Читать книгу Covid - 33 - Nicola Noel - Страница 1

Kapitel 1

Оглавление

»Guten Morgen, heute ist Montag, der 8. August 2033« schallt es aus den Raumlautsprechern, die sich in jedem Zimmer unseres kleinen Hauses am Rande Berlins befinden. »Es ist nun 7.00 Uhr. Bitte stehen Sie jetzt auf, führen Sie unverzüglich die morgendlichen Hygiene- und Desinfektionsmaßnahmen durch, nehmen Sie anschließend einen Nahrungssnack zu sich und begeben Sie sich dann unverzüglich an ihren virtuellen Arbeits-, Ausbildungs- oder Lernplatz. Sollten Sie sich dort nicht bis 7.30 Uhr im Anwesenheits- und Gesundheitskontrollsystem identifiziert haben, werden ab 7.45 Uhr automatisch Nachforschungs- und Zielmaßnahmen eingeleitet!«

»Argh«, stöhne ich, »schon wieder diese ätzenden Computer-Frauenstimme! Jeden Morgen dasselbe!«

So gerne würde ich noch eine halbe Stunde schlafen oder einfach nur im Bett liegen bleiben, aber man wird aus dem Bett getrieben! Nicht einmal sonntags kann man ausschlafen, sondern muss pünktlich an einem virtuellen Gesundheits- und Fitnessprogramm teilnehmen. Dem kann man nur entgehen, wenn man an einem virtuellen Gottesdienst teilnimmt. Das obligatorische Fitnessprogramm wird dann allerdings auf den Nachmittag verschoben. Ich raffe mich auf, schlürfe in Boxershorts, T-Shirt und Adiletten hinüber ins Badezimmer, streife Kleidung und Badelatschen schnell ab und halte meinen Zeigefinger kurz vor einen Fingerabdrucksensor an der Wand. Nach Erfassen des Fingerabdrucks öffnet sich vor mir eine gläserne Schiebetür, die zur Seite in das Mauerwerk gleitet. Ich betrete die sogenannte "HDZ", das ist die Abkürzung für „Hygiene- und Desinfektionszelle“. Es handelt sich dabei um eine circa ein Meter fünfzig lange und ein Meter fünfzig breite sowie zwei Meter hohe Kabine, die an der hinteren und an der rechten Seite vom sandfarben gefliesten Mauerwerk des Badezimmers begrenzt wird, während sie an der rechten Seite und vorne im Einstiegsbereich aus transparentem Glas besteht. Die Kabine dient nicht nur zur Hygiene und Desinfizierung, sondern auch zum Toilettengang und zur Gesundheitskontrolle. Ich stelle mich mit den Füßen leicht breitbeinig genau auf die silberfarbenen Fußabdrücke auf dem weißen Kunststoffboden der Zelle. Sofort erkennen die Fußsensoren, dass die Zelle betreten wurde. Die Kabine wird automatisch geschlossen, indem die Schiebetür wieder aus der rechten Wand herausfährt, in der sie beim Öffnen verschwunden war. Mit Schließung der Tür wird gleichzeitig das transparente Glas an Türe und rechter Seite durch einen Milchglas-effekt, der durch die Deaktivierung von Flüssigkeitskristallen im Glas erzielt wird, undurchsichtig. An der meinem Gesicht zugewandten Seite der Kabine fährt nun automatisch ein kleiner Augenirisscanner herunter, der genau auf Augenhöhe zum Stehen kommt. Zwei rote Lichtstrahlen erfassen meine Augen.

»Augen bitte offen halten!«, ertönt es durch eine automatische Frauenstimme aus einem Lautsprecher.

