Laufsteg im Tierpark
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Michael Neumann. Laufsteg im Tierpark
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EINS. Das war wieder einer dieser trüben Novembertage. Es regnete zwar nicht, aber die Welt war grau in grau, es war kühl und auch sehr windig. Kein Tag jedenfalls, an dem die Menschen überhaupt nur auf die Idee hätten kommen können, in den Zoo zu gehen. Das wussten natürlich auch die Tiere des Frankfurter Tiergartens und es machte sie sehr traurig. Denn je mehr Besucher sich im Zoo sehen ließen, desto mehr Spaß hatten Elefant, Giraffe, Zebra und Co. Vor allem aber die großen Augen, die die jüngsten Zoobesucher machten, die noch nie in einem Tiergarten gewesen waren, gingen den Zoobewohnern zu Herzen und machte sie richtig froh. Aber heute hieß es eben Trübsal blasen, was natürlich auch für ziemlich schlechte Stimmung beim gemeinsamen Mittagessen der Tiere im größten Gehege in der Mitte des Zoos sorgte. Dazu muss man wissen, dass die Tiere einmal in der Woche, und zwar immer donnerstags, nicht in ihrem eigenen Gehege gefüttert wurden, sondern eben zusammen mit allen anderen Zoobewohnern. Das solle „zur Stärkung des Betriebsklimas beitragen“, hatte Zoodirektor Manfred Mühsam in einer Tierversammlung gesagt. Offenbar ohne zu wissen, dass sich seine Schützlinge längst bestens untereinander verstanden und das Mittagsmahl sogar gerne auch noch an einem zweiten Wochentag gemeinsam verspeist hätten. Es gab ja schließlich immer etwas Neues aus dem eigenen Gehege zu berichten. Aber wie gesagt, an diesem dunklen Donnerstag, an dem sich nur eine Handvoll Besucher und darunter nur ganz wenige Kinder im Zoo sehen ließen, wollten eigentlich alle Tieren gleich nach dem Essen zurück in ihr Gehege, um den Rest des Tages zu verschlafen. Was besonders bei Faultier Schnarch auf große Zustimmung stieß. „Ist doch nichts los, machen wir uns ab“, grummelte auch Löwe Fritz. „Am besten, man legt sich an so einem Tag auf die faule Haut“, sagte Elefant Rudi und wollte sich schon auf den Weg machen. „Einen Moment noch“, meldete sich da plötzlich Zebradame Streifchen und fragte, ob nicht vielleicht jemand eine Idee hätte, doch noch etwas aus den trüben Tagen zu machen, von denen es ja leider immer wieder welche gab. Ein paar Minuten herrschte große Schweigen im Gehege, bis sich hoch über den Köpfen der Tiere Giraffe Flecki zu Wort meldete. „Das ist eine gute Idee“, flötete sie mit ihrer Sopran-Stimme. „Wir könnten vielleicht etwas zusammen spielen, Nachlauf oder Verstecken oder so was“, schlug sie vor. „Verstecken wohl eher nicht“, meinte Schimpanse Georg und blickte kopfschüttelnd Fleckis langen Hals hinauf. „Es könnte vielleicht auch jemand ein wenig aus seiner Heimat erzählen, damit wir erfahren, wie es sich in anderen Ländern lebt“, sagte Schildkrötenmann Hermann, der erst vor zwei Jahren in den Zoo gekommen war und einiges aus seinem langen Leben zu berichten hatte. „Mhmhm“, brummelte nun die Schar der Tiere. Grundsätzlich war die Runde wohl mit dem Vorschlag, etwas anderes als nur das Essen in der Gemeinschaft zu unternehmen, einverstanden, es fehlte aber noch die zündende Idee – bis sich Pfau Blaufeder zu Wort meldete. „Was haltet ihr denn davon, wenn wir eine Schönheitskonkurrenz veranstalten?“, fragte er, nicht ohne Eigensinn. Denn er glaubte wohl, dass er, wenn er nur sein Rad schlagen würde, schon so gut wie gewonnen hätte. Aber eitel wie Blaufeder waren mehr oder weniger auch die anderen Tiere und sie achteten auf die eine oder andere Art ebenfalls auf ihr Aussehen, auch um den Zoobesuchern zu gefallen „Wir sollten, wie es in der Tierokratie üblich ist, über den Vorschlag von Blaufeder abstimmen“, meldete sich Löwe Fritz zu Wort. Gesagt, getan, und die Mehrheit für den Vorschlag war überwältigend. Nur Krokodil Gunter und Hyäne Heinz enthielten sich der Stimme, wohl weil sie sich keine Siegchancen ausrechneten. Beide versprachen aber, dennoch mitzumachen, zum Beispiel in einer Jury. Ausschließen aus der Gemeinschaft wollten sie sich nämlich keinesfalls. Wie hätte das denn auch ausgesehen?
