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Wieder einer

dieser Tage


Ein Anhalter auf Abwegen

Reiner Jansen

© Reiner Jansen, 2020

2.Auflage, im September 2020

erschienen im Selbstverlag

Impressum:

Verantwortlicher: Reiner Jansen

Kontakt: 84559 Kraiburg, Marktplatz 6c

Tel: 08638 6963744

eMail: reinerjansen@aol.com

Copyright Buchcover: Reiner Jansen

Inhalt/Lektorat/Satz: Reiner Jansen

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form ohne schriftliche Genehmigung des Rechteinhabers reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme vervielfältigt oder verbreitet werden.

Kapitel 1: Von ganz weit unten

Der große Fisch lag scheinbar bewegungslos im tintenschwarzen Wasser. Die Nacht war gerade angebrochen, und sie verwandelte den Pazifik in ein Reich der Schatten und Schemen für all jene Lebewesen, deren primärer Sinn das Sehen war. Wie eingefroren wirkte der riesige Umriss seines Körpers, zu dem das Mondlicht nur mühsam durchdrang, so tief unten war er noch. Ohne äußere Bezugspunkte war seine Geschwindigkeit, mit der er mühelos durch den Ozean peitschte, kaum auszumachen. Nur minimale Bewegungen der Schwanzflosse verrieten die Dynamik der Szenerie.

Er hätte ebenso gut völlig stillstehen können, ein schwerelos Treibender in diesem weitgehend unerforschten Universum des Meeres, in perfekter Harmonie mit den Gewalten der Natur. Weit unterhalb der sanften Hügel aus Salzwasser, wie sie nur auf dem offenen Meer bei leichter Brise auftreten, erfasste der Mondschein dieser klaren Nacht immer wieder seine so geisterhafte wie charakteristische Silhouette, die bleichen Umrisse eines furchteinflößenden Kolosses, dessen Länge es mit einem kleinen Segelboot aufnehmen konnte.

Binnen weniger Minuten stieß er aus der schwarzen Tiefe herauf an die Grenze zwischen den Welten, über der die Gischt der Wellenkämme schäumte und die Luft vom Wasserdampf gesättigt war.

Kaum wahrnehmbare Bewegungen seiner Schwanzflosse hielten den stromlinienförmigen Körper auf Kurs und Geschwindigkeit, von nun an immer knapp unter der Oberfläche, ohne dass seine Rückenflosse je die Grenzfläche zur Oberwelt durchbrochen hätte. Von der Seite betrachtet schimmerte das Wasser wie ein perfekter Spiegel, der nachsichtig einen glänzenden Firnis aus reflektiertem Mondlicht über das Grauen breitete, das sich unter ihm bewegte.

Des Nachts, so sagen es die Meeresbiologen, gingen in diesem nassen Reich zahllose Räuber auf Beutezug. Die meisten Angriffe auf Schwimmer ereigneten sich in der Dämmerung, wenn die Nacht hereinbrach. Viel Schauerliches durchstreifte zu diesen Zeiten die endlosen Weiten dieser fast unendlichen Wasserwüste.

Doch nichts stellte sich ihm in den Weg, niemand wagte das Duell.

Er war zu groß.

Und er wusste es.

Doch was er war, das wusste er nicht.

Nur dass er war, dass er existierte, wurde als selbstverständliche Tatsache vom schwachen Scheinwerfer seines Intellekts erfasst. Meist regierten die uralten Instinkte aus grauer Vorzeit seinen Körper.

Ein ewiger Wanderer in einer begrenzten Welt, die größtenteils von Dunkelheit beherrscht wurde. Er war zufrieden damit. Warum auch nicht?

Seine Augen waren daher von der Evolution schlecht behandelt worden.

Die starren Linsen fokussierten das wenige Licht nur in einem engen Bereich. Doch in seiner Welt gab es ohnehin wenig zu sehen, so dass es keine Rolle spielte.

Die blauen Irrlichter, die ihn von Zeit zu Zeit in der Tiefsee umspielten, mit ihm zu tanzen schienen, waren für ihn ohne Bedeutung.

Sie sprachen nicht zu ihm.

Seine eigentlichen Augen waren zwei Reihen gallertgefüllter Kanäle an seinen Flanken, die tief in seine Haut eindrangen und deren Boden mit Nervenzellen dicht besetzt war. Die Gallertsäule in diesen Kanälen ließ sich durch feinste Wasserschwingungen in Bewegung versetzen, wodurch der Fisch kleinste Druckänderungen in seiner Umgebung wahrnehmen konnte. Das sogenannte Seitenlinienorgan war seine primäre Schnittstelle mit der Außenwelt, eine Vorrichtung, deren Präzision im Laufe der Evolution ein unfassbar hohes Niveau erreicht hatte.

Jedes Objekt, jedes andere Lebewesen sowie jedes natürliche Hindernis kündigte ihm sein Erscheinen durch Druckschwankungen an. In seinem Gehirn entstand daraus ein perfektes 3D-Bild seiner Umgebung.

Am unteren Rand dieses Bildes zeigte sich seit einigen Minuten eine Störung, wie er sie sonst nie wahrnahm.

Ein unterirdischer Wasserstrom brach sich an einem gewaltigen Hindernis: Der Kontinentalsockel gab sich die Ehre und trat aus der Finsternis der Tiefsee heraus, nicht ins Licht, nein, dafür war er noch zu tief, doch die Anzeichen waren unmissverständlich. Die frohe Kunde lautete: Es war Land in Sicht.

Spätestens an diesem Punkt hätte der große Fisch an anderen Tagen seinen Kurs geändert und die Schelfregion gemieden. Er wäre auch nie so schnell aufgetaucht. Aber nicht so an diesem Tag.

Heute war etwas anders als sonst. Er wollte nach oben. Ans Licht.

Der Fisch verließ sein angestammtes Revier, gerade so als hätte ihn die Neugier gepackt, was es abseits der ausgetretenen Pfade wohl noch zu entdecken gäbe. Weitere Minuten vergingen, er fühlte den Meeresgrund nun immer rascher unter seinem Körper an die Grenzlinie drängen, es erfüllte ihn beinahe mit Euphorie so weit in unbekannte Gewässer vor-gedrungen zu sein. Die Doppelreihen gezackter Zähne waren zu keinem Grinsen fähig, aber die entsprechende Empfindung fand sich in seinem Kopf, hinter den blicklosen schwarzen Augen, und veranlassten ihn dazu die Schwanzflosse energischer zu schlagen.

Zum ersten Mal durchbrach nun auch seine Rückenflosse die Wasser-oberfläche, den gezackten Kamm eines Riffes erspürte er nur wenige Meter unterhalb seines Bauches. Dahinter wurde das Wasser noch einmal tief. Dann befand er sich in der kleinen Lagune.

Eine große Ruhe breitete sich über seinen Geist, als seine Sinneszellen ihm kaum mehr Aktivität meldeten. Die meisten Druckwellen wurden von der Riffkante zurück ins offene Meer reflektiert. Im flachen Wasser der Lagune herrschte eine Stille, wie er sie noch nie erlebt hatte. So mussten sich Fische im Aquarium fühlen. Er reduzierte seine Geschwindigkeit auf ein Minimum, um gerade noch atmen zu können, und genoss den neu gewonnenen Frieden. Das karibische Wasser umspielte seine raue Haut und bildete lustige kleine Wirbel hinter seiner Flosse.

So ließ sich das Leben aushalten.

Das verliebte Pärchen am Strand konnte er weder sehen noch hören. Die Druckwellen, die entstanden, als sie sich in dieser mondhellen Nacht arglos in das klare Wasser der Lagune stürzten, trafen ihn unvermittelt und wie ein Knüppelschlag. Sie sahen ihn nicht. Aber er sah sie. Fühlte sie.

Die Entscheidung, was zu tun sei, wurde dem Fisch von seinen Instinkten abgenommen. Millionen von Jahren, immer dasselbe Motto:

Fressen und gefressen werden. Leben und sterben lassen.

Der gigantische schwarze Schatten bewegte sich auf die beiden Körper zu, die dicht nebeneinander her strampelnd in sein Reich eingedrungen waren, die klare Sternennacht über ihnen, zwei vom Liebesglück beseelte Menschen in den letzten Sekunden ihrer Existenz.

Er dachte nicht lange über die Situation nach, es erschien ihm völlig natürlich. Mit einer kurzen Drehung seines Kopfes hatte er beide vor sich, als seine gewaltigen Kiefer auseinanderklappten und die Reißzähne im Mondlicht funkelten. Der Oberkiefer durchbrach die Wasseroberfläche und erzeugte einen künstlichen Wasserfall über die unteren Zahnreihen, ein Anblick, so schrecklich wie spektakulär, hätte es Zeugen gegeben.

Ein kurzer Schlag mit der Schwanzflosse katapultierte den großen Fisch nach vorne und die Kiefer schlossen sich ruckartig um die Körpermitte beider Schwimmer zugleich, Gewebe und Knochen wie weiche Butter zerteilend. Sein Kiefer spürten so gut wie keinen Widerstand.

Die Nahrungsbrocken verschlang er geruhsam, ohne jede Hast oder Gier. Business as usual, auch wenn die Mahlzeit eine ungewöhnliche Herkunft hatte für einen Tiefsee-Hai. Menschen. Roh und am Stück.

Nicht einmal Zeit für einen einzigen Schrei war ihnen geblieben.

Die im roten Wasser herum wirbelnden abgetrennten Gliedmaßen ignorierend drehte der Fisch ab, weg vom Strand. Zurück zur Riffkante. Diese gespenstische Ruhe in der Lagune begann ihm ohnehin auf die Nerven zu gehen.

Er fühlte sich von der Welt abgeschnitten.

Er fühlte sich…einsam?

Ein Einzelgänger, an dessen Schicksal ohnehin niemand Anteil nahm.

War das nicht irgendwie traurig?

Er war sich nicht sicher. Das Konzept der Trauer war ihm schleierhaft.

Ein Oberschenkelknochen hatte sich zischen zwei der oberen Zahnreihen verhakt und störte seine trägen Gedanken. Der Fisch bewegte die Kiefer mehrmals auf und zu und löste den Knochen schließlich durch Scherbewegungen seines Maules. Von diesem kleinen Problem abgelenkt hatte er das Riff wieder überschwommen und bewegte sich nun wieder in tieferem Wasser. Ihm war auch leicht schwindelig, fast so als wäre er high, auch wenn dieses Konzept der Selbst-Intoxikation in seinem aktuellen Gehirn auf keinerlei Verständnis traf. Es fiel ihm aber zunehmend schwer, sich zu konzentrieren.