Nachdem mich das System über die Iriserkennung identifiziert hat, werden meine aktuellen Blutwerte sowie der Sauerstoffgehalt meines Blutes erfasst. Dies geschieht über einen Sensorchip, den ich – wie alle Erwachsenen über sechzehn Jahre - dauerhaft in meinem rechten Oberarm trage. Er reicht über eine kurze Nadel bis in die Blutbahn und der Mikrochip im Innern des Sensors kann alle relevanten Blutwerte sowie Veränderungen und Auffälligkeiten, die zum Beispiel auf eine Infektion hindeuten könnten, ermitteln und per Ultranet an die zuständige medizinische Stelle übertragen. Ich kann mir die Werte auch automatisch auf meiner Augenlinse anzeigen lassen. Seit circa fünf Jahren ist der Austausch der natürlichen Augenlinse - in der Regel auf dem rechten Auge, sofern es sich dabei nicht um das stärkere Auge einer Person handelt - Pflicht. Dabei wird die natürliche Augenlinse gegen eine künstliche Linse ausgetauscht, auf der ein Mikrosender und -empfänger eingebrannt ist, mit dessen Hilfe Videos, Bilder, Texte oder sonstige visuelle Informationen direkt auf die Linse projiziert werden können. Das ist einerseits ganz praktisch, denn einen Bildschirm oder Ähnliches benötigt man eigentlich nicht mehr, um Filme oder Bilder zu schauen oder um Dokumente und Texte zu studieren. Andererseits stört es mich aber sehr, dass von dem Mikrosender auch das, was ich gerade sehe, an jemand anderen oder zum Beispiel an staatliche Stellen übertragen werden kann. Zwar muss man mir dafür zunächst eine sogenannte „Mirroring-Anfrage“ senden, die ich durch kurzes, dreimaliges Augenzwinkern annehmen oder durch längeres Schließen der Augen ablehnen kann. Ohne die Annahme der Anfrage dürfen eigentlich keine Daten an andere Personen oder Stellen übertragen werden. Es besteht allerdings der Verdacht und die Befürchtung, dass Bilder von Personen oder von staatlichen Stellen auch ohne Einwilligung der Betroffenen abgefordert werden, obwohl dies angeblich technisch nicht ohne weiteres möglich und auch rechtlich nicht zulässig sein soll. Aus diesem Grunde war es zeitweise in Mode, auf einem Auge eine Augenklappe zu tragen. Aber das Tragen von Augenklappen ist – sofern es nicht medizinisch angezeigt ist - inzwischen verboten und kann sogar mit einer empfindlichen Geldbuße geahndet werden. Seitdem tragen viele – unabhängig von der Jahreszeit - dunkle Sonnenbrillen, wobei meist das Glas vor dem Auge mit der künstlichen Linse noch etwas dunkler ist als das andere vor der natürlichen Augenlinse. Es existieren auch Brillenmodelle, bei denen die Dunkelheit der einzelnen Gläser nach Bedarf variiert werden kann. Zudem gibt es inzwischen auch Brillen, bei denen auf die Innenseite des Glases vor der künstlichen Linse ganz andere Bilder projiziert werden, als die, die eine Person gerade in der Realität sieht, um bei einem Abruf von Bildern von der künstlichen Linse den gegebenenfalls unbefugten Betrachter zu täuschen. Neben der Erfassung und Übermittlung visueller Eindrücke wird auch daran geforscht, die Stimme einer Person über einen Sensor direkt im Kehlkopfbereich zu erfassen, um sie zum Beispiel an eine Tonanlage oder einen Verstärker, an andere Personen oder Stellen übermitteln zu können. Aktuell muss noch jeder ab dem sechzehnten Lebensjahr ein kleines, stecknadelkopfgroßes Piercing im Nasen- oder Mundbereich tragen, in dem ein kleines Mikrofon mit einem Sender versehen ist. Auf diese Weise kann die Stimme eines Menschen nicht nur auf eine Tonanlage, sondern auch zu anderen Menschen - etwa auf Headsets mit Funkempfängern - übertragen werden. Auch das geht „natürlich nur“, wenn der Betroffene vorher eingewilligt hat. Aber man möchte sich gar nicht vorstellen, wer da wohl so alles unbefugt mithört. Sehr gefragt sind deshalb Störsender, die sowohl den Versand von Bildern über den Augenlinsensender als auch der Stimme über den Piercing-Sender stören können. Aber auch die sind schon seit einigen Jahren illegal und man sollte sich besser nicht damit erwischen lassen. Die Piercings, die nicht unbedingt von außen sichtbar sein müssen, denn sie können zum Beispiel auch an der Naseninnenwand getragen werden, sind schwer zu entfernen. Ich habe es aber vor einige Zeit geschafft und so lege ich das Piercing oft neben einen alten digitalen Audioplayer, auf dem ich vor einiger Zeit einmal belanglose, alltägliche Konversationen aufgezeichnet habe, die ich dann einfach abspiele. Man sollte nur aufpassen, dass man nicht immer dieselbe Konversation abspielt, das könnte dann auch irgendwann, „irgendjemandem“ auffallen.

