wie vom Erdboden verschluckt. Und dann … Den Rest kennst du sicher, meine kleine Kalpalathika!“ Dabei schaute mich der schöne Inder an, und sein Blick fuhr mir durch alle Glieder. „Es ging doch durch die ganze Weltpresse! Wir haben geheiratet und bald danach haben wir uns wieder scheiden lassen, ich und die Filmdiva Subhadra Ganguli!“ Er zog mich an sich und küsste mich plötzlich ohne Umschweife, als ob er vor der Kamera stehen würde. (Er hält sich wohl für unwiderstehlich!) Seine Küsse wurden leidenschaftlicher. Seine Hände glitten zielbewusst von meinen Knien die Schenkel hoch. Ich vermochte mich nicht zu wehren und musste es zulassen, denn ich war wie gebannt. Seine Bartstoppeln zerkratzten meine Wangen. Felix, gelangweilt, setzte sich näher an die Bank, hielt Wache und gähnte. Der Filmstar riss mir ungeduldig und ungeschickt das Kleid auf und drückte mich auf die Bank, wo ich neben Großvater gesessen und mit Gottfried Keller, mit Wittgenstein und Mao geredet habe, und dort drüben hatte mich Che gewarnt, näher zu kommen! Musste es denn hier sein? So hatte ich es mir nicht vorgestellt! Es war mir peinlich! Dann fiel Arjun hungrig über mich her, männlich, wild und grob. Mein Traum platzte. Ich hatte mir das Zusammensein mit ihm anders vorgestellt. Romantischer, viel langsamer und sensueller, nicht so schnell und vulgär. Wusste er überhaupt, wie ich heiße? Mit wem er sich einlässt? Ich wollte das so nicht! Ich bin doch nicht irgendeine Kalpalathika! Als er seine Gier gesättigt hatte, ließ er mich schwitzend wieder los. Ich streifte betreten, mit heißen Wangen, mein Kleid über und flüsterte Arjun zu, mich nach Hause zu begleiten, um dort etwas Erfrischendes zu trinken. Ich bot ihm an, in meiner Badewanne im Keller in warmem Honig zu baden. Ich erklärte ihm, dass Alexander der Große dies auf seinen Feldzügen zu tun pflegte. (Ich habe mich für meine kommende Fernsehserie: „Diaula kocht mit Honig“ bereits bei Wilhelm Tell mit großen Mengen hellstem Blütenhonig eingedeckt.) Arjun kam nur zu gerne mit, denn in warmem Honig baden, hatte ihm noch keine Frau angeboten und es kam wohl auch in keinem seiner zahlreichen Filme vor. Zu Hause angekommen, wärmte ich den Honig, kredenzte Arjun ein Glas kühles Bier und wir küssten uns wieder. Ich fuhr mit meinen Fingern durch seine dichten schwarzen Locken. Ich zog ihn auf Crescenzas Bett aus und rieb ihn mit einer Salbe ein. (Die ich vorsorglich bereits am Nachmittag im Mörser gemischt hatte: eine Paste aus Honig, Ingwer und Gelbwurz. Nach einigem Nachdenken hatte ich das Gemisch noch mit der zerstoßenen Wurzel der Dactylorhiza maculata, dem geflecktem Knabenkraut, angereichert.) Arjun ließ es gerne mit sich geschehen. Er küsste mich wieder. Diesmal war Arjun vorsichtiger und sinnlicher (wohl das Resultat meiner Salbe). Hinterher trank er wieder ein Bier. Ich erinnere mich nicht mehr genau, ob ich ein Schlafmittel in sein Bierglas geschüttet habe oder doch nicht. Ich zeigte Arjun die Badewanne voll warmem, flüssigem Honig. Er stieg hinein, ich streichelte seine Wangen und küsste ihn. Er lächelte und nickte ein. Ich ging nach oben, um noch ein Glas Bier für ihn zu holen. Als ich zurückkam, war sein Kopf bereits im goldenen Honig versunken. Ich bewunderte ihn verliebt, konnte mich nicht satt an ihm sehen und sang leise die letzte Arie aus der Oper Salome von Richard Strauss: „Jochanan, ich habe deinen Mund geküsst …“ Der Honig erkaltete, und Arjun mellifizierte (so heißt es wohl). Lecker sah er aus, eingelegt wie die süßen Feigen meiner Kinderzeit, die Onkel Osimic´ gelegentlich aus dem Balkan mitbrachte. Ich zuckte die Achseln und ließ Arjun eine Woche in der Wanne im Keller liegen, damit der Honig richtig einziehen konnte. Devonn, Sonntagabend. Mein Freund Conradin macht mir Sorgen. Er wirkt angespannt und rastlos. Ich habe auch beobachtet, wie er Proben vom Gletscher am Piz Drisch, aus dem Scaldegn und anderen Rinnsalen und Bächen nimmt und immer den Kopf schüttelt. Er hat mir neulich erzählt, dass die weiße Eisoberfläche des Gletschers, die Albedo, durch vom Wind aus der ganzen Welt angewehtem Russ und anderen Verunreinigungen der Luft schwarz geworden ist. Er hat erklärt, dass dadurch der Gletscher mehr Sonnenwärme aufnehmen und deshalb schneller abschmelzen kann. Auch habe er viele neue Gletschermühlen gefunden, wo das Wasser im Strudel abfließt und den Gletscher zum unaufhaltsamen Rutschen und Abfließen bringt. Ich traf Conradin und seinen gealterten Vater Sigi, der immer mehr einer knorrigen Arve gleicht. Conradin beklagte sich, dass im Dorf niemand außer seinem Vater, Pfarrer Vonmoos, Margret Prevost und Kollegger Respekt vor dem ewigen Eis haben. In den Anden habe er gesehen, wie Menschen einen Gletscher, den Wasserspender, als Gottheit verehren und singend Wallfahrten zu ihm machen und Opfergaben ablegen und von seinem Eis kleine Stückchen wie eine Hostie in den Mund nehmen! Conradin hat der Regierung in Chur auch Vorschläge gemacht, wie man die Gletscher retten könnte; mit Folien, die man im Sommer wie Leichentücher darüberbreitet. Einige Politiker nehmen ihn mittlerweile ernst. Aber im Dorf macht man sich über ihn lustig. Doch Conradin kämpft weiter. Nur seine schmale Nase ist mit den Jahren scharf geworden, die Haut noch durchsichtiger und sein Haar dünn, im Gegenlicht wie flüssiges Gold und seine Augen haben jetzt einen fanatischen kalten Glanz. Conradin, Kollegger und ich fuhren gestern, Samstagabend, zu dritt ins Kino im Nachbardorf. Ich saß wieder einmal zwischen den beiden. Wir sahen uns Schnee am Kilimandscharo an, die Verfilmung von Hemingways berühmten Roman. Ich bewundere den schneidigen Gregory Peck schon seit Jahren. Im Film ist mein Lieblingsschauspieler, als Schriftsteller Harry Street, in eine aussichtslose Situation geraten. Er liegt in Afrika, nahe dem Gipfel des Kilimandscharo, in einem Zelt, mit einer Blutvergiftung, hat bereits Wundbrand am Bein und weit und breit ist kein Arzt, der ihn versorgen könnte. Er ahnt, dass der Tod bereits ums Zelt schleicht. Aber noch mehr als die Schmerzen plagen ihn beißende Selbstzweifel und die Scham darüber, was er in seinem Leben nicht erreicht hat. Ich weinte, weil er trotz der Einsicht, sein Leben oberflächlich gelebt und sein Talent vertan zu haben, sterben muss und keine letzte Chance bekommt. Ich schluchzte. Kollegger drückte meine linke Hand, um mich zu trösten. Conradin bemerkte es und legte nach einem langen, starren Seitenblick auf Aurel seine linke Hand auf meine Rechte und reichte mir ein Papiertaschentuch. Auf dem Nachhauseweg kauften wir Vanilleeis, denn es war unerträglich heiß im Kino. Conradin hatte schlechte Laune. Er zischte: „Ein Mann zwischen zwei Frauen. Etwas Besseres ist Hemingway nicht eingefallen. Harrys zweite Frau, Helen, hätte ihren Mann längst verlassen müssen, denn der Held sieht in ihr nur die Ähnlichkeit mit seiner verstorbenen großen Liebe. Helen, die ihn aufopfernd pflegt, bedeutet ihm gar nichts! Übrigens gleicht Gregory Peck dem Inder, der in Devonn gefilmt hat und den du, Diaula, so sehr bewundert hast! Ameisenscharen von neugierigen Touristen werden wohl den Ort besuchen, wo dein Schwarm mit Ava Gardner gefIlmt hat, den Berg entheiligen und verschmutzen. Niemanden kümmert es, dass die Eiskappe des Kilimandscharo jedes Jahr mehr dahinschmilzt!“ Conradin hatte meine Hand immer noch nicht losgelassen „Das Fesselndste am Film ist wohl das Gerippe des Leoparden im Firn“, fuhr er nach einigem Nachdenken fort. „Etwas geheimnisvoll Gefährliches, Wildes und Schnelles hat Hemingway in Gipfelnähe auf Eis gelegt. Was will er damit sagen? Was lässt er kurz vor dem Gipfel scheitern und im Eis einfrieren? Seine eigene oder Harrys Männlichkeit? Seine Schöpferkraft oder seine Hoffnung?“ Kollegger hatte den Film anders gesehen: „Der Held sieht sein verpfuschtes Leben ein. Er hat es vertrödelt und vertändelt. Tun wir das vielleicht auch? Tun aus Eitelkeit oder aus Trägheit nicht, was wir eigentlich tun wollen?“ Ich nickte, und Kollegger fuhr fort: „Harry hätte alle Möglichkeiten gehabt … Plötzlich war es zu spät. Seine längst verstorbene Frau, die er sehr geliebt hatte, erscheint ihm und wird zum Todesengel.“ Eiscreme schleckend, stumm, verstimmt und jeder in eigene Gedanken versunken, machten wir uns auf den Heimweg nach Devonn. Bevor wir uns trennten, vertraute mir Kollegger an, dass er morgen Wittgenstein und seinen feinen Gast, den Herrn Tesla aus Amerika, nach Crap Son Gieri begleiten werde. Margret hatte mich neulich fliegen sehen, als sie wieder in der Mulatsch-Wand mit Touristen kletterte. (Am Piz Mulatsch gibt es eine Steilwand, der Morgensonne zugewandt, die nicht besonders hoch ist. Hier erproben die Touristen gerne ihre Klettertauglichkeit.) Wir haben uns zugewinkt und uns nach dem Anbruch der Dunkelheit in der Crousch alva getroffen. Wir unterhielten uns lange über unsere Ziele im Leben. Ich will immer wegfliegen, nach oben, um Luft und Freiheit zu haben, sie will sich an den Berg klammern, mit dem Berg eins sein. Aber sie versteht meine Sucht nach dem Fliegen. Ich habe Margret Prevost nach Hause eingeladen. Nach ein paar Gläsern Rotwein sind wir mit der Flasche in den Keller gestiegen und ich habe ihr Arjun in der Badewanne im Honig gezeigt. Sie war nicht besonders erstaunt: „Ich habe auch einige seiner Filme im Kino gesehen. Ein gut aussehender Mann. Auf der Leinwand aber immer derselbe Held, dieselben Tricks, kein besonders guter Schauspieler, nicht mein Typ!“ „Aber meiner! Ich bin verrückt nach ihm! Doch ich vermag ihn nur so, im Honig, lieben, sonst hätte er mich schnell aufgefressen, das heißt, er hätte mich am nächsten Morgen für immer verlassen und sich später wohl kaum an mich erinnert“, gestehe ich. „Jetzt kann ich mir einbilden, dass er, Arjun, meine fehlende Hälfte ist (im Sinne Platons), die ich immer gesucht habe. Aber erst die Distanz – die Süße und Klebrigkeit des Honigs – macht ihn vollkommen. Ich schaue ihn stundenlang an, erinnere mich an unser erotisches Abenteuer und baue es in meinem Kopf immer weiter aus. So gehört er nur mir und ich kann ihn zur Liebe meines Lebens machen.“ Margret seufzte und schenkte sich noch ein weiteres Glas Roten ein „Ich hätte mich selber in Honig einlegen sollen, als ich in den Zwanzigern war, hübsch, wild und begehrt“, seufzte sie. „Jetzt ist es zu spät. Mein Haar ist schon angegraut und müde. Ich habe bereits Runzeln im Gesicht, und Gelenkrheuma hindert mich und schmerzt oft beim Klettern, ich kann nicht mehr so gut greifen wie früher, aber ich kann und will das Bergsteigen nicht aufgeben!“ Margret half mir, Arjun in Tarisios großen Basskasten zu setzen, wo er gerade hineinpasste. Ich küsste seine Honiglippen, verschloss den Kasten mit einem kleinen Schlüssel, den ich in einer Salzdose versteckte. Dann gingen wir wieder nach oben ins Wohnzimmer. Ich öffnete eine zweite Flasche Roten. Margret zog den Stuhl näher heran und gab mir flüsternd ihr neues Geheimnis preis: Sie hat das Freihängen und Baumeln ohne Sicherung an überhängenden Felsen entdeckt, es erst heimlich mit Haken und Seil an Bäumen geübt, sich an einen Ast gehängt und gebaumelt wie ein Apfel an einem Zweig. Dann hat sie es gewagt, sich einfach nur mit Fuß, Zehen oder Ferse am Ast einzuhaken, um kopfüber zu hängen, genauso wie wir als Kinder an der Teppichstange geturnt haben. Auf der nächsten Klettertour hat sie es an einem überhängenden Fels beim Freiklettern versucht. Sie erzählte, dass sie sich manchmal nur mit den Schuhspitzen oder den Fersen an einem Felsen oder an einem dicken Eiszapfen festhakt und in den Himmel starrt, stundenlang. Vögel fliegen vorbei, auf Felsbändern klettern Gämsen. Margret kann ihre scharfe Ausdünstung riechen. Wenn es regnet, spürt sie wie Wasser in kleinen Bächen über ihren Rücken und den Fels läuft. Sie ist vollständig schwindelfrei „Es ist meine neue Freiheit, das Freihängen am Felsen“, flüsterte sie und hielt ihr glühendes Gesicht über das Weinglas. „Es ist ein wunderschönes Gefühl, wie eine Fledermaus stundenlang kopfüber zu hängen! Allein mit dem Berg zu sein! Manchmal landen Vögel auf mir. Einmal war es sogar ein Jungadler. Oft hänge ich in Wind und Wetter und schlafe dabei ein, auch wenn es schneit, obwohl ich weiß, dass ein starker Windstoß oder Steinschlag mich jederzeit in die Tiefe fegen kann. Ich weiß, dass ich damit das Schicksal herausfordere!“ Wir waren eine Weile still. Beide haben wir einen neuen Wegabschnitt in unseren Leben eingeleitet. Sie, zwischen Fels und Abgrund im Wind hängend, ich, verliebt, im Keller mit dem in Bienenhonig eingemachten Arjun. Beide suchen wir eine Art Freiheit, die wohl ein momentanes, aber sehr, sehr prekäres Gleichgewicht verspricht. Später, nachdem Margret weg war, rollte ich Arjun im Basskasten in den Vorratskeller, wo Konservengläser in Reih und Glied in den Regalen stehen und es schön frisch ist. Jetzt wird der schöne Arjun mich nie verlassen, nicht altern, keinen Waschbärbauch bekommen und keinen Haarausfall. Er wird auch kein Zyniker werden, und ich kann ihn lieben für den Rest meiner Tage. Ich saß lange bei ihm, trank den Rotwein leer und trällerte:
Dann verriegelte ich die Kellertür und ging nach oben. Die gatrika Subhadras ziehe ich jede Nacht an. Die zehn Namen Arjunas, die sie auf die Bluse gestickt hatte, die nach der Sage jeden und jede beschützen, der sie aufsagt, werden auch mich beschützen. Ich kann sie auswendig. Sie werden sich mit den Jahren auf meiner Haut einprägen und wie dunkelbraune Tattoos aussehen. Von Zeit zu Zeit werde ich den Bassgeigenkasten öffnen, mit meiner Hand durch Arjuns wirre Locken fahren und ihn auf seinen honigsüßen, schön geschwungenen Mund küssen. Devonn, Tage später. Auf der Bank bei der Kirche saß heute eine verhärmte Frau mit dünnen schwarzen Lippen und eingefallenen Wangen. Sie trug ein schwarzes langes Kleid „Hier hat wohl mein Bruder immer gesessen, wenn er Devonn besuchte“, redete sie mich an, reichte mir aber nicht die Hand. „Ich bin Regula Keller, die Schwester Gottfrieds. Ich wollte mit Ihnen sprechen. Ich habe mein ganzes Leben lang für meinen Bruder gekocht und geputzt, gewaschen und gebügelt und Hemdkragen gestärkt und war auch seine Schreibhilfe. Ich habe die endlos vielen Schreibfehler in seinen Texten korrigiert. Von Rechtschreibung hatte er keine Ahnung! Er ist berühmt geworden. Mich aber hat er in keinem Buch, in keiner Ansprache je erwähnt, mit keinem einzigen Wort, mich nie irgendwohin mitgenommen. Er hat auch nie ‚Danke‘ gesagt. Er war meist zänkisch, mürrisch und distanziert. Ich war nur seine Schwester, eine Frau, eine Dienstbotin. Ich hätte so gerne Französisch gelernt und Musik gemacht – ich hätte gerne Akkordeon spielen gelernt –, aber der Haushalt meines Bruders ließ mir keine Zeit dazu, und für Musikstunden und für die Anschaffung einer Handharmonika wollte Gottfried kein Geld ausgeben. Ich habe jetzt, im Alter, weder den Mut noch die Kraft, etwas Neues anzufangen! Ich möchte, dass Sie wissen, dass es auch mich gegeben hat.“