Die Ankerkette, die wie aus dem Nichts vor ihm auftauchte, hätte er sonst sicher nicht übersehen. Derartige Hindernisse hatte die Evolution nicht vorhergesehen, daher war sein Gehirn unvorbereitet.

Im letzten Moment gelang es ihm noch, zumindest die empfindliche Nasenspitze wegzudrehen. Einen Sekundenbruchteil später rauschte er seitlich mit dem Kopf gegen den gegliederten Metallstrang, der sich in der Tiefe verlor. Diesmal spürte er Widerstand.

Der Anker lag am Meeresgrund fest zwischen Felsen verspreizt und hielt die Kette straff, die wiederum das Segelboot über ihm in Position hielt.

Die Wucht des Aufpralls ließ das Boot einen plötzlichen Satz zur Seite tun, während es von der getroffenen Ankerkette steuerbord tief ins Wasser herabgezogen wurde. Es kenterte nicht, doch die Schläfer in seinem Rumpf würden noch in ferner Zukunft von diesem denkwürdigen Ereignis erzählen, als eine Urgewalt das Schiff so in Schräglage brachte, dass es über die Steuerbordseite Wasser aufnahm, bevor es zurückschnellte.

Der Körper des Fisches rutschte an der Kette entlang und löste sich schließlich mit einem weiteren energischen Schlag seiner Schwanzflosse, bei der er nochmals unsanft die Ankerkette traf.

Zuvor hatte er sich nur leicht gestoßen.

Diesmal spürte er echten Schmerz, der sein Gehirn durchflutete. Damit einher ging ein Schub geistiger Klarheit.

Autsch! Verdammter Scheißdreck!“, fluchte Arthur drauf los, wortlos, da heute ohne Stimmbänder unterwegs, während der Schiffsrumpf am Ende der Kette unter dem erneuten Schlag vibrierte und gedämpfte Schreie aus dem Inneren zu hören waren. Er spürte sogar diese feinen Druckwellen, die über die Luft geleitet von Innen gegen den Schiffskörper trafen und vom diesem an das Wasser übertragen wurden. Vor seinem geistigen Auge sah er die Besatzung mit vor Angst geweiteten Augen über den Boden ihrer Kajüte kullern, ohne jede Ahnung, was da gerade unter ihnen war. Sie wären sonst ein Leben lang von Albträumen geplagt gewesen.

Die Ankerkette zitterte noch geraume Zeit nach, während sich der riesige Schatten in der Unendlichkeit des Ozeans verlor.

Pass doch auf, wo du hinschwimmst, du Trottel!

Arthur war wütend auf sich selbst, auch wenn er zu seiner Entschuldigung vorbringen konnte, erst seit etwa drei Stunden dieser dämliche Hai zu sein.

Genau konnte er es nicht sagen, da es keine Armbanduhr gab, die dem Druck des Ortes hätte standhalten können, von dem er kam.

Zudem mangelte es ihm am erforderlichen Arm, um die Uhr tragen und bequem ablesen zu können. An den Seitenflossen würde sie keinen Halt finden. Nicht mal den Hintern abputzen konnte er sich!

Eigentlich war alles großer Mist heute.

Ohnehin hatte er kaum Platz gefunden im Gehirn dieses gruseligen Riesen aus der Tiefsee. Und das war erst der Anfang. Die mangelnde Kapazität engte ihn ein, wie eine Zwangsjacke. Für verschiedene Emotionen war zum Beispiel überhaupt kein Raum mehr gewesen. Es fühlte sich in etwa so an, als würde man jene Empfindungen zwar in einem Koffer mit sich führen, jedoch war das Zimmer zu klein, um alles auszupacken. Empathie und Mitleid fielen in diese Kategorie. Irgendwie dämmerte es Arthur zwar, dass die Sache mit den beiden Schwimmern keine Glanztat gewesen war, doch das war nur das Ergebnis einer rationalen Analyse. Zu echtem Bedauern war er im Moment nicht fähig. Dem Hai an sich war das Leid seiner Nahrung nun mal einerlei. Und geschmeckt hatten sie wirklich ganz vorzüglich, das ließ sich nicht von der Hand weisen.

Die entblößten Zahnreihen schienen sich nun doch zu einem Grinsen zu formen, eine verstörend menschliche Regung, die einzig und allein der Anwesenheit des unerwarteten Tagesgastes zu verdanken war.

Dieser Hai war heute definitiv nicht er selbst.

Auch das kümmerte ihn nicht. Er würde deswegen nicht von Albträumen geplagt werden, wie Arthurs vorherige und spätere Gastgeber.

Arthur hingegen hatte langsam die Schnauze voll und hoffte auf eine baldige Wachablösung. Dazu musste er einschlafen, so lief es immer.

Dann erwachte er in einem anderen Körper.

Wie jeden Tag, seit seinem kleinen, nun ja, Unfall.

Idealerweise war es ein Körper mit Armen und Beinen, in dem er erwachte, denn diese Scheiße hier war ja wohl unzumutbar. Er schwamm jetzt wieder sehr energisch drauf los. Wenigstens das konnte er heute.

Und wie!

Beim Schwimmunterricht war er immer einer der Langsamsten gewesen.

Die coolen Jungs aus seiner Klasse sprangen lässig vom Startblock, nur ein paar Dicke und die Nerds drückten sich vom Beckenrand ab.

Der kleine Arthur hatte zu letzterer Gruppe gezählt. Er hätte seinem Sportlehrer, mit nichts außer einem Blatt Papier und Bleistift, problemlos die ideale Schwimmbewegung aus den Strömungsgleichungen herleiten können, doch die praktische Umsetzung lag außerhalb des Bereiches seiner Fähigkeiten. Oder seiner Interessen, was manchmal Hand in Hand ging.

Heute war es genau umgekehrt. Wie das Leben so spielte.

Leider war sein Sportlehrer gerade nicht zugegen, was Arthur sehr bedauerte. Er hätte ihn heute gerne, sehr gerne, im Wasser angetroffen.

Ob er dann immer noch einen spöttischen Spruch über seine wulstigen Lippen gebracht haben würde?

Das war zumindest fraglich.

Fraglich war allerdings auch eine andere, im Moment viel wichtigere Sache: Konnten Haie überhaupt einschlafen?

Schlagartig überkam ihn ein schrecklicher Gedanke: Nur Gevatter Schlaf konnte ihn aus diesem Vieh herausholen, so wie er ihn auch dort hineingebracht hatte. Wenn aber der feine Mister Seeungeheuer partout nicht einpennen wollte, würde er dann etwa für den Rest seines Lebens hier feststecken? In diesem finsteren Loch? Einen Tag lang mochte das ja ganz spannend sein, aber auf Dauer doch etwas eintönig. Hier unten gab es sicher kein WLAN oder gar Netflix. Und es roch irgendwie nach Fisch.

Arthur hasste Fisch. In jeglicher Form. Ab heute sogar noch etwas mehr.

Verfluchte Algengrütze!

Missmutig lenkte er seinen massigen Körper zurück Richtung tiefere Gewässer. Der geringe Druck an der Oberfläche begann sich bemerkbar zu machen, er fühlte sich nun sehr schwindelig.

Der Hai wäre aus eigenem Antrieb sicher nie soweit heraufgekommen, aber der neue Steuermann hatte leider die Betriebsanleitung nicht gelesen und einfach mal nach Gefühl losgelegt. Und jetzt hatten sie beide den Schlamassel.

Beim Auftauchen war Arthur noch gar nichts aufgefallen. Zu schnelle Dekompression war ein langsamer Mörder. Alles schien in bester Ordnung zu sein. Er bemerkte auch nicht, dass er bereits eine rote Fahne aus Blut hinter sich herzog, das aus seinen Kiemen austrat. Das Blut gehörte nicht den Schwimmern. Es war sein eigenes. Sein Instinkt, also der des Haies, sagte ihm, dass er ganz schnell tiefer musste. Wieder legte er alle Kraft in die Bewegung seiner Schwanzflosse, die ihn einem Torpedo gleich durch das schwarze Wasser katapultierte, immer dicht über dem sandigen Meeresboden des Schelfes, bis er endlich die ersehnte Abbruchkante des Kontinentalhanges erreichte.

Von unten betrachtet, im schwachen Gegenlicht des Mondscheins, schoss seine gigantische Silhouette über die gezackte Felsformation der Kante hinweg wie ein Klippenspringer, der den Sturz in unbekannte Tiefen wagt und sich seinem Schicksal anvertraut.

Seine riesigen Seitenflossen schienen die Tiefe umarmen zu wollen.

Doch es war bereits zu spät, das zu schnelle Auftauchen hatte seine feinen Blutgefäße zerstört. Fisch und ungebetener Gast hatten das Bewusstsein bereits verloren und würden es nicht mehr wiedergewinnen.

Der riesige Kadaver trudelte ohne Steuersignale für seinen ausgefeilten Bewegungsapparat den Kontinentalhang hinunter, ohne je gegen ihn zu prallen, was den vorherrschenden Strömungen zu verdanken war.

So oder so hätte es keine Rolle gespielt.

Die toten schwarzen Augen sahen nichts mehr, auch nicht das Gewimmel an roten Würmern, die sich auf weiten Strecken des Kontinentalhangs in die dort angelagerte Schicht aus gefrorenem Methanhydrat-Eis fraßen und so die Statik der gesamten Struktur empfindlich zu stören drohten. Sollten die Hänge abrutschen, würde dies katastrophale Auswirkungen haben und verheerende Flutwellen rund um den Globus schicken.

Doch diese Geschichte mochte jemand anders erzählen. Oder vielleicht war sie auch schon erzählt?

Arthurs eigene Geschichte hingegen noch nicht. Und sie war keine Fiktion.

Heute war wieder einer dieser Tage gewesen. Einer zum in die Tonne treten, um genau zu sein. Ein Tag, ohne jede Möglichkeit, irgend etwas auf dieser Welt zum Positiven zu verändern. Statt dessen zwei Leute gefressen, und eine Bootsbesatzung erschreckt. An manchen Tagen wäre man wirklich besser im Bett geblieben.

Doch nichts davon drang mehr in Arthurs Bewusstsein.

Er war bereits wieder fort. Auch der Tod konnte den Reisenden befreien. Zurück blieb nur ein toter Hai, dessen majestätischer Körper, während er sich im Fallen langsam um seine Längsachse drehte, geräuschlos im ewigen Dunkel der Tiefsee verschwand.