Wie dem auch sei, meine Blutwerte möchte ich mir gar nicht jeden Morgen anschauen. Es reicht mir, wenn die Computer-Frauenstimme mir sagt, dass alles in Ordnung ist.

Anders als es noch in meiner Schulzeit gang und gäbe war, benötigt man heute also keinen Bildschirm oder Ähnliches mehr, um Bilder, Texte oder sonstige visuelle Eindrücke und Informationen wahrzunehmen. Ich arbeite aber zuhause immer noch „klassisch“ an einem Computer mit Bildschirm und Tastatur, die Audioeingabe nutze ich kaum – ich bin da etwas „old-fashioned“. Wenn Bildschirm oder Tastatur kaputtgehen, wird es allerdings schwierig, denn neue gibt es schon seit einiger Zeit nicht mehr. Alle sollen auf die visuelle Augen-Variante und die Spracheingabe umstellen. Will man weiter einen klassischen Computer mit Bildschirm und Tastatur nutzen, muss man einen dieser „Nerds“ finden, die in der Lage sind, die alte Technik noch zu reparieren. Diese Leute sind auch so pfiffig, dass sie eigene Tastaturen bauen können, bei denen ein unbefugtes Auslesen der eingegebenen Zeichen durch sogenannte „Keylogger“ nicht ohne weiteres möglich ist. Die Keylogger-freien Tatstaturen sind natürlich – wie sollte es anders sein – illegal… Zum Glück wohnt einer dieser „Nerds“ direkt nebenan – nämlich mein älterer Bruder Matteo, so dass ich technisch immer bestens versorgt und ausgestattet bin.

Infrarotkörpersensoren in der Wand der HDZ analysieren Temperatur und Zustand meines Körpers.

»Ihr Allgemeinzustand ist gut! Ihr Fettanteil hat sich im letzten Monat allerdings um ca. 0,3% erhöht – intensivieren Sie bitte Ihr Fitnessprogramm«, fordert mich die Frauenstimme aus dem Lautsprecher auf.

Alle Daten werden erfasst und an die „Nationale Gesundheitskontrolle“ (NGK) übermittelt. Werden Hinweise auf Infektionen oder sonstige Auffälligkeiten gefunden, erfolgt regelmäßig die Ankündigung, dass innerhalb von dreißig Minuten die „Medizinische Einsatzgruppe“ (MEG), auch „Task Force“ genannt, eintreffen wird, um weitere Untersuchungen vorzunehmen und erforderliche Maßnahmen zu veranlassen. Dies war bei mir und meiner Familie bisher aber - Gott sei Dank - noch nie notwendig.

»Es besteht das Bedürfnis eines Toilettengangs!«, ertönt es aus dem Lautsprecher.

Nach drei kurzen Signaltönen öffnet sich im Bereich hinter mir automatisch eine kleine Schiebeklappe und von hinten fährt ein Toilettensitz aus der Wand hervor. Hebearme, die ebenfalls aus der Wand an der Rückseite herausfahren, umschließen langsam meinen Brustkorb und bringen mich automatisch sanft in eine Sitzposition auf dem Toilettensitz. Nachdem ich „meinen Part“ erledigt habe, wird alles getrennt voneinander abgesaugt und sofort auf mögliche Hinweise auf Infektionen analysiert. Der Intimbereich wird automatisch durch spezielle Düsen im vorderen und hinteren Bereich des Toilettensitzes gereinigt und durch einen sanften, warmen Luftstrom getrocknet. Die erneut von hinten ausfahrenden Hebearme greifen nun unter meine Armachseln und richten mich behutsam wieder in eine aufrechte Standposition auf. Nach drei kurzen Signaltönen beginnt das Hygieneprogramm. Ich werde von der Lautsprecherstimme aufgefordert, aus den Duftrichtungen, „Lavendel“, „Citrus“ oder „Ginger“ auszuwählen. Laut antworte ich:

»Lavendel«.