ZWEI. Für die Vorbereitung sollten sich die Teilnehmer, soweit es möglich war, am Mittwoch, dem Vortag des Wettbewerbs, in den äußersten Winkel ihres Geheges zurückziehen, verborgen von den Blicken der Konkurrenten und aller anderen Neugierigen. Jetzt aber galt es für die Teilnehmer, wenn sie es nicht schon getan hatten, sich Gedanken über ihren Auftritt am großen Tag zu machen. Einer der ersten, der eine Idee hatte, war Löwe Fritz. Er würde sich von Wärterin Gisela seine wilde Mähne mit Lockenwicklern bändigen lassen. Fritz glaubte nicht, dass er sich lächerlich machen würde, denn Könige mit Locken gab es früher viele, zum Beispiel in Frankreich, wie er wusste. Und wenn der eine oder andere schmunzeln würde, auch nicht schlimm, der Wettbewerb sollte ja auch Spaß machen. Und außerdem: Könige dürfen schließlich alles, basta. Tierpflegerin Gerda dürfte es nicht schwerfallen, die benötigen Lockenwickler aufzutreiben, davon war Fritz überzeugt. Nicht lange überlegen musste Pinguin Paul. Um seinem perfekten Frack sozusagen die Krone aufzusetzen, würde ein Zylinder seinen Kopf zieren, er würde mit einem schicken Spazierstock auftreten, etwas weniger watscheln als sonst und sich von Tierpflegerin Mona ein kleines schwarzes Bärtchen auf den gelben Schnabel malen lassen. Und natürlich seinen ungeheuren Charme spielen lassen. Was aber bietet sich an, wenn man einen endlos langen Hals hat und an einem Schönheitswettbewerb teilnehmen möchte? Giraffe Flecki wusste es längst und hatte gar nicht lange überlegen müssen. Sie würde ihren vier Meter langen Hals mit bunten Seidenschals schmücken und ein Strohhütchen aufsetzen. Für die langen Beine würde sich auch noch etwas finden
Papagei Quassel fand, dass er eigentlich mit seinem viel bewunderten bunten Federkleid schön genug für den Wettbewerb sei. Dass er aber auch atemberaubend schön fliegen konnte, das wollte er der Jury und den anderen Teilnehmern präsentieren. Das sollten die Regeln des Wettbewerbs doch zulassen, glaubte er. Schimpanse Georg, allen Zoobewohnern als glühender Fan von Eintracht Frankfurt bekannt, würde in ein Trikot seines Lieblingsvereins schlüpfen und einen Fußball unter den Arm klemmen. Den Auftritt würde der Fangesang „Eintracht vom Main“ begleiten. Der Beifall der Eintracht-Fans unter den Zuschauern war ihm sicher, glaubte er. Was aber soll man machen, wenn man rundherum, vom Rüssel bis zum Schwänzchen, nichts als Grau sah, fragte sich Elefant Rudi, der sich schon immer ein wenig Farbe im Leben gewünscht hätte. Und „Farbe“ war das Stichwort. Ganz schön bunt wollte Rudi werden, und da fiel ihm ein, dass er neulich einen jungen Mann beobachtet hatte, der mit einer Handvoll Farbspraydosen eine graue Wand der Zoogaststätte in ein wunderschönes Gemälde verwandelt hatte. Den Sprayer, der angeblich Frieder hieß, sollte seine Pflegerin Rosi, mit der er sich bestens verstand, auftreiben. „Da muss man erst mal draufkommen“, sagte sich Rudi und war mächtig stolz. Und was die Motive betraf, hatte er auch schon eine großartige Idee. Man würde sehen. Nilpferddame Nelly, wie Elefant Rudi von Geburt an grau in grau, kam bei der Ideensuche der Zufall zu Hilfe. Denn zurzeit wurde ihr Wasserbecken neu gestrichen. Und zwar in Blau auf dem Beckenboden und in Grün an den Rändern. Und das erinnerte sie an den Nil mit seinem blauen Wasser und dem grünen Ufer. Dort hatte Nelly ihre Jugend verbracht. Maler Peter Pinsel