Kapitel 2: Der Bootsmann

Manchmal träumt man von Wasser, wenn man es in seiner Umgebung rauschen hört. Das Gehirn pflegt solche realen Sinneseindrücke mit spielerischer Leichtigkeit in das Traumgeschehen einzuflechten.

Äußere Geräusche können sich sehr effektiv in das Dickicht der Träume einschleichen und deren Verlauf beeinflussen, diese Erfahrung hat wohl jeder schon einmal gemacht. Wenn man in einer Hängematte schaukelt und ein Bächlein in der Nähe fröhlich gluckert, mag das Gehirn daraus eine wilde Fahrt auf rauem Gewässer konstruieren, um den Träumenden herum nichts als endloser Ozean und wolkenverhangener Himmel.

Dann zu erwachen und die grüne Wiese unter sich zu erblicken ist Freude und Erleichterung zugleich. Eben jene Hoffnung hegte auch Arthur in diesem Moment, als er spürte wie sich der Nebel dieses maritimen Traumes lichtete und er mehr und mehr da war, wieder vorhanden in dem Ding, was wir gemeinhin „Realität“ nennen. Er war zurück, wieder einmal, frisch von der Großhirnrinde aus der Taufe gehoben und Herr über Sinne und – am wichtigsten – des Gedächtnisses.

Mit anderen Worten: Er war wach.

Geträumt hatte er von einem riesigen Hai, der ihn verschlang. Nein, er selbst war es gewesen, der verschlungen hatte. Oder war es kein Traum gewesen, sondern einfach nur gestern? Manchmal war er sich nicht ganz sicher, so nahtlos ging alles ineinander über. Dann war er bei Sturm auf einem Boot gewesen, randvoll mit hageren Gestalten, alle dunkelhäutig, es war finstere Nacht und die Wellen hatten sie hinausgetragen, immer weiter vom Ufer weg bis keine Lichter mehr am Horizont zu sehen waren. Ein Motor hatte getackert bis er plötzlich erstarb.

Irgendwann hatten dann die Schreie begonnen, er erinnerte sich so gut daran, als wäre auch das kein Traum gewesen. Was war die Ursache für die Schreie gewesen? In seiner (neuen) Erinnerung lag all dies tief im Nebel, es fühlte sich so unwirklich an wie, nun ja, ein Traum eben. Normalerweise wurde er nicht mehr von Albträumen heimgesucht, dazu war sein Gehirn mittlerweile wohl zu abgebrüht.

Auch Gehirne konnten ein dickes Fell entwickeln, so schien es.

Seiner Angewohnheit entsprechend, hatte er es bislang noch vermieden, die Augen zu öffnen, bis er sein Gedächtnis nach ein paar groben Details zu dem ihn erwartenden Anblick durchforstet hatte. Er konzentrierte sich auf alle Sinneseindrücke, die seinen neuen Körper erreichten.

Interner Statusbericht: Keine Schmerzen – sehr gut. Hunger oder Durst nicht im drängenden Bereich, wenn auch sein Mund etwas trocken war. Untergrund: Fühlte sich wie eine grobe Decke an, seine Finger tasteten Holz. Körperposition: liegend – natürlich, er war ja soeben erwacht.

Ergänzende Meldung aus dem Innenohr: Sanftes Schwanken detektiert. Ähnlich einer Wellenbewegung. Die Ohren vermeldeten zudem gluckernde Geräusche, die Nase erschnupperte eine frische, leicht salzige Brise. Hmmmm. Wenn man sich ganz weit aus dem Fenster der Spekulation lehnen wollte, könnte man zu dem Schluss gelangen, man befände sich auf einem Boot. Einem Boot auf einem Ozean, wegen des Salzgeruches, und der langgezogenen Wellen, wie sie nur auf hoher See vorkamen.

Doktor Watson, ich kombiniere! hätte Arthur an dieser Stelle beinahe ausgerufen, allerdings hatte ihn die Erfahrung gelehrt sich in solchen frühen Momenten eines neuen Tages mit unorthodoxen Lautäußerungen zurückzuhalten. Er dachte es also nur, und versuchte nun, immer noch mit geschlossenen Augen, den Beginn seiner Seereise und den genauen Grund dafür zu erkunden. Es war doch immer von Vorteil zu wissen, wo man war und warum man dort war. Am einfachsten ließ sich üblicherweise der vorherige Tag ergründen, da diese Erinnerungen noch gestochen scharf und mit allerlei wichtigen – und weniger wichtigen – Details versehen im Speicher vorlagen. Man konnte sich das dann wie im Kino in HD auf der Leinwand des geistigen Auges ansehen. Wenn alles klappte und die Technik nicht schlapp machte. Wie es in diesem Fall zu sein schien. Das Gestern lag wie in einem fast undurchdringlichen Nebelfeld eingebettet, Arthur fühlte sich, als würde er bei Dämmerung durch ein nebliges Hochmoor stolpern und um ihn herum träten immer kurz Schemen hervor, unscharfe Szenen, die nicht wirklich etwas erkennen ließen. Als wäre er total betrunken gewesen, oder in sonst irgendeinem psychischen Ausnahmezustand, der die Aufnahmefunktion seiner Festplatte gestört hatte. Mist!

Dann musste man früher ansetzen und sich langsam vorarbeiten auf der Zeitleiste. Meist klärte sich im Lichte der kausalen Zusammenhänge auch der besagte Nebel etwas auf, und man konnte sich wieder deutlicher erinnern. Was manchmal auch Unerfreuliches zu Tage förderte.

Im Laufe der Zeit hatte Arthur auch an Gelassenheit dazugewonnen, und war mittlerweile kaum noch aus der Ruhe oder gar Fassung zu bringen.

Man mochte gar nicht glauben, welch beruhigenden Effekt es hatte, zu wissen, dass man morgen schon wieder jemand anderes sein würde! Wenn sich doch nur alle Menschen dessen so bewusst wären wie er, dann würde die Welt mit einem Schlag zu einem Paradies ohne Groll und Fanatismus werden, in dem alle Menschen ein liebevolles Miteinander anstrebten.

Oder - es würde die Hölle auf Erden losbrechen, weil niemand mehr Verantwortung für sich übernehmen musste. Das konnte natürlich auch sein. Vermutlich war es letztere Option, da brauchte man sich keine Illusionen zu machen. Immerhin stellte er selbst eine Ausnahme dar. Er war ein anständiger Kerl geblieben. Er hätte seine kuriose Situation ja auch schamlos ausbeuten können. Natürlich nur, wenn sich die Gelegenheit dazu bot. Was gar nicht so oft vorkam, musste er eingestehen. Und wie sah es heute aus? Arthur blätterte in dem Archiv seines Gehirns rückwärts. Sehr groß war es noch nicht, er musste noch relativ jung sein. Ein Teenager, na super. Ein Bubi auf Seereise, bitte nicht auf einem Partyboot für junge Leute, mit dieser grässlichen Musik, von der er nach wenigen Sekunden Kopfscherzen bekam!

Ein tieferer Blick in die Erinnerungen seines heutigen Wirtes zerstreute diese Befürchtungen. Er sah ärmliche Hütten gezimmert aus Sperrholz und Wellblech, eng aneinander gedrängt. Der nackte, rötliche Lehmboden war hübsch mit Plastikabfall und sonstigem Unrat dekoriert. Aus einiger Entfernung wirkte es ganz malerisch, wie eine bunte Blumenwiese.

Und er sah viele dunkelhäutige Menschen in dieser erinnerten Szenerie herum wuseln, nicht wenige davon kleine Kinder. Wenn es auf diesem Planeten an irgendetwas keinen Mangel gab, dann waren es Kinder. Sie resultierten aus dem einzigen Vergnügen, das an manchen Orten der Welt möglich war, und fungierten zugleich als Stütze und Absicherung im Alter.

Ohne ein staatliches Rentensystem war zahlreicher Nachwuchs eine Art private Vorsorgeleistung, genau genommen die älteste Rentenversicherung der Welt. Dass ein gewisser Prozentsatz jener fröhlichen Kinderschar das vierten Lebensjahr nicht erreichte, sei es wegen fehlender Nahrung, verschmutztem Wasser oder ungenügender medizinischer Versorgung, förderte noch zusätzlich die Neuproduktion, um die zahlreichen Ausfälle auszugleichen. Im Rahmen einer Klima-Debatte hatte er einmal die These gehört, dass der effektivste Umweltschutz im Verzicht auf Kinder bestünde.

Sehr kontrovers, sicherlich, aber nicht ganz unwahr: Wer nur einen dieser außerordentlich Energie-intensiven Erstweltbewohner einsparte, indem er beispielsweise auf ein drittes Kind verzichtete, der konnte stattdessen für den Rest seines Lebens mit zwei SUVs gleichzeitig zum Kreuzfahrtschiff fahren, und hatte immer noch CO2 eingespart. Doch in der dritten Welt war das dritte Kind ein geringeres Problem. Ein Drittweltler verbrauchte nur einen Bruchteil an Energie, konnte aber in seinem relativ kurzen Leben viele schöne Dinge für die Erstweltler produzieren.

Die Würde des Menschen war nicht nur antastbar – sie wurde permanent angetastet, überall auf der Welt, millionenfach.

Arthur schauderte bei dieser Sichtweise, aber sie ließ sich schwer entkräften. Ein Menschenleben war eben immer nur so viel wert, wie die jeweilige Gesellschaft ihm beimaß – oder sich beizumessen leisten konnte. Augenscheinlich spielten die meisten seiner Kindheitserinnerungen in dieser charmanten Umgebung, die aus jeder Perspektive für das Plakat einer Hilfsorganisation hätte Modell stehen können. Es fehlten nur die nackten Kleinkinder mit den Wasserbäuchen, ansonsten stand einem reichlichen Spendenaufkommen nichts im Wege. Er sah seine eigene Hütte von außen und von innen, mit dem undichte Dach, und fühlte die brütende Hitze zur Mittagsstunde. Seine Geschwister und er schliefen auf dem Boden, verrichteten ihre Notdurft in selbst gegrabenen Löchern unweit der Hütte und holten Wasser aus einem entfernten Brunnen, der manchmal nur eine bräunliche Brühe zu Tage förderte. Oft war er krank gewesen, hatte Bauchschmerzen, Ausschlag und Fieber gehabt, ohne dass je eine medizinisch vorgebildete Person einen Blick auf ihn geworfen hätte. Einmal hatte er eine kleine Schwester begraben müssen, die Ursache ihres Todes war ihm unbekannt geblieben. Doch zur Verwunderung Arthurs waren viele fröhliche Erinnerungen in seinem Gedächtnis abgespeichert, es war alles relativ, so stellte er immer wieder fest. Der Mensch maß sein eigenes Glück stets am Glück, der unmittelbaren Nachbarn. Ging es denen ebenso dreckig, war alles in Ordnung. Doch was war der Grund für diese Armut, unter deren schäbiger Flagge er sein ganzes bisheriges Leben gesegelt war? Er erinnerte sich noch, dass seine Mutter früher in einer kleinen Näherei gearbeitet hatte, die Kleidung herstellte. Einige der Nachbarn hatten sich zusammengetan und eine Geflügelzucht betrieben, zumindest glaubte Arthur das aus Erinnerungsfetzen entnehmen zu können.