Da der desinfizierende Wasserdampf immer in den Augen brennt, sage ich laut und bestimmt:

»Schutzbrille bitte!«

Auf Augenhöhe öffnet sich eine Schiebeklappe, ein Greifarm mit Schutzbrille fährt mir entgegen. Diese wird automatisch zielgerichtet auf meine Nase und Ohren gesetzt, die Augen werden dicht umschlossen und dadurch vor eindringendem Wasserdampf geschützt. Nach drei Minuten ist die Prozedur mit desinfiziertem Wasserdampf, der aus mehreren Düsen rechts und links in der Wand vor mir ausströmt, abgeschlossen. Durch einen warmen Luftstrom aus einem Gebläse an der Decke, wird der Körper schnell getrocknet – Handtücher, wie man sie früher genutzt hat, gelten als zu unhygienisch.

»Bitte Mund zwecks Zahnreinigung leicht öffnen!«, sagt die Computerstimme anschließend.

Als ich meinen Mund leicht geöffnet habe, wird zur Vorbereitung der Zahnreinigung über Infrarotsensoren auf Gesichtshöhe meine Zahnpartie gescannt. Anschließend öffnet sich auf Kopfhöhe vor mir wieder die kleine Schiebeklappe, aus der dieses Mal ein Roboterarm mit Zahnputzaufsatz herausfährt, der anhand des vorher gefertigten Scans zielgenau meine Zähne durch sanfte Bewegungen reinigt. Nach drei Minuten fährt der Roboterarm wieder ein, die Schiebeklappe schließt sich kurz. Wenige Sekunden später öffnet sich diese erneut und mit dem Roboterarm fährt mir nun ein dünner Schlauch sowie eine kleine Schale entgegen. »Mund bitte noch einmal öffnen!«, fordert mich die Stimme aus dem Lautsprecher auf.

Nach Öffnung des Mundes bewegt sich der Schlauch oben und unten an meinen Zahnreihen entlang und versprüht eine transparente Flüssigkeit, die neben desinfizierenden, antibakteriellen Substanzen auch Fluorid zur Härtung des Zahnschmelzes enthält. Etwa dreißig Sekunden später ist die Spülung beendet. Der Roboterarm verharrt unmittelbar unterhalb meines Kinns und die Stimme weist mich jetzt an:

»Bitte ausspucken!«

Ich spucke die im Mund verbliebene Flüssigkeit in die Schale. Anschließend fährt der Roboterarm mit Schale und Schlauch zurück in die Wand und die Klappe schließt sich. »Zahnpflege abgeschlossen!«, tönt es aus dem Lautsprecher. »Es wird eine Rasur und eine Kürzung der Koteletten empfohlen«, sagt die automatische Frauenstimme dann. »Antworten Sie bitte „Ja“, wenn Sie diese Maßnahmen wünschen und „Nein“, wenn Sie diese nicht wünschen!«

»Ja«, antworte ich.

Die Infrarotsensoren auf Gesichtshöhe analysieren nun meine Gesichtskonturen. Nach drei Pieptönen öffnet sich erneut die kleine Schiebeklappe in der Wand und der Roboterarm, dieses Mal mit einem Rasierer bestückt, bewegt sich langsam auf mein Gesicht zu. Der Rasierer am Roboterarm fährt nun haargenau die zuvor von den Sensoren ermittelten Konturen meines Gesichts ganz behutsam ab. »Fertig!«, rufe ich nach Ende der Rasur.

»Möchten Sie noch eine Fuß- oder Handmaniküre in Anspruch nehmen?«, fragt die Stimme aus dem Lautsprecher. »Nein danke, heute nicht«, entgegne ich.