In einem Artikel in der Bündner Zeitung habe ich einiges über das bucklige Männlein erfahren. Es hat die Gesellschaft Rechte für den neuen Menschen gegründet, abgekürzt RnM, und beschützt Frauen, die genmanipulierte Monsterkinder zur Welt gebracht haben. (Monsterkinder nenne ich die Kinder mit Wüstenfuchsohren, Flossen, Libellenflügeln und Makiaugen und all die anderen Versuchskinder Huggentoblers. Manche haben braune Insektenpanzer, sind halb Mensch, halb Tier, mit Schwänzen, Schnurrbärten, Rüsseln und langen Fortsätzen am Kopf. Frocin, der Zwerg, gibt ihnen juridische Ratschläge und vertritt die von ihren Müttern verhätschelten Wesen.) Die ganze Bewegung, so hörte ich, hat schon vor fast dreißig Jahren angefangen, mit Sammlungen in großem Stil gegen das Aussterben vieler Tierarten – besonders Eisbären, Tigern und Nashörnern. Gefährdeten Arten sollen neue, passende Gene verpasst werden, zum Beispiel dem Eisbären, um ihm im Kampf gegen das Abschmelzen des Polareises bessere Überlebens-chancen zu geben. Deshalb wurden zahlreiche Genbanken angelegt. Ein großartiger Gedanke, der aber üble Folgen hatte! Als es bei Teenagern in Japan Mode wurde, sich Öhrchen aus Pelz ins Haar zu setzen, wollten manche bald richtige Hasen- oder Lammohren haben. Heini Bindschädler witterte das große Geschäft, und Huggentobler züchtete Lammohren, Hundeschwänze und dergleichen in vitro in seinem Labor, Professor Marc Béranger pfropfte, operierte die Jugendlichen und auch Kleinkinder, fast so, wie man Obstbäume veredelt. Das war aber damals noch gar nicht so einfach, da sich anfangs Operate verschoben oder vom eigenen Gewebe abgestoßen wurden oder andere Komplikationen auftraten. Doch Huggentobler und seine Mitarbeiter fanden bald neue und revolutionierende wissenschaftliche Lösungen, denn ein paar Jahre später setzten Frauen, die von Huggentobler behandelt worden waren, Kinder mit niedlichen Schnäuzchen und Katzenschnurrbärten oder Hundeohren auf die Welt. Sie wurden der Hit bei jungen Müttern. „Alois Huggentobler und Béranger Brechbühl haben krankhafte kreative Visionen und wahnsinnige Ideen“, erzählte mir Conradin entsetzt beim Wein. „Und der gerissene Bindschädler findet Geld dafür und ebnet ihnen alle Wege. Sie verbessern das Menschen-Genom mithilfe einer Genschere, womit unerwünschte Teile herausgeschnitten und durch bessere – von Menschen, Tieren oder Pflanzen – ersetzt werden. Mengia“, so Conradin, „hat mir davon erzählt und mir eines Tages stolz eröffnet, dass es von der Gebärmutter einer Frau zur Retorte heute kein großer Schritt mehr ist und nur noch eine Frage der Zeit, bis auch Embryonen vollständig in der Petrischale heranwachsen können. Es soll schon immer Huggentoblers Traum gewesen sein, andro-zoische Wesen zu schaffen. Es ist ihm und seinem Team bereits gelungen!“ Arjun im Honig und all diesen gruseligen, sicher wohl übertriebenden Geschichten wegen, die ich von Conradin gehört habe, vergaß ich beinahe die Ankunft meines Mentors. Hochwürden Pierre Teilhard de Chardin ist heute angekommen und hat ein Zimmer im alten Kapunzinerhospiz bezogen, das immer noch als Pfarrhaus dient. Wir wollten uns eine Stunde später auf der Bank neben der Kirche treffen. Er war pünktlich. Vor mir stand ein älterer, großer und schlanker Herr mit langem Gesicht, braunen Augen und scharfem Blick, einer eher gebogenen Nase. Er hat ruhige, abgemessene Gesten. Er ist ungefähr so, wie man sich einen weit herumgekommenen, weisen Jesuitenprofessor auch vorstellt. Er spricht ein sehr wohlklingendes, gepflegtes Französisch. Ich überfiel ihn mit Fragen. Ich will das Dorf und auch mich selbst besser verstehen und endlich meinem Leben eine Richtung geben, denn ich bin vor lauter Fliegen und Vogelperspektive völlig durch den Wind. Auch bei mir kann ich eine Verschiebung, eine Verzettelung von ethischen Werten feststellen. Eigentlich möchte ich an vielem festhalten, wie am einfachen Leben und vor allem an der Nachhaltigkeit von Beziehungen. Ich möchte eigentlich immer noch entrümpeln und nur das Gute, Schöne und Notwendige behalten, aber wer sagt mir, was wirklich das Gute ist? Mir sind die Fronten im Kampf gegen das Böse und Schlechte, der hier hinter der eindrücklichen Alpenfassade stattfindet, nicht mehr klar. Ich verstehe nur, dass es um Erhaltung gegen Erneuerung, um Nachhaltigkeit gegen Verschwendung und Ausbeutung von Mensch und Natur geht, aber auch um den Einzelnen, der sich von jeglichem Zwang der Gesellschaft befreien will. Wie Großvater, Padrutt und Conradin möchte ich die Natur der Alpen schützen, so wie ich sie liebe und kenne, bin aber im Grunde keine Gegnerin Huggentoblers und seiner Forschung. Ich zweifle nur und schaffe es nicht, Stellung zu beziehen, komme nicht weiter. Ich erzählte Teilhard von Pater à Porta, von Großvater und vom Valsass. Ich beschrieb ihm auch Padrutts Projekt, das Pure Land auf Prada persa. Mein Mentor schien ganz besonders daran interessiert zu sein und stellte viele Fragen. Ich hingegen wollte wissen, wie ich mit Conradin, dem Fanatiker, am besten umgehe; ihm, der nur Gut und Böse und keine Grautöne dazwischen kennt. Ich erzählte Hochwürden von meiner Tochter Meret und von meinem Ex, dem Vulkanforscher Atli Gudmundursson, vom Apotheker Hitsch Zgraggen, Calonder, Wilhelm Tell, Margret Prevost und Kollegger, von den Leuten, die im Dorf wohnen und mit denen ich zu tun habe. Ich suchte auch Rat, wie ich mich zum buckligen Männlein verhalten soll und berichtete von meinen Begegnungen mit Gottfried Keller, Mao, Parmenides und Wittgenstein. Ich gestehe Teilhard auch, dass ich die wild strömende und schäumende Zeit, das wilde Untier, nicht steuern und die Langeweile, die mich immer wieder würgt, nicht mehr besänftigen kann. Zu alledem sind mit der Zeit auch meine Angst und meine Abscheu vor dem Müll, dem Atommüll und dem schnell wachsenden Cybermüll gewachsen. Mein Mentor hört sich alles ganz genau an (Ich verschweige Hochwürden vorläufig einige wichtige Dinge, die mir sehr nahegehen: Die Anwesenheit des Löwen Felix und meine Fliegerei, die mir manchmal selber lästig wird. Auch die Geschichte von Arjun, der jetzt im Basskasten in Honig eingelegt ist, behalte ich lieber für mich, sowie das Faktum, das Kollegger über Wasser gehen kann. Auch die Anwesenheit Ches und Tamara Bunkes, meine Eifersucht, sowie das Waffenlager der Guerillos in der alten Mühle bleiben mein Geheimnis. Ich will abwarten.) Teilhard hatte Kopfschmerzen von der Luftveränderung. Er wollte deswegen heute nur im Dorf spazieren gehen, um sich ein erstes Bild von der Lage zu machen. Oberhalb Sbloc, im Wald mit Kollegger. An einem milden Spätsommertag wie diesem, ergreift mich immer wieder eine heftige Lust auf Bleiben und auf das Einbringen der Ernte: Ich pflückte im Wald zusammen mit Kollegger Himbeeren, Blaubeeren und Brombeeren und kochte tagelang Marmelade. Das ganze Haus duftete davon. Ich kellerte Karotten, Kartoffeln und Kohl ein, wickelte kleine Gurken in Blätter des schwarzen Johannisbeerbuschs und legte sie mit Salz, Pfefferkörnern und Dill in Essig ein, pflückte große Sträuße Johanniskraut und hing sie zum Trocknen auf dem Estrich auf. Ich nahm mir vor, nach den ersten Frosttagen auch aus Vogelbeeren Marmelade zu machen, eine Spitzendecke zu häkeln und Schals für den Winter zu stricken. Es ist, als ob Arjun im Honig in mir eine neue Häuslichkeit geweckt hätte. Ich bin glücklich. Kollegger erzählte mir beim Beerenpflücken vom Ingenieur Nikola Tesla, dem Besuch Wittgensteins: „Ich habe die beiden begleitet, denn die Herren kennen sich am Berg nicht aus. Tesla schlug vor, auf den Gipfel des Berantschun zu steigen, der elektromagnetischen Funken wegen, aber Wittgenstein wollte nur nach Crap Son Gieri und dort bivakieren und die Sterne betrachten. Das Zelteaufschlagen haben sie mir überlassen. Wittgenstein hat am Lagerfeuer Klarinette gespielt. Die Herren sind bis tief in die Nacht, beide in Decken gehüllt, auf dem großen Stein gesessen, haben Tee getrunken, philosophiert und Tesla hat behauptet, dass man nicht nur aus Wasser, Erde, Wind und Sonne Energie erzeugen kann, sondern direkt aus dem Universum die beste aller Energien abzapfen könne. Er sei schon dabei, Techniken zu entwickeln, diese unerschöpfliche und saubere Kraft für jedermann nutzbar zu machen und hoffte, die Amerikaner werden ihm dabei keine Steine in den Weg legen! Die Freunde haben auch lange über die Schönheit mathematischer Formeln gesprochen. Beide Sonderlinge haben ihre eigenen Einer-Zelte mitgebracht. Erst gegen drei sind sie in ihre Schlafsäcke gekrochen. Es war eine sternklare, aber milde Spätsommernacht. Ich schlief zwischen den Zelten. Mitten in der Nacht ist Wittgenstein aufgestanden und hat auch mich geweckt, weil er durch die Geräusche der Bergnacht – Wind, rollende Steine und Geraschel – nicht schlafen konnte und ihm Ideen durch den Kopf geflogen sind, die er sofort zu Papier bringen wollte. Ich musste ihm mit der Taschenlampe leuchten. „Wittgenstein, die Dramaqueen“, so erzählte Kollegger noch, „sinniert genau wie du, Diaula, über die Zeit nach und die Gefahr, seiner Zeit verfallen zu sein. Von den beiden wird man noch viel hören“, meinte Kollegger lakonisch. „Aber das Zelten am Berg ist nicht ganz ihre Sache!“ Devonn, in der Crousch alva. Eines Morgens früh, nach einem Rundgang durchs Dorf, wanderte ich dem Oberdorf, dem Sporthotel zu. Tief unten im Tal lag Nebel, aber hier oben am Hang war der Himmel klar. Auf einem Felsvorsprung stand ein eleganter, altmodisch gekleideter Fremder und blickte ins Nebelmeer. Sein schwarzer Rock war auf Taille geschnitten und er hatte einen wirren blonden Lockenkopf, im Nacken sehr kurz geschnitten. Ich kannte ihn von irgendwoher. Er hielt einen Zeichenblock in der Hand und skizzierte die Ruine von Radons, die in der Ferne aus dem Nebel ragte. Ich trat näher. War er nicht der Maler Caspar David Friedrich? Er wandte sich nicht um, als er mich bemerkte. „Menschen sind so klein und unbedeutend. Großartig aber ist die Tragik der Landschaft“, sagte er zu sich selbst. „Weit ausgreifende Himmel, Sturm, Nebel, Wald und Ruinen, am liebsten gotische Ruinen und abgestorbene Bäume, Schluchten und Abgründe, Kreuze in den Bergen. So stürmisch und kaputt sieht es auch drinnen in uns Menschen aus. Der Nebel hier gibt ein starkes Motiv für mein nächstes Bild!“ „Entschuldigen Sie bitte, aber ich sehe die Berge anders“, antwortete ich ihm. Er drehte sich fast erschrocken zu mir um, als ich sagte: „Ich liebe das ungebrochene Licht der Hochgebirgswelt, das alle Formen herausmeißelt. Die Farben sind dort oben auch viel intensiver, weil sie mehr Licht und Luft haben. Deshalb mag ich die Bilder von Giovanni Segantini, der Felsen und Landschaften wie lebend malen konnte. Man fühlt in seinen Bildern geradezu die Temperatur, den Luftdruck und den Wind und hört Töne und Stimmen. Der Italiener hat ganz in der Nähe gewohnt mit seiner großen Kinderschar! Er hat verstanden, dass man beim Mischen auf der Palette weder Licht noch Luft in die Farbe bekommt. Er fing an, einzelne Farben in kleinen Streifen nebeneinanderzusetzen. Erst die Netzhaut, wenn man ein Bild aus gewisser Entfernung betrachtet, mischt die Farben. So entstanden Segantinis Landschaftsträume, die Verdichtungungen der Landschaft sind. Kandinsky sagte von Segantini, dass er Steine und andere besondere Einzelheiten so genau malt, dass sie immateriell, geistig werden.“
„Sehen Sie denn in sich und in Ihren zahlreichen Winterbildern nur Totenstarre? Nur Eiszapfen, Schneewehen und gefrorene Hoffnung? Gibt es kein Blühen, kein Werden-Sein-Vergehen in Ihrer Kunst, keinen Kreislauf der Natur? Warum lieben Sie nur Ruinen, bereits Zerbrochenenes, Zerstörtes und Eingefrorenes, nicht mehr Brauchbares? Die Liebe zur Ruine ist eine krankhafte Vorliebe von euch Romantikern! Aber unsere Zeit geht ja noch viel weiter – nicht nur die Ästhetik des Zerstörten, Hässlichen, Zufälligen und Verkommenen sind Mode geworden, viele gegenwärtige Künstler preisen sogar die Schönheit des Mülls! Sie sprechen von der Tragik der Landschaft? Herr Friedrich, es gibt keine tragische Landschaft an sich, insofern sie nicht von Menschen vergewaltigt und zerstört worden ist! Im Hochgebirge jedoch gibt es noch unberührte, erhabene Landschaften, die, unabhänging vom Menschen, noch von der Kraft der Natur zeugen. Wirklich tragische Landschaften aber habe ich in Ihrer Heimat, in Deutschland, gesehen.“
Devonn, zu Hause am Fenster. An den Wochenenden kommt Unruhe ins wieder verschlafene Devonn. Das Sporthotel ist voll von mit Kameras bewaffneten Touristen. Das Beobachten und Fotografieren von Wolken ist seit einiger Zeit ein modischer Zeitvertreib und ein einträglicher Tourismuszweig geworden. Die Wolkenbeobachter sind die Ästheten des Augenblicks: Nichts dauert, denn es ist geschaffen vom Wind, der alles auflöst, verweht und vor sich hintreibt. Wolken, die wie wilde Hunde aussehen, verwandeln sich im Nu in abgemagerte Katzen ohne Köpfe, ballen sich zu massigen Riesen mit grotesken Mäulern zusammen, türmen sich zu Burgen und lösen sich in Fetzen auf. Nichts ist logisch, nichts ist wichtig und nichts bleibt. Die Kulturseiten der Tageszeitungen und der Frauenzeitschriften sind seit Monaten voll von Reportagen über Wolkenformationen. Es gibt Seminare und Wolken-Wettbewerbe. Wolken und Stimmungen am Himmel werden fotografiert und gefilmt. Teilhard beobachtet das Treiben der Wolken-Beobachter und schüttelt missbilligend den Kopf. Sie stolpern durchs Dorf mit dem Blick in den Himmel, durch regennasse Wiesen in ihren Regenmänteln und -Hüten, in den Himmel glotzend wie Hans Guck-in-die-Luft. Die Wolkenschauer, Männer wie Frauen, haben meist langes ungepflegtes Haar, Ohrstecker und viele Tattoos, alte Sportschuhe und zerrissene Jeans. Sie fotografieren die Schäfchenwolken (Altocumulus), die Cirrus-Wolken und die Regenwolken mit dem finsteren Namen Nimbostratus. Sie essen meist vegetarisch oder vegan. Sie haben keine bleibenden Ziele, wollen nichts Besonderes schaffen. Sie haben keine konkreten Vorstellungen, wie sie die Natur schützen könnten. Das Einzige, was sie tun, ist Grün oder die Linke wählen und Müll trennen: Papier brav in die Papiertonne, die vielen Essensreste in die Bio-Tonne. Die Wolkenbeobachter glauben, dass sie fortschrittlich sind und links stehen. Sie scheren sich nur um die Wolken. Man klärte mich darüber auf, dass die Philosophie der Wolkenbeobachter auf den Philosophen Heraklit zurückgeht: alles ist im Fluss. Ja klar! Dann gibt es keine Gefahr, rechts- oder linksextrem zu werden. Man kann alles übersehen, beide Augen zudrücken, wenn es um Missstände in der Gesellschaft geht, konform alles tolerieren, weil es irgendwann einmal doch noch vorübergeht. Schlappheit und Feigheit sind neben Einfallslosigkeit modisch und zu Kardinaltugenden erhoben worden. Der Bauer Arpagaus wurde gestern stinkwütend, als eine Gruppe Wolkenbeobachter seine Kühe störten und hohes Gras zertrampelten. Er hatte einen großen Stein am Berg ausgesucht und auf die Fremden hinabrollen lassen. Der Stein hatte eine junge Frau getroffen. Sie wurde ins Krankenhaus eingeliefert. Arpagaus ist angezeigt worden „Jetzt heißt es natürlich, dass die Bewohner von Devonn fremdenfeindlich sind!“, folgert Hedwig Tell. Auf Crap Son Gieri, allein beim kleinen Gletscher. Die auswärtige Presse ist mittlerweile oft in Devonn und schreibt lange Berichte über die Klinik. Huggentoblers Studienfreund, der hochbegabte Chirurg Béranger Brechbühl aus Lausanne, ist seit Studienzeiten sein engster Mitarbeiter. Mengia steht dem Labor vor „Das Team hat sich der Forschung von Genen und deren Verbesserung verschrieben“, las ich in einer Zeitung: „Der Jurist Heini Bindschädler löst alle organisatorischen und ökonomischen Fragen. Das gut eingespielte Quartett ist ein effizientes, mit allen Wassern gewaschenes und gefürchtetes Team“, heißt es. „Huggentobler hat schon viele Versuche mit seiner Genschere aus Scharlachbakterien gemacht. Diese Genschere ermöglicht ihm, Moleküle mit anderen zu ersetzen.“ (Die erst Jahre später als CRISPR/Cas9 von anderen Forschern offiziell erfunden wurde, Randannmerkung von Meret Atlisdottir, 2030) Das Ganze fing zwar vor knapp dreizehn Jahren mit einem Skandal an: Huggentobler behandelte eine reiche Churerin und machte irgendeinen Fehler, jedenfalls hat sie ein Kind mit Katzenschwanz geboren. Man hörte in der ganzen Welt entsetzt davon, aber die Idee machte trotzdem Furore. Viele Frauen meldeten sich bei Huggentobler als Versuchskaninchen an. Sie waren bereit zu neuen Experimenten. Heute arbeitet das Team präzise; ist erfolgreich und berühmt.“ Was nicht in der Zeitung steht, aber in Devonn allgemein bekannt ist: Der schweizerisch-amerikanische Finanzriese Benjamin Weissensee-Eggimann witterte schon vor Jahren Milliarden-Gewinne und stellte großzügig Mittel für Forschung, Technik, Reklame und Meinungsbildung zur Verfügung. Dr. jur. Heini Bindschädler schmierte auch Politiker und machte das Land von Huggentoblers großen Projekten abhängig. Die Bevölkerung von Devonn war jahrelang sehr zurückhaltend und kritisch, weil Alois kein gebürtiger Bündner ist. Die Männer im Dorf grüßten ihn kaum, wenn sie ihm begegneten. Allem Auswärtigen steht man ja hier aus Prinzip feindselig gegenüber. Wenn es aber um Geld geht, um viel Geld, ist auch das Dorf Devonn (wie wir es seit Friedrich Dürrenmatt auch von einem anderen Schweizer Dorf, von Güllen, wissen) irgendwann dann doch dabei, grüßt und buckelt, spielt mit und balgt sich um die Krumen. Der zweite Sonntag im September dieses Jahres ist ein Tag, der uns allen noch lange in Erinnerung bleiben wird als ein Tag, an dem nicht nur ein kalter Nordwind blies und an Bäumen und Haaren zerrte: das bucklige Männlein Frocin hat an diesem Sonntagmorgen einen handgeschriebenen Zettel mit zehn Thesen ans Kirchentor von Devonn genagelt. Hält es sich für Martin Luther? Der Gnom behauptet, dass nur Menschen mit verbessertem Erbgut die Zukunft der Menschheit und ihrer Kultur sein können. Frocin verlangt, dass das Zeugen von Nachkommen nicht mehr der Natur überlassen werden darf; alles soll vernünftig und wissenschaftlich geplant und ausgeführt werden. Die schlampige Methode von Mann und Frau, ein Kind zu zeugen, sei heutzutage nicht mehr tragbar. Frauen sollten sich kontrollierte und verbesserte Spermien in ihre kontrollierten und verbesserten Eizellen injizieren lassen oder gar eine Ersatzmutter ihre Kinder austragen lassen und weiterhin die Pille nehmen. Der verbesserte Nachwuchs hätte große Chancen, kommende Klimakatastrophen zu überleben. Die Kirchenbesucher drängten sich alle aufgeregt und hilflos um die Pforte und auf dem Friedhof zwischen den Gräbern bei den Rosenbüschen und diskutierten vor der Messe dafür und dagegen. Cagianut und Malär, zwei ewige Feinde, gerieten sich in die Haare und gingen mit zwei Grabkreuzen aufeinander los. (Cagianuts Vater hatte Malärs Onkel vor vielen Jahren bei einem Holzverkauf übers Ohr gehauen.) Der stille, feine Anwalt Liesch (der mit seiner Schwester Claudia in Chur unten eine gut gehende Kanzlei betreibt, die Vermögen der reichen Valsasser verwaltet und sonntags zu Hause in Devonn immer die Messe besucht), brachte die Kampfhähne mit ruhigem Zureden wieder auseinander. Pfarrer Vonmoos hielt an diesem Sonntag seine Predigt aus dem Stegreif und wetterte von der Kanzel über Menschen, die sich anmaßen, Gott zu spielen und sich in die Schöpfung einmischen. Als die Dorfbewohner aus der Messe kamen, flatterten als vorläufige Antwort Hunderte von roten Flugblättern im Wind, die zum Kampf gegen das Großkapital, die Verschleierung von Tatsachen sowie korrupte Dorfregenten aufriefen. Kommunist Wettstein und seine Genossen (?) haben wieder einmal im richtigen Moment zugeschlagen. Diesen Sonntag sollte auf kommunaler Ebene abgestimmt werden