Verblasste Bilder, die er mit Mühe herauf zu beschwören vermochte, während er, immer noch mit geschlossenen Augen, in diesem Boot lag, dessen Ziel ihm noch schleierhaft war.

Zunächst war es mit dem Geflügel zu Ende gegangen, er war noch sehr klein gewesen und hatte nicht verstanden, was die Älteren beklagten. Nur das geflügelte Wort vom „weißen Abfall“ hatte sich in sein Gehirn eingebrannt. Denn es sollte ihm einige Jahre später ein weiteres Mal begegnen, der „weiße Abfall“, diesmal im Zusammenhang mit der Schließung der Näherei und damit einhergehend der Arbeitslosigkeit seiner Mutter. Danach waren es wirklich schwere Zeiten gewesen, zeitweilig hatten sie in der Stadt gebettelt, so sehr hatten die Mägen geknurrt. Erst als junger Mann hatte er verstanden, was mit „weißem Abfall“ gemeint war: Die billigen Importe von Fleischresten aus der Tiermast sowie Bergen von schäbigen Altkleidern aus den reichen Teilen der Welt, in denen jene weißhäutige Menschen lebten, die sich mit der Verschiffung ihres Unrats, des „weißen Abfalls“, ihr Gewissen zu erleichtern versuchten. Denn war es nicht ein Zeichen vorzüglicher Menschlichkeit, den Ärmsten dieser Welt Nahrung und Kleidung zukommen zu lassen?

Marlec, so war sein heutiger Name, konnte bei diesem Gedanken nur bitter grinsen und die Faust in der Tasche ballen. Diese scheinheiligen Bastarde! Man sollte ihnen ihren Abfall in die weißen Ärsche stecken!

Arthur war erschüttert von dem Effekt, den die „Hilfe“ aus Europa in seiner gegenwärtigen Heimat hatte. An diese Möglichkeit hatte er noch nie gedacht, angesichts der Bilder von hungrigen, zerlumpten, dunkelhäutigen Kindern, wie sie vor allem zur Weihnachtszeit in vielen Fernsehspots von wohltätigen Organisationen zu sehen waren. Selbstverständlich gab es wieder eine Kehrseite der Medaille, wie sollte es auch anders sein? Die daraus resultierende Not großer Teile der Bevölkerung war teils in Resignation, teils in Wut auf diese gönnerhaften weißen Herrenmenschen umgeschlagen, weshalb sich die lokalen Vertreter dieser Organisationen der Wohltätigkeit schon lange nicht mehr ohne bewaffnete Bodyguards außerhalb ihrer umzäunten Gebiete sehen ließen, - sie wussten schon warum. Auch wenn die Mitarbeiter und freiwilligen Helfer wirklich nur beste Absichten hatten, waren sie doch nur der verlängerte Arm jener zynischen Almosenindustrie.

Aber auch diese Entwicklung hatte die Menschenmassen noch nicht in Bewegung gesetzt. Wohin auch?

Es hatte zwar Gerüchte gegeben über diesen paradiesischen Kontinent, in dem Milch und Honig flossen und jeder in einer sauberen Wohnung mit fließendem Trinkwasser wohnte, aber diese muteten so fantastisch an wie die alten Mythen die von Riesen, Drachen und Seeungeheuern handelten. Niemand hatte sie wirklich geglaubt, die Erzähler waren belächelt worden. Dann war der Vorhang unvermittelt weggerissen worden und hatte den Blick freigegeben, in eine Welt wie aus einem Fantasy-Roman, bevölkert mit Menschen deren Lebenswirklichkeit so weit von der eigenen entfernt war, dass es geradezu absurd erschien.

Der Überbringer der frohen Botschaft trug den Namen Steve Jobs.

Das Smartphone war in Afrika und allen anderen „Problembezirken“ der Erdoberfläche angekommen. Es sollte die Welt verändern. Mehr als sein Erfinder gedacht hätte. Arthur sah sich fasziniert auf das Display eines solchen wundersamen Gerätes blicken, der Dorfälteste hatte eines organisiert, inklusive eines Internet-Zugangs, der zwar elend langsam, aber ausreichend war. Ausreichend, um die Insel der Glückseligen als realen Sehnsuchtsort in den Köpfen der ausgemergelten Menschen zu verankern, die einen Blick darauf erhaschen konnten.

„Dort gibt es Arbeit für alle“, hieß es schnell.

Man konnte dort zu Wohlstand gelangen und Geld in die Heimat schicken, somit zu einem Helden werden, einem hochgeachteten Mitglied der Dorfgemeinschaft. Welcher kleine Junge träumte nicht davon, seiner Mutti einmal schöne Dinge schenken zu können, über die sie sich freute und ihr Leben erleichterten. Denn ein Gefühl dafür, dass die Dinge hier wirklich schlecht liefen, trug jeder in seinem Unterbewusstsein mit sich herum. Das Überleben in der Armut war vor allem an Verdrängung geknüpft, und dieser Mechanismus wurde durch die bunten Bilder aus der sogenannten „Ersten Welt“ empfindlich gestört. Die unvermeidliche Folge: Scharen junger Männer, darunter halbe Kinder, verabschiedeten sich unter Tränen von ihren Müttern und machten sich auf den Weg. Einer von ihnen war er selbst gewesen. Arthur spürte die Tränen seiner Mom an seiner Wange, die Wärme ihrer letzten Umarmung, ihren schnellen Herzschlag und hörte ihre Abschiedsworte: „Pass auf dich auf, mein kleiner Krieger. Meine Liebe wird dich immer begleiten und beschützen.“

Er war losgelaufen ohne sich noch einmal umzudrehen, den Blick verschleiert von Tränen gen Norden gerichtet, sein kleines Bündel mit Reiseproviant über die Schulter baumelnd.

Er musste es schaffen, er war es ihr schuldig. Niemand würde ihn aufhalten können. Die Gier nach einem besseren Leben für seine Mutti hatte seine Sinne vernebelt, wie trunken schritt er aus um das Glück zu finden, nicht ahnend, dass Glück nicht für Alle bestimmt war, sondern das Recht des Stärkeren allein über seine Zuteilung wachte, und zwar in Person gut ausgestatteter Grenztruppen, deren Aufgabe es war die Insel der Glückseligen vor der Invasion der schmutzigen Ausgebeuteten zu bewahren. Ein Gefühl der Übelkeit stieg in Arthur auf, als er mit dieser hohen Dosis Realität konfrontiert wurde. Gut, dass er bereits wach war, denn ein schlechtes Gewissen ist bekanntermaßen kein gutes Ruhekissen. Er atmete die salzige Meeresluft tief ein und ließ die frische Luft langsam aus seinen Lungen entweichen.

Zusätzlich zum Salz lag noch ein weiterer Geruch in der Luft, bemerkte er nun. Was war das? Es kam ihm entfernt bekannt vor, aber er konnte es nicht festmachen. An seinen entbehrungsreichen Marsch durch eine wüstenähnliche Landschaft konnte er sich noch relativ gut erinnern, immer wieder hatten ihn Banditen angehalten und versucht ihn zu bestehlen, um ihn dann nach einer Tracht Prügel weiterziehen zu lassen, denn er besaß nichts an Wert, schon gar kein Bargeld. Seine Entschlossenheit konnte durch solche kleinen Zwischenfälle nicht erschüttert werden, wie es nur bei jungen Männern mit einem klaren Ziel vor Augen der Fall ist, das zu erreichen sie sich geschworen haben. Er lief meist nachts und schlief am Tage im Schatten eines Baumes, so denn Vegetation vorhanden war. Manchmal bot die Landschaft nur dürres Gestrüpp als Unterschlupf und Schutz vor der brennenden Sonne, und manchmal war der Abstand zwischen zwei Brunnen oder Flüssen so groß, dass er fürchten musste zu verdursten. Aber er hatte es geschafft, über Grenzlinien hinweg, die nur auf den Landkarten der ehemaligen Kolonialherren einen Sinn ergaben, mit einem Lineal gezogen, quer durch Stammesgebiete hindurch und damit erst einen guten Teil der Probleme schaffend, die sie heute so generös zu mildern versuchten.

Herzlichen Dank auch, ihr Arschlöcher! dachten Marlec und Arthur unisono, denn es war wirklich zum Haare raufen. Die sogenannte „Erste Welt“ hatte geplündert, geraubt, gemordet und ausgebeutet, die Umwelt verdreckt und die Ressourcen aufgebraucht, um nun als Samariter aufzutreten!? Kein Wunder, dass diese großzügigen Gesten mehr und mehr auf Ablehnung stießen, je mehr die Opfer der Industrieländer die Fakten kennenlernten, und sich stattdessen lieber auf den Weg machten, um den feinen Herrschaften einmal persönlich in die Augen zu sehen – und sie idealerweise mit einem wohlverdienten Fußtritt aus ihrem SUV mit Allradantrieb zu befördern.

Klopf, klopf! Wer ist da? Die Mehrheit der Weltbevölkerung, ihr Pisser! Die Party ist vorbei! Jetzt sind andere auch mal dran.

Sicherlich ein unerwarteter Dank für die jährliche Spende an Misereor. Deshalb die frisch aufgerüsteten Grenztruppen. Man wusste sehr genau, warum. Die Erste Welt sah sich ertappt. Niemand lässt sich gerne ertappen. Arthur atmete jetzt schwer, er teilte die Wut seines kleinen Freundes, der ausgezogen war, das Glück zu suchen.

