Zwischenspiel
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Monika Maron. Zwischenspiel
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Отрывок из книги
Monika Maron
Hoffmann und Campe
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Mit der letzten Tasse Kaffee ging ich auf den Balkon. Es war erst halb neun, vor zehn müsste ich nicht aufbrechen, die Blumen hatte ich schon gestern Abend geholt. Im letzten Jahr hatte man mir den Blick in den Himmel halbiert. Auf das Flachdach des Neubaus gegenüber wurde ein fünftes Stockwerk gesetzt mit einer Terrasse, auf der ich noch nie einen Menschen gesehen hatte. Ich zündete mir eine Zigarette an, legte den Kopf in den Nacken und verfolgte einen zarten Wolkenschleier, der langsam über das Terrassendach in meine Richtung segelte. Als er senkrecht über mir stand, änderte er plötzlich die Richtung und zog in der gleichen Spur zurück, auf der er gekommen war. Ich schloss die Augen, öffnete sie wieder, der helle Himmel blendete mich, das Bild zersprang in flimmernde Punkte, ein Himmelsbild wie von Monet gemalt. Es blieb dabei, der kleine Wolkenfetzen flog rückwärts, als Einziger, während alle anderen kompakteren Wolken sich von dem sanften, aus Westen wehenden Wind über meinen Kopf und weiter über das Dach meines Hauses ostwärts treiben ließen. Es konnte nur eine optische Täuschung sein, dachte ich, oder ein seltsames Strömungsphänomen, das ich noch nie beobachtet hatte. Ich suchte das Wölkchen im Himmelsstück über der Terrasse, fand es aber nicht mehr, es hatte sich aufgelöst oder war meinem Blick entzogen. Oder es hatte es gar nicht gegeben. Das Flirren vor meinen Augen blieb. Das Haus gegenüber, die Fenster, das Dach, die Krone der Platane lösten sich unter meinem Blick in tanzende farbige Punkte auf, die jeden Augenblick davonfliegen könnten, um sich an anderer Stelle wieder zusammenzusetzen. Ich bedeckte die Augen mit der Hand, zog ein paarmal tief und ruhig an der Zigarette. Hinter den geschlossenen Lidern sah ich immer wieder, wie die kleine Wolke auf mich zuschwebte, um dann, wie von einem Willen gelenkt, die Richtung zu ändern. Ich suchte nach einer Bedeutung, fand keine, die sich widerstandslos in meinen Erfahrungshorizont gefügt hätte, und entschied mich für die optische Täuschung. Auch als ich die Augen wieder öffnete, blieben die Konturen der Gegenstände seltsam beweglich, verdoppelten sich, zitterten, als befände sich alles um mich im Zustand drohender Auflösung. Ich war beunruhigt, fühlte meinen Puls, er schlug fest und ruhig hinter der Gefäßwand, meine Gedanken streiften flüchtig die Wörter Schlaganfall und Herzinfarkt, aber außer meinen irritierten Augen störte nichts mein Wohlbefinden. Ich hatte wohl nur zu lange in das gleißende Licht gesehen, dachte ich und zog mich zurück in die Wohnung. Ich sortierte das Frühstücksgeschirr in die Spülmaschine. Der Versuch, den Schreibtisch aufzuräumen, misslang, weil die Buchstaben auf den Zetteln und Briefen zappelten und zuckten wie Insekten, die mit ihren Beinchen in einer Honigpfütze festklebten. Im Radio lief eine Sendung über Darmkrebs und Vorsorge mit Hörerbeteiligung. Eine achtundsechzigjährige Hörerin aus Großburgwedel wollte von dem Professor aus Hamburg wissen, ob hartnäckige Verstopfung zu Darmkrebs führen könne. Ich schaltete ab.
Ich verabscheute medizinische Ratgebersendungen, erst recht wenn es um Verstopfungen und Gedärm ging.
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