über den Bau eines Skilifts vom Dorf nach Cresta hinauf. Die Urne ist im neuen Schulhaus aufgestellt. Männer und Frauen, mit Kindern an der Hand (alle herausgeputzt, im Sonntagsstaat, kleine Jungen und Mädchen in zu engen Lackschuhen an der Hand), gingen nach dem Hochamt ins Stimmlokal und gaben ihre Stimme ab. Auch Johnny Cabalzar, in Frauenkleidern und einem Schwanz von Reportern, betrat das Schulhaus. Er ist also wieder in Devonn und macht Schlagzeilen. (Es wird gemunkelt, dass er ein paar Jahre lang Samenspender für die Klinik Huggentobler gewesen ist.) Es heißt in der Regenbogenpresse, dass er mit dreiunddreißig entdeckt hat, dass er eigentlich eine Frau ist. Es fing mit Spaß an. Er fing an, Röcke anzuziehen, sich zu schminken und sich für Mode zu interessieren. Ein paar Jahre später hat er sich in der Ukraine mehreren Operationen unterzogen. Johnny nennt sich jetzt Hanna, hat sein fettiges langes Haar gekürzt und trägt blondierte Locken. Er quält seine großen Füße in Schuhe mit hohen Absätzen. Er ist bereits in mehreren Reality-shows im Fernsehen aufgetreten, berühmt geworden als Hanna mit der Blume im Bauch. Yoga-Kurse gibt Hanna noch immer. Durch die Lotosblüte, die zweimal jährlich aus ihrem Bauchnabel sprießt, ist sie zu einer Art exotischer Heiligen geworden. Sie schreibt Bücher über ihren Geschlechterwandel, hält Vorträge, tritt auch als Sängerin und Schauspielerin auf und hat sich mit dem berühmten italienischen Modeschöpfer Massimo Marini angefreundet. Eines Tages hat sie ihn nach Devonn mitgebracht. Genauso wie Conradin, mache ich immer einen großen Bogen um die immer noch nach Patschuli und Pot riechende, oberflächliche Hanna Cabalzar. Bei Manchen scheint Hopfen und Malz verloren. In der Crousch alva. Ich suche Conradin. Ich muss auch mit ihm über Devonn sprechen. Er weiß viel mehr als ich über das Dorf und seine Bewohner, die bedächtig und verschlossen sind, langsam denken und lange abwarten, bevor sie handeln. Ich spreche kaum mit den Frauen, geschweige denn mit Männern des Dorfes über die Streitereien, die im Gange sind. Aber ich weiß, dass es in Devonn nicht nur um den technischen Fortschritt und die Ausbeutung und Vermarktung der Natur der Alpen, sondern auch um den Wandel von Weltanschauungen und ethischen Werten geht, und vor allem um viel, viel Geld. Conradin sieht das Böse in Gestalt von Huggentobler und seiner Forschung. Da kann ich nicht ganz mithalten. Ich weiß nicht, wie ich mich zu Devonn verhalten soll. Wegsehen wie eine Wolkenbeobachterin will ich nicht. Ich möchte das Richtige tun. Vor allem bin ich verwirrt und verzweifelt, vertraue eigentlich nur Kollegger und hoffe, Teilhard wird mich stützen und mir helfen, endlich Klarheit zu gewinnen. Mit Conradin ist es so eine Sache. Ich vermutete ja schon vor Jahren, dass mein Freund ein weißer Engel ist. Ich bin mir dessen nun fast sicher. Ich bin ihm neulich in die Kirche gefolgt. Er glaubte sich allein und wurde im Licht in der Kirche weiß und durchsichtig wie ein Engel und sein Haar glänzte wie Gold. Er stand vor dem Schrein des heiligen Georg und hielt Zwiesprache mit ihm; irgendeine heftige Auseinandersetzung. Ich konnte aus der Entfernung nicht richtig verstehen, in welcher Sprache er sich mit dem Heiligen stritt. War es vielleicht aramäisch? Bin ich hinter Conradins Geheimnis gekommen? Das könnte gefährlich werden. Oder habe ich mich wieder geirrt? Spielt mir die Innenwelt wieder einen Streich? Sollte ich mit Teilhard darüber sprechen oder Kollegger einweihen? Devonn, nach einer durchwachten Nacht, gegen Morgen. Ich lag diese Nacht lange wach. Das Dorf war still, man hörte nur den Wind um die Hausecken pusten. In einem Stall schrie eine kalbernde Kuh. Wittgenstein sagt im Tractatus ungefähr, dass die Welt das ist, was der Fall ist. Was ist denn der Fall? Würfel fallen und Blätter fallen von den Bäumen! Was fällt? Steuert vielleicht doch der Zu-fall unser Leben, willkürlich wie die Wolkengebilde? Was ist Zufall? Das Chaos – das wissen wir, seitdem die Fraktalen von Mandelbrot bekannt geworden sind – hat seine eigene Ordnung, seine sich wiederholenden Muster. Sind diese Muster vorbestimmt? Steuern sie auch mein Leben und nicht ich selber? Teilhard beteuert aber immer wieder, dass wir einen freien Willen haben! Was den Jesuiten Teilhard anbetrifft, vertraut er der Materie, sieht sie durchdrungen von göttlicher Gegenwart und zelebriert ihre Heiligkeit geradezu. Er ist sich sicher, dass Materie (zu der ja auch der Mensch gehört) und Geist sich immer weiterentwickeln, um im Endpunkt, im Punkt Omega, eins zu werden. Ganz so weit ist Spinoza nicht gegangen. Ich bewundere Teilhard, seinen Glauben, und dass er Gott in allem zu sehen vermag. Das Resultat der gestrigen Abstimmungen ist bekannt gegeben worden. Der Skilift nach Cresta darf nach mehr als zwanzig Jahren Verweigerung der Gemeinde endlich gebaut werden! Meine Untersuchungen im Dorf sind noch nicht beendet. Es gibt noch viel Neues zu entdecken. Nachts leuchtet das Gewächshaus Vandemeer de Boers gespenstisch violett. Ein Orchideenhaus in einem abgelegenen Alpendorf? Es muss einen gewichtigen Grund geben, warum der vielgereiste Holländer sich gerade hier verschanzt hat. Ich habe den seltsamen Kauz noch nicht getroffen, aber von Kollegger gehört, dass er einst ein berühmter Orchideen-Schmuggler gewesen ist. Es wird gemunkelt, dass er vor Jahren in Borneo, an den steilen Hängen des Kinabalu, eine wunderschöne Orchidee – eine Art Venusschuh mit betörendem Duft – gefunden hat, eine seltene Orchidee, die noch kaum jemand kannte, die er nun vermehren und teuer verkaufen wollte. Es heißt, er hätte die Pflanze mit Tesafilm an seinen Körper geklebt und versucht, damit durch den Zoll in Amsterdam zu kommen. (Der Schnurrbart-Venusschuh, ein naher Verwandter von Vandemeers Entdeckung, stand aber bereits auf CITES Appendix I. Die CITES, Convention of International Trade in Endangered Species of Wild Fauna and Flora, auch die Washington Convention genannt, ist eine ziemlich angefochtene, mafiaähnliche internationale Organisation mit Hauptsitz in Genf.) Vandemeer de Boer wurde erwischt, festgenommen, verurteilt und saß seine Strafe im Gefängnis ab. Aber wahrscheinlich besitzt er immer noch viele illegale Orchideen, hegt und pflegt sie, bringt sie zum Blühen und bestäubt sie mit einem kleinen Pinsel, lässt die Samenkapseln reifen, sät sie, päppelt sie auf und verkauft Ableger. Er hat keine Familie mehr, seine Frau mit zwei Kindern hat sich längst von ihm getrennt. Vandemeer empfängt oft Besucher von weit her. Wahrscheinlich sind es heimliche Käufer von seltenen Orchideen. Hedwig Tell hatte im Dorf herumerzählt, dass er letztes Jahr dem Modeschöpfer Massimo Marini Tausende von seltenen, im Dschungel fast ausgestorbenen Orchideen, so habe sie gehört, für die Schau seiner neuesten Pariser Kollektion geliefert habe. Über diese Orchideen stocherten Marinis Models mit spitzen hohen Absätzen. Es wurde wohl dagegen demonstriert, aber die Naturschützer sind von der Pariser Polizei mit Tränengas und Knüppeln vertrieben und zwei junge Leute schwer verletzt worden. Wieso hatte Vandemeer sein Gewächshaus in Devonn, einem Dorf am Ende der Welt aufgebaut? Will er sich verstecken und vor wem? Und falls er sich wirklich für die einheimischen, eher unscheinbaren Alpen-Orchideen interessiert? Das muss ich herausfinden! Ich besuchte den alten schrulligen Mann mit den schlauen blauen Augen. Sein dürrer, ausgemergelter Körper steckte in einem eleganten, teuren schwarzen Anzug, einem tadellos gebügelten weißen Hemd samt rot gestreifter Kravatte mit einer Diamantennadel in Form einer Orchidee. Er schlurfte in Schuhen von Ermenegildo Zegna voraus und führte mich in sein Gewächshaus wie in eine Kirche. Er ist sehr redegewandt. Ein vollendeter Gentleman. Er erzählte mir, dass Marcel Proust Orchideen die Prostituierten und Homosexuellen unter den Pflanzen genannt hat, ihrer in die Augen fallender Sexualität wegen. Orchideen haben ja besonders ihre Geschlechtswerkzeuge und ausgefallene Methoden entwickelt, um Insekten zur Bestäubung zu verführen. Vandemeer grinste: „John Ruskin, der Kunsthistoriker, der anscheinend sehr prüde war, nannte sie sogar unanständige Offenbarungen. Gewisse Orchideen werden auch als Aphrodisiakum benutzt, so wie das hier einheimische gefleckte Knabenkraut, das du warscheinlich kennst, die Dactylorhiza maculata!“ (Ich bekam einen roten Kopf, denn die Wurzeln dieser Orchidee hatte ich ja für die Salbe benutzt, mit der ich Arjun eingerieben habe.) „Viele Orchideen“, so weiß Vandemeer de Boer, „ziehen ihre Bestäuber mit betörenden Düften an. Denk nur an den Siegeszug der Vanille … Die Blumen versuchen auszusehen wie Schmetterlinge, Bienen oder Wespenweibchen, wie Nackttänzerinnen“, kicherte er. „Damit sie von Insektenmännchen begattet, das heißt pollutioniert werden. Orchideen haben wirklich eine komplizierte und intensive erotische Beziehung zu Insekten entwickelt. Es gibt aber auch Menschen, die verrückt sind nach Orchideen und einige, die für Orchideen sogar ihr Leben gelassen haben“, schloss der Alte seine kurze Einführung. Wir machten einen Rundgang im großen Gewächshaus. Es war stickig heiß und feucht wie im Dschungel, und überall baumelten vornehme Orchideenpflanzen mit exotischen Blüten in allen Farben. Manche dufteten schwer und verführerisch, andere wie ein unschuldiger Frühlingstag. Manche leichten Düfte erinnerten an Himbeeren, an Honig, Jasmin und an edle Hölzer wie Sandelholz. Schwere Düfte verströmten Unerkennbares und Berauschendes. Es sind gefährliche Pheromone, Agenten der sexuellen Anziehung und des Zwanges, sich zu paaren. Ich war wirklich in eine Märchenwelt geraten. Vandemeer ist ein Zauberer, der diesen Primadonnen und Exzentrikerinnen unter den Pflanzen verfallen ist. Er kam mir vor wie ein Insekt mit langen, zitternden Fühlern. Er zeigte mir, wie er mit seinem spindeldürren Zeigefinger die Blüten pollutioniert. Er schien erotischen Genuss dabei zu empfinden. Ich wurde verlegen. „Mein Schnurrbart-Venusschuh, den ich im Dschungel von Borneo gefunden hatte, mit seinen langen, gelb gefleckten Kronblättern“, klagte er, „wurde am Flughafen Schiphol konfisziert und verendete später in einem botanischen Institut in Holland, wo Orchideen nicht sachgemäß gepflegt werden. Ich konnte es aber nicht lassen und beschloss, irgendwo in den Schweizer Bergen eine neue Sammlung aufzubauen.“ (So ist es also! Er hofft wohl, der Arm der CITES reicht nicht bis nach Devonn.) Ich fragte den schlurfenden Alten, ob er auch die Orchideen der Alpen kennt. Er nickte vage, aber uninteressiert. „Es sind fast alles Bodenblüher“, meinte er, „sie sind, außer dem berühmten Frauenschuh, alle klein und eher unscheinbar.“ Ich fing an, ihn auszufragen, ob er das Zwergknabenkraut, die kleinste Orchidee der Alpen kenne. Ja, kannte er nur vom Hörensagen, hatte sie nie gesehen. Oder vielleicht die Godyera repens, die Moosorchis, mit ihren kleinen weißen Blüten oder die Grüne Hohlzunge, die Coelglossum viride, die hübschen Blüten, außen gelbgrün und innen braunrot? Vandemeer schüttelte verneinend den Kopf, musterte mich und hörte mit gerunzelter Stirne zu. Verdächtigte er mich, ein Spion irgendeiner lokalen Orchideen-Gesellschaft zu sein? Der Alte führte mich weiter und erzählte, dass er Wittgenstein angeheuert hat, täglich frühmorgens eine Stunde lang für die Pflanzen Klarinette zu spielen, damit sie Blüten treiben. Ich war erstaunt. Vandemeer schaute mich vorwurfsvoll von der Seite an und flüsterte: „Es geht nicht um die Musik, sondern um etwas im Klang der Klarinette Verborgenes! Und es handelt sich immerhin um den Philosophen Wittgenstein!“ Ich fragte weiter nach den kleinen Orchideen der Alpen. Er schien sie alle nicht zu kennen: Die Brandorchis, die so heißt, weil sie nach Verbranntem riecht und auf feuchten Magerwiesen anzutreffen ist oder die Einknolle, die Herminium monarchis, mit ihren breitlanzettlichen Blättern und kleinen, unansehnlichen, aber wohlriechenden Blüten in Ährenform. Das hübsche herzförmige Zweiblatt, die Listera cordata, mit sehr kleinen grünen Blüten mit rotvioletter Zunge, die fern an den berühmten Schnurrbart-Venusschuh erinnern (der zu den Paphilopedilum-Arten gehört, die alle seit diesem Jahr zu den durch CITES geschützten Orchideen gehören, die man weder von ihrem Standort entfernen oder Handel damit treiben darf). Als ich die CITES erwähnte, wurde der Blick des alten Mannes starr „Ja, über den Schnurrbart-Venusschuh sind schon mehrere Köpfe eingeschlagen und Millionen verpufft worden“, nickte er. Ich war stehen geblieben und starrte den Alten neugierig an. Vandemeer schob mich weiter. Versteckt sich Vandemeer vor der CITES? Er wäre nicht der erste Orchideensammler, den die fragwürdige Organisation ruiniert hat! Auch die weiße Nacktdrüse, die Gymnadenia albida, die intensiv nach Honig duftet und nur auf den Magerweiden der Alpen anzutreffen ist, kannte der alte Herr nicht, als ich ihn danach fragte. Vandemeer lächelte herablassend. Er schien nur die exotischen Orchideen mit großen Blüten und deren gezüchtete Hybriden zu mögen, Orchideen, die er für viel Geld verkaufen kann und die ihm Ruhm einbringen. Die berühmteste und beliebteste Orchidee der Alpen ist wahrscheinlich das dunkelrot-braune, kegelförmige Köpfchen, das aus vielen kleinen Einzelblüten besteht, das Männertreu, die Nigritella Nigra, die bescheiden auf sonnigen, trockenen Magerwiesen wächst und intensiv nach Vanille riecht. Sie ist die Lieblingsblume von Kollegger, fiel mir ein, als die Tür des Orchideenhauses sich hinter mir schloss und ich wieder frische Luft atmete. Ich dachte an meine Großmutter Luise, klein und zerbrechlich, die mit weißen Fingern ihre Töpfe mit Frauenschuh umhegte. Auch sie liebte Orchideen über alles. Ich fragte mich, wo wohl das Silva-Buch mit den Orchideenbildern geblieben ist, die Wunder meiner Kindheit? Devonn, drei ereignisreiche Wochen später, zu Hause. Devonn hat eine neue Sensation, die auf der Bahre der Rettungsflugwacht ins Dorf gebracht und in einen Transporter umgeladen wurde. Viele Gaffer aus dem Dorf, Erwachsene und Kinder, standen herum. Die Kantonspolizei, mit Luzi Comminoth an der Spitze, war schon eingetroffen und die überregionale Presse natürlich auch. Zwei japanische Gletscherwanderer hatten am sich zurückziehenden Gletscher des Piz Drisch einen grausigen Fund gemacht: Im schmelzenden Eis saß die gut erhaltene, vertrocknete Leiche einer jungen Frau in Resten eines dunkelbraunen Mantels. Sie hatte ein Kleinkind auf dem Schoß. Die Körper beider sind unversehrt, aber gelb und fast zum Gerippe verschrumpelt. Es sieht aus, wie wenn Mutter und Kind zusammen eingeschlafen wären. Das Volk von Devonn hat den Fund bereits die „Eismadonna“ getauft. Eine Eismadonna in Devonn! Ein Zeichen wofür? Die sofort angereisten Forscher sind sich einig, dass der Fund sehr alt sein muss; was mir auch Teilhard, der Paläontologe, bestätigt hat. Die Gletscher, einst weißes, feindliches, aber respektiertes und besungenes Niemandsland, sind heutzutage alle untersucht und vermessen. Wir wissen vieles über sie. Trotzdem sind die erstarrten Eismassen unberechenbar. Sie bergen immer noch Unbekanntes in ihrem Inneren. Den kleinen Feenring, den ich damals gefunden habe, sowie das Gerippe des Leoparden im Firn des Kilimandscharo und jetzt die Eismadonna mit Kind sind nur wenige von zahllosen beunruhigenden Beispielen, wie die Gletscher ihre lange gehüteten Geheimnisse preiszugeben drohen. Was ist vor Zeiten über den Rand der Gletscherspalten gefallen oder in die Tiefe gestoßen worden? Was ist im kalten blauen Inneren des Eises seit Jahrtausenden verloren? Welche Gefühle, Gedanken und Ideen haben wir auf Eis gelegt? Gibt es überhaupt ewigen Firn? Gletscher sind eine tickende Zeitbombe. Wenn sie abschmelzen und sich zurückziehen, und Zauber, Furcht und Glanz, die sie verklärt haben, dahin ist, kommen nicht nur der graue und klägliche Alltag, sondern auch alle unsere Pläne und Wünsche wieder ans Tageslicht, die wir dort eingefroren haben, oder es zeigt sich, dass wir einst selber im Eis stecken geblieben sind. Gefährliche Geheimnisse und Lügen, derer wir uns schämen müssen, werden offenbar. Es gibt keinen sicheren, endgültigen Platz mehr, sich zu verstecken oder etwas loszuwerden. Jedenfalls nicht im Gletschereis. Wenn die Gletscher geschmolzen sind, gibt es keine Geheimnisse mehr. Die Berge werden trivial. Wie sieht Conradin die Gletscher? Ich muss auch mit Monsignore Teilhard darüber reden. Ich wollte ihm Prada persa zeigen, aber es sollte nicht dazu kommen. Als ich am selben Nachmittag mit ihm durchs Dorf ging, trafen wir Conradin vor dem Lebensmittelladen mit seinem Militärrucksack, bereits gefüllt mit Vorräten für die Alp „Hast du die Lokalzeitung gelesen?“, fragte ich. „Nächste Woche wird ein Pfarrer aus Luzern kommen und die Monsterkinder taufen, hat die Mengia Huggentobler heute stolz der lokalen Presse mitgeteilt. Unser Pfarrer, Vater Vonmoos, hat sich wie ein Aal aus der Situation gewunden. Er hatte alle möglichen Ausreden. Er will es nicht tun. Er sagt insgeheim, er kann selber nicht abschätzen, ob die neuen Wesen Menschen oder Tiere sind. Er ist bereit, sie zu segnen, so wie er auch jährlich Kühe, Schafe und Pferde und sogar Autos und Fahrräder zu segnen pflegt. Wenn es Menschen sind, haben sie natürlich Seelen und sollen getauft werden. Er wolle erst bindenden Bescheid vom Vatikan abwarten.