Memoiren einer Grossmutter, Band II

Memoiren einer Grossmutter, Band II
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Pauline Wengeroff. Memoiren einer Grossmutter, Band II

Vorwort

Zweite Periode der Aufklärung

Meine Verlobung

Das Brautjahr

Ankunft in Konotop. Hochzeit

Vier Jahre im Hause der Schwiegereltern

Die Wandlung

Weitere Schicksale

Alexander II

Zwei Worte sagte meine kluge Mutter

Kowno

Wilna

Helsingfors

Petersburg

Die gefährliche Operation. – Die Reform der Küche

Die dritte Generation

Der Tod meines Mannes

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In dem ersten Bande meiner Memoiren habe ich von dem bedeutungsvollen Auftreten Dr. Lilienthals in Litauen erzählt, von seiner hinreißenden Wirkung auf die Jugend, von seiner kulturellen Mission der bevorstehenden Chederreform, von den ersten Anfängen der beginnenden Aufklärung. Die Jugend, die bisher ausschließlich den Talmud studiert hatte, war von den neuen Gedanken begeistert und arbeitete mit einem heiligen Ernst an der eigenen geistigen Entwicklung. Ihr Ideal war die Vereinigung der allgemeinen Bildung mit dem Talmudstudium. Erst Lilienthal hatte dieses Verlangen, die engen Grenzen des alten Wissens zu erweitern und von dem »Apfel der Erkenntnis« zu kosten, zum sichtbaren Durchbruch gebracht.

Neben Lilienthal war es der Begleiter und Sekretär von Montefiore, Louis Loewe, der während seines Aufenthaltes in Rußland überall die Gelegenheit ergriff, die jüdische Jugend von der Notwendigkeit der europäischen Bildung zu überzeugen. Seine Worte fanden einen machtvollen Nachhall, denn Loewe war zugleich ein im westeuropäischen Sinne gebildeter Mann – und ein guter Talmudist: In ihm waren die idealen Forderungen der damaligen Jugend erfüllt. Loewe war wie kein zweiter geeignet, den neuen Werten Geltung zu verschaffen. War er doch der Begleiter Montefiores. Und es konnte nicht fehlen, daß die fast abgöttische Verehrung, die diesem großzügigen und tapferen Philanthropen in allen Ländern, wo Juden wohnten, zuteil ward, ihren Glanz auch um Loewe breitete. Wen Montefiore seiner ständigen Begleitung würdigte, der durfte offen sprechen. Er hatte nichts zu fürchten, und jeder hatte die Gewißheit, daß sein Wort einer reinen Überzeugung entwuchs und nur der Sicherung und Adelung des Judentums gelten konnte.

.....

Ich erinnere mich, bei dieser Gelegenheit einmal eine deutsche Übersetzung1 aus einer englischen Zeitung, eine Episode aus der Mädchenzeit der Königin Viktoria gelesen zu haben. Vor vielen Jahren ging eines schönen Morgens in London ein kleines Mädchen mit ihrer Erzieherin spazieren. Sie kamen an einem großen, reichen Hause, das von einem Garten umgeben war, vorbei. Durch das Gitter sah man eine prächtige rote Rose, die so wunderbar schön war, daß sie unter allen anderen Blumen hervorragte. Das Kind ergötzte sich an der Blume und wollte sie endlich pflücken. Doch rasch ergriff die Erzieherin das Händchen des Kindes, um es an der Ausführung seiner Absicht noch rechtzeitig zu verhindern. Das kleine Mädchen fügte sich ohne Murren dem Willen seiner Mentorin und setzte, ohne das Gesicht zu verziehen, den Spaziergang weiter fort. Als es nach Hause kam und in sein Zimmer trat, fand es zu seiner größten Freude einen Strauß roter Rosen vor. – Das kleine gehorsame Mädchen war niemand anders als die spätere Königin Viktoria von England und der Spender des Straußes war der später von ihr zum Ritter ernannte Moses Montefiore.

Bei dem Aufenthalt in Wilna war es auch, als Louis Loewe in einer mit Argumenten und Zitaten des Talmuds reich verzierten Rede der zahlreichen Menge in der Synagoge bewies, daß die jüdische Tradition das Erlernen der Wissenschaften und fremden Sprachen weder ausschließt, noch verpönt. —

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