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Rebecca Çiçek. Stärker als Du
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Freiheit. Das Ganze hatte aber auch eine positive Seite. Meine Schwester und ich fühlten uns frei. Keiner, der da war und uns bevormundete oder der uns verbot, irgendetwas zu tun. Wir machten, was wir wollten. Wir schauten stundenlang MTV oder VIVA, schliefen, solange wir wollten und aßen, wann wir Lust darauf hatten. Unser Motto war: Carpe diem. Ein Nachteil war, dass ich während meiner Ausbildung zur medizinisch-technischen Assistentin ziemlich viel schwänzte und somit später nochmal ein Jahr wiederholen musste. Wir brachten Schilder an unserer Haustür an, die lauteten: „Eintritt nur für wahre Männer“ oder „Männer sind Schweine“. Eine Nachbarin beschwerte sich darüber. Aber so wild, wie es sich anhört, war es gar nicht. Wir feierten keine wilden Partys, sondern genossen einfach nur unsere ungewollte Freiheit. Ich stürzte mich ins Lübecker Nachtleben. Wenn ich in der Disco war und tanzte, fühlte ich mich gut. Meine Freundin und ich waren oft bis zum Schluss dort, bis die Rausschmeißmusik kam. Damals konnte man ja noch in der Disco rauchen. Meine Klamotten stanken am nächsten Tag immer fürchterlich, aber das störte mich nicht. So ging es etwa ein Jahr. Ich verdrängte den Tod meiner Mutter so gut es ging. Dann hatte ich plötzlich meinen ersten Zusammenbruch. Nichts ging mehr und ich realisierte erstmal nicht, dass ich eine Depression hatte. Ich konnte keine Kraft mehr für irgendetwas aufbringen. Bei jeder kleinsten Anstrengung bekam ich sofort Schweißausbrüche. Mein Vater reagierte gewohnt gefühlskalt und sagte nur zu mir: „Du bist fertig!“ Ich habe jahrzehntelang meinen Vater gehasst. Hass ist ein sehr starkes Gefühl. Er lässt einen aber nicht zur Ruhe kommen. Heute denke ich mir nur: Was du mir angetan hast, hast du dir längst selbst angetan! Du kennst mich nicht, du hast mich nie gekannt! Ich habe meinen Frieden mit meinem Vater gefunden, mag ihn aber nicht als Mensch. Für mich zählt jetzt nur, dass ich ihn so annehme, wie er ist, ohne Erwartungen an ihn und ohne negative Gefühle wie Hass. Im Grunde ist er mir egal, ich brauche ihn nicht in meinem Leben. Ich habe ihm einmal einen Brief geschrieben, in den ich alles reingelegt habe, was mich damals beschäftigt hatte. Es fiel mir sehr schwer, den Brief abzuschicken, aber ich habe es dann doch getan. Er hat mir nur geantwortet, dass er den Brief nicht lesen werde. Das hatte mich zu dieser Zeit sehr aufgewühlt. Wir hatten dann ein halbes Jahr keinen Kontakt mehr miteinander. Wenn ich mal einen finanziellen Engpass hatte und ihn um Geld gebeten habe, reagierte er immer sehr ungehalten und gab mir lieblos etwas Geld. Natürlich war mein Vater bei meinem Zusammenbruch alles andere als eine Hilfe. Wahrscheinlich hat er auch seinen Teil dazu beigetragen, dass es mir so schlecht ging. Ich vertraute mich in meiner Not meinem Hausarzt an. Dieser empfohl mir, eine Psychotherapie zu machen. Er gab mir eine Telefonnummer, bei der ich am nächsten Tag anrief. Es meldete sich eine sympathische Stimme am Telefon. Ich war schonmal erleichtert. Auch als ich die Therapeutin persönlich traf, bestätigte sich mein erster Eindruck. Ich fing die Therapie an und sie hat mir von Anfang an sehr gut getan. Die Therapeutin arbeitete mit Tagträumen, das heißt sie versetzte einen in einen tranceartigen Zustand, bei dem innere Bilder aufkamen. Diese malte ich anschließend. Ich malte mir alles von der Seele. Die ganze verdrängte Trauer über meine Mutter, die Wut auf meinen Vater, die Verzweiflung und ungeweinten Tränen