An der Küste angelangt, gestoppt von den Fluten eines Meeres hinter dessen Horizont jene Insel der Glückseligen verborgen lag, hatte sich ein neues Problem für Marlec ergeben: Die Schlepper wollten Geld für die Überfahrt, viel Geld, und er hatte keines. Tagelang schlich er an der Küste entlang und in den Gassen der Stadt umher. Ein Gefühl der Verzweiflung wuchs in ihm, er war illegal hier, das war ihm klar, und so konnte er keine reguläre Arbeit annehmen. Nicht, dass es hier einen Mangel an billigen Arbeitskräften gegeben hätte, so dass dieses Unterfangen ohnehin aussichtslos erschien. Er sprach bei verschiedenen „Reiseunternehmen“ vor, die teilweise ganz offen ihre Geschäfte eröffnet und Preislisten ausgehängt hatten. Solange die Vertreter der Staatsgewalt ihren Anteil am Kuchen bekamen war das alles kein Problem. Es lief alles wie geschmiert, konnte man mit einiger Berechtigung sagen.

Ob es denn irgendeine andere Möglichkeit gäbe auf ein Boot zu kommen, war seine Frage gewesen. Ob er es irgendwie abarbeiten könne? Die Bosse hatten ihn nur ausgelacht und gesagt er solle mit Bargeld wiederkommen, Schmarotzer hätte man hier bereits genug am Orte, vielen Dank. Nur einer hatte ihn lange angesehen und seinen drahtigen Körper gemustert. Komm heute Abend noch mal vorbei, hatte er gesagt, dann reden wir. Von Freude und Hoffnung überwältigt hatte er den Tag abgewartet und war in die nun verlassen liegende Hütte des Schleppers eingetreten. Auch dieses Geschäft hatte feste Öffnungszeiten, und jeder hart arbeitende Geschäftsmann freute sich auf sein Feierabendbier. Der Boss war bereits leicht angetrunken und winkte ihn heran. Als Marlec in Reichweite war, legte ihm der andere Mann seine Pranke in den Nacken und zog seinen Kopf zu sich heran, bis seine Lippen dicht an seinem Ohr flüsterten. Er unterbreitete dem Jungen sein Angebot, wie er es ohne Geld zu einer Überfahrt bringen könnte. Marlec wusste zunächst nicht, was gemeint war.

Er hatte zwar schon eine Freundin gehabt, aber es war zu keinem Liebesakt gekommen. Mit seinen 16 Jahren war er immer noch Jungfrau, was in seinem Dorf nichts Ungewöhnliches war, da derartige Aktivitäten auf die Ehe beschränkt sein sollten, so hatten es die weißen Lehrerinnen immer wieder betont. Die Möglichkeit es mit einem Mann zu tun hatte er noch nie in Betracht gezogen, warum sollte man so etwas tun? Das war doch widersinnig und sicherlich sündhaft, und zudem ekelte er sich nicht wenig vor diesem Gedanken. Auf der anderen Seite wollte er seine Mutti glücklich sehen. Er würde alles tun, was nötig war. Alles. Was er dann tatsächlich tun musste, immer und immer wieder, über Wochen hinweg, bis die Überfahrt „abgearbeitet“ war, hatte sein Gedächtnis nur bruchstückhaft gespeichert, so als hätte es Sorge gehabt, mit diesen schmutzigen Erinnerungen alle anderen Inhalte zu kontaminieren. In einer dunklen Ecke, tief in einer Schublade versteckt, fand Arthur schließlich die Bilder und anderen Sinneseindrücke seiner Schändung. Mit einem Ruck fuhr er hoch, drehte sich zu Seite und kotzte sich die Seele aus dem Leib, immer weiter würgend, als schon lange nichts mehr zutage gefördert wurde. Wie betäubt verharrte er noch minutenlang in dieser Stellung, während das Boot weiter friedlich auf den Wellen des Mittelmeeres schaukelte. Denn um jenes Meer musste es sich handeln, soviel war ihm nun klar.

Seine Gruppe hatte das Boot bestiegen, eine Art überdimensioniertes Schlauchboot, im hellen Mondenschein, fast eine romantisch anmutende Szene, die Körper dicht an dicht gedrängt, mit glänzenden Augen voller Hoffnung, jetzt sah er es wieder deutlich vor sich. Doch die zunächst gute Stimmung hatte nicht lange angehalten, der Wellengang auf offener See war doch stärker als gedacht, gerade wenn keiner der fröhlichen Seefahrer je zuvor auf einem Boot gewesen war. Der Reiseleiter hatte ihnen anhand eines Sternbildes die Richtung gewiesen, den Außenbordmotor gestartet und war von Bord gegangen. Er müsse noch eine weitere Gruppe auf große Fahrt schicken, sie würden unmittelbar hinterdrein fahren, was durchaus eine beruhigende Vorstellung war. Natürlich war es eine Lüge, was spätestens klar wurde als der Motor aus Benzinmangel erstarb und kein anderes Motorengeräusch in der Ferne zu hören war. Der Tank war wohl gerade so viel befüllt worden, dass eine Umkehr aufgrund der Strömungen unmöglich wurde, und das Schlauchboot bis in internationale Gewässer getrieben wurde. Wer weiß, vielleicht wurden sie ja aufgegriffen? Da draußen fuhren ja reichlich europäische Grenzschützer auf und ab.

So konnten die „Reisevermittler“ ihr Gewissen beruhigen, so denn überhaupt eines vorhanden war. Man dümpelte also dahin, und war damit praktisch bereits tot, obwohl noch etwa 50 Herzen schlugen und ebenso viele Lungen atmeten. Nach der Ratlosigkeit kam die unvermeidliche Panik, und untrennbar mit ihr verknüpft, das Recht des Stärkeren, immer und überall auf der Welt gültig, auch in der schäbigsten Hütte – oder dem kleinsten Schlauchboot. Ein erstes Handgemenge entzündete sich über eine Trivialität, ein bloßer Vorwand, um endlich zur Tat schreiten zu können – der Dezimierung des Bestandes an Menschen an Bord. Denn dass hier nicht alle lebend rauskommen würden, war schnell klar, nur wagte es lange keiner auszusprechen. Die Wasservorräte wurden sofort von den Stärksten konfisziert, die schwächeren Beta-Männchen gingen über Bord, bewusstlos geschlagen ertranken sie, an der Oberfläche treibend, als sich der zweite wolkenlose Tag auf See zu Ende neigte. Und es war besser für sie ertrunken zu sein, denn ihre Körper trieben nicht lange auf dem Meer. Wie von unsichtbaren Klauen, die aus der schwarzen Tiefe nach ihnen griffen, wurde sie zunächst angestoßen, gedreht und gewendet, einmal hatte es so ausgesehen als würde ihnen ein Junge, vielleicht 17, aus dem Senegal, noch einmal zuwinken, da sich sein Arm auf unerklärliche Weise in die Höhe reckte. Marlec hatte dies ruhig und aufmerksam verfolgt, er spürte keine Angst mehr, dieser Punkt war lange überschritten und die Anzeige zerborsten, er hatte auf Überlebensmodus geschaltet, das Gesicht seiner Mutter immer vor Augen. Nichts würde ihn stoppen.

Die um sie treibenden Körper verschwanden einer nach dem anderen mit einem brutalen Ruck, so als würden sie von gewaltigen Kiefern von unten gepackt und in die Tiefe gerissen. Was natürlich auch der Fall war.

Im Boot verbliebenen zunächst weinende Frauen, die starken Alpha-Männer und Marlec, ein drahtiger Junge, dessen ruhiger Blick ihn bislang von Attacken verschont hatte. Er sprach nicht, aber seine Augen verrieten eine fanatische Entschlossenheit. Diese Szenen waren in sein Gedächtnis eingebrannt, und Arthur betrachtete sie mit wachsendem Entsetzen. Denn der brave Junge hatte einen Plan, und er sah ihn deutlich vor sich: So lange am Leben zu bleiben, bis das treibende Boot bemerkt wurde. Dazu gab es keine Alternative.

Die Männer an Bord hatten den Wasservorrat fast aufgebraucht, als die nächste Nacht hereinbrach. Den harmlosen Jungen, der sich schlafend stellte, beachteten sie nicht weiter. Ein Fehler.

Die Halsschlagader eines Menschen liegt nicht sehr tief, so dass er mit dem kurzen Messer gut zurecht kam, das er unter der Achsel versteckt gehalten hatte. Er postierte sich so über den Schlafenden, dass er sie mit schnell hintereinander ausgeführten Stichen allesamt ausschalten konnte. Niemand leistet mehr Widerstand, wenn seine Halsschlagader durchtrennt ist. Das Gehirn benötigt Blut, um einen Plan zu ersinnen und die nötigen Befehle an die Muskeln zu schicken. Nach kurzem Tumult war Ruhe, nur die Frauen begannen wieder zu wimmern, was ihn mehr und mehr irritierte.

Der Medizinmann seines Dorfes hatte ihm einmal eine wichtige Lektion erteilt, wie man bei Wassermangel überleben konnte. Blut bestand zu einem Großteil aus Wasser. Und eine frische Leber war reich an allen Nährstoffen. Nach und nach hatte er seine Mitreisenden ausgeweidet und so überlebt. Es ging nur noch ums Überleben, kein anderer Gedanke wagte sich mehr in sein Bewusstsein. Arthur würgte erneut, aber es war nichts mehr drin, was hätte erbrochen werden können. Was nicht gut war, denn er hatte damit natürlich auch kostbare Flüssigkeit verloren. Endlich konnte er sich dazu durchringen, die Augen zu öffnen. Es war später Vormittag, das Boot schaukelte gemütlich auf den Wellen des weiten Mittelmeeres, der Horizont eine perfekte ununterbrochene Linie einmal um ihn herum. Ein Anblick, den man selten hatte. Man musste sich dazu auf einem kleinen Boot ohne Aufbauten mitten im Meer befinden. Irgendwo jenseits dieser imaginären Linie musste sie liegen, die Insel der Glückseligen.

Wollte er noch dahin?

Im Grunde wollte er nur seine Mama wieder in die Arme schließen, ihr zuflüstern, dass alles gut würde und er die besten Ärzte bezahlen konnte. Denn das war es ja, was ihn fort getrieben hatte – die böse Geschwulst in ihrer Achselhöhle, mittlerweile faustgroß, die dringend operiert werden musste. Doch das war teuer, und damit ein Todesurteil.

Marlec wollte es nicht zulassen. Nichts würde ihn stoppen!