“ „Das kann dauern“, knirschte Teilhard. Habe ich Bitterkeit herausgehört? „Wo ist Huggentobler?“, fragte Conradin „Mengia sagte, er sei in den Bergen, am Piz Cavetsch, wo Kollegger und ich den Partisanen beobachtet haben) auf einem Jagdausflug zusammen mit seinem Mitarbeiter Béranger Brechbühl und dem alten Apotheker Hitsch Zgraggen. Der alte Zgraggen ist ein erfahrener Gämsjäger“, antwortete ich. Conradin starrte mich eine Weile an, sagte wieder nichts, entfernte sich hastig und eilte davon, wohl zu seinem Vater Sigmund. Der Dorfpolizist Andrí Gadient hatte vor dem Morgengrauen einen Anruf von der Rettungsflugwacht bekommen. Bereits bei Tagesanbruch verbreitete sich die Hiobsbotschaft von Haus zu Haus: erst erfuhr es der Ziegenbub, der bei Gadient wohnt, dass Alois Huggentobler und seine Freunde gestern Abend von einem Jagdausflug nicht nach Hause zurückgekehrt sind und Mengia in der Nacht die Rettungsflugwacht verständigt hat. Die drei Bergsteiger sind dann im ersten Morgenlicht vom Hubschrauber entdeckt und ins Kantonsspital Chur gebracht worden. Kurz nach der Öffnung des Konsums um sieben Uhr holte sich Gadient dort Butter und Käse, und nach einer halben Stunde wusste es ganz Devonn, das bei Morgenkaffee und Polenta saß, und die Schreckensnachricht erreichte auch bald die Arbeiter der Sägerei Inderbizin, das letzte Gebäude im obern Dorf: Professor Huggentobler, sein Mitarbeiter Béranger Brechbühl und der alte Apotheker Zgraggen sind auf einem Jagdausflug am Piz Cavetsch, in der Nähe vom Maiensäss Blaue Hütte, von zwei Wölfen angefallen worden. Es sollen keine der von Italien eingewanderten Wölfe gewesen sein, heißt es, sondern schreckliche, riesengroße und blutrünstige Bestien mit roten Augen, der eine mit sehr hellem, der andere mit dunkelgrauem zottigem Pelz. Ist es nur ein Gerücht? Oder waren die drei Alpinisten stockbesoffen? Kommissar Comminoth aus Chur rief Pfarrer Vonmoos an und fragte, ob er etwas gesehen habe. Auch ich fiel aus allen Wolken, denn ich habe eben von der Hebamme Barblina erfahren, dass die Bisswunden im Fleisch der Opfer nicht von gewöhnlichen Wölfen stammen und böse Spuren hinterlassen haben. Huggentobler und Béranger werden schon übermorgen nach Hause entlassen. Der achtzigjährige Apotheker ist auf dem Transport ins Krankenhaus an den infizierten Wunden oder am Schrecken gestorben. Ich treffe Hedwig Tell in der Bäckerei. Sie flüsterte aufgeregt, es müssten Werwölfe gewesen sein, denn ihr Mann, Wilhelm, habe die Armbrust aus der Tiefe des Kleiderschranks geholt, sie gespannt, aber nach einigen Nachdenken wieder sinken lassen. „Das hat er nur getan“, machte sich Gertrud wichtig, „weil er wusste, dass das Benutzen der Waffe in dem Fall nichts bringt.“ Der rundliche Andrí Gadient kam beim Aufstieg gehörig aus der Puste. Der Tatort befindet sich an der Nordflanke des Piz Cavetsch, Prada persa liegt gegenüber der Südflanke, am Piz Scasura) und ist auch mit Geländewagen nicht erreichbar. Kommissar Comminoth und die Beamten der Spurensicherung wurden mit dem Helikopter der Bergwache transportiert. Es wurde abgegrenzt, untersucht und fotografiert. Es wurde ganze Arbeit geleistet, aber nichts gefunden außer blutgetränkten Silberdisteln, einer zerknautschten Packung Brunette-Zigaretten, einem toten Käfer, entwurzeltem Moos, von Eichhörnchen abgenagte Föhrenzapfen und ein angebissenes Wurstbrot, eingepackt in ein Flugblatt von Wettstein und in der Nähe eine zerrissene Plastiktüte. Weit und breit keine Spuren von Wölfen. Ich ahne, dass Conradin und sein alter Vater irgendetwas mit der Sache zu tun haben „Geht es um späte Rache (aber warum erst jetzt?) am Mord von Völi Padrutt auf dem Sängerfest vor Jahren?“, fragte ich Teilhard beklommen. Teilhard nickte ernst und versicherte mir, dass der Überfall nichts mit Huggentobler und dessen Machenschaften zu tun hat. Da bin ich mir nicht so sicher. Conradin war doch am Vorabend sehr aufgebracht, als ich ihm von der Taufe der Monsterkinder erzählte! Ich schwieg darüber, denn ich kann meinen Freund doch keinen Überfall zutrauen! Er hätte aber mindestens zwei Motive. Oder wollte er gar im Dorf ein Zeichen setzen, weil man ihn wegen der Sorge um die Gletscher auslacht? Ich erinnerte mich vage an das Gespräch im Pfarrhaus, das Gespräch zwischen Großvater, Pater à Porta, Sigmund Padrutt, Devonas und Kollegger über den Mord am alten VölI auf dem Sängerfest vor über dreißig Jahren, den Einbruch in Padrutts Haus und die Samen, die Jahre später auf Prada persa gesät worden sind. Mein Mentor erklärte mir, dass er befürchtet, dass es genauso zugegangen sein könnte wie es die nordische Sage der Völsungen erzählt. (König Völsung ist hinterhältig ermordet worden. Sein Sohn Sigmund zeugt mit seiner Schwester Signy einen Sohn, Sinfjötli. Vater und Sohn verstecken sich jahrelang im Wald und üben als Werwölfe blutige Rache am Mörder.) Ich schüttelte ungläubig den Kopf. Im Pfarrhaus beim Kaffee erfuhr ich etwas später, dass Sigi Padrutt vor Jahren Tourenführer im Nationalpark war. Er hatte sich auf einer Wanderung in eine Frau verliebt und die beiden verbrachten eine Nacht zusammen. Diese Frau war keine andere als Sigis eigene kleine Schwester Signy, die nach dem frühen Tod ihrer Mutter von einer Familie im St. Gallischen adoptiert worden war. Sigmund hatte seine Schwester nicht erkannt, denn sie nannte sich Rätia Ekström, mit ihrem zweiten Vornamen und dem Familiennamen ihres Mannes. Sie hatte herausgefunden, wo sich ihr älterer Bruder Sigi aufhielt und meldete sich deshalb für die Tour an. Sie hatte die ganze Zeit gewusst, dass der schlanke Tourenführer ihr Bruder ist und wünschte sich heimlich von ihm einen fähigen Sohn, der sich zusammen mit seinem Vater am Apotheker Hitsch Zgraggen rächen konnte, der sie vor Jahren mit einem neugeborenen Mädchen, Hjördis (Conradins ältere Halbschwester), hatte sitzen lassen. Padrutt hatte alles von seiner Schwester später per Brief erfahren, als ihr Söhnchen, das sie auf den Namen Conradin Sinfjötli hatte taufen lassen, bereits ein Jahr alt war. Der Name sollte ein Zeichen setzen. Vater und Sohn haben die Geschichte im Dorf verschwiegen. Mit Huggentobler und der Genforschung hatte der Überfall nur am Rande zu tun. Mir schien aber, dass Conradin gleichzeitig auch Huggentobler eine Warnung verpassen wollte. An dem Tag schloss ich mich zu Hause ein, denn ich wusste die Presse aus dem Unterland war auf dem Weg ins Dorf. Alle würden die Werwolf-Geschichte aufsaugen wie Schwämme und noch weiter ausschmücken. Sie sind ein Scoop für die Zeitungen, die in den nächsten Tagen mit der Wolfsdebatte, die das ganze Land erhitzt, ihre Auflagen erheblich steigern können. Aber niemand ahnt, wer hinter den Werwölfen stecken könnte. Am Nachmittag war es schwül, und gegen Abend ging ein schweres Gewitter mit nussgroßen Hagelkörnern über der Gegend nieder. Wie erschrak ich, als Conradin an meine Tür klopfte, während der Hagel auf ihn niederprasselte. Er hatte seinen Parka über den Kopf gezogen und trug einen Packen Bücher und Proviant von der Alp. Ich zog ihn schnell ins Haus und quartierte ihn in Crescenzas Zimmer ein und vergewisserte mich, dass das Tor zur Straße geschlossen und verriegelt war, alle Fenster zugemacht und die Vorhänge zugezogen. Teilhard wusste ich im Pfarrhaus, wo wohl auch Huonder und Devonas sich mit Pfarrer Vonmoos berieten. Ich kochte Conradin starken Kaffee und ließ ihn im Zimmer allein. Der Senn Sep Cadruvi ist im schwarzen Sonntagsanzug auf dem Esel von der Alp Sc nach Devonn hinuntergeritten, mit geputzten Schuhen, sauber gestutzem und sorgfältig gebürstetem Bart. Er erzählte den Journalisten, die sich in der Gaststube der Crousch alva versammelt haben, von Vielfraßen und Luchsen und Steinschlägen. Er – ein vom Bund beauftragter Wildexperte – habe seit Wochen keine Wölfe oder deren Spuren mehr auf Scaleina, am Piz Cavetsch oder an einem anderen nahen Berg gesehen oder gehört. Es können also keine Wölfe gewesen sein, sondern höchstens Menschen, große Luchse oder eine Bärin, die ihre Jungen verteidigte. Aber der Mob im Dorf gab sich noch nicht zufrieden und wollte sofort die Wölfe oder Werwölfe jagen und sie alle abknallen. Eine Traube von Männern hatte sich mit Jagdgewehren, Sturmgewehren und sogar Heugabeln schon vor der Crousch alva versammelt. Die Polizei, und vor allem Wilhelm Tell, konnten es verhindern, denn was Jagd angeht, ist er im Dorf immer noch der Tonangebende. Die Frau vom Baumeister Pina vermutete, dass ein aus dem Zoo ausgebrochener Löwe die Unglücklichen angefallen hat, aber niemand hörte ihr zu, und der Zwerg Frocin faselte gar von Kommunisten und Partisanen! Die zwei überlebenden Opfer des Überfalls konnte man nicht befragen. Sie standen noch unter Schock, obwohl zwei Reporter, angeblich als Krankenschwestern verkleidet, vergeblich versucht haben sollen, heimlich in die Krankenzimmer im Spital einzudringen. Kurz vor Morgengrauen – die Presseleute waren schon längst wieder weg – holte Padrutt seinen Sohn Conradin bei mir ab und die beiden stiegen in der Morgendämmerung zur Prada persa hinauf. Nach dem Werwolf-Skandal sind die Wolkenbeobachter in alle Winde zerstoben. Es ist an den Wochenenden wieder ruhig im Dorf und die Hotelbetten bleiben leer. Die Dorfbewohner, die im Hotel arbeiten, fürchten ihre Arbeitsplätze zu verlieren und jammern. Teilhard ist endlich mit seiner Geschichte herausgerückt: Der tollkühne junge Völsung Padrutt, Conradins Großvater, war 1928 sein Assistent (Teilhard war wie bekannt auch Paläonthologe) auf einer französisch-chinesischen Expedition in einem Gebirge in Südwestchina. Sie kannten sich also von früher! Die kleine Gruppe stieß damals, nach einem Gewaltmarsch durch die unwirtliche Gegend in einem unbewohnten, zerklüfteten Bergtal auf eine schwangere, verzweifelte Frau, die sich als Bai Suzhen vorstellte, als Frau Weiße Schlange. Sie suchte seit Tagen einen ganz bestimmten Pilz, der ihren Mann, den liberalen Gelehrten Xu Xian, retten konnte. Er war im Kampf mit einem radikalen Mönch schwer verletzt worden. Sie hatte sich verirrt und war erschöpft, aber niemand in der Expedition zeigte sich bereit, ihr den Pilz suchen zu helfen. Die Gegend war gefährlich. Nur der mutige junge Padrutt war bereit, der Frau beizustehen. (Ich verstand später, dass es sich um einen Holzpilz, den Ganoderma lucidum, handelte, der auf Eichen und Kastanien als Parasit wächst.) Den Pilz fand der junge Völi auf einer alten Eiche, die an einer zerklüfteten Klippe wuchs. Zum Dank erhielt er von Bai Suzhen einen Sack voller Samen und Knollen von Kräutern und Pflanzen, die es in den Schweizer Alpen wohl gibt, die aber dort im Laufe der Zeit ihre ursprüngliche, heilende und stärkende Kraft fast verloren haben: Romeye, oder Alpen-Rispengras, Poa alpina genannt, Mutternkraut (Ligusticum muttellina) und Ritz, auch Adelgras oder Alpen-Wegerich (Plantago alpina) geheissen und ebenfalls das Rentiermoos (lat. Cladonia rangiferina), das die Kühe so gern fressen. Diese Kräuter waren einst von einer Sennerin im Bündnerland verflucht worden, weil die Kühe, die sie fraßen, dreimal am Tag gemolken werden mussten und die Sennerin zu faul dazu war „Verfluecht sey Rameyä, Muettere und Ritz, vom Rhii bis uff di hööchschtä Schpitz“, hatte sie wütend gerufen. Völi bekam als Dank von Frau Weiße Schlange auch Samen und Wurzelknollen vieler anderer Alpenpflanzen, Bäumen und seltener Orchideenarten. Völsung Padrutt gab das Säckchen mit den Samen und Knollen mit den besonderen Kräften später seinem Sohn Sigi, der es wie seinen Augapfel hütete. Ein paar Jahre nach dem unfreiwilligen Tod seines Vaters auf dem Sängerfest hatte sein Sohn mit seinenVerbündeten – Großvater, Devonas, Kollegger, Senn Cadruvi, Pater à Porta und dem Glasbläser Räto Huonder – den geeigneten Platz dafür auf Prada persa gefunden. (Einen Restbestand dieser Samen habe ich vor Jahren in Großvaters Nachlass gefunden mit der Bitte, sie an geeigneten Orten in der Welt zu säen.) Einen Tag später suchte ich nach Conradin und fand ihn in der Kirche, wieder in Zwiesprache mit dem heiligen Georg. Ich wollte ihn der Werwölfe wegen ausfragen. Er zog ein zerknittertes Heiligenbildchen aus der Tasche, das Bild der verschwundenen Mutter Gottes vom Schnee aus der Wallfahrtskirche von Scalamain. „Ich weiß, wo sie versteckt ist“, sagte er ohne Umschweife. „Pater à Porta hat es mir vor langer Zeit anvertraut und mich gebeten, die Madonna mit deiner Hilfe wieder unbemerkt in die Nische der Kapelle zurückzustellen, sobald Prada persa grün geworden ist!“ Conradin behauptete auch, dass unsere Großväter, die sich damals gegen den Bau einer Sesselbahn nach Scalamain gewehrt hatten, die Madonna entführen wollten, und dass der alte Pater à Porta selbst in einer stürmischen Oktobernacht nach Scalamain hochgestiegen ist, sie aus der Nische genommen und am Berg in einer der zahlreichen Höhlen versteckt hat. Der Kapuzinerpater, selbst ein begeisterter Jäger (und Wilderer), kletterte oft in den Bergen. Er und die anderen Mitglieder des „Goldenen Steinbocks“ wollten durch diese Aktion die Dorfleute aufrütteln und ihnen klarmachen, dass die Liebe Frau von Scalmain das Treiben des Dorfes nicht mehr billige „Als der alte Kapuzinerpater in derselben Nacht von der heimlichen Tat ins Dorf zurückkam, musste er sich sofort ins Bett legen. Er hatte sich in der Kälte und der Nässe eine Lungenentzündung und den Tod geholt. Er starb wenige Tage später. Im folgenden Winter fiel ungewöhnlich viel Schnee. Das Fehlen der Madonna wurde erst nach der Schneeschmelze entdeckt. So steht es im Rapport der Kantonspolizei“, erzählte Conradin. Der mysteriöse Zettel Großvaters, mit der Aufforderung, Sigmund möchte alles in Ordnung bringen, hat also mit der verschollenen lieben Frau vom Schnee zu tun! Was weiß Kollegger von der Geschichte? „Diaula!“, ereiferte sich Conradin und hielt mich an den Handgelenken fest. „Heute noch steigen wir nach Scalamain hinauf, holen die Madonna aus ihrem Versteck und stellen sie zurück in die Kapelle!“ (Hätte dies Sigi nicht schon vor Jahren tun sollen?) Mein Freund wollte sofort zur Tat schreiten. Ich hätte gerne erst Teilhard um Rat gefragt und Kollegger eingeweiht, aber Conradin drängte zum sofortigen Aufbruch. Mir war nicht wohl zumute. Wir stiegen am selben Nachmittag lange bergaufwärts. Schweißgebadet, den Weg vermeidend, taumelten wir durch Alpenrosenstauden. Ein feiner Nieselregen fiel und Nebelschwaden zogen wie unselige Geister. Wir konnten manchmal nur wenige Meter weit sehen, aber wir erreichten endlich das Wallfahrtskirchlein. Weit oberhalb, wo der Weg durchs Tobel zum Maiensäss Blaue Hütte führt, bog Conradin nasse Alpenrosenstauden und Legföhren zur Seite. Wir rollten einen großen Stein weg, und der schwarz-feuchte Eingang einer Höhle wurde sichtbar. (In solchen Höhlen sollen einst die Diaulen gehaust haben.) Wir krochen auf den Knien über Wurzeln und Steine, Conradin voraus und ich hinterher. Wir kamen bald zu einer Biegung, wo sich die Höhle weitet, um dann steil wenige Meter in die Tiefe zu fallen. Es roch scharf nach Moder, Marderkot und Urzeit, und ich hörte es unablässig tropfen. Im Strahl der Taschenlampe seilte mich Conradin an und ließ mich langsam in die Tiefe der Höhle gleiten. Ich zitterte vor Aufregung und Angst. Doch bald fasste ich Fuß. Ich fror, und die Hände schmerzten, aber ich tastete mich trotzdem vorsichtig vorwärts. Ich verletzte mich an scharfem Gestein. Wasser tropfte auf mich mit kalten, messerscharfen Tropfen. Irgendwo stießen meine Hände auf etwas Festes, ein längliches Paket, eingewickelt in eine klebrige, verschnürte alte Decke. Ich gab Conradin ein Pfeifsignal. Er fing an zu ziehen, und ich stemmte mich mit den Beinen gegen die Höhlenwand. Krampfhaft Paket und Seil haltend, arbeitete ich mich mit Conradins Hilfe wieder nach oben. Ich schürfte meine Knie und meine linke Hand an spitzen Steinen auf. Draußen regnete es jetzt in Strömen und fing an zu dunkeln. Ich weiß nicht, wie viel Zeit wir brauchten, um durch den regennassen Wald, über glitschige Pilze und nasse Blätter, mit unserem Fund stolpernd und fallend in der Dämmerung, zum Wallfahrtskirchlein zurückzukehren. Conradin hatte den Schlüssel bei sich und schloss das Tor auf. Unterdessen war es stockdunkel geworden. Ich bemerkte, dass bereits die Hintertür zur Sakristei offen stand, denn Zugluft schlug uns entgegen. Das hätte mich stutzig machen müssen. Wir packten im Dunkeln das verschnürte Paket lautlos auf. Ich stellte die Mutter Gottes in ihre Nische, dahin, wo sie einst jahrhundertelang gethront hatte. Ich stand eine Weile davor, immer noch die Wolldecke haltend, und mir fiel ein, wie die alte Teresin vor Jahren hier gebetet hatte. Dann hörte ich Schritte vor der Sakristei. Ich versteckte mich im Dunkeln hinter einem Pfeiler und hörte zwei Personen flüstern. Conradin und sein Vater? Ich verstand Gesprächsfetzen wie: „Arisguard igl taimp savainsca anc deir navot!“ (Was die Zeit anbetrifft, können wir noch nichts sagen.) Ich hörte noch eine dritte flüsternde Stimme (Frocin?) ‚‚… il e neiras ouras!“ (Es ist höchste Zeit) und auch „… per chegl dattigl nign taimp!“(Die Zeit reicht nicht aus) „Conradin“, flüsterte ich und lauschte, bekam aber keine Antwort. „Conradin!“ Dann folgte ein lauter Knall, so etwa wie wenn ein großer Ast von einem Baum auf ein Hausdach fällt. Eilige Schritte entfernten sich, die Sakristeitür wurde zugeschlagen, der Schlüssel umgedreht. Totenstille. Die Zeit hielt den Atem an „Conradin“, flüsterte ich zum dritten Mal, bekam abermals keine Antwort. Jetzt war ich wohl allein in der Kapelle. Kurz entschlossen nahm ich die Madonna im Dunkeln wieder aus der Nische, schlug sie in die Decke ein, die ich immer noch auf dem Arm trug, alles ohne Taschenlampe, reflexartig. Warum ich es getan habe, weiß ich nicht. Ich schlich lautlos durch den Haupteingang ins Freie. Stockdunkle Bergnacht. Zu Füßen des heiligen Christophorus an der Außenwand wühlte ich in meinem Rucksack und fand endlich meine kleine Taschenlampe und stolperte wütend mit meinem Paket den Weg zum Tal hinunter. Niemand schien mir zu folgen. Nur der Wind pfiff und schüttelte die nassen Bäume. Ich hastete ungesehen durchs schlafende Dorf zum Parkplatz von Madons unterhalb der Klinik. Ich blutete immer noch am linken Knie. Ich öffnete durch ein halb offenes Autofenster einen grauen Opel (War es der alte Opel von Wilhelm Tell?), wo der Zündschlüssel noch im Schloss stak, und schaffte es, den Motor zu starten, in der Hoffnung, noch genug Benzin im Tank bis nach Chur hinunter zu haben. Ich raste mechanisch durch Chur und beschloss weiterzufahren. Irgendwo nach Landquart hielt ich an, tankte und fand eine Telefonzelle. Mit zitternden Fingern wählte ich die Nummer von Dragan