sollte eigentlich noch genügend Farbe übrighaben, um ihren Rücken blau und den Bauch auf beiden Seiten mit grünem Nilgras zu bemalen. Dann trug sie die Hälfte ihres Namens auf der Haut. Pfauenmann Blaufeder wollte sich nicht allein auf die Schönheit seines einmaligen Federkleides mit dem hübschen Krönchen verlassen, sondern auch noch seinen berühmten Balztanz aufführen, und zwar mit musikalischer Begleitung. Sein Auftritt sollte der Höhepunkt des Wettbewerbs werden. So jedenfalls stellte sich der hübsche Pfau das vor. Endlich war der große Tag gekommen. In der Mitte des großen Geheges war alles sorgsam vorbereitet worden. Ein breiter, frisch gemähter Rasenstreifen diente als Laufsteg und in einem abgetrennten, mit großen Tüchern verhüllten Bereich, einer Art Garderobe, hatten sich die Teilnehmer des Wettbewerbs eingefunden und warteten schon voller Aufregung auf ihren Auftritt. Am Rande des Laufstegs hatte die achtköpfige Jury Platz genommen und war ebenso gespannt wie die große Schar von Zuschauern, die rund umher, dicht gedrängt, um das große Gehege standen. Offenbar hatten die Artikel in den lokalen Zeitungen viele Besucher angelockt. Die Fotografen gingen ihrer Arbeit nach, das Fernsehen war drehbereit, und die Reporter zückten Block und Bleistift. Es war nun die Aufgabe von Zoodirektor Mühsam, die Gäste zu begrüßen und den Wettbewerb zu eröffnen. Dies aber nicht, ohne sich lobend über die ihm anvertrauten Tiere zu äußern. „Wir vom Frankfurter Zoo sind mächtig stolz auf unsere Tiere, die mit so einer schönen Idee zu uns gekommen sind“, sagte Mühsam. „Da haben wir nicht lange überlegt und alle Unterstützung gern bereitgestellt. Jetzt wollen wir aber sehen, was sich die Wettbewerbsteilnehmer haben einfallen lassen, die Schau ist eröffnet.“
Nachdem die Reihenfolge der Kandidaten ausgelost worden war, musste Giraffendame Flecki als erste auf den Laufsteg, was keine leichte Aufgabe war. Aber Flecki ließ überhaupt keine Nervosität erkennen. In einer Eleganz, wie sie bekanntlich nur Giraffen zu eigen ist, schritt, besser gesagt flanierte sie mit ihren langen, mit gelbschwarzen Stutzen geschmückten Beinen über das grüne Gras. Dabei wehten meterlange, überaus schicke Schals in wunderbaren Farben um ihren Hals. Und Nellys Kopf zierte ein keckes Strohhütchen. Eine Giraffendame beim sonntäglichen Spaziergang, hätte man denken können. Sich ihres gelungenen Auftritts bewusst, nickte Nelly den Zuschauern mit einem gewinnenden Lächeln zu. Und die waren total begeistert vom Auftritt der absolut längsten Bewohnerin des Zoos. Als zweiter Teilnehmer ging Papagei Quassel ins Rennen. Als Startplatz hatte er sich Nellys Strohhütchen ausgewählt. Dort, in Giraffenkopfhöhe, entfaltete er zunächst sein herrliches buntes Federkleid und drehte sich dabei, damit es alle bewundern konnten. Dann aber ging die Flugschau los. Quassel sauste im Sturzflug in Richtung Laufsteg, so dass alle Zuschauer den Atem anhielten. Nur Zentimeter vor einem möglichen Aufprall auf dem Rasen schoss er wieder in die Höhe und zeigte ein paar gewagte Loopings. Das Beste hatte sich Quassel aber für den Schluss seiner Schau aufgehoben. „Ich werde euch jetzt etwas zeigen, was außer mir auf der ganzen Welt kein anderer Vogel kann“, kündigte Quassel an und imitierte einen Trommelwirbel. Die Zuschauer trauten ihren Augen kaum, denn sie durften jetzt den ersten Vogel weltweit bewundern, der das Rückwärtsfliegen beherrschte. Riesiger Jubel brandete auf, und weil „Zugabe, Zugabe“ gerufen wurde, drehte Quassel noch eine Rückwärtsrunde