Sein Blick richtete sich wieder auf das Boot und seine verbliebenen Passagiere. Er hatte sie tüchtig dezimiert, aber immer im Dienste der guten Sache, darauf bestand er. Man konnte ihm nichts vorwerfen, an seinem Überleben hing auch das seiner Mama. Ein unangenehmer Geruch stieg ihm in die Nase, als der Wind sich drehte. Von einer Plane beschattet begannen die Überreste seiner letzten Mahlzeit zu gären, man würde sich der Reste entledigen müssen. Er zog die blaue Plane zurück und betrachtete seinen Mitreisenden. Die Bauchdecke war komplett geöffnet und alle inneren Organe verschwunden. Der Rest war ohne Feuerstelle leider ungenießbar. Marlec, der Krieger, schleifte den ausgehöhlten Körper zur Bordwand und kippte ihn darüber, wo er bereits erwartet wurde. Denn sie hatten seit einiger Zeit ständiges Geleit, was an den „Essensresten“ liegen mochte, die in regelmäßigen Abständen über Bord gingen. Auch dieser Körper trieb nur etwa eine Minute ungestört auf dem Wasser, bevor er zu tanzen begann. Ein wahrhafter Totentanz, Arthur starrte wie gebannt zu dem makaberen Schauspiel hinüber, als aus der Tiefe hervorstoßende Schatten sich der menschlichen Hülle bemächtigten, und sie schließlich für immer zu sich hinab zogen. Dann war es wieder still an dieser Stelle des Ozeans. Vom Bug her war nur noch ein vereinzeltes Wimmern zu hören, unterbrochen von rasselnden Atemgeräuschen.

Von den acht Frauen, die dort vorne zusammen gekauert hatten, schienen es sieben so gut wie hinter sich zu haben. Dass überhaupt noch eine wimmerte, war schon erstaunlich, denn es war doch viel Zeit vergangen, seitdem der traurige Haufen ausgemergelter Gestalten, dem auch er selbst angehörte, dieses bessere Schlauchboot bestiegen hatte. Arthur konnte es aus Marlecs Gedächtnis heraus nicht genau datieren, aber sie waren wohl bereits um die zehn Tage unterwegs. Auf hoher See eine Unendlichkeit.

Geregnet hatte es nie, das Wasser war seit einer Woche aufgebraucht. Sein Blick heftete sich nun auf die letzte Quelle menschlicher Geräusche an Bord. Es handelte sich um ein junges, offensichtlich schwangeres Mädchen. Die sind wohl besonders zäh, war einer von mehreren Gedanken in seinem Kopf. Eine Welle des Mitleids durchflutete ihn, er wollte zu dem Mädchen gehen und ihren Kopf in seinen Armen wiegen, dabei eine Möglichkeit ersinnen, ihr Leben zu retten, irgendeinen Ausweg zu finden aus dieser Wasserhölle, die einer Trockenwüste gleichkam, und unglücklich Verirrte in ihrem tödlichen Schoß verdursten ließ. Und warum passierte das alles?

Weil es illegal war, die Insel der Glückseligen zu betreten, dachte er bitter. Wobei sich eine Frage aufdrängte: Was, bitteschön, hatten die Bewohner jenes Paradieses dafür getan, um dort sein und bleiben zu dürfen?

Die Antwort fiel kurz und knapp aus: Sie waren dort geboren worden!

Das ist kein persönlicher Verdienst, sondern reiner Zufall. Sie hatten den Jackpot in der Geburtsortslotterie geknackt, nicht mehr und nicht weniger. Was zum Teufel gab ihnen also das Recht, anderen, die in jener Lotterie eine Niete gezogen hatten, den Zutritt zu diesem Wellnessbereich der Erdoberfläche zu verwehren?

Woher nahmen die Erstweltler dieses Selbstverständnis, dieses Gefühl der Berechtigung? Wo sie doch selbst absolut nichts dafür getan hatten, außer, aus dem richtigen Bauch gezogen worden zu sein? Man stelle sich nur einmal die Absurdität dieser Situation vor! Arthur entsann sich einer Dokumentation über die Philippinische Hauptstadt Manila, in der auch die Müllmenschen thematisiert worden waren. Die Bewohner der städtischen Müllkippe, in schäbigen selbstgebauten Wellblechhütten am Rande des giftigen Unratgebirges lebend, ohne Schulbildung für die Kinder, ohne medizinische Versorgung. Eine kleine Infektion konnte bereits den Tod bedeuten. Nur mal angenommen, ein Familienvater vor Ort hätte nun den Entschluss gefasst entweder zu sterben oder ein neues Leben zu beginnen, hätte seine Wellblechhütte abgerissen und ein Boot daraus gebaut, mit Frau und Kindern selbiges bestiegen und wäre unter größtem Risiko auf das Festland übersetzt, um sich dann über tausende Kilometer Fußmarsch bis an die Grenze Europas durchzuschlagen. Mit Frau und Kindern. Eine heroische Leistung. Die Reaktion des christlichen Abendlandes würde nicht lange auf sich warten lassen. Da es sich bei ihm und seiner Familie eindeutig um sogenannte „Wirtschaftsflüchtlinge“ handelte (die Philippinen gelten als sicheres Herkunftsland, trotz unmenschlich geführtem Anti-Drogen-Krieges) hätten sie keinerlei Aussicht auf Asyl und würden abgeschoben. Mit anderen Worten, man würde sie in ein Flugzeug setzen und am Zielort über ihrer Müllhalde auskippen, mit dem nachdrücklichen Hinweis doch bitte dort zu bleiben, in Europa hätte man keinen Platz für Sozialschmarotzer. Das aus dem Munde von Menschen, die durch reinen Zufall an ihren privilegierten Wohnort gekommen sind. Diese Dreistigkeit und Selbstgefälligkeit der Ersten Welt wurde Arthur an diesem Tag, in diesem Boot, zum ersten Mal so richtig klar. Was bildeten sie sich eigentlich ein? Verschärfend kam noch hinzu, dass es ja die Industrieländer gewesen waren, die durch ihre maßlose Ausbeutung und Verschmutzung der Natur sowie durch ihre Handelspolitik die Lebensumstände der Flüchtenden soweit verschlechtert hatten, dass diese keinen anderen Ausweg mehr sahen. Kopfschüttelnd dachte er an den „weißen Abfall“, den die selbstherrlichen Erstweltler gönnerhaft hinaus in die Welt warfen. „Nehmt, ihr Armen dieser Welt, nehmt, wir geben euch gerne, und seht, was wir für gute Menschen sind!

Marlec wusste nichts von den Müllmenschen Manilas, er hatte noch nie eine Fernsehdokumentation darüber gesehen oder gar über den globalen Handel reflektiert, alles was ihn trieb war die kalte Entschlossenheit seine Mutter zu retten.

Vom Durst geplagt drängte er den Besucher in seinem Kopf zurück und Arthur ließ es geschehen, er hatte keine Wahl. Wenn die Instinkte das Ruder ergriffen war die Zeit der gepflegten Debatte vorüber.

Nichts würde ihn stoppen! Nichts!!

Und er war sehr durstig. Sehr, sehr durstig.

Sein kleines Messerchen lag wie ein alter Freund in seiner Hand, als er mit glänzenden Augen auf das wimmernde, schwangere Mädchen zuging.

Der Wanderer schloss die Augen.

Kapitel 3: Der Höhlenmensch

Als er aus einem unruhigen Traum erwachte, glaubte er das endlose Rauschen des offenen Meeres immer noch hören zu können, aber das musste eine Sinnestäuschung sein, denn er spürte keine Wellenbewegung mehr unter sich und seine Finger ertasteten statt der Holzplanken nur kalten nackten Beton unter sich.

Gott sei Dank, ich bin runter von diesem Schiff der Verdammten.

Bei dem Gedanken an gestern zuckte er unwillkürlich zusammen, er wollte sich nicht wirklich erinnern, schon gar nicht an das Ende dieses unerquicklichen Tages, der die Werte des christlichen Abendlandes doch arg ramponiert zurückgelassen hatte, einem qualmenden Trümmerhaufen gleich. Denn die schönen Tugenden schienen kaum über die eigenen Landesgrenzen hinaus zu reichen. Das evolutionäre Erbe jener Gattung von Affen, die sich Menschen nannten, trat unleugbar immer dann zutage, wenn fremdartige Gesichter in ihr Blickfeld traten. „Fremd“ war in der ganzen langen Menschheitsgeschichte immer ein Synonym für Gefahr gewesen, das ließ sich nicht innerhalb weniger Generationen abstellen. Der Alarm war fest installiert, und man konnte sich lediglich dahingehend trainieren, den schrillen Warnton sofort nach dem Ertönen wieder abzustellen. Nur wenn man sich dauerhaft unter fremdartigen Gesichtern bewegte, konnte man die Verdrahtung des Alarmes vollständig kappen. Denn nach einiger Zeit akzeptierte das Gehirn diese Gesichter als vertraut. Gelegentlicher Kontakt hingegen reichte in der Regel nicht aus, die uralten Verhaltensmuster zu durchbrechen.

Hinzu kam eine eigentümliche Vorstellung von „Besitz“, nach dem Motto: Das ist schließlich UNSER Land“.

Einspruch euer Ehren, dachte Arthur an dieser Stelle seiner üblichen Reflexion des letzten Tages. Das ist nicht „euer“ Land. Wir waren alle durch Zufall irgendwo auf der Erdoberfläche geboren worden und hatten keinerlei daraus ableitbare Eigentumsansprüche. Niemandem gehörte wirklich ein Stück Erdoberfläche. Im Grunde genommen war sogar das private Grundstück schon problematisch, auch wenn Arthur das nie so ausgesprochen hätte, denn man würde ihn wohl als Kommunisten bezeichnet haben, ein Schimpfwort in der modernen, aufgeklärten Welt.

Dass aber ganze Erdteile zu No-Go-Areas für Woanders-Gebürtige erklärt wurden, konnte offensichtlich nicht ethisch gerechtfertigt werden.

Denn die Sache war doch die: Der Mensch konnte - Stand heute - nur auf der Erdoberfläche dauerhaft leben. Diese war jedoch eine knappe Ressource und konnte daher nicht so einfach von kleinen Gruppen für sich vereinnahmt werden. Neueste Ergebnisse aus der Astronomie legten nahe, dass mindestens 50% des Universums NICHT aus Erdoberfläche bestanden! Genauer gesagt, deutlich über 50%. Also sehr deutlich über 50%, man könnte fast sagen, der größte Teil des Universums war erdoberflächenfrei.

Somit musste dieses knappe Gut sehr verantwortlich aufgeteilt werden, seiner Meinung nach. Diese Sichtweise schien sich jedoch nicht so recht durchsetzen zu wollen.

Es wurde als völlig selbstverständlich hingenommen, dass Konzerne große Waldgebiete als ihr Eigentum betrachten konnten, und nach Bedarf rodeten. Jeder darf doch mit seinem Eigentum tun, was er möchte, oder? Wie klein die Welt tatsächlich war, hatte Arthur zum ersten Mal so richtig verstanden, als eine der Voyager Raumsonden noch einmal ein Foto zurückgeschickt hatte.