Die vierte Reise 2005. Breitenau in Tirol, September. Ich beginne heute das vierte Schreibheft! Meine Tochter Meret ist längst erwachsen und studiert in Wien. Außer zwei erfolgreichen Kochbüchern – eins handelt ausschließlich von Haferbrei, das andere von Rezepten aus den Bündner Alpen – habe ich in den vergangenen sechzehn Jahren nichts Neues zustande gebracht. Termine hetzen mich immer noch von Ort zu Ort, von Kochherd zu Kochherd, und trotzdem leistet mir die Langeweile oft Gesellschaft. Ich bin der Zeit unter die Räder geraten und will nicht daran denken, und der Müll jeglicher Art ist zur weltweiten Bedrohung angewachsen. Er ist überall. Morgen jährt sich wieder einmal Margrets Todestag. Auch dieses Jahr hält die Stiftung Margret Prevost auf Schloss Breitenau eine Feier ab. Hier in Breitenau ist meine Freundin zur Schule gegangen. Am nahen Weisskofel hatte sie einst das Klettern gelernt. Die Tagung endet mit einem Festmahl, ähnlich wie es Jesus mit seinen Jüngern gefeiert und Leonardo da Vinci es gemalt hat. Es wird von mir geplant und gekocht. Die Stiftung – die unter anderem Stipendien für junge Frauen verteilt – besteht aus etwa dreißig Frauen, die sich auf eigene Art durchgesetzt und ihre eigenen Ideen verwirklicht haben. Sie sollen der weiblichen Jugend Vorbild und Ansporn sein. Diesmal haben sich über zwanzig Mitglieder zum Treffen angemeldet. La Pasionaria, Maria Sibylla Merian, Giulietta Masina, Alexandra Kollontai, Maria Montessori, Wera Sassulitsch und wenige andere, die bereits dazugehören, sind leider dieses Jahr unabkömmlich. Auch sollen drei neue Mitglieder gewählt und fünf Mädchen mit Stipendien bedacht werden. Die Pionierinnen des Bergsteigens, Margrets Vorbilder Lucy Walker und Meeta Brevoort, verwalten die Stiftung und bereiten die Wahlen vor. Die geistigen Belange und die Vorträge liegen in den Händen der Ordensgründerin und Doktorin der Katholischen Kirche, Teresa von Avila, die von Margret sehr verehrt wurde. Ich habe für den großen Tag bereits gespickten Lammbraten mit Rosmarin, Auberginen, Äpfeln und kleinen karamellisierten Kartoffeln in der alten Schlossküche geschmort. Ich werde das Gericht mit Tomatensalat servieren sowie mit einem leichten Roten aus der Toskana, genau so, wie Margret es liebte. Dazu gibt es selbst gebackenes Landbrot mit Haselnüssen und Aprikosen. Nachtisch soll meine mittlerweile berühmt gewordene Nachspeise Margrets Himmelsleiter sein, begleitet von einem Gewürztraminer Spätlese aus dem Elsass. Das verträumte kleine Schloss liegt abseits in einem großen Park mit riesigen Bäumen und alten Rosen. Schwer beladene Apfelbäume säumen die Allee. Da schon die ersten Herbstnebel durch Tirol ziehen, wurde beschlossen, das Fest im Spiegelsaal abzuhalten, dessen Decke mit Fresken eines Tiepolo-Schülers bunt bemalt ist und die Himmelfahrt Mariä zeigt. Der Verwalter hatte bereits frühmorgens Körbe mit roten Äpfeln ans Eingangstor gestellt. Mit fliegender schwarzer Ordenstracht und gerötetem Gesicht betrat die spanische Nonne Teresa von Avila heute als Erste den den Spiegelsaal. Sie trug ein Bündel Papiere unterm Arm, nahm einen Apfel aus dem Korb, biss ihn beherzt an und telefonierte dauernd mit ihren Ordensschwestern und irgendwelchen Prälaten in Rom und gab Anweisungen bis in die kleinste Einzelheit. Teresa ist eine Frau, die zugreifen kann. Sie hatte mir gestern den ganzen Tag in der Küche geholfen, hat viel gelacht und Kartoffeln geschält, Gemüse gehackt, Teig geknetet und dabei gesungen. Zehn Tage später aufgeschrieben. Zuerst erschien Rosa Luxemburg, ein keckes Hütchen auf dem Kopf, schlendernd, mit einem Korb voller Blumen, die sie auf dem Weg vom kleinen Bahnhof Breitenau gepflückt hatte. Sie betrachtete die Pflanzen liebevoll, setzte sich mit überkreuzten Beinen an den Tisch, presste Blumen und Kräuter sorgsam in ein vergilbtes Heft und schrieb ihre Namen darunter. Sie war fröhlich und abgeklärt und fragte mich nach Wera Sassulitsch. Aber Rosas Schuhe waren schmutzig. Schlamm vom Landwehrkanal in Berlin klebte noch an ihnen. Lucy Walker und Meta Brevoort, in altmodischen knöchellangen Tweedröcken, waren die nächsten Gäste. Meta hatte ihren braunen Hund Tschingel dabei. Die beiden Bergsteigerinnen wollten Einzelheiten von Margrets Klettertouren und ihrem Leben hören. Ich gab bereitwillig Auskunft. Von Margrets geheimer Leidenschaft, dem Freihängen an Felsen und Eiszapfen, erzählte ich nichts. Frida Kahlo musste sich sofort nach ihrer Ankunft im Nebenzimmer hinlegen, so sehr hatte sie der Flug von Mexiko angestrengt. Auch schrieb sie sofort Postkarten an Diego Rivera und an Leo Trotzki. Die Luxemburg brachte ihr Astern als Haarschmuck. Bertha Sophie Freifrau von Suttner (eigentlich Gräfin Kinsky von Wchnitz und Tettau aus Prag) ist eine imposante Erscheinung mit knisternden Seidenröcken. Ihr Buch Die Waffen nieder! machte damals beim Erscheinen riesiges Aufsehen, wurde 1933 verfemt und in Deutschland öffentlich verbrannt. Frau von Suttner segelte in den Saal wie eine Karavelle in den Heimathafen und verbreitete Stärke und Sicherheit. Sie verehrte mir eine Neuauflage ihres Buches mit persönlicher Widmung. Bald saßen Bertha und Rosa L. im Garten, genossen die Herbstsonne unter einem schwer beladenen Apfelbaum, der stolz und beschützend seine Äste über den Besucherinnen ausstreckte. Sie schälten Äpfel und diskutierten leise, bis Sarah Bernhardt auftrat, in violettem Kleid und riesigem Hut, hinkend und bleich. Sie setzte sich sofort an den langen Tisch im Saal und knabberte an einem Apfelschnitz. Fast gleichzeitig stürmten Mary Read und Anne Bonny in Piratenkostümen durch den Park, begrüßten alle lautstark und operettenhaft und schickten Handküsse nach allen Seiten. Dreist warfen die beiden Seeräuberinnen ihre Dreispitzhüte und Krummsäbel auf den Tisch, dass die Gläser hüpften und klirrten. Sie lachten: „Großartig, wieder hier bei euch zu sein!“ Anne legte ihre Füße, die in riesigen schwarzen Stulpenstiefeln steckten, auf den Tisch mit dem blütenweißen Tischtuch. Ihre weißen Zähne blitzten. „Wir sind alle drei gestern aus dem Gefängnis ausgebrochen!“ Sie warf ihr wirres langes Haar mit einer Kopfbewegung nach hinten. Mary sah daneben ziemlich ungewaschen aus, aber strahlte übers ganze Gesicht. (Denn auf dem Platz vor dem Schloss, in einem schwarzen Cadillac, wartete Calico Jack Rackham, der berüchtigte Seeräuber, auf die beiden Frauen und rauchte eine Zigarre nach der anderen. Er hatte einen eisblauen Schal ums Haar gewickelt, die Augen stark geschminkt und sah verführerisch aus. (Oder war es Johnny Depp als Jack Sparrow?) Sarah Bernhardt sprang entsetzt und theatralisch auf, als Walburga Stromminger auftauchte, die auch Geierwally genannt wird (etwa so wie sie Wilhelmine von Hillern im gleichnamigen Roman beschrieben hat), denn auf ihrer rechten Schulter thronte ein stattlicher Bartgeier, der stolz über die Köpfe der Menschen in die Ferne starrte. Sarah zog erstaunt und verängstigt die Brauen hoch. So etwas hatte sie noch nie gesehen. Wally, im feschen rosa und grünen Dirndl, die dicken Zöpfe um den Kopf gewunden, setzte sich breitbeinig auf einen Stuhl und erzählte ihre Geschichte. Bald scharten sich alle neugierig um die kräftige Frau aus den Alpen. Sie beschrieb, wie sie verletzte Lämmer rettete in Felsen, so steil, dass Männer sich weigerten, dort zu klettern; wie sie mit einem großen Bartgeier um ein Lamm gekämpft und den Räuber besiegt hat. Ein verwaistes Küken, kaum aus dem Ei geschlüpft, wurde von Wally mitgenommen und aufgezogen. (Der Geier auf ihrer Schulter schüttelte stolz sein Gefieder.) Wally schilderte ihre Liebe zu Bärenjosef, den sie nicht heiraten durfte und wie sie deshalb vom hartherzigen Vater auf eine abgelegene Alp wegsperrt wurde. Wie sie glaubte, Josef habe eine Geliebte, ihn deswegen fast tötete und schlussendlich aus einer Felsspalte rettete. Die Geschichte rührte uns alle, da sie ein glückliches Ende hat und die Liebe siegt. Sarah hatte Tränen in den Augen und schwärmte:
Niemand hatte das Kommen von Mirabai, der indischen Rajput-Prinzessin bemerkt, die sich in rhythmischen Schlangenlinien durch den Saal bewegte, die Arme ausgestreckt und mit Rot bemalten langen Fingern Zeichen und Ornamente in die Luft schrieb. Dazu sang sie: „Ich band mir Glöckchen an die Fesseln und ich tanzte. Die Leute sagten immer wieder: Mirabai ist verrückt, ta tikataka tikataka tei. Meine Schwiegermutter verkündete lauthals, dass ich mit dem Tanzen den guten Ruf der Familie zerstört habe … Ta tjom, ta jom, taka tatinkinna tjom.“ Die beiden Seeräuberinnen, Wally und auch Sarah Bernhard spendeten Mirabai begeisterten Beifall. Unterdessen versuchte ich Ulrike Meinhof zu begrüßen, die mich aber nur anstarrte, höhnisch lachte, den Kopf schüttelte und sich abwendete. Sie hat mir wohl nie vergeben, dass ich nicht in ihre Fußstapfen getreten bin. Bald hatten wir uns alle versammelt. Fotografen und Journalisten drängten in den Saal. Wir beantworteten Fragen, drapierten uns für Presse und Fernsehen und posierten zum Abendmahl unter großen Scheinwerfern an der langen Tafel mit dem knisternden Tischtuch. Teresa leitete uns an. Mit manieristischen, ausladenden Posen und viel Geschick und Spaß stellten wir das Pathos von Leonardos Abendmahl nach. Brot und Wein waren schon auf dem Tisch. Der Platz in der Mitte – bei Leonardo der Platz Jesu – blieb unbesetzt. Damit wollten wir Margrets gedenken. Ich saß neben Simone Weil mit ihrem wirren Haar. (Ich hatte Margret viel von ihr erzählt und auch eines von Simones Büchern geschenkt.) Der Platz zu meiner Rechten war noch leer. Neben Margrets Platz, zur Linken, saß die Philosophin Camille Paglia in einer alten, viel zu großen Lederjacke, daneben Angela Davis und die chinesische Kriegerin Mu Guiying. Als die Presse nach langer Fragerei endlich den Saal geräumt hatte, gab es einen kleinen Zwischenfall. Durch die noch offene Tür stürmte eine Horde Männer, lauthals Protestparolen skandierend und Transparente tragend, voran der bärtige Krauskopf Karl Marx. Ich bemerkte auch mehrere kurz geschorene Frauen in Männerkleidern. Ich glaubte darunter feministische Dozentinnen wie die junge Judith Butler zu sehen, war mir aber nicht ganz sicher. Sie trugen Transparente: „Die Klassenfrage vor der Frauenfrage!“, „Wir trauen Frauen nicht!“‚ „In jeder Frau wohnt auch ein Mann!“, „Transgender ist in – Frauen sind out!“, „Hetero go home!“, „Mann oh Mann!“ und dergleichen mehr. Marx versuchte, sich mit Gewalt auf Margrets leeren Platz zu setzen, wurde aber von Teresa, Mu Guiying (mit Langschwert) und den Seeräuberinnen, die ihre Säbel schwangen, kraftvoll und bestimmt vertrieben. Aber es floss kein Blut. Goethe – was hatte der Perückenkopf hier zu suchen? – kletterte mit Heideggers Hilfe auf den gedeckten Tisch und versuchte einen Kopfstand zwischen Brot und irdenen Weinkrügen. Plötzlich tauchte Teilhard aus dem Nichts auf, knapp und fast verspätet, wie immer perfekt gekleidet. Er winkte mir heimlich zu und versuchte die verrückten Gesellen zur Vernunft zu bringen. Das war schwer bei dem Radau! Eine fünfköpfige Rembetiko-Gruppe sang jetzt Protestlieder. Die bärtigen Musiker bearbeiteten wild die Saiten ihrer Busukis und plötzlich waren auch die jungen Rolling Stones da, schrien und sprangen ziellos umher. Einer erwischte mehrere Teller und warf sie grundlos und lachend an die klirrende Spiegelwand. Ein schwarzer Rapper in Nazi-Uniform schrie in ein Mikrofon. Ein Kennedy (?) ließ die Hose runter. Ein Unbekannter griff Anne an die Brüste. Sie verpasste ihm eine schallende Ohrfeige. Die Hölle war los. Die irritierte Ulrike Meinhof war des Rummels leid. Sie schlug ihr Automatikgewehr an, doch der ehemalige UN-Sekretär Dag Hammarskjöld (Wo kam er her?) nahm es ihr sanft lächelnd aus der Hand. Ulrike war perplex. Umberto Eco machte Notizen, und August Strindberg, steif und perfekt gekleidet, beobachtete uns Frauen vorsichtig, aber sehr intressiert, von der Saaltür aus. Aufgeregt krächzend flatterte Wallys Geier durch den Saal und schlug über unseren Köpfen mit den Flügeln. Meta Brevoorts Hund Tschingel riss sich von der Leine los, begann wild zu bellen und biss Heidegger in die Wade. Heidegger schrie auf. Caspar David Friedrich verlor seinen Skizzenblock und suchte ihn unterm Tisch, auf allen vieren kriechend. Goethe und Heidegger ließen sich von Teilhards und Dag Hammarskjölds ruhiger Art und Camille Paglias philosophischen Argumenten schließlich überzeugen, dass sie fehl am Platz sind und entfernten sich betreten, Goethe küsste Teresas Hand, machte eine höfliche Verbeugung in unsere Richtung. Marx ballte zum Abschied seine linke Faust. Teilhard und Camille Paglia mit dem Besen scheuchten die ganze Macho-Bande aus dem Saal. Marx zog den lauthals protestierenden Filmschauspieler John Wayne, als Cowboy verkleidet, mit sich hinaus. Endlich unter uns! Teresa verriegelte resolut das Tor, Meta beruhigte ihren Hund und wir fielen erleichtert auf die Stühle und lachten, lachten, und lachten. Bald knallten Champagnerkorken. Gläser klangen. Wir rollten Joints, und bald zog eine klebrig-süße Schwade durch den Saal und der Testosterondunst löste sich auf. Lucy schickte sich an, die Gäste offiziell zu begrüßen, als die Pianistin Clara Haskil fröstelnd in einer grauen gestrickten Wolljacke wie ein Geist durch eine Tapetentür in den Raum schlich, das Haar ungekämmt, sich mit abwesendem Blick auf den leeren Platz neben mich setzte. Sie lächelte, strich sich immer wieder über ihren wirren grauen Haarschopf und betrachtete ihre Finger. Die beiden Bergsteigerinnen eröffneten das Fest. So hatte es Margret gewünscht. Dann klingelte Teresa von Avila mit einer kleinen Glocke und hielt eine ergreifende Ansprache. Sie bezeichnete Margret nicht nur als Gottsucherin, sondern versicherte uns, dass sie am Berg Gott und sich selbst gefunden hatte. Teresa nahm an, dass die Gottsuche der Frauen besonders schwer ist, und dass dazu der Bau einer inneren Burg vonnöten ist (ohne solche Hilfe führt uns die Suche oft in die Irre) – denn, so meinte wohl die Klosterfrau, wir Frauen verwechseln Gott leicht mit irgendeinem Mann.) Sie las eine Seite aus ihrem Buch „Die innere Burg“ vor „Aber auch die irdische Liebe kann uns zu Gott führen“, protestierte ich leise. Teresa schaute mich fragend an, aber Rosa Luxemburg und Wally nickten mir zu. Clara strich mit Elfenbeinfingern über die Tischdecke aus Damast und blickte abwesend in die Ferne. Sie hörte nicht wirklich zu. Dann setzte sie sich an den Flügel und griff in die Tasten. Mozarts Sonate in A-Dur perlte schwerelos durch den Raum und hinterließ schwebende Rosengirlanden. Wir alle saßen stumm und hören gebannt zu. Der Pianist Dinu Lipatti, bleich, kam ungesehen herein, stellte sich hinter Clara, legte eine Hand auf ihre rechte Schulter. Erst als der letzte Ton verklungen war, verschwand er wieder wie ein Nebelstreifen. Es gibt zahlreiche Monografien, Romane, Theaterstücke und Abhandlungen über alle die anwesenden Frauen. Jede hat Besonderes geleistet. Margret hatte sie alle bewundert, die Frauen, die sich der Politik oder der Musik, der Schauspielerei, dem Dichten, dem Malen oder der Philosophie verschrieben haben; aber auch sozial engagierte Frauen, sowie Mystikerinnen, Mütter und Seeräuberinnen hat sie geschätzt. Alle hatten den Mut, sie selbst zu sein und sich auf ihre Art in der Männerwelt zu behaupten. So wie Margret. Die Stipendienverteilung ging schnell vonstatten. Zwei Mädchen aus Honduras, zwei Schwestern aus Nigeria, eine Saudi-Araberin und eine Deutsche wurden für ihren Kampf gegen die Unterdrückung von Frauen in ihren Ländern ermuntert und belohnt. Es sollten nach Protokoll jedes Mal etwa drei neue Frauen in die Stiftung aufgenommen werden. Die deutsche Dichterin Annette von Droste-Hülshoff war bereits vorgeschlagen worden. Bertha von Suttner war aber dagegen: „Droste war Freifrau und hatte nie Geldsorgen und hat nie arbeiten müssen. Sie hat ihr Frausein einfach nur hingenommen. Was tat sie? Sie stand im Sturm oben am offenen Turmfenster und sehnte sich danach, ein Mann zu sein, hinauszufahren auf See, mit den Wellen zu kämpfen, aber sie begnügte sich mit dem Wunsch und mit dem Auflösen ihres Zopfes. Sie hat nur heimlich ihr Haar im Winde flattern lassen! Sie hätte ihren Elfenbeinturm verlassen. müssen!