Das Milchglas der Schiebetür und der rechten Kabinenseite wird wieder transparent und die Tür öffnet sich. Nach Verlassen der Zelle schließt sich die Tür wieder und die Kabine wird von innen automatisch komplett gereinigt und desinfiziert. Vor der Zelle stehend sage ich mit lauter Stimme:

»Kleidung bitte!«

Gegenüber der Nasszelle öffnet sich eine Schiebetür in der Wand. Dort hängt auf einer Bügelvorrichtung ein Ganzkörperanzug „Typ Sommer“, auf einem Regalbrett liegen Slip, T-Shirt und Boxershorts sowie Socken. Der Ganzkörperanzug ist zwingend im Außenbereich – außerhalb von Haus und Garten - zu tragen. Boxershorts und T-Shirt, die unter dem Anzug getragen werden können, sind im Sommer ansonsten nur für den Innenbereich oder den Garten bestimmt. Seit einigen Jahren gibt es diese enganliegenden Ganzkörperanzüge, die aus einem selbstregulierenden, ursprünglich aus der Weltraumforschung hervorgegangenen Synthetik-Material bestehen, welches sich der jeweiligen Außentemperatur anpassen und so den Träger situationsadäquat wärmen oder ihm ein kühlendes Gefühl vermitteln kann. Die Anzüge sind in allen möglichen Designs verfügbar. Da gibt es zum Beispiel das Modell „Vintage“, bei dem der Hosenbereich wie eine ausgewaschene, leicht zerrissene Jeans aussieht, während der obere Bereich wie ein Sweatshirt gestaltet ist - oder das Modell „Gothic“, das von Hals bis Fuß ganz in schwarz gehalten ist. Weit verbreitet ist auch das Modell „Business“, bei dem ein Anzugmotiv und im Ausschnittbereich des Sakkomotivs ein Hemd mit Krawatte aufgedruckt ist. Die Ganzkörperanzüge verfügen außen über eine bakterien- und virusabweisende Schutzschicht, an der eigentlich so gut wie nichts haften bleibt – auch Flüssigkeiten aller Art sowie Wasser perlen einfach ab. Als die Anzüge aufkamen, fanden es alle schrecklich witzig, anderen wie zufällig den Drink über die Kleidung zu schütten, aber das hatte schnell seinen Reiz verloren.

Ich streife den Slip über und greife nach Boxershorts, T-Shirt und Socken, da ich heute Haus und Grundstück wahrscheinlich – wie fast immer - nicht verlassen werde. Auf dem Flur kommt mir erst unser leise surrender Saugroboter entgegen, der kurz stoppt und einen Warnton abgibt, als ich in den Fokus seiner Sensoren gerate. Dann treffe ich noch auf meine Mutter Eva und meinen kleinen Bruder Leo. Sie werden sich als nächste der Hygiene- und Desinfektionsprozedur unterziehen.

»Hi, guten Morgen ihr zwei! Genießt es!«, rufe ich ihnen mit einem ironischen Unterton zu.

Sie lachen und winken mir kurz zu. Ich kehre in mein Zimmer zurück und ziehe T-Shirt und Boxershorts an. Wie gerne würde ich nun aus dem Haus gehen – zur Humboldt Universität, die ich seit letztem Jahr besuche, ohne jemals dort gewesen zu sein. Die Vorlesungen und Kurse sowie Prüfungen finden ausschließlich online statt, genau wie in der Schule, die ich zuvor besucht hatte.