Darauf zu sehen waren auf den ersten Blick nur Sonnenstrahlen, doch in einem davon funkelte ein kleines Körnchen im warmen Licht unseres Zentralgestirns. Alles, was sich je ereignet hatte, jeder Krieg, jede Freude, jedes Leid, jedes einzelne Ereignis in den Geschichtsbüchern hatte sich auf diesem Körnchen Materie abgespielt, geformt aus dem Auswurf eines sterbenden Sternes in der Region, in der sich heute unser Sonnensystem befindet. Beim Betrachten dieses Fotos hatte ihn ein Gefühl der Unwirklichkeit beschlichen, als wäre dies alles nur ein Wachtraum.

„Von einem Schatten der Traum, ist der Mensch“ hatte ein alter Grieche einmal vor langer Zeit philosophiert – seinerseits auf eben jenem einzigartigen Staubkorn im gleißenden Sonnenlichte sitzend. Die Welt war so unfassbar klein, nur umfassende Kooperation konnte das Überleben der gesamten Spezies angesichts der knappen Ressourcen sichern.

Das alles konnte sich Arthur in Ruhe überlegen, weil er wieder mal sturmfreie Bude hatte. Der Typ, in dessen Körper er heute steckte, Robert hieß er wohl, Bob, hatte sich reichlich zugedröhnt, und war noch nicht ansprechbar. Immerhin schien er noch im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte zu sein, nur eben total weggetreten. Wie er das hasste, wenn Leute nicht auf sich achteten, ihrem biologischen Körper keinen Respekt zollten!

Genau genommen war es natürlich egal, da man ja nur jeweils einen einzigen Tag anwesend war, aber das konnten sie ja nicht wissen, die Ahnungslosen. Entgegen seiner sonstigen Gewohnheit öffnete er diesmal die Augen sofort und erblickte über sich nicht etwa eine weißgetünchte Zimmerdecke oder gar blauen Himmel mit fröhlich zwitschernden Vöglein – nein, auch heute wieder kein Glück. Die beschissenen Szenerien schienen in der Überzahl zu sein, obwohl sich Arthur immer noch nicht sicher war, ob er durch einen repräsentativen Querschnitt der menschlichen Gesellschaft wanderte, vom Zufall mal dorthin, mal hierhin geweht, oder ob seine Stationen einem verborgenen Muster folgten. Falls ja, hatte er es noch nicht erkennen können.

Immerhin hatte er schon viel Elend mitansehen müssen. Aber vielleicht war die Welt auch einfach so, wenn man sich außerhalb der Gestade der Insel der Glückseligen befand. Diese hatte er gestern nicht erreichen können, soviel sei noch erwähnt, dann soll für immer der Mantel des Schweigens über jenes verhängnisvolle Flüchtlingsboot gelegt werden. Gefunden wurde es übrigens nie.

Einige Minuten betrachtete er die niedrige Betondecke über sich und verfolgte das Netz aus feinen Rissen mit den Augen. Hier sollte mal ein Statiker einen Blick drauf werfen, befand er. Okay, zurück zu Bob. Er war also heute dieser Bob, früher Geschäftsmann, Inhaber eines kleinen Handwerkbetriebes, Familienvater, Ehemann. Dann schlich sich die Spielsucht langsam in sein Leben und füllte mehr und mehr eine Leere aus, die er schon als kleiner Junge zu empfinden begonnen hatte.

Wie es dann so geht, war schnell erzählt. Arthur rief hierfür nur die wesentlichen Stationen aus seinem neuen Gedächtnis ab:

Das Geld wurde knapp, er wurde ein Arschloch, Frau weg, Kinder weg, Haus weg, zu viel Alkohol, natürlich, und mit dem letzten Geld war er schließlich zu seiner neuen Geliebten gezogen, der Spielerhölle Las Vegas.

Dort also befand er sich gerade. Genauer gesagt, etwas darunter, denn überirdisch war es nicht nur zu heiß, sondern vor allem zu teuer für Pleitegeier wie ihn. Wie hatte sein Leben nur so schnell so völlig außer Kontrolle geraten können? Dass er einmal als - er musste sich zwingen es auch nur in Gedanken auszusprechen - Obdachloser enden würde, ohne Sinn und Ziel im Leben, das war angesichts seiner guten schulischen Leistungen nicht absehbar gewesen. Doch gerade die Selbständigkeit barg eben dieses Risiko des Totalabsturzes.

Man sagte ja immer, wer einmal längere Zeit selbständig gewesen war, konnte keinen Chef mehr ertragen, sich nicht mehr unterordnen. Doch das Ausmaß an psychischem Druck, dem der Firmeninhaber ausgesetzt war, wenn sich abzeichnete, dass sich das Geschäft wohl auf Dauer nicht tragen würde, dass die Ausgaben immer etwas höher zu sein schienen als die Einnahmen, egal wie gut es diesen Monat gelaufen war, das konnte sich niemand vorstellen, der nicht dasselbe durchgemacht hatte. Denn man sieht vor seinem geistigen Auge all jene Menschen lachen und mit dem Finger auf einen zeigen, denen es von Anfang an klar gewesen war, dass es sich um eine dämliche Schnapsidee gehandelt hatte. So was kauft doch niemand, waren sie sich einig gewesen. Und man hatte es ihnen allen zeigen wollen. Denn die eigene Firma kam ja nicht nur einem Verlassen des Hamsterrades gleich, sie brachte zugleich die Möglichkeit mit, aus eigener Kraft, ganz ohne Lottoglück, reich zu werden. Wie sollte man das sonst bitteschön bewerkstelligen, binnen einer knapp bemessenen Lebenszeit?

Mit harter Arbeit als Angestellter etwa, um pünktlich zum Lebensende sein Reihenhäuschen abbezahlt zu haben!? Für das Erbe der Kinder?

Das war doch Bockmist!

So stand es jedenfalls in diesen Erinnerungen zu lesen, es war immer wieder so gedacht worden. Dieser Bob war wohl ein kleiner Revoluzzer, ein Nonkonformist, dachte Arthur amüsiert. Langsam lichtete sich auch der Nebel des Alkohols in ihrer beider Gehirn, so dass die Denkerei nicht mehr einem mühsamen Waten durch zähe Molasse glich. Obwohl natürlich auch etwas Wahres dran war, das musste Arthur zugeben.

Als erfolgreicher Unternehmer konnte man in der Tat reich werden.

Die Betonung lag auf „erfolgreich“.

Einem Niedergang der eigenen Firma beizuwohnen, machte ungefähr so viel Spaß, wie ihn auch der Kapitän der Titanic an seinem letzten Arbeitstag empfunden haben mochte: Wenig.

Doch der Kapitän hatte zumindest den einen Vorteil, sich über seine Zukunft keine Gedanken machen zu müssen. Denn der Gedanke an demütigende Sitzungen auf dem Arbeitsamt war wenig erheiternd, sogar fast noch schlimmer als das höhnische Gelächter von Freunden und Familienangehörigen. Doch das Allerschlimmste war der Verlust der Träume, was auch immer sie gewesen sein mögen. Der gute Bob hatte immer von einem eigenen Boot in der Karibik geträumt, die salzige Brise des türkisfarbenen Meeres im Haar und in der Nase, auch wenn Arthur bei diesem Gedanken aufgrund des doch eher unerquicklichen gestrigen Tages zusammenzuckte. Die Eindrücke waren noch zu stark präsent, meine Güte, er hatte das ewige Rauschen des endlosen Meeres immer noch im Ohr, fast wie ein Tinnitus. Aber Bob war wie besessen gewesen von dieser Idee, und als sie sich durch die Pleite seiner Firma für immer in Luft aufgelöst hatte, war etwas in ihm zerbrochen, sein Schwungrad könnte man sagen, sein innerer Antrieb. Dieser war völlig zum Erliegen gekommen, als Folge der Ereigniskette, die angestoßen worden war.

Und dann dauerte es nicht lange, bis man ganz unten angekommen war, so unfassbar es einem zuvor erschienen haben mag. Das ging ganz schnell, und meist war damit eine Endstation erreicht.

Bob hatte aufgegeben und lebte nur noch, weil sein Herz einfach immer weiter schlug, stur und beharrlich, ohne dass er selbst dabei noch ein Ziel verfolgt hätte. Fast schien es so, als freue er sich darauf, bald nicht mehr da sein zu müssen. Traurig. Wirklich traurig. Aber auch ziemlich egal, denn niemand würde ihn vermissen, seine Frau hatte mit einem anderen Mann eine neue Familie gegründet, und seine Kinder sagten wohl mittlerweile „Papa“ zu diesem Kerl. Also was sollte er noch hier?

Mir kommen gleich die Tränen, warf Arthur an dieser Stelle sarkastisch ein. Man konnte sich derart hängenlassen, - musste es aber nicht. Okay, du wirst es wohl auf dein ersehntes Boot in der Dom Rep nicht mehr schaffen, aber dennoch könntest du dich aufrappeln und etwas Nützliches tun!

Mit einsamen Omas im Altenheim Halma spielen, zum Beispiel. Denn das beste Gefühl bekam man nicht beim Raffen und Nehmen, sondern beim Geben. Diese alte Weisheit wurde auch durch moderne psychoanalytische Erkenntnisse gestützt. Geben macht glücklich, und wenn es auch nur etwas eigene Zeit ist, die man zu vergeben hat.

Bob schwieg derweil verdattert angesichts dieser völlig neuen Gedanken in seinem Kopf. Verwirrt rieb er sich die verquollenen Augen.

Hatte er gestern zu dem ganz billigen Fusel gegriffen, oder woher kam das? Er war hier das Opfer, das war doch wohl klar!?

Das Schicksal hatte sich auf die Lauer gelegt, und ihn böse gefoult. Er hatte ein Recht auf sein Selbstmitleid! Und auf die Gedanken an sein Boot und das Meer. Mach wie du meinst, morgen macht eh ein anderer an deiner Stelle weiter, also entspann dich, so die beschwichtigenden Worte des Besuchers in seinem Kopf. Denn dieser verfolgte wie immer eigene Ziele.

Da es gestern etwas ungünstig war, bestand heute vielleicht die Chance, an einen Internetzugang zu gelangen?