“ Mata Hari, mit klirrender Halskette und tiefem Ausschnitt bis zum Nabel, pflichtete Bertha bei. Clara Haskil mischte sich leise ein: „Aber Annette hat unsterbliche Verse über die Sehnsucht geschrieben, die uns nachdenken und träumen lassen. Das ist ihr Beitrag“, meinte Clara ernst. Bertha stutzte, dachte nach und nickte dann doch zustimmend. Annette wurde einstimmig gewählt, ebenso Alexandra David-Néel, die Tibet-Forscherin und die Schwester Gottfrieds, die verkannte Regula Keller, die ich vorgeschlagen hatte. Wir kamen auf die Sehnsucht zu sprechen, unsere Sehnsucht nach dem Horizont, nach fernen Ländern und ins Ungebundene. Viele von uns sind weit in der Welt herumgekommen, aber eine Sehnsucht tragen wir immer mit uns wie unsere Zahnbürsten. Ich stellte fest, dass bei mir die Sehnsucht eine Folge der unbeschreiblichen Langeweile ist, die mich immer wieder würgt und nicht so schnell wieder loslässt. Wenn wir die Sehnsucht nach der Ferne nicht zu stillen vermögen, arrangieren wir uns mit dem Leben. Wir Frauen verwalten, erfinden, forschen, schreiben, malen, rauchen, streiten, machen Musik und Politik, stricken Socken, verlieben uns oder bekommen Kinder, wir kochen und waschen oder sticken mit rotem Garn Kreuzstichmuster in duftendes Leinen. Aber die Sehnsucht bleibt. Ich erinnerte mich an den Blick meiner Großmutter Luise, wie sie manchmal am Fenster stand und in den Abendhimmel schaute. Wohin hatte sie sich geträumt? Die Italienerin Anna Magnani, der Filmstar, zog ihr Haute Couture-Kleid aus und tanzte im schwarzen Unterrock zur Musik eines Gettoblasters. Locken und Brüste flogen. Wir applaudierten, zogen uns ebenfalls aus, falteten unsere Kleider und legten sie auf den Boden, die Schuhe obenauf. (Ich hatte für den Anlass endlich einmal ein paar meiner roten hochhackigen Stilettos von Louboutin angezogen. Ich besitze stolze hundertzwei Paar rote Schuhe mit hohen Absätzen.) Stand und Alter fielen von uns ab. Wir waren nur noch tanzende Frauen und unter uns. Nach einer Weile wurde aufgetragen und ein ausgelassenes, nacktes und wildes Tafeln begann. Der Rotwein lockerte Glieder und Zungen. Nur Mira, Regula Keller und Clara tranken Wasser. Nach dem Bankett setzte ich mich noch eine Weile mit Simone und Clara in den herbstlichen Park auf den Teppich roter Ahornblätter und gelb gewordenem Ginkgolaub. Eichhörnchen beobachteten uns. Wespen taten sich an Falläpfeln gütlich und die Astern spitzten die Ohren. Wir unterhielten uns über Gleichgewicht und den verrückten Wunsch (eine Art Spiel- oder Erlebnissucht), immer wieder das Gleichgewicht verlieren zu wollen, nur um es wieder aufzufangen, ohne zu stürzen. Margret liebte dieses gefährliche Spiel und vertraute dabei dem Berg, und genoss das Risiko bei jedem Klimmzug im Fels, jedem Schritt auf dem Gletscher. Ich hingegen vertraue mich der Luft an, wenn ich mich fallen lasse, um loszufliegen und in die Höhe zu steigen, aber der Wind ist oft tückisch und bläst, wie und wo er will. Ich muss immer hoffen, dass die Luft mich trägt und ich mein Gleichgewicht finde. Ich bin vom Wind abhängig, vermag ihn aber nicht zu benutzen wie eine Möwe das kann. Es gibt für mich keine endgültige Sicherheit. Natürlich sind jedes Abheben und jeder Flug eine Flucht, aber wovor? (Es wird höchste Zeit, mit Teilhard darüber zu reden; über meine Fliegerei und die Langeweile, der ich nicht entrinnen kann, über Haferbrei, Honig und Asche, Felix und Arjun und meine roten Stöckelschuhe, Parmenides, Spinoza und Wittgenstein nicht zu vergessen.) Ein Windstoß, und grüne Stachelfrüchte einer alten Kastanie preschten zu Boden, platzten lautlos auf und scheuchten mich aus meinen Gedanken. Simone hob eine fettglänzende Kastanie vom Boden auf, betrachtete sie lange mit Bewunderung, steckte sie in die Tasche und eine Zigarette in den Mund „Das Schöne“, sagte sie nach einer geraumen Weile zu Clara und zog an ihrer Zigarette, „das Schöne ist Zeuge, dass Gott auf Erden Mensch geworden ist. Ich finde, schöne Dinge, wie diese Kastanie oder schöne Musik, sind das sanfte Lächeln Jesu.“ (Ich dachte sehnsüchtig an Arjun.) Simone rauchte schweigend und lehnte sich an den Stamm der Kastanie. Wir waren lange still. Clara Haskil wischte sich verstohlen mit einem Ginkgo-blatt, mit dem ihre Finger spielten, eine Träne von der Wange. „Es ist schwer, von dem, was man liebt, getrennt leben zu müssen“, sagte Simone, sich zu Clara und zu mir wendend, „aber jeder Trennungsschmerz schafft eine Verbindung zum Göttlichen!“ Sie erhob sich, drückte die Zigarette aus und schloss damit unser Gespräch ab. Wir umarmten und verabschiedeten uns. Wir werden uns nächstes Jahr wiedersehen. Am Spätnachmittag fuhr ich los. Wally wollte bis Chur mitfahren, um Freunde in Disentis im Bündner Oberland zu besuchen. Der Geier wollte partout nicht ins Auto, setzte sich aufs Dach und klammerte sich am Gepäckträger fest. Wir kurvten lachend und hochgestimmt, lauthals „Bandiera rossa“, „Varshavianka“, „Bella Ciao“ und „We Shall Overcome“ singend, zuversichtlich dem Rheintal zu. Hier war der Herbst schon weiter fortgeschritten. Die Lärchen prangten gelb und dazwischen bluteten Ahorne. Viele Gedanken jagten auf der Fahrt durch meinen Kopf, denn seit meinem letzten Aufenthalt in Devonn bin ich wieder rastlos geworden. Auch beim Kochen wird mir mittlerweile oft langweilig. Ich habe mich immer wieder losgerissen und aufgerafft, bin rastlos in Lappland gewandert, habe auf Island in warmen Quellen gebadet, in Las Vegas im Casino gespielt, in Hamburg tagelang geflippert. Die Langeweile hatte mich auf den Märkten von Hyderabad wieder eingeholt und die Arme um mich geschlungen. Aber erst in Tibet habe ich Heimweh nach Devonn bekommen. Auf vielen Felsen in der Nähe von Klöstern, neben im Winde flatternden bunten Gebetsfahnen, bemerkte ich kleine weiße, aufgemalte Leitern, damit die Geister leichter vom Paradies herabsteigen können, um die Menschen zu besuchen. Über diese Leitern finden sie den Rückweg ins Paradies leicht wieder. Margret Prevost braucht keine Leiter. Ihr Geist klettert wohl immer noch behände in der Bernina, hängt an Eiszapfen oder wandert, ein weißer Dunst, ruhelos über die Gletscher. Ein Konvoi von Lastwagen donnerte an uns vorbei und schreckte mich auf. Die Transporter waren auf dem Rückweg von der Mittelmeerküste, wo sie in Genua Lastschiffe mit abertausenden Tonnen Müll aus Europa beladen hatten und nun die nächste Sendung in Deutschland oder der Schweiz abholten. Der Kehricht ging auf dem Seeweg nach China. Niemand scherte sich darum. Er wurde einfach aus unseren Augen fortgeschafft. Was die Chinesen damit machen, wollen wir nicht wissen. Vielleicht versenken sie den Kehricht ja im Meer oder schießen ihn ins All. – Vorbeifahrende Autos hupten. Unruhe entstand auf der Straße, wohl des Geiers auf dem Dache wegen. Es kümmerte uns nicht, wenn uns entgegenkommende Fahrer mit dem Zeigenfinger „den Vogel zeigten“. Bei Bad Ragaz verfolgte uns die lokale Polizei mit Sirenen und Blaulicht. Wir entwischten lachend, in wilder Flucht, am Kurhaus vorbei, über staubige Nebensträßchen und Pappelalleen, mit dem flatternden und krächzenden Geier, der die rasende Fahrt auf dem Gepäckträger sichtlich genoss! Ich dachte an meinen Arjun im Keller, an Prada persa und an die versteckte Mutter Gottes in einer Ruine an der Montenegrinischen Küste. Aber noch öfter dachte ich auf dieser herbstlichen Fahrt mit einem Raubvogel auf dem Autodach an Aurel Kollegger, nach dessen beruhigendem Einfluss ich mich sehnte. Ich erzählte Wally von Prada persa. Ich hatte von dem Skandal erfahren, dass die Gemeinde Devonn, mit ihrem chronischen Geldmangel, den Piz Scasura im hintersten Scalafundastal (den ich mit Kollegger erklettert habe und an dessen Ostflanke Prada persa liegt) zum freien Verkauf ausgeschrieben hat. (Der Artikel liegt im Handschuhfach des Autos.) Es könnte geschehen, dass der Berg zum Beispiel von Coca-Cola für Werbezwecke gekauft wird. Dann wird die Firma ihr wohlbekanntes Schriftemblem oder das Bild der Flasche in riesenhafter Größe hoch oben am Felsen befestigen. Als Werbegag. Ich hatte Ähnliches in Spanien gesehen. Nicht auszudenken! Es kann auch geschehen, dass ein tüchtiger Unternehmer den Piz Scasura zum Urlaubszentrum macht, zum Erlebnispark, wo man auf Glasterrassen bequem der Bergwand entlang spazieren und in die Tiefe staunen kann. Vielleicht wird eine Seilbahn auf den Gipfel gebaut, auch eine Gastwirtschaft oder gar ein Hotel, ein Wellnesszentrum, viele kleine kitschige Holzhäuser für Urlauber und dergleichen mehr. Dann wäre unser verstecktes grünes Paradies bald entdeckt. Der geschäftstüchtige Plazi Vaterlaus junior in Devonn würde Ausflüge, Picknicke und Konzerte organisieren, Toilettenhäuschen aufstellen lassen, doch die Abfallkörbe vergessen. Die Wiese wäre bald zertrampelt und von Kehricht, Lärm und Banalität erstickt und das Ende ihrer wilden Bewohner wäre nahe. Das scheue Einhorn oder der Schneeleopard würden als Erste verschwinden, die Wölfe und Luchse gejagt, die Orchideen, Edelweiß, Pfauen, Eichhörnchen, Schmetterlinge und Käfer eingesammelt, dokumentiert und klassifiziert. Nicht auszudenken. Der Bund will den Verkauf des Bergs jedoch verbieten. Zum Glück sind juristische Streitereien im Gange. Sie verzögern das Verschachern der Heimat noch für geraume Zeit
Devonn, Anfang Oktober, in Großmutters Haus. Ich hatte mich gleich nach der Ankunft in Devonn mit meinem Mentor auf der Bank vor der Kirche verabredet. Von weitem sah ich, dass er bereits dort saß, in ein Gespräch mit einer lebhaften jungen Frau in rotem Kleid vertieft. Die beiden blickten übers Tal hinaus. Die fernen und nahen Berge mit den verschneiten Gipfeln zeichneten sich messerscharf am Abendhimmel ab. Ich staunte, dass ich selber das Mädchen war, das dort im feuerroten Kleid von damals saß, beim Rockfestival auf Scalaina, als ich Atli Gudmundursson begegnet bin „Verstehst du jetzt, dass nichts bleiben kann, wie es ist?“, hörte ich Teilhard sagen. Wie die junge Frau mich bemerkte, verabschiedete sie sich hastig mit einem Seitenblick auf mich und verschwand hinter der Kirche. Ich wollte ihr nachlaufen, sie bitten, bei mir zu bleiben. Ich bin doch, oder besser war dieses hübsche Mädchen; mit den Jahren jedoch sind mir sein Zukunftsglaube, Freude, Begeisterung und Unternehmungslust abhandengekommen und haben sich von der Gleichgültigkeit und der Melancholie verdrängen lassen. Wie gerne möchte ich die Zeit anhalten, rückwärts fließen lassen und so sein wie damals! Auch Hochwürden Teilhard ist gealtert und hat graue Falten im Gesicht. Er vertraute mir an, dass er sich um das weitere Schicksal von Prada persa sorgt und oft mit Pfarrer Vonmoos darüber spricht. Auch führe er lange Gespräche mit Conradin. Etwas später traf ich Wilhelm Tell auf der Straße. Er hat jetzt einen Kugelbauch und lässt den Kopf hängen. Er wohnt immer noch im hintersten Haus im Oberdorf, kümmert sich um Enkel und Urenkel, seine geliebten Bienenvölker, seinen Schäferhund und seinen Garten. Er hat jedes Jahr die schönsten Stangenbohnen des Dorfes, erholt sich bei seinen Bienen, redet mit ihnen und verkauft ihren Honig. Er intressiert sich nicht mehr für Politik. Hedwig, seine verbitterte Frau, hat ihm nun auch das Aquarellmalen verboten (er hatte immer nur Berge gemalt). Oft schaut Tell sehnsuchtsvoll zum Piz Drisch hoch und beobachtet mit dem Feldstecher die Gämsen und Steinböcke
Die Schmiede ist jetzt ein Museum, die Glasbläserei zur Garage umgebaut. Glasbläser Huonder dämmert in einem Altersheim im Engadin vor sich hin. Die meisten Ansässigen arbeiten in Huggentoblers Klinik, in Hotels und Gaststätten in der Nähe oder in Chur unten. Auch eine große Reparaturwerkstatt ist gebaut worden, dort, wo das Haus des Kommunisten Wettstein einst stand. Es gibt wieder Kinder im Dorf, die von drei Lehrern im neuen Schulhaus neben dem Gemeindehaus unterrichtet werden. Den melodiösen rätoromanischen Dialekt des Tales hört man nicht mehr so oft. Es wird jetzt viel mehr deutsch und italienisch im Dorf geredet. Wildheuer an den Steilhängen gibt es keine mehr. Die grünen, steil abfallenden Grashalden verbuschen, und damit wächst die Lawinengefahr. Die meisten Bauern haben längst von der Vieh- und Milchwirtschaft umgesattelt und trocknen und verkaufen nun Bündner Fleisch und züchten Gemüse oder arbeiten in anderen Berufen. Der uralte Ziegenjöri jedoch, der Außenseiter und Kauz, hat sich kaum verändert. Er hat noch seine Ziegen, verkauft jetzt auch Kräuter, die er in den Bergen sammelt. Auch Clà Clavadetscher und seine Familie haust immer noch in seiner baufälligen Hütte bei der Rüfe am Hang. Er lebt vom Bakschisch der Touristen, die den urchigen Bergler mit seinen Runzeln und Alpöhi-Bart gern fotografieren. Aber das Jagdfieber haben die Devonner immer noch jeden Herbst, und jede und jeder träumt davon, mindestens einen Steinbock zu schießen. Der jahrzehntelang geplante Skilift nach Cresta ist schließlich gebaut worden und zieht im Winter scharenweise Skifahrer von überallher an. Auf den breiten Abfahrtspisten wächst sommers nicht einmal mehr Gras. Die graugelben Schneisen sind zu Müllhalden geworden, übersät von Bergen von Papier und alten Akten, schwarzen Kehrichtsäcken, kaputten Gegenständen und alten Möbeln, zerbrochenen Skiern, rostigen Konservendosen, Stalltüren, Eisenrohren, Kühlschränken, alten Kleidern, Metall- und Plastikabfällen. Längst schert sich niemand mehr darum. Auch eine große Sprungschanze ist an der westlichen Dorfgrenze entstanden. Da der Schnee nicht reicht, wird in schneearmen Wintern mit Schneekanonen künstlich Schnee produziert. Matti Nykänen, einst von meiner Tochter so verehrt, ist nicht mehr bei den Wettbewerben dabei. Er soll einer Messerstecherei wegen in Finnland im Gefängnis sitzen. Es sind längst andere und Jüngere, von den Medien Verhätschelte oder Verteufelte, denen zum Klang ihrer Nationalhymne Medaillen um den Hals gehängt werden. Großvaters Freund Devonas hat schon Jahre vor seinem Tod Konkurs gemacht. Die Gemeinde hat all seinen Boden gekauft und unterhalb der Kirche zwanzig kleine, billige Ferienhäuser bauen lassen. Der Bäcker hat verkauft und ist in einen größeren Ort gezogen. Es gibt auch kein Postbüro mehr, nur noch einen gelben Briefkasten. Pakete können im Konsum verschickt und auch abgeholt werden. Vor dem Konsum ist jetzt ein Kondomautomat angebracht. Das ehemalige Kurhotel ist zum Touristenzentrum ausgebaut, mit Kegelbahn, Spielautomaten, Fitness- und Erotikcenter. Nackte Mädchen tanzen dort auf Tischen und hangeln an glänzenden Metallstangen. In Bar und Disco wird im zuckenden Scheinwerferlicht jede Nacht getanzt, getrunken und gejohlt bis in die Morgenstunden. Der Tourismus blüht. Die Touristen überschwemmen das Dorf jetzt auch im Sommer und im Herbst. Sie betreten ohne Scheu Blumenwiesen und Kartoffeläcker, tanzen und picknicken in Gärten, ziehen Möhren und Salat aus den Beeten und stehlen Äpfel. Ihre Kameras sind immer dabei. Sie baden nackt im alten Dorfbrunnen und schnüffeln um Häuser und Ställe. Buol junior hat sich einen scharfen Hund angeschafft, einen Dobermann, der seine Zähne fletscht und bellt, sobald jemand in die Nähe kommt. Adi Sankara hat es nicht mehr ausgehalten, denn der Hund hat ihn tagelang angebellt. Der berühmte Inder hat Buols Scheunendach verlassen und hat sich ohne neue Adresse davongemacht. Das geschnitzte Holztor von Venzins Haus wird täglich gefilmt und fotografiert, und die fremden Leute, neugierig wie sie sind, treten durch den dämmrigen Flur ins Haus ein, öffnen Schränke und wühlen in Leinen und Geschirr, holen sich Limonade aus dem Kühlschrank, als ob das ganze Dorf ein Verkaufsladen wäre. In den Sprachen aller Herren Länder müssen Verwegene aus der Privatspäre der Dorfbewohner verscheucht werden. Es sind vor allem dreiste Franzosen, Dänen, Araber, Amerikaner, Japaner und Chinesen. Der Gemeindeammann hat an einer außerordentlichen Gemeindeversammlung allen Einwohnern geraten, sich wie Buol junior Hunde anzuschaffen. Geschäftstüchtige Einwohner jedoch vermögen den Fremden kitschige Kuckucksuhren und geschnitzte Masken, Steinböcke und Murmeltiere und Ähnliches als Antiquitäten anzudrehen und leben gut davon. Es gibt bereits an die zwanzig diplomierte Bergführer, die gegen gutes Geld Ausflüge auf die nahen Gipfel anbieten und einander in der Freizeit beim Bier in der Crousch alva schlechtmachen. Am schlimmsten treibt es der Enkel von Calonder. Am Piz Mulatsch steht man meist lange Schlange, um oben durch den Kamin zum Gipfel zu kommen. Alle Griffe im Berg sind gesichert mit Hunderten von Haken und Seilen. Es gibt Dutzende solche Kletterpfade. Ob aber am Piz Mulatsch der Türkenbund noch blüht, ist fraglich. Der Sportplatz neben der neuen Schule (vor vierzehn Jahren vom reichen Amerikaner Joseph Brumlik dem Dorf gestiftet), wo die Dorfjugend abends Fußball spielte und der den Schulkindern und dem Turnverein bei schönem Wetter als Turnplatz diente (da die Turnhalle der neuen Schule zu klein und immer überbucht war), wurde kurzerhand vom Gemeindevorstand zum Tennisplatz für Hotelgäste umfunktionniert. Die Proteste, vorab vom Theaterverein, Kindern, Eltern und Lehrern blieben ungehört. Das Haus