Ich gehe hinunter in den Wohn- und Essbereich, entnehme einen vakuumverpackten Frühstückssnack aus dem Kühlschrank, reiße die Verpackung auf und nehme einen kräftigen Schluck. Es ist eher ein Drink als feste Nahrung. Im Mund entfaltet sich ein Geschmack wie von Kaffee und Marmeladenbrötchen. Mir schmeckt es nicht, aber seit fast fünf Jahren besteht nun schon die Verpflichtung, soweit wie möglich auf sogenannte „Astro-Nahrung“ umzustellen, weil nur bei dieser eine absolute Viren- und Keimfreiheit gewährleistet werden könne. Erst fand ich das ziemlich ekelhaft, inzwischen habe ich mich daran gewöhnt. „Normale“ Lebensmittel sind kaum noch zu finden, es gibt keine Supermärkte oder Läden mehr so wie früher. Will man sich von frischen Lebensmitteln – Obst, Gemüse, Beeren. Nüssen etc. – ernähren, muss man diese entweder selbst im Garten anbauen oder „unter der Hand“ von anderen Hobbygärtnern erwerben. Gegenstände des täglichen Bedarfs – Kleidung, Wasch- und Toilettenartikel, vorgefertigte Nahrungsmittel, einfaches Spielzeug sowie eine grundlegende IT-Infrastruktur (Rechner-Hardware, Ultranet) – werden staatlicherseits zur Verfügung gestellt – und kontrolliert. In gewissem Umfang kann man online eine Auswahl treffen, wie zum Beispiel bei den „Styles“ der Ganzkörperanzüge. Nur „Luxusartikel“, wobei darunter alles verstanden wird, was nicht dem täglichen Bedarf dient, können bei Onlinehändlern bestellt werden. Bestellte Artikel werden dann in der Regel mit der zweimal wöchentlich stattfindenden Lebensmittellieferung per Drohne bis zur Haustüre oder - wie bei uns - bis zum Balkon gebracht. Gegen Aufpreis erfolgt auch eine direkte Zustellung per Drohne innerhalb einer Stunde nach Bestellung. In der wöchentlichen Lebensmittellieferung sind drei Vollmahlzeit-Astropacks (VAP) sowie fünf 0,5 Liter Wasserpacks pro Tag pro Person enthalten. Das Leitungswasser darf schon seit einigen Jahren nicht mehr getrunken werden, die meiste Zeit ist es „zum Schutze der Bevölkerung“ abgestellt, da eine lückenlose Überwachung nicht mehr gewährleistet werden kann. In den 2020er Jahren war es vermehrt zu Anschlägen mit Laborviren und -bakterien auf die Trinkwasserversorgung gekommen, die zu mehreren zehntausend Todesfällen und bleibenden Gesundheitsschäden bei einer Vielzahl von Personen geführt haben. Seit im Zuge der sog. „Corona-Krise“ terroristische Vereinigungen wahrgenommen hatten, wie schnell und einfach das gesamte öffentliche Leben und die Wirtschaft von Ländern oder ganzen Regionen lahmgelegt werden können, hat es immer wieder solche Anschläge auf die Wasserversorgung gegeben. Da das Wassernetz für solche Attacken zu anfällig ist, mussten schließlich andere Wege zur Versorgung der Bevölkerung mit Trinkwasser gefunden werden.

Mein Bruder Leo und meine Mutter Eva kommen die Treppe herunter in den Essbereich. Sie haben ihre Hygiene- und Desinfektionsmaßnahmen abgeschlossen und wollen nun ebenfalls ihr Frühstück einnehmen. Während mein Bruder neben mir Platz nimmt, öffnet meine Mutter den Kühlschrank und nimmt zwei Astropacks für die beiden heraus.

»Hey, heute ist ja deine Einschulung! Bist du aufgeregt?«, frage ich meinen Bruder.

»Ein bisschen schon«, antwortet er.

»Ich erinnere mich noch gut an meine Einschulung«, erzähle ich.

»Ehrlich?«, fragt mein Bruder ungläubig. »Das muss doch schon ewig her sein, oder?«

»Ja, schon vierzehn Jahre… und damals war die Welt noch eine andere!«, sage ich.

»Wieso?«, fragt Leo.

»Das war 2019 – da war die Welt noch in Ordnung! Aber im darauffolgenden Jahr wurde sie erstmals vom sogenannten „Corona-Virus“ heimgesucht und das sollte alles für immer verändern. Stell dir mal vor! Ich bin damals noch richtig in die Schule gegangen. Es gab eine Einschulungsfeier, zu der mit fast hundert Erstklässlern und ihren Eltern und zum Teil Großeltern bestimmt mehr als dreihundert Personen in einem großen Saal, der Aula, zusammenkamen.«

»Unglaublich!«, erwidert Leo. »So viele Menschen habe ich noch nie zusammen und schon gar nicht in einem Raum gesehen!«

»Ich bin dann jeden Tag – außer samstags und sonntags und in den Ferien - zur Schule gegangen!«, erzähle ich.

»Wirklich?«, fragt Leo ungläubig. »Wieso kann ich nicht auch jeden Tag in die Schule gehen und dort meine Freunde treffen? Ich musste schon im Kindergarten vor dieser dummen Projektionswand sitzen und konnte die Kinder meiner Gruppe nur online treffen«, beklagt er sich.

