Schattenkind
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Mo. Moser. Schattenkind
1. Jim und Henry. Sommer, 1973
2. Der Sturm
3. Auf Entdeckungstour
4. Die Höhle
5. Nächtlicher Besuch
6. Geisterstunde
7. Zu zweit
8. Alexanders Geschichte. Sommer, 1955
Blitzlicht
Blitzlicht
Blitzlicht
Blitzlicht
Blitzlicht
Blitzlicht
Dunkelheit… und Stille
9. Kinder im Feuer
10. Harte Erkenntnisse
Sommer, 1955
11. Die Spiele sind eröffnet
12. Die Prophezeiung
vom Licht!“
Berlin
13. Bilderregen
Berlin
14. Die Reise
15. Giovannis Pup
16. Izmir
17. Die Entführung
18. Schatten der Vergangenheit
19. In aller Stille
Frühling, 1978
Отрывок из книги
Es war ein seltsamer Nachmittag, als Jim von der Schule nachhause lief. Die Sommerferien lagen vor ihm und ihn durchströmte ein ungeheueres Gefühl von Freiheit. Unendliche Weiten, wie in Raumschiff Enterprise. Die einzige Serie, die er begeistert verfolgte. Wobei man sagen muss, dass auch sonst nicht viel Besonderes lief. Die Programmauswahl war zu seiner Zeit noch sehr überschaubar und das Meiste, für Kinder ziemlich langweilig. Der Flower Power, das Feeling der USA Hippies, schien gerade langsam über den großen Teich zu schwappen, wovon er aber nichts wusste, und dennoch spürte er eine Stimmung, die in ihrer Lebendigkeit in aufregender Weise von ihm Besitz ergriff. Wie ein kollektiver Geist voll menschlicher Wärme und losgelöster Anarchie, die sich über alle eingestaubten Regeln hinwegsetzt. Ein Geist, der nicht fassbar, aber spürbar war und alles durchdrang. Jim hatte ein Gefühl, als bräuchte er nur noch die Arme ausbreiten, um auf dem Wind zu fliegen und wie ein Adler über alle Grenzen hinweg zu segeln. Unendliche Weiten. Ja, - das war`s.
Er lief an der kleinen Häuser Siedlung vorbei, die der lang gezogenen, etwas bergauf liegenden Nebenstraße nach dem Dorf mit seiner Schule folgte, als jemand seinen Namen rief. „Hey Jim, du alte Schlafmütze, wieso warst`n nicht beim Bus?“ Henry, Jims bester Freund, kam an den Gartenzaun gerannt und trug immer noch sein typisches „ich bin ja so brav Hemd“, samt brauner Kordhose mit passender Bügelfalte, das er stets in der Schule trug. Er hatte wie so oft, einen leicht sorgenvollen Blick, der alles viel zu ernst nahm und den er irgendwie von seiner Mutter geerbt hatte. Auch wenn Henry nichts dafür konnte, manchmal nervte es Jim. „Musste nachsitzen“, grinste Jim und fuhr sich durch seine braunen, halblangen Wuschelhaare, die, dafür das sie immer so aussahen, als wäre er gerade aufgestanden, ihm unglaublich gut standen. „Wie hast´n das geschafft?“ Fragte Henry und rutschte sich seine Brille zurecht. Eine Angewohnheit, die Henry auf Jim wirken ließ, als wäre er ein Arzt, der seinem Patienten seine Diagnose mitteilt. War Henry mit seinen dreizehn Jahren auch ein Jahr jünger wie er, wirkte er in manchen Momenten auf ihn wie siebzig. Dazu kamen noch seine akkurat geschnittenen, kurzen, schwarzen Haare, die so wirkten, als würden sie nie wachsen, weil seine Mutter ihn alle zwei Wochen zum Friseur schleppte und sein schmal geschnittenes Gesicht. Ein weißer Arztkittel, und das Bild wäre perfekt. „Wollte der alten Schobert noch einen Abschiedsgruß hinterlassen“, sagte Jim und grinste noch breiter. „Schöner fetter Kaugummi, gut anvisierte Schleuder und freie Schussbahn, aber ich fürchte, der Schuss war wohl doch etwas zu kräftig. Jedenfalls fasste sich die blöde Tante in ihre fetten Lockenhaare und obwohl ich meine Schleuder sofort weggepackt hab, kam sie trotzdem auf mich. Weiß auch nicht warum“, endete Jim und seine leuchtenden, blauen Augen sprachen Bände. Henry kratzte sich nachdenklich am Kopf und bedachte Jim mit einem vorwurfsvollen Blick. „Na, bessere Noten kriegst du damit aber nicht“, sagte er in einen fast schon strengen, tadelnden Ton. Jim verbesserte sich in Gedanken. Oberarzt, - neunzig! Er schüttelte den Kopf. „Ist mir doch egal. Das einzige blöde ist, das sie mir die Schleuder weggenommen hat.