Devonas, bekannt als das schönste Haus im Ort, mit dicken Mauern und Erkern und einem frommen Denkspruch aus dem 18. Jahrhundert über dem Eingang, ist vom Modeschöpfer Massimo Marini gekauft und innen vollständig umgebaut worden. Zu gewissen Zeiten kann man hier aufgedonnerte Models antreffen, junge schöne Menschen, die bei ihm ein und ausgehen. Auch der Medienstar Hanna Cabalzar mit der Lotosblume im Bauchnabel ist für Marinis nächste Kollektion angeheuert worden, sowie einige der jetzt erwachsenen Monsterkinder Huggentoblers, so der runzlige Frocin mit Buckel und zwei Daumen an jeder Hand, der jetzt im schwarzen Cerruti-Dreiteiler mit Kravatte herumtrippelt. Im Dorf jedoch kann niemand etwas mit dem langhaarigen Italiener Marini anfangen, der nachts mit seinen ausgeflippten Kumpanen schreiend durch die Sträßchen läuft, betrunken oder vollgepumpt mit Heroin. Am Tag meiner Ankunft hielt Massimo Marini eine rauschende Hochzeit mit seinem neuen französischen Freund Armand. Dazu wurden bei Vandemeer Tausende von Orchideen bestellt. Die Hotels der Nachbardörfer und auch das teure Sporthotel Devonn waren gerammelt voll von Journalisten und Mitarbeitern von Marini. Das ganze Dorf ist in Aufruhr. Mehrere Dorfbewohner haben sich nebst ihren Jagdgewehren auch andere Waffen zugelegt. Man munkelt, dass mehrere blutjunge Mädchen und zwölf kleine Jungen aus der Gegend angeheuert worden sind, um Essen aufzutragen und nackt Blumen zu streuen. Was drinnen im Sporthotel geschehe, wisse man nicht, könne es nur ahnen. Man weiß wie immer nichts Genaues, wahrscheinlich sind es auch nur Gerüchte, denn die Angst und das Misstrauen vor Zugezogenen und Fremden haben hier eine lange Tradition. Hysterische wagen sich nachts nicht mehr allein auf die Straße. Luzi Comminoth, der nächstes Jahr in Rente geht, hat wieder alle Hände voll zu tun in Devonn. Er hat bewaffnete Polizisten und Polizeiautos im Dorf stationiert und lässt sie patrouillieren, um Auswärtige sowie Einheimische vor Übergriffen zu schützen. All dies habe ich von Hedwig Tell gehört und weiß nicht, ob es wirklich wahr ist. Sie ist die einzige Frau, mit der ich mich manchmal unterhalte. Weder Margret Prevost noch ich hatten je viel gemeinsam mit den Frauen im Dorf, die stets befremdlich, ja manchmal feindlich auf uns reagierten. Margret und ich kamen von auswärts, kleideten uns anders, dachten anders, kamen und gingen, wie es uns passte. Wir hatten kaum Beziehungen im Dorf aufgebaut, obwohl ich es mir damals so sehr wünschte und zahlreiche Versuche gestartet habe. Ich bin aber immer wieder an der Verschlossenheit der Einheimischen abgeprallt. Klar! Margret und ich lebten unser eigenes Leben, folgten unseren eigenen Regeln. Wir backten zur Fasnacht nie zusammen mit den einheimischen Frauen wagenrad-große Fasnachts-Küchlein oder Birnbrot zur Adventszeit, wir färbten keine Ostereier, schnitten keine Blumen für Fronleichnam und flochten keine Kränze für Mariä Himmelfahrt. Wir nahmen nicht am Dorfklatsch teil. Wir unterhielten uns nicht mit den Frauen über Tatort und Lindenstraße, weil wir diesen Fernsehschund nicht anschauten. Wir häkelten keine blau-weiß-grauen Gewehrhüllen, wir erzählten nichts über uns und über andere, und vor allem waren wir nicht jagdbegeistert. Wir waren anders. Keine der Dorffrauen, nicht einmal Ruth, Gilgia oder Regina, haben uns je gefragt, ob wir ihnen mit Salz oder Streichhölzern aushelfen können. Dabei gebe ich nicht einmal unseren ungenügenden Sprachkenntnissen die Schuld. Wir ordneten uns ganz einfach nie den ungeschriebenen Gesetzen des Dorfes unter. Wir waren unabhängig und selbstgenügsam. Nur eben Hedwig, die Frau Tells, war immer schon neugierig und versuchte mich manchmal auszufragen und erzählte hinterher alles brühwarm Luzia und Barblina, den alten Klatschbasen des Dorfes weiter. Mein Paradies hat Risse bekommen. Die Dorffrauen grüßen auch Mengia Huggentobler kaum. Sie wird als Luxusfrau abgestempelt (obwohl sie berufstätig ist und einem Labor vorsteht), die geschminkt, mit Zobelmantel und hochhackigen Schuhen auftritt. Da schwingt natürlich auch viel Neid und Missgunst mit. Mengia, die eine Hausangestellte von auswärts beschäftigt, kauft auch kaum einmal im Konsum ein wie die Ansässigen, sondern fährt mit ihrem Sportwagen nach Chur oder nach Zürich. Es ist schwer, den eisernen, ungeschriebenen Gesetzen der Dorffrauen Genüge zu leisten. Es gibt eine eigene Moral hier, geprägt von Ignoranz, Neid und Eifersucht. Jede weiß, was in der Bratpfanne der Nachbarin brutzelt. Jede überwacht jede in dieser engmaschig gehäkelten Dorfgemeinschaft. Niemand darf anders oder besser sein. Das gilt für Kleidung ebenso wie fürs Betragen. Alle müssen sich anpassen. Das betrifft auch die Männer. Ob das schon zu Crescenzas oder Luises Zeiten so war? Devonn, Anfang Oktober. Ich bin mit dem Postauto ins Nachbardorf gefahren, in den Buc vigl, das Gasthaus Zum alten Steinbock, wo ich vor Jahren mit Kollegger geflippert habe. Die rauchige Gastwirtschaft ist umgebaut in ein Mc Donalds mit Parkplatz vor dem Haus. Das Bild eines Burgers prangt in Leuchtfarben an der Wand, die einst mit eleganten Sgraffiti verziert war. Jetzt dreht sich ein großes gelbes M Tag und Nacht auf dem Hausdach. Flipperkasten und Wurlitzer gibt es drinnen keine mehr, aber laute Popmusik in allen Ecken und es stinkt nach billigem Frittieröl. Fast Food ist auch im Valsass beliebt geworden. Wo geht denn Kollegger heutzutage flippern? Nichts als weg von hier! Im Postauto hörte ich, dass die Gemeinde La Punt Tschierv, das Dorf unten im Tal, gar nicht so weit von Devonn entfernt, einst berühmt und preisgekrönt für seine Blumenzier) evakuiert werden muss, weil die Häuser im Müll zu versinken drohen und der Gestank nicht mehr auszuhalten ist. Ich floh zurück, den Berg hoch nach Devonn. Der neue Gemeindeammann, Plazi Vaterlaus junior, sprach mich höflich an und bat mich in sein Büro im Gemeindehaus. Ein riesiger weißer Raum, weiße Ledersessel, ein leerer Schreibtisch mit einem weißen Laptop und einer eleganten italienischen Lampe. An der Wand hängt ein Werbeplakat, das Devonn mit dem Hausberg Piz Berantschun im Tiefschnee zeigt. Vaterlaus bot mir einen Sessel an, setzte sich nonchalant, bot mir Whisky an. Die Eiswürfel klirrten im Glas. Ich starrte entsetzt auf seine echten Schlangenlederschuhe und wartete, dass heimlich eine Schlange aus seinem Hosenbein kriecht. Vaterlaus hat eine neue Geschäftsidee. Er fragte mich, ob ich Gourmetmahlzeiten komponieren und kochen könne, die dann mit den Touristen in Hubschraubern auf den Piz d’Èla geflogen werden. Ich zog fragend die Augenbrauen hoch, aber er fuhr fort: „Es handelt sich nicht um die Billigtouristen aus dem Sporthotel! Gruppen von gut bezahlenden, erstklassigen Urlaubern werden auf drei berühmte Aussichtspunkte geflogen. Ein Kellner und drei Musiker sind mit von der Partie: Eine Bassgeige, eine Klarinette und eine Handharmonika. Am ersten Haltepunkt, auf einer Blumenwiese oberhalb des Dorfes, solle die Vorspeise gereicht werden; etwas mit Kräutern und Geräuchertem aus der Gegend. Dann werden die Leute ins Hochgebirge geflogen, vielleicht zum Piz d’Èla, und auf dem Gletscher wird der Hauptgang serviert, vielleicht Wild mit schwerem Rotwein aus dem Veltlin. Der Nachtisch, samt Kaffee, Cognac und Zigarren am frühen Nachmittag ist auf dem Gipfel des Piz d’ Èla geplant, wo man bei schönem Wetter fast über die ganzen Alpen sieht, bis tief hinein nach Italien. Die Kombination von Gourmetessen, perfekter Bedienung, Musik und großartiger Bergwelt wird die erlebnishungrigen reichen Leute anziehen!“. Er beugte sich vor und meinte: „Wir werden gute Geschäfte zusammen machen können! Du bist eine bekannte Gourmetköchin und hast Wurzeln hier!“ Ich beteuerte, keine Zeit zu haben. Er bat mich aber, das Angebot noch einmal zu überdenken. Wie mittlerweile jedes Jahr um die Zeit, ist wieder Steinbockjagd. Unser Wappentier hat im letzten Winter im restlichen Bannwald am Piz Berantschun Bäume angenagt und deren Rinde gefressen. Der Bestand an Steinböcken muss dringend dezimiert werden. Devonn fiebert und es wird von nichts anderem als der Jagd geredet und alle angefangenen Arbeiten, von der Autoreparatur bis zum Strickstrumpf, bleiben liegen. Es ist nicht einfach, eine Lizenz zu bekommen. Man oder frau muss bereits fünf gelöste Jagdpatente und an einem Einführungskurs teilgenommen haben. Von den ungefähr 6000 Steinböcken dürfen in Graubünden 500 pro Jahr geschossen werden. Um überhaupt einen Bock schießen zu dürfen, muss zuerst eine Steingeiß erlegt werden. Sie darf aber keinesfalls trächtig sein oder ein Junges säugen. Ich bin der Steinböcke wegen besorgt und schmierte mit roter Farbe nachts heimlich an die Fassaden vom Gemeindehaus, dem Fremdenverkehrshaus und der Crousch alva: „Lasst die Steinböcke in Ruhe!“, besuchte die Kirche und machte dem heiligen Georg im Altarschrein Vorwürfe, dass er sich um nichts, aber auch um gar nichts, kümmert. Jetzt im Herbst fliege ich viel. Ich brauche nun weniger Wind als früher, ungefähr so viel wie man braucht, um einen Papierdrachen steigen zu lassen. Ich habe es bei den Chinesen beobachtet und gelernt, den Aufwind zu nutzen. Ich bin durch die Gegend geflogen und habe mich umgeschaut. Der große Kahlschlag bei der Rüfe am Berantschun ist mir sofort aufgefallen. Dort wuchs früher dichter Bannwald. Jetzt ist er übersät von Müll aus dem Dorf; viel Elektronikmüll und Plastik. Clavadetschers windschiefes Häuschen steht noch bei der Rüfe. Ich habe viele neue Berghütten gesehen, vor denen von Regen, Schnee und Wind ausgebleichte Schweizerfahnen wehen, Kehricht der Touristen haufenweise, überall; im Wald, auch beim Wasserfall und auf dem Berg. Es gibt einige wenige neue Lawinenverbauungen beim Skilift nach Cresta hinauf. Ich betrachtete am Piz Drisch den kleinen und schwarz gewordenen Gletscher und die Mondlandschaft der kahlen Moränen, übersät mit Haufen zerfetzter Plastikflaschen und -tüten in allen Farben, auf denen Bergdohlen mit gelben Schnäbeln herumstolzieren, picken und sich zwischen Gras und Bilsenkraut wichtigmachen. Sonntags tummeln sich hier zahlreiche Hang- und Drachenflieger und nichtssagende Popmusik donnert. Ich war zu lange weg. Viele ältere Dorfbewohner, die ich gekannt habe, sind gestorben. Die Namen der Jungen im Dorf kenne ich nicht und fühle mich fremd. Es ist kalt geworden, aus meinem Mund entweicht eine Dunstfahne. Das dürre Gras am Straßenrand schwankt im Wind, der feindlich mit Kletten nach mir wirft. Ich sitze oft lange in den Laubhaufen unter dem Ahorn vor dem Gemeindehaus. Ich finde auch dort keine Ruhe, fliehe in den Keller, hole den kleinen Schlüssel aus dem Salzfass, öffne den Basskasten und küsse Arjuns klebrigen Mund, aber denke an Kollegger. Wo bleibt er nur? Er hat keine Angst, weil er nichts besitzt, nichts besitzen will und nichts erstrebt und vielleicht auch nichts wirklich liebt. (Oder vielleicht liebt er so, dass er nicht besitzen will.) Er soll immer noch in seinem alten Wohnwagen hausen, den er damals nach dem Brand wieder instand gestellt und auf einem Betonsockel gestellt hat; so wie es bei uns viele ehemalige Fahrende zu tun pflegen; denn das Herumziehen und Gammeln ohne Geld ist schon lange nicht mehr erlaubt. Was tut Aurel, wenn es in der Gegend keine Flipperkästen mehr gibt? Ist er im Bergwald, liest er oder arbeitet er irgendwo? Ich stellte mich lange unter die Dusche, um die Melancholie wegzuspülen, zog mich frisch an und suchte Aurel. Die verbeulte Tür des Wohnwagens war verschlossen. Ich rüttelte verzweifelt daran. Aber Kollegger war nicht da, nur Kyrie eleison, sein schwarzer Kater, strich mir schnurrend um die Beine. Niemand will den Jenischen in den letzten Tagen gesehen haben. Er ist wohl wieder unterwegs. Vielleicht ist er ja doch irgendwo beim Flippern. Ich kritzelte einen Gruß auf eine herausgerissene Schreibheftseite und schob sie unter der Tür des Wohnwagens durch. Der erste Frost hat bereits seinen Schleier über die Landschaft gelegt. Alles graut und braunt ein, ist verbleicht wie nach zu vielem Waschen, zieht sich zurück, bereitet sich seufzend auf einen langen und harten Winter vor. Devonn, Tage später. Es hat bis in die Niederungen geschneit und ein kalter Wind weht. Seit gestern ist Felix wieder da, plötzlich aufgetaucht, abgemagert, mit struppiger Mähne. Wir gingen beim Abendläuten durchs Dorf. Auf dem gepflasterten Platz vor der Crousch alva stand ein Geländewagen. Auf dem Anhänger lagen drei erlegte Steinböcke mit prachtvollen Hörnern. Sie hatten Büschel Gras im Äser, die Augen weit aufgerissen und starrten ins Leere. Felix knurrte. Ich weinte. In der Schenkstube saßen fünf junge Jäger beim Bier, begossen ihr Jagdglück und grölten auf Romanisch. Wessen Söhne sind sie? Wo ist nur Aurel? Am Samstag war das Dorf in freudiger Aufruhr! Die Eismumie, die man im Dorf bereits die Eismadonna nennt, ist heute, an einem sonnigen, aber kalten Samstagnachmittag, wo alle frei haben, nach Devonn zurückgebracht worden. (Jahrelang wurde sie an einer deutschen Universität untersucht.) Das Dorf hat ihr einen festlichen Empfang mit Musik und Fahnen bereitet. Viele Wochenendtouristen mit idiotischen kleinen weißen Sonnenhütchen haben zugeschaut. Eine Blaskapelle hat gespielt und Reden sind gehalten worden. Der gemischte Chor sang: „Im schönsten Wie-sen-gru-un-de, ist meiner Hei-mat Haus, da zog ich manche Stu-unde ins Tal hi-naus! Du mein stilles Tal, Gruss-zum letz-ten Mal …!“ Der Gemeinderat und das halbe Dorf ware dabei. In einer Ansprache wurden alle informiert, dass die Forscher sich jetzt einig sind, dass der Fund der Hallstattzeit zuzurechnen ist. Die Eismadonna stammte nicht aus der Gegend, hieß es. Das zeigten die Zahnanalysen. Sie kam anscheinend aus Südosteuropa, irgendwo vom Balkan. Es muss dort Krieg gewesen sein, denn die Frau hatte eine schlecht verheilte Pfeilverletzung am Oberarm und zeigte noch Spuren von mehrmaliger Vergewaltigung. Das Kind ist nicht ihr eigenes. Sie hatte wohl ein verlassenes kleines Mädchen gerettet und es mit auf die Flucht genommen. Vielleicht wurde sie von den Dorfbewohnern verjagt und wollte den Berantschun überqueren, um auf einem anderen Weg in den Süden zu gelangen. Vielleicht lief sie im Nebel im Kreis, wurde eingeschneit und erfror oder verhungerte. Man hat der berühmt gewordenen, jetzt bereits Unsere liebe Frau vom Eis genannten, ein von Alois Huggentobler gestiftetes kleines Museum gebaut. Frau und Kind aus dem Balkan sitzen dort in einem großen Glaskasten und können dort für wenige Schweizer Franken bewundert werden. Auch haben Archäologen in einer Mulde am Piz Berantschun ein Röstbett für Kupferkies ausgegraben, noch älter als die Gletschermadonna. Es hat sich gezeigt, dass es in der ganzen Gegend Kupfer, Eisen und Mangan gibt, das früher gewinnbringend abgebaut wurde. (Das Rösten von Kupferkies, Chalkopyrit, um die Schwefelanteile darin zu verbrennen, ist eine erste Stufe der Verhüttung.) Jede und jeder in Devonn ist seit jeher stolz auf die lokale Geschichte; auf das Faktum, dass Devonn einmal an einer wichtigen Handelsstraße lag. Einst hatte man Kontakte mit der ganzen damaligen Welt. Man war und ist nicht hinter dem Mond. Devonn, Föhnwetter, zu Hause mit schrecklichen Kopfschmerzen. Mengia Huggentobler hatte mich eingeladen, zusammen mit einer Delegation aus Korea die Klinik zu besuchen. Die Eingangshalle ist ausgestattet mit einladenden orangefarbenen Designerböbeln aus Italien, angenehmer Beleuchtung und großen Glasfenstern. Überall stehen Grünpflanzen und Aquarien mit bunten exotischen Fischen. Es gibt gemütliche Krankenzimmer mit neuesten technischen Ausstattungen, Designer-Bettwäsche und pastellfarbenen Wänden. Huggentoblers elegante Mengia führte uns stöckelnd durch die Räume. Sie sieht noch immer blendend aus und hat keine einzige Falte im Gesicht. (Conradin hat zwar behauptet, sie habe bereits mehrere Schönheitsoperationen hinter sich.) „Das Erdgeschoss ist für ambulante Patienten und Besucher sowie für Samenspender und Eizellenspenderinnen“, erklärte sie uns und flüsterte mir zu: „Unser Schulkamerad Johnny–Hanna! war übrigens auch Samenspender bei uns.“ In der gemütlichen Cafeteria bot sie uns Kaffee und Bio-Kivikuchen an. Dann fuhren wir mit dem Aufzug in den ersten Stock, wo die Räume ganz in Hellgrün gehalten sind. Im blubbernden Aquarium dösten zwei riesige Kraken „Frauen, die selber ein Kind austragen wollen, werden hier mit genverbesserten Spermien versehen. Meistens lassen sie sich heutzutage aber schon fertig befruchtete Embryonen einpflanzen.“ Wir gingen weiter. „Im zweiten Stock ist die Abteilung für Leihmütter, denen gegen gute Bezahlung ein fremder Embryo eingepflanzt worden ist. Die Frauen gebären hier alle mittels Kaiserschnitt, damit man die Geburten zeitlich kontrollieren und koordinieren kann – in positivem Orange. Es sind vor allem Rumäninnen, Frauen aus der Ukraine und Albanien, aber es sind auch ein paar Inderinnen, Afrikanerinnen und Brasilianerinnen dabei. Sie verbrachten einen Teil der Schwangerschaft in einem Heim am Bodensee, machten leichte Arbeit und wurden gut gepflegt!“ „Das ist ja wie ein Lebensborn!