»Weißt Du Leo«, führt meine Mutter aus, »damals brach eine schlimme Krankheit aus - die beruhte auf einem Virus, das sich – wahrscheinlich von China ausgehend – schnell um die ganze Welt ausbreitete. Es gab zwar Hinweise, dass das Virus auch schon vorher in Teilen der Welt aktiv war, gleichwohl gilt China noch immer als Ursprungsland, da es dort zur ersten epidemiologischen Verbreitung kam.«

»Was heißt „epedemi-dingsda“?«, fragt Leo.

»Epidemiologisch bedeutet, dass sich das Virus zunächst über mehrere Landstriche, dann sogar über Ländergrenzen hinaus ausgebreitet hat. Beim Corona-Virus fand sogar eine Ausbreitung weltweit statt.«

»Das nennt man dann Pandemie!«, rufe ich etwas besserwisserisch dazwischen.

Meine Mutter greift meine Bemerkung auf und führt aus:

»Beim Corona-Virus handelte es sich um ein hoch ansteckendes Virus, das Atemwege und Lungen, aber auch andere Organe oder zum Beispiel das Nervensystem befiel und in vielen Fällen zu tödlichen Krankheitsverläufen führte. Erst glaubte kaum jemand, dass auch Europa und Deutschland von der Ausbreitung des Virus tangiert würden, aber innerhalb von nur sechs bis acht Wochen breitete sich das Virus über die ganze Welt aus, was schließlich zu mehreren Millionen Todesfällen weltweit führte.«

»Puh!«, seufzt mein Bruder. »Und wie hat man das Virus besiegt?«, will er wissen.

»Gar nicht!«, rufe ich. »Es ist noch immer da draußen und wandelt sich ständig! Deshalb leben wir ja so, wie wir heute leben – mit all diesen Restriktionen und Einschränkungen. Ich bin damals gerade mal etwas mehr als ein halbes Jahr normal in die Schule gegangen, dann wurden – um eine weitere Ausbreitung des Virus zu verhindern - Schulen und Kindergärten wie auch Gaststätten, Hotels und die meisten Geschäfte, die nicht der Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln und sonstigen Dingen des täglichen Bedarfs dienten, geschlossen und Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen in Kraft gesetzt. Diese Maßnahmen sollten eigentlich nur einige Wochen gelten und nach etwa drei Monaten hatte man auch tatsächlich schrittweise damit begonnen, Schulen und Kindergärten sowie Läden, Gaststätten und Hotels wieder zu öffnen. Aber schon nach kurzer Zeit gab es eine zweite Viruswelle, der man versuchte, mit erneuten Kontaktbeschränkungen, der Schließung von Gaststätten, Restaurants, Bars sowie Geschäften, die nicht dem täglichen Bedarf dienten, und später auch Schul-, Pflege- und Betreuungseinrichtungen zu begegnen. Seitdem habe ich meine Schule nicht mehr betreten! Der Unterricht wurde damals komplett in das Internet, so nannte man damals das Ultranet, verlagert und online durchgeführt.«

»Ja«, bestätigt meine Mutter, »seitdem ist leider nichts mehr wie es war! Es gab zwar immer wieder neue Strategien, Impfstoffe und Medikamente zur Bekämpfung des Virus und zur Milderung von Krankheitsfolgen, aber die Erfolge waren immer nur von kurzer Dauer. Das Virus erwies sich als so wandlungsfähig, es veränderte sich – es mutierte, wie man sagt – und passte sich immer wieder den neuen Gegebenheiten an. Eine erworbene Immunität nach einer Impfung oder Erkrankung währte immer nur kurz. Man hat das Virus letztlich nicht eliminieren können. Die Maßnahmen und Beschränkungen mussten deshalb dauerhaft aufrechterhalten und immer wieder verschärft werden, sonst - so die Wissenschaft – gebe es die Menschheit irgendwann nicht mehr… So, genug des Jammerns! Wir müssen uns nun beeilen, sonst kommen wir zu spät zur virtuellen Einschulungsfeier«, sagt meine Mutter.

»Ich wünsche euch eine schöne Feier!«, sage ich zu den beiden.

»Danke, wir wünschen dir einen schönen Tag!«, entgegnen sie.

Covid - 33

Подняться наверх