“ Jim schien sich kurz zu ärgern, doch dann musste er lachen. „Aber dafür hat sie mit dem Kaugummi gekämpft und ihre ganze Frisur zerzaust, aber raus bekommen hat sie ihn nicht. Und bessere Noten krieg ich von der sowieso nicht, selbst wenn du meine Arbeiten schreibst. Die konnte mich von Anfang an nicht leiden.“ Jim musste zwangsläufig an ihren entsetzten Blick denken, als sie ihn das erste Mal sah. Wie sie ihn regelrecht abmusterte, als wäre er ein kaum zu ertragender Schandfleck, in ihrem sauberen Klassenzimmer. Ein Bazillus, der sich eingeschlichen hatte, um ihre saubere Welt zu vergiften und den sie die nächsten drei Jahre zu ertragen hatte. Jim riss sich aus seinen Gedanken und wandte sich wieder an Henry. „Was soll’s. Scheiß auf die Schule jetzt sind Ferien.“ „Ja, bestätigte Henry und schnaufte tief durch, bevor er hinzufügte: Gott sei`s gedankt.“ Jim verbesserte sich erneut; hundert! „Ich hab gehört, heut soll`n richtiger Sturm kommen. Was hältst du davon, wenn du bei mir übernachtest?“ Jim hatte schon wieder so ein aufregendes Funkeln in den Augen. Eines, das Henry gar nicht gefiel, weil er es nur allzu gut kannte und es bedeutete für ihn in der Regel nur eins: Schwierigkeiten. „Ich meine, fuhr Jim fort, bei mir unterm Dach, können wir`s so richtig krachen hören wenn’s donnert. Ich sag dir, das wird der Oberhammer. Vielleicht haut`s sogar ein paar Ziegeln runter.“ Jims größter Wunsch war eigentlich, dass es sein Haus komplett wegfegt, damit sie endlich in ein neues ziehen. Ein schönes, so wie Henrys. „Also ich weiß nicht“, sagte Henry zögernd, dem die Sicherheit seines Zimmers in Erwartung eines großen Sturms zehnmal lieber war, als Jims altes Dachzimmer. „Na, dann frag mal deine Mama, vielleicht weiß die`s ja“, erwiderte Jim genervt. „Also gut“, gab Henry nach, der nicht wusste, wie er aus dieser Nummer wieder herauskommen soll. „Ich komm gleich wieder und sag dir bescheid.“ Jim schüttelte den Kopf. Jetzt fragt der doch echt seine Mutter um Erlaubnis, dachte er sich, während er Henry ins Haus laufen sah. Vorbei an dem gepflegten Rasen mit den kleinen Gartenzwergen, den hübsch verzierten kleinen Fenstern, mit den gepflegten Blumenkästen davor, durch die bunt verglaste Eingangstür, mit ihrem vergoldeten Griff und hinein in den sauber tapezierten Flur. Manchmal fragte sich Jim ernsthaft, weshalb er schon so lange mit Henry befreundet war. Sie waren so vollkommen anders, so unterschiedlich wie Tag und Nacht und dennoch, irgendwie mochten sie sich von Anfang an. Im Gegensatz zu Henrys zierlicher, beinahe femininer Figur, bei der man Angst haben musste, das ihn der Wind wegweht, wenn er zu stark bläst und man ihn vorher nicht festgebunden hat, wirkte Jim so durchtrainiert wie ein ausgebildeter Zehnkämpfer. Verglichen mit Jims klaren, blauen Augen, die aussahen, als hätten sie das Leben des Sommers eingefangen, wirkten Henrys haselnussbraune Augen, wie die eines Eichhörnchens auf ständiger Fluchtbereitschaft. Selbst in der Kleidung, konnten sie sich kaum mehr unterscheiden. Während Jim immer so aussah, als käme er gerade von einen Rockkonzert, wirkte es bei Henry so, als käme er direkt aus der Oper. Andererseits; wenn Henry sich genauso kleiden würde wie Jim, sähe es bei ihm wahrscheinlich lächerlich aus, während es bei Jim… heute würde man sagen, einfach cool aussah. Jim war einfach ein Rebell. Selbst im Gewand eines Messdieners, wäre einem das sofort aufgefallen. Er hatte etwas in den Augen das…
.....