Der wohl neben Elefant Rudi gewichtigste Teilnehmer war jetzt an der Reihe, Nilpferddame Nelly, und ein Raunen gingen durch die Zuschauermenge. Denn wo sie viel Grau auf einem massigen Körper, riesige Zähne und ein paar kleine Ohren erwartet hatten, präsentierte sich eine Nelly mit wasserblauem Rücken, auf dem sogar ein paar gemalte Fische zu erkennen waren, und einem gemalten Teppich aus grünen Schilfpflanzen an den beiden Seiten ihres gewaltigen Bauches. Maler Peter Pinsel hatte ganze Arbeit geleistet. Nelly präsentierte lächelnd ihre riesigen, frisch polierten Zähne. Und die staunenden Zuschauer wussten schnell, dass Nelly zeigen wollte, wo sie einmal Zuhause war, am blauen Nil mit seinen grünen Ufern nämlich. Und Nelly erzählte schwärmend von ihren alten Heimat. „Ihr sollt aber auch wissen, dass ich im Frankfurter Zoo sehr glücklich bin“, sagte sie. Die Zuschauer klatschten begeistert in die Hände. Da hatte Nelly wirklich eine super Idee gehabt. Mit Spannung wurde der Auftritt von Löwe Fritz erwartet. Und mancher Zuschauer hatte wohl erwartet, dass der König der Tiere mit einer Krone und mit einem Zepter sowie einem purpurfarbenen Umhang auftreten würde. Aber nichts dergleichen. Nicht eine Krone, sondern ein ockerfarbener Lockenkopf schmückte das ungekrönte Haupt von Fritz. „Löwenmähne einmal anders“, sagte Fritz lächelnd und blickte ins verblüffte Zuschauerrund. Und da war niemand, der jetzt auf die Idee kommen würde, zu lachen. Vielmehr waren alle begeistert vom mutigen Auftritt ihres Löwen, der eine ganze Menge Humor gezeigt hatte. „Ein kleiner Regenguss und die Mähne ist wieder da“, machte Fritz klar, dass der gelockte Löwe kein Dauerzustand sein würde. Unter großen Beifall verließ er den Laufsteg. Den betrat nun als nächster Schimpanse Georg, und er hatte sofort einen Großteil der Zuschauer auf seiner Seite. Denn mit Eintracht-Trikot, Eintracht-Schal, Eintracht-Mütze und Eintracht-Tröte hatte sich Georg als Fan der Adlerträger geoutet. Als er die bekannte Eintracht-Hymne „Schwarz-weiß wie Schnee“ anstimmte, sangen die Zuschauer eifrig mit, denn die Hymne gehörte schon lange zum Frankfurter Liedgut. Unter den Zuschauern waren auch Jürgen Grabowski, Bernd Hölzenbein und Uwe Bein, die der Einladung Georgs gefolgt waren und versprochen hatten, nach Ende des Wettbewerbs Autogramme zu geben. Eintracht Frankfurts Europa-Hymne singend, beendete Georg seinen rundum gelungenen und allseits umjubelten Auftritt „Ich brech‘ die Herzen der stolzesten Fraun, weil ich so stürmisch und so leidenschaftlich bin, ich brauch nur einer in die Augen zu schaun und schon isse hin “, klang es jetzt aus den Lautsprechern und niemand anders als Pinguin Paul konnte sich diesen Titel für seinen Auftritt ausgesucht haben. In seinem Naturfrack und mit Zylinder auf dem Kopf, einem Seidenschal um den Hals sowie einem kleinen schwarzen Bärtchen und einer Zigarettenspitze im Schnabel schwebte Paul förmlich über den Rasen und winkte mit seinen Flossen huldvoll mal hierhin mal dahin. Welche Pinguinfrau sollte ihm da nicht zu Füßen liegen, zumal auch sein weißes Federkleid so hell glänzte wie lange nicht mehr. Und auch die Zuschauer waren schnell dem unglaublichen Charme des eleganten Pinguins erlegen
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