“, rutschte es mir raus. „So etwas hat sich mein Alois auch dabei gedacht“, sagte Mengia. „Nur dass wir heutzutage viel präziser sein können. Wir arbeiten daran, Genome weiter zu entziffern und Teile zu ersetzen mittels der Genschere, eine Erfindung, an der mein Mann den größten Anteil hat. Es sind schon viele geglückte Versuche gemacht worden, dem Kind bestimmte Eigenschaften wie blondes Haar, blaue Augen, hoher Wuchs oder Sportlichkeit und analytische Intelligenz zu gewährleisten. Das ist natürlich ein langwieriger und leider immer noch sehr, sehr teurer Prozess!“ Mir fielen auch Hunderte schwarzer und grünlicher Froschlurche auf, die zwischen Wasserpflanzen in riesigen Glasbehältern durcheinander wuselten. „Im dritten Stock“, erklärte Mengia, „arbeiten wir an den GMOs, den genetically modified organisms. Wir erzeugen hier auch verschiedene Arten von Mutanten wie transgene Pflanzen und Säugetiere, aber auch transgene Menschen!“ Dazu passend lauerte hinter Glas ein Stierkopfhai in einem riesigen Becken mit Blaulicht, rosaroten Seeanemonen, Korallen und Seesternen „Was ist ein Transgen?“, fragte ich atemlos. „Ein Gen wird zum Transgen, wenn es von Menschenhand in eine Eizelle injiziert wird. Wir verwenden auch tierische Gene für Menschen, denn von den knapp 22 000 Genen, die der Mensch hat, sind etwa 90 % mit dem Fisch gemeinsam!“ Ich ging verblüfft weiter. Auch die Koreaner waren bleich und still geworden. Mengia erzählte stolz von den zwei Babys, die bereits vollständig in der Retorte geschaffen worden sind, aber leider noch nicht lebensfähig waren. Aber es sei bloß eine Frage der Zeit „Ach, wie der Muskelmann Rocky in der Rocky Horror Show!“, seufzte ich. Mengia nickte, lächelte und fuhr fort: „In unserer Forschungsabteilung im Untergeschoss, streng bewacht, wird am Menschengenom weitergeforscht. Vor ein paar Jahren noch hatten wir für Menschen-, Tier- und Pflanzenforschung verschiedene Abteilungen. Heute gehören alle Abteilungen zusammen. Eine Reihe Forscher arbeiten daran, Genome von Tieren, die uns nützlich sein könnten oder den Menschen schöner machen, in menschliches Erbgut einzusetzen, wie Muskelstärke, Schnelligkeit von Gazellen, Beweglichkeit, die Fähigkeit sehr gut zu sehen oder zu riechen – wie zum Beispiel Wölfe.“ Wir setzten uns in eine Ecke mit teuren Sesseln und moderner Kunst an den Wänden. Mozarts „Eine kleine Nachtmusik“ tropfte süß und klebrig wie Himbeersaft durch den Raum, während zwei angeschwollene, riesige Zackenbarsche hinter der Glasscheibe des Aquariums ihre Lippen obszön an die Scheibe pressten und mich unverhohlen beäugten. „Im Untergeschoss“, fuhr Mengia fort, „da dürfen wir leider keine Besucher empfangen. Da werden Genome von Tieren, Pflanzen und Menschen isoliert. Es werden Sperma und Pflanzensamen gelagert, tiefgefroren in Panzerschränken, als Genbank für die Zukunft. Es ist viel geschehen in den letzten fünfzehn Jahren! Wir haben vor Jahren zum Beispiel eine zweieutrige Kuh entwickelt, die viel mehr Milch gibt als eine gewöhnliche Kuh. Rosen haben wir Fischgenome eingesetzt, damit sie kälteunempfindlich werden.“ Sie strahlte. „Es geht mit Riesenschritten voraus, zum Segen der Menschheit. Ich bin so stolz auf meinen Mann; stolz auf seine Errungenschaften für die Menschheit, viel stolzer als auf den neuen Sportwagen oder gar den Zobelmantel, den er mir in Russland gekauft hat …“ Sie hatte echte Tränen der Rührung und des Stolzes in den Augen. Unsere kleine Besuchergruppe fuhr noch einmal in den zweiten Stock und besuchte den Aufwachsaal der Leihmütter, wo rund zwanzig Frauen, die eben entbunden hatten, vor sich hin dösten. Ein Hühnerstall voller Legehennen! Ich trat ans Bett einer Frau, die anscheinend schon einige Stunden wach war. Mit großen braunen Augen schaute mich die rumänische Zigeunerin an und lächelte. Auf meine Frage, wie es ihr gehe, antwortete sie: „Für meine Arbeit, ein fremdes Kind ausgetragen und geboren zu haben, werde ich sehr gut bezahlt. Ich kann jetzt meine eigene kleine Tochter in Temesvar selber ernähren und sie in eine gute Schule schicken. Ich werde in wenigen Monaten wieder ein Projekt annehmen.“ Ich dankte Mengia und verabschiedete mich fast fluchtartig von der Gruppe. Ich musste raus aus dieser verrückten keimfreien Hölle, wo alles Herkömmliche auf den Kopf gestellt schien. Mir war übel. Ich brauchte frische Luft und machte einen langen Spaziergang durch den herbstgelben, vom Lärchenwickler heimgesuchten, melancholischen Lärchenwald. Am Abend saß ich am offenen Fenster und versuchte den Eindruck des Tages zu verarbeiten. Ich erinnerte mich an ein nettes Paar, – eine Lehrerin und eine Notarin –, die mir stolz erklärten, durch Haploidisierung – aus Stammzellen gezüchtete Samenzellen als Ersatz für männliche Samenzellen – ein Kind zu bekommen. Die eine strich sich stolz über den Bauch. „Wunderbar! Und ohne dass ein Mann daran beteiligt gewesen wäre!“ „Außer die Professoren Huggentobler und Brechbühl und ihr vorwiegend männliches Team!“, lächelte ich bösartig. Sie hörte es nicht. „Das Mädchen wird genau aussehen wie ich“, schwärmte sie. „Blond, mit blauen Augen und langen Beinen. Die große Liebe und Begabung zur Musik bekommt sie von den Genen meiner Lebensgefährtin!“ Ich kritzelte in mein Tagebuch: Das Kind: bisher ein Produkt der Anziehung zwischen Mann und Frau, die wir gemeinhin Liebe nennen, die irgendwann in grauer Vorzeit entstanden ist, um die Gattung Mensch zu erhalten. (Diesen Drang zur Vereinigung muss es ja laut Teilhard schon in den Urzellen gegeben haben.) Wie romantisch und hysterisch das nach meinem Besuch in der Gen-Klinik tönt, wo alles so klar, geschlechtslos, tolerant und überschaubar ist, so wissenschaftlich und blitzsauber, berechenbar, vernünftig und nachhaltig. Heutzutage beginnt es mit einem Samenspender, der in einer Ecke der Klinik Huggentobler mithilfe von Pornofilmen onaniert und dann ein Glasröhrchen mit Spermien abliefert, die von Biochemikern erst auf ihre Tauglichkeit untersucht werden. Manchmal werden auch mit einer komplizierten Methode Gene mit Krankheitsträgern ausgespült. Dann werden Spermien, frische oder tiefgefrorene, von Ärzten in die Frauen entnommenen Eizellen injiziert, die dann in den Uterus einer gesunden Frau transplantiert oder in der Petrischale und später im Brutkasten gereift werden. Das Ziel ist, bald Kinder vollständig züchten zu können. Der Samenspender, die Eispenderin sowie die Frau, die das Kind austrägt, werden nie etwas von ihrem Nachfahren erfahren. Alles ist keimfrei und beziehungslos. Kinder werden zu Objekten eines kostspieligen, wissenschaftlichen Produktionsprozesses, unpersönlich, kalt und willkürlich. Man kann sie bald nach Maß planen, designen, bestellen und im Internet kaufen. Ein Retortenkind, ein neuer Mensch, ist zur Handelsware geworden wie etwa ein Rassehund-Welpe oder eine Büchse Tomatenmark. Gewiefte Geschäftsleute werden viel, viel Geld damit verdienen! Plötzlich tippte mich ein spitzer Finger an die Schulter. Erschrocken bemerkte ich Frocin, das bucklige Männlein. Es grinste „Die Tür unten stand offen, und ich wollte dich mal besuchen, und ich hab Kuchen dabei!“ Der Gnom versuchte mir über die Schulter in mein aufgeklapptes Tagebuch zu schauen „Geh weg, sonst rufe ich die Polizei! Du kannst bei mir nicht einfach ins Haus kommen!“, fauchte ich „Und ich werde dich anzeigen – für Missachtung und Ehrverletzung von anders Befähigten!“, antwortete er spitz und stellte das Kuchenpaket unsanft auf den Tisch „Du nennst mich das bucklige Männlein! Ich bin nur ein armer Zwerg, ein frühes, missglücktes Versuchskind aus der Retorte, mit zwei Daumen an der rechten Hand, das nichts für seine bucklige Gestalt kann“, und säuselte mit einem Augenaufschlag: „Schämst du dich denn nicht?!“ „Was willst du von mir?“, fragte ich in scharfem Ton, als ich verstanden hatte, dass Frocin nicht so leicht abzuschütteln war „Nur mit dir reden!“, schnarrte der Zwerg und holte dann aus: „Beziehung, Liebe“, und zeigte mit seinem knochigen Zeigefinger auf die offene Tagebuchseite, schnaubte und verzog sein Gesicht. „Das ist alles Unsinn. Die meisten Kinder werden sowieso aus Nachlässigkeit empfangen – Sex ohne Kontrolle und oft ohne Kinderwunsch. Liebe gibt es nicht, kurze Lust schon“, trompetete der Gnom, berührte sich provokativ im Schritt und ließ sich lachend wie Rumpelstilzchen im Spagat auf den Boden fallen. Er zog sich wieder hoch und fuhr mit näselnder Stimme fort: „Huggentobler pflegt zu sagen: ‚Sex ist eine genetische Lotterie mit fast nur Nieten!‘ Die Natur leistet keine gute Arbeit. Sie arbeitet viel zu langsam, viel zu langsam und macht zu viele Fehler und bleibt mittleweile weit hinter der technischen Entwicklung der Menschheit zurück! Denk an die vielen Erbkrankheiten, Missbildungen und Behinderungen – schau mich an – und an das viele Leid, an den Tod … Aber wir werden bald wissen, in welchen Genen welche körperlichen und mentalen Eigenschaften verankert sind, und wir werden das Leben verbessern, verschönern und verlängern!“ „Was auch immer, wir Menschen haben Sex und Liebe nicht selber erfunden. Wir sollten Ehrfurcht vor der Natur haben, denn Mann und Frau zusammen sind heilig! Sie können durch nichts ersetzt werden!“, sagte ich und verließ meinen Fensterplatz. Frocin lachte schallend, riss den Karton auf, griff sich ein Stück Sahnekuchen und stopfte es gierig in sich hinein: „Du redest noch reaktionärer daher als die christlichen Kirchen, die Imame und Rabbiner, die alle eine sehr gespaltene Beziehung zur Sache und auch zu uns Retortenkindern haben!“
„Du müsstest eigentlich die Arbeit Huggentoblers und seines Teams von Biohackern begrüßen“, und trat einen Schritt näher an mich heran. „Denn sie gibt Frauen alle Möglichkeit, über ihren eigenen Bauch zu bestimmen. Abtreibung und genmanipuliertes Retortenbaby sind doch bloß die Verlängerung, die Verwirklichung der egoistischen, feministischen Philosophie von euch weißen Frauen. Ihr denkt gar nicht an die anderen! Auch was ihr die Monsterkinder nennt – die mit den Flossen, Hasenohren und Katzenpelzen – sind bloß wahr gewordene Träume von Menschen von heute! Wir sind Individualisten, wir tun, was uns gefällt. Wir verwirklichen nur uns selbst, auch auf Kosten anderer! Wir wollen nur Spaß, Glitzer, Geld und Glamour und kümmern uns nicht um morgen, am allerwenigsten um altmodische ethische Werte, die uns irgendeine Religion eintrichtert! Leihmütter und Samenspender hat es übrigens schon in Kulturen gegeben, die wir mit primitiv abgetan haben. Lies doch bei Levy Strauss nach! Nichts Neues unter der Sonne! Wir sind aufgeklärte Individuen, und es herrscht Freiheit und Demokratie! Für alle!“ „Für alle, die bezahlen können!“, warf ich wütend ein. Mir fiel wieder ein, was Gottfried Keller vor Jahren über unsere Demokratie prophezeit hatte. Frocin grinste „Die Wissenschaft und die Technik machen es möglich! Denk darüber nach! In diesem schönen Land herrscht die Freiheit des Einzelnen! De-mo-kra-tie! Jede und jeder in Europa kann im Grunde frei wählen zwischen Armut und Armani! Um vorwärtszukommen, muss man sich nur ein wenig anstrengen; schlau muss man sein und Ellenbogen haben!“, grinste der Zwerg. Ich fand endlich das rote Taschenmesser mit dem Schweizerkreuz in der Tasche und klappte die Klinge auf. Als ich mich umsah, war der Störenfried lachend verschwunden und die Haustür schlug zu. Ich zog meine alte graue Strickjacke an und verließ zitternd das Haus, zitternd aus Angst, Wut, Hilflosigkeit, Schrecken und Grauen, vergaß aber nicht, doppelt abzuschließen. Ich war durcheinander. Ich musste Teilhard sehen. Ich fand ihn in der Crousch alva beim Abendessen zusammen mit Conradin. Ich erzählte den beiden aufgeregt von meinem Besuch in der Klinik und vom Gespräch mit Frocin, dem Buckligen. Mein Mentor hörte scharf zu. Conradin hingegen war aufgebracht. Seine helle, fast durchsichtige Haut wurde stumpf und aschfahl. Er überlegte angestrengt und stocherte in seinem grünen Salat. Schweißtropfen perlten auf seiner Stirn. Ich bestellte einen großen Cognac, stürzte ihn hinunter und quengelte: „Warum denken wir nicht endlich ernsthaft über die Grenzen der Freiheit des Einzelnen nach? Wie weit können wir gehen, ohne anderen zu schaden? Dieser unglaubliche Egoismus, nur die eigenen Bedürfnisse zu befriedigen, ist er nicht eine Anmaßung? Wir treiben den Individualismus auf die Spitze. Jeder lebt für sich allein. Die Mitmenschen bedeuten kaum etwas und sie sollen zusehen, wie sie es schaffen! Wir aber erfinden uns selbst, unseren Hintergrund, unseren Körper und sogar unsere Sexualität neu, weil wir nicht zufrieden sind mit dem, was uns gegeben ist!“ Ich bestellte einen zweiten Cognac. Teilhard konterte: „Mach dir nichts daraus! Es sind, an der Geschichte der Menschheit gemessen, kurzfristige Entgleisungen! Es kann angenommen werden, dass mit der geistigen Entwicklung des Menschen sich aber auch die Liebe auf eine höhere Stufe entwickeln wird!“, sagte Teilhard. Ich fuhr auf: „Kommt mir nicht mit der Liebe! So einfach ist es nicht! Trotz dieser schönen geistigen Höhenflüge um die Liebe, die einzelne große Denker wie sie gemacht haben, fallen wir immer wieder zurück in archaische Zustände; denn wir verlieben uns noch!“ Teilhard schaute mich mit fragenden Augen an. „Da wir den Mechanismus nicht kennen, der uns für einen anderen Menschen einzigartig und begehrlich macht, verirren und verwirren wir uns mit unseren Träumen und Sehnsüchten. Wir verzehren uns nach einer Person, nur weil sie (oder er) blonde Locken hat, gut Klavier spielen kann und gut riecht, berühmt ist oder dieselben Filme mag wie wir selber. Es sind meist unwichtige und äußerliche Kleinigkeiten, die uns anziehen und fesseln (vor meinem inneren Auge sah ich Arjun). Unsere Hormone reagieren darauf und spielen verrückt. Aber ich ahne, dass die Hormone doch immer recht haben. Nur verstehen wir nichts davon. Wir verlieren Herz und Vernunft. Wir lügen und betrügen im Namen der Liebe, bei der es sich um eine Idee ohne bekannte Regeln handelt. Aber die Natur bezweckt ganz sicher irgendetwas damit. Wir wissen schon viel über Liebeshormone, aber kennen die Ursachen nicht, die sie auslösen!“ Der dritte Cognac wurde bereits vor mich gestellt. Mein Mentor sah, wie aufgebracht ich war, schüttelte den Kopf und schaute mich beunruhigt an. Ich redete wütend und unbesonnen weiter auf ihn ein. Conradin versuchte Stimmung zu machen und mich abzulenken: „Ich habe von jemandem, der in der Klinik arbeitet, gehört, dass Huggentobler Wittgenstein viel Geld angeboten hat, falls er Samenspender wird! Werdende Mütter und Väter wollen unbedingt besonders intelligente Kinder haben! Aber der Philosoph war nicht bereit dazu!“ Ein befreiendes Lachen hob unsere düstere Stimmung. Aber ich fuhr unbeirrt fort: „Durch Retortenkinder könnten wir die Bevölkerungsexplosion kontrollieren. Denn der Liebe, oder besser dem biologischen Programm, das wir nicht selber steuern können (und das immer noch Frauen wie Männer überlistet, ein durchtriebenes Mittel der Natur zugunsten der Reproduktion), können wir nicht trauen! Aber die Aussicht, in Zukunft vollkommenen Nachwuchs zu bekommen und vielleicht mithilfe von irgendwelchen Apps und Algorythmen bald auch vollkommene Beziehungen knüpfen zu können, wird uns tiefer und tiefer ins schwarze Loch der Langeweile stoßen. Es wird weder genügend Überraschungen, Enttäuschungen, Leidenschaften und Tränen mehr geben. Wir werden vielleicht kaum noch um etwas kämpfen und leiden müssen! Ich brauche einen vierten Cognac – Zum Wohl!“ Sofort schlürfte ich das Glas leer. „Die Welt, in die wir geworfen sind, ist unvollkommen und unfertig und wir müssen darin zurechtkommen. Ich hoffe, dass sie unvollkommen bleibt! Prost! – Und noch etwas: Zukunftsfreudige Philosophen wie Pico della Mirandola haben schon zur Zeit der Renaissance über die Würde des Menschen geschrieben: ‚Der Mensch kann bestimmen, wie und wo er sein will!‘ Aber haben wir wirklich einen freien Willen? Als Kinder unserer Zeit färben wir aufeinander ab, unsere Köpfe sind vollgestopft vom Ideengut unserer Mitmenschen, vom Geist unserer Zeit. Können wir unsere Entscheidungen wirklich selber treffen? Wie weit sind wir von unserem Umfeld beeinflusst und manipuliert? Sind wir nicht von unseren Genen sowie unserem Zeitgeist programmiert? Falls wir wirklich einen freien Willen haben (An der Frage hat schon Spinoza gekaut!), frage ich mich, ob wir wirklich fähig sind, ihn auszuüben und mit anderen Menschen und der Natur in Eintracht zusammenzuleben! Aber wir können und wollen einander nicht einmal mehr zuhören!“ Ich sprang auf, holte wieder einen Cognac am Tresen und setzte mich wieder. „Unser Geist und unsere Kenntnisse entwickeln sich nicht schnell genug, um die Pros und Kontras der neuen biologischen und technischen Errungenschaften richtig abschätzen zu können! Es geht letztlich um die Frage der Würde der menschlichen Existenz sowie der Würde aller Lebewesen!“ Jetzt nickte Teilhard. Ich hämmmerte mit den Fäusten auf die Tischplatte und die Gläser klirrten. Mein Mentor versuchte mich zu beschwichtigen: „Nicht nur die Biosphäre und das Klima verändern sich, auch die Noosphäre, das heißt der menschliche Geist. Die Entwicklung geht weiter! Wir sind in einer Phase, wo alles auseinanderstrebt, aber in der nächsten Phase werden wir einander wieder tastend suchen. Wir bewegen uns täglich auf den Punkt Omega, auf Christus, zu!“, sagte er mit Nachdruck. „Das möchte ich auch glauben, aber manchmal kann ich einfach keine Anzeichen sehen!“, entgegnete ich. „Die geistige Entwicklung, gemessen an der technischen Entwicklung, geht viel zu langsam!“
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