Bereits am frühen Vormittag machte er sich auf den Weg. Er war noch nie so nervös, wie an diesem Tag, als er zu Henrys Haus lief. Er hat ja schon so manches mal etwas verbockt, doch diesmal hatte er seinen Wagen so tief in den Sand gesetzt, dass er beim besten Willen nicht wusste, wie er ihn wieder herausziehen soll. Er hatte Angst Henry zu verlieren. Bisher war es für ihn einfach immer völlig normal, das Henry für ihn da war. Wie ein Bruder. Ein Teil seiner Familie. Es wäre ihm auch nicht im Ansatz in den Sinn gekommen, dass es jemals anders sein könnte. Bis Heute. Als er an der Haustür klingelte, zitterte seine Hand. Es dauerte etwas, dann öffnete Henrys Mutter die Tür. Sie stand vor ihm, mit verschränkten Armen, wie eine ein Mann Armee. Jim schluckte. „Ist Henry da?“ „Tut mir leid“, sagte sie und musterte ihn von oben bis unten. „Ich fürchte, er ist für dich nicht zu sprechen.“ Jim hatte das Gefühl, als hätte ihn jemand mit voller Wucht in den Magen geschlagen. Er musste tief durchatmen bevor er wieder etwas sagen konnte. „Dann, stammelte er schließlich, möchte ich ihm wenigstens etwas da lassen.“ Er gab ihr einen länglichen Karton und ohne noch etwas Weiteres zu sagen, drehte er sich um und ging. Er konnte nichts mehr sagen. Sein Hals war wie zugeschnürt und sein Herz schien zu zerspringen und schon nach wenigen Metern musste er sich die Tränen aus dem Gesicht wischen, bevor er erneut tief durchatmete und in Richtung seines Hauses lief. Henry trat vom Fenster zurück und war total verwirrt. Er konnte einfach nicht glauben, was er gerade gesehen hatte. Sicher hatte er Jim schon einmal weinen gesehen, als er noch kleiner war, doch das war vor einer halben Ewigkeit. Das er es jetzt wieder tat und offensichtlich wegen ihm, war für Henry nicht nur überraschend, es war einfach unglaublich. Und doch konnte es nicht anders sein. Aufgeregt sprang er die Treppe nach unten, um seine Mutter nach dem Paket zu fragen. „Ach das… das liegt im Flur“, sagte sie und man merkte, dass es ihr gar nicht gefiel, das Henry davon wusste. „Und wann hattest du vor es mir zu geben?“ Fragte Henry und erwartete keine Antwort. Stattdessen nahm er sich das Paket und ging damit auf sein Zimmer. Seine Aufregung steigerte sich ins unermessliche, als er es vorsichtig öffnete, und als er schließlich den Deckel abgenommen hatte, saß er einfach nur wortlos da und starrte auf den Inhalt. Es war eine USA Flagge, eine Enterprise Zeichnung und die deutsche Spiderman Erstausgabe. Zusammengenommen war es Jims wertvollster Besitz. Er schenkte ihm buchstäblich alles was er besaß.
Henry rannte nach unten, an seiner staunenden Mutter vorbei und aus dem Haus. Er fand Jim unterwegs, auf einem Stein neben der Straße sitzend. Seinen Kopf hatte er in seine verschränkten Arme vergraben. Als er jemand kommen hörte und sah, dass es Henry war, wischte er sich schnell die Tränen aus dem Gesicht. „Mann, das kannst du mir doch nicht schenken“, sagte Henry, kaum das er bei ihm war. „Mach ich aber“, sagte Jim. „Aber das kann ich echt nicht annehmen.“ „Na dann lass es doch“, sagte Jim, und schon wieder liefen ihm Tränen über die Wange. Er legte sein Gesicht in seine verschränkten Arme und schluchzte vor sich hin. „Muss es doch wieder gut machen…ist alles was ich habe…vielleicht finde ich ja noch was anderes…“ Die Sätze kamen so bruchstückhaft aus Jim, wie Wasser aus einem hin und her kippenden Eimer. „Mann, du verstehst aber auch alles falsch. Ich meine es ist zu wertvoll. Ich weiß doch wie sehr du daran hängst. Aber allein, dass du mir das alles schenken wolltest, zeigt mir, wie viel dir an meiner Freundschaft liegt und das bedeutet mir eine Menge. Auch wenn du manchmal eine echte Nervensäge bist. Also, hör auf das Gras zu bewässern und freu dich darüber, das wir wieder Freunde sind.“ „Echt?“ Fragte Jim überrascht und warf dabei Henry einen Blick zu, der selbst am Nordpol das Eis zum schmelzen bringen würde. So, dachte sich Henry, muss Jim mit fünf geschaut haben, als er sein erstes Spielzeug geschenkt bekam, und zwar vom Christkind höchstpersönlich, umringt von tausend Engeln. „Na was denkst du denn“, sagte Henry und musste einfach lachen. „Aber nur, wenn du nie wieder etwas dummes über meine Mutter sagst.“ „Versprochen“, sagte Jim und wischte sich seine Tränen ab. Die Art, mit der Jim ihm nur durch diese eine Geste erneut signalisierte, wie wichtig er für ihn war, ging Henry so nahe, das er eiligst beschloss das Thema zu wechseln. „Warst du eigentlich noch mal bei der Höhle?“ Fragte er, wobei ihm sofort wieder seine eigenartigen Gefühle durch den Kopf gingen, als er in das finstere Loch schaute, das in die Tiefe führte. „Nein, sagte Jim bedeutsam, das wollte ich mit dir zusammen tun.“ Henry wusste nicht warum, doch er fühlte in diesem Moment eine Zuneigung zu Jim, die tiefer ging als gewöhnliche Freundschaft. Er erinnerte sich daran, wie sie auf dem Dorfspielplatz Türme bauten. Damals waren sie noch nicht mal in der Schule. Während Jim Schwierigkeiten hatte, etwas halbwegs Brauchbares zu formen, nahm sein Turm bereits deutliche Konturen an und als sie fertig waren, war er fast doppelt so groß wie Jims. Henry machte sich darüber lustig und meinte, das Jims Soldaten, (die sie übrigens beide deutlich vor sich sahen) ja in seinem Turm übernachten könnten, bevor ihrer über sie Nachts zusammenstürzt, und als Jim seinen mickrigen Turm betrachtete, wurde er auf einmal ganz rot im Gesicht und starrte Henry wütend an. Dann trat er mit seinem Fuß nach Henrys Turm und als er einstürzte, fing er (Henry) sofort an zu heulen. Er erinnerte sich wie ihn seine Mutter aufgeregt wegtrug und versuchte zu beruhigen, wobei sie Jim vorwurfsvoll ansah. Wie er zu ihm zurückblickte und wie Jims Augen verrieten, wie sehr es ihm leid tat, als wüsste er selbst nicht, warum er das gerade getan hat. Wie traurig ihm Jim hinterher blickte, als seine Mutter ihn zum Auto trug und wie Henry sich nur noch eines wünschte, den Turm bereits vergessend, - diese traurigen Augen wieder fröhlich zu machen.
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