Er wollte dringend mal wieder seine Mails checken und den Kontostand prüfen. Hatten alle Überweisungen funktioniert? Es war immer schwierig, die Konsequenzen seiner Interventionen in Erfahrung zu bringen. Oftmals blieb ihm nichts als die Hoffnung, dass seine Anweisungen ausgeführt worden waren, die er in den Köpfen seiner Wirte hinterlassen hatte.

Der Mutter von Marlec hätte Arthur ebenfalls gerne geholfen und ihre Operation bezahlt, doch wie zum Teufel sollte er sie ausfindig machen? Der Bursche hatte kaum etwas gewusst in Bezug auf Ort und Name. Die Begriffe, die er verwendet hatte, waren lokale Bezeichnungen, untauglich als Adressangabe, um einen Brief voller Geldscheine zu verschicken. Er schüttelte frustriert den Kopf und hörte wieder das Meer rauschen, wie es das kleine Boot und alle Hoffnungen darin davongetragen hatte.

Arthur starrte immer noch mit offenen Augen an die niedere Betondecke über sich. Der Ozean von gestern rauschte irritierend beharrlich in seinen Ohren. Fast ein wenig zu beharrlich.

Wenn er es genau betrachtete, dann drang das Rauschen nicht nur aus seiner Erinnerung sondern auch ganz real an seine Ohren.

Es rauschte genau so, wie es große, schnell bewegte und sehr turbulente Wassermassen zu tun pflegten. Er bildete sich auch ein, dass das Rauschen in der letzten Minute lauter, aggressiver geworden war.

Seltsam. Das Meer in Las Vegas!?

Dunkel erinnerte er sich, kürzlich am Himmel eine dunkle Wolkenfront gesehen zu haben, ganz so als würden sich heftige Gewitter ankündigen. Also, dieser Bob hatte sie gesehen, gestern, während Arthur sich auf dem Mittelmeer nach Europa durchzuschlagen versucht hatte.

Denn gelegentlich schaffte es ein Tiefdruckgebiet sogar bis zur Südspitze Nevadas, an den Rand der Mojave-Wüste.

Ein solches Unwetter konnte sogar an diesem unwirtlichen Ort heftige Niederschläge mit sich bringen, die dann im harten, ausgetrockneten Boden kaum versickerten, und über ein Kanalsystem unter der Stadt abgeleitet werden mussten. Darüber hatte er einmal eine Dokumentation gesehen, erinnerte sich Arthur. Doch diesen gedanklichen Faden weiter zu spinnen fiel ihm immer schwerer, angesichts des penetranten Rauschens, das nun fast ohrenbetäubend von der Decke und den Betonwänden reflektiert und verstärkt wurde.

Warum es so lange gedauert hatte, bis bei ihm der Groschen fiel, konnte sich Arthur später selbst nicht recht erklären.

Er war eben oft zu sehr verstrickt in die Befindlichkeiten seiner Gastgeber, was ja auch Sinn der Sache war, denn es war ja an ihm, deren Rolle für einen Tag weiter zu spielen und gegebenenfalls mit eigenen Facetten zu versehen. Die Erkenntnis traf ihn wie ein Faustschlag in die Magengrube.

Nein! So wollte er nicht verrecken!

Gerade als er ruckartig emporschoss und auf die Beine kam, erfasste ihn die Flutwelle braunen Wassers und riss ihn mit sich, zusammen mit all seinen Habseligkeiten, die Bob in einer Nische des Tunnels eingelagert hatte. Die Wassermassen füllten den Tunnel binnen Sekunden vollständig aus, bis unter die niedrige Decke, was den unglücklichen Bewohner des Entwässerungssystems logischerweise unter Wasser drückte, und seine Vitalfunktionen durchaus negativ beeinflusste.

Dreck verfluchter! dachte Arthur noch, Immer dieses gottverdammte Wasser!! Es verfolgte ihn regelrecht in jüngster Zeit.

Er versuchte die Luft so lange wie möglich anzuhalten, und sah die grauen Tunnelwände an sich vorbeiziehen, während er wie ein trudelnder Astronaut in der Schwerelosigkeit um alle Achsen wirbelte.

Schließlich war die Atemnot zu groß und er gab seinen Widerstand auf. Autsch, dachte er noch, als sich seine und Bobs Lunge mit Wasser füllte.

Robert Lee Parkers Leiche wurde zwei Tage nach dem Unwetter in einem Überlaufbecken außerhalb der Stadtgrenze gefunden, eingekeilt zwischen schmutzigem Treibgut und halb bedeckt von schleimigen Algen, die in diesen brackigen Gewässern prächtig gediehen.

Er war nicht der einzige Bewohner dieses Tunnelsystems gewesen, den die jüngsten sturzflutartigen Niederschläge das Leben gekostet hatten.

Der Bürgermeister der Stadt verfügte daraufhin, durch verstärkte Polizeikontrollen die Obdachlosen dauerhaft aus dem Kanalsystem unter der Stadt zu vertreiben. Ein rechtschaffenes Vorhaben, das sich jedoch als unmöglich erweisen sollte.

Kapitel 4: Der Regenmacher

Beamen tötet. Jedes Mal.

Ausnahmslos alle Beteiligten.

Das Ableben von Captain Kirk blieb jedoch jedes Mal unbeweint, weil unbemerkt. Niemand schien je auf diesen Gedanken zu kommen, oder falls doch, so wurde er schnell verdrängt. Er passte nicht zum Selbstbild des Menschen, der sich so gerne mit seinem „Ich“ identifizierte.

Doch Beamen tötet, da war sich Arthur sicher. Aber es war der perfekte Mord. Nicht etwa, weil es keine Leiche gab, nein, das stimmte zwar, war aber nicht der entscheidende Punkt.

Beamen war der perfekte Mord, weil der Getötete scheinbar immer noch herumlief, das war das Geniale daran. Er war ersetzt durch eine perfekte Kopie, die an seiner Stelle die Geschäfte fortführte, genauso aussah und sprach wie er, und nicht nur von allen Umstehenden für den Verblichenen gehalten wurde, sondern sich auch selbst für diesen hielt, und daher ungemein überzeugend war. Genau genommen war er vom Original durch nichts zu unterscheiden, man hätte also beinahe sagen können, es wäre tatsächlich er. Nur: Er war es eben nicht mehr. Das Original war tot. Und der Umstand, dass eine perfekte Kopie von ihm an seine Stelle getreten war, änderte nichts daran.

Das Teuflische daran war, dass es nie jemandem auffiel.

Die Beamer schienen immer einwandfrei zu arbeiten, noch nie war es zu einem Unfall gekommen, alle waren von der Zuverlässigkeit des Systems begeistert. Jemand stieg an einem Ende hinein, es summte kurz, der Körper wurde in reinste Quanteninformation zerlegt und an den Zielort abgestrahlt, sodann von der Empfangsapparatur wieder zurück in Materie übersetzt. All das erfolgte mit dem immer gleichen Ergebnis, dass nämlich ein putzmunterer Beamling, ein frisch Gebeamter, breit grinsend aus dem Gerät am anderen Ende kletterte.

Seht her, nur keine Sorge, es funktioniert!“ lautete das frohe Fazit.

Dass er gar nicht mehr derjenige war, der einen Moment zuvor in den Beamer hineingeklettert war, sondern lediglich eine exakte Kopie des bedauernswert Verblichenen, gerade mal wenige Sekunden alt, kann er nicht ahnen, nicht fühlen, nicht beweisen.

Er ist nur aufgrund der perfekten Kopie der Gedächtnisinhalte in seinem Kopf von seiner fortdauernden Existenz überzeugt. Für ihn fühlt sich alles richtig an. Er weiß, was er gestern getan, mit wem er den Tag verbracht und welchen Schabernack er getrieben hat. Seine Erinnerungen sagen es ihm, in einem zusammenhängenden Film, immer abrufbar und ohne erkennbare Lücken. Er kennt sein biologisches Alter, und das war sicher nicht im Bereich von nur wenigen Sekunden, nicht wahr? Nicht wahr??

Arthur stellte sich vor, wie man ihn auf der Enterprise auslachen würde, wenn er sich strikt weigerte, den Beamer zu betreten.

Er wäre damit für Außeneinsätze auf fremden Planeten aus eintönigen Pappmaché-Kulissen ungeeignet, und Captain Kirk würde sich einen dieser armen Trottel suchen müssen, die nicht zur Riege der Hauptdarsteller zählten und daher mit hoher Wahrscheinlichkeit beim Einsatz ums Leben kommen würden. Erneut ums Leben kommen würden, musste man sagen, denn das Beamen auf die Oberfläche des Planeten hatte sie ja bereits – unbemerkt – dahingerafft.

Allein unsere Erinnerungen verweben uns mit dem Gestern und dem Morgen. Sie machen uns zu der Person, die wir zu sein glauben, sie weiten den nadelfeinen Lichtpunkt unserer bewussten Gegenwart zu dem diffusen Lichtkegel auf, den wir „jetzt“ oder auch „heute“ nennen.

Wow! Er war beeindruckt von sich selbst. Wirklich äußerst tiefsinnig...

Ben…? BEN!! Was zum Teufel…??

Arthur musste unwillkürlich grinsen, denn er würde auf dem Schiff die Untergrund-Bewegung der Beam-Gegner anführen, und schließlich als Spinner verhöhnt zum Küchendienst abkommandiert werden.

Das Schicksal all derer, die über den Tellerrand hinaussehen konnten, oder zumindest davon überzeugt waren, es zu können. Manchmal sollte man seine Gedanken wohl besser für sich behalten...

Ben…!? Lass uns darüber reden, verdammt nochmal!

Die Stimme des Investment-Bänkers klang rau und halb erstickt, als würde er versuchen, mit Sand im Mund zu sprechen.

Er war wieder ins Tagträumen gekommen, stellte Arthur ohne große Reue fest. Sei es darum, an manchen Tagen musste er sich einfach kurzfristig ausklinken, um nicht den Verstand zu verlieren.

Vielleicht sollte er nun die Augen wieder öffnen? Das konnte manchmal hilfreich sein. Ohne Enthusiasmus tat er genau das.

Die Szene, die vor ihm lag, war, zugegebenermaßen, ziemlich eigenartig.

Zumindest empfand er es so.

Schon zu Schulzeiten war er nicht gerne im Mittelpunkt des Interesses gestanden. Er war einfach keiner dieser aufdringlichen Wichtigtuer.

Langsam ließ er die Luft aus seinen Lungen entweichen und den Blick schweifen. Ein langer Tisch aus poliertem tropischem Gehölz erstreckte sich von ihm weg in die Tiefen des Konferenzraumes hinein.

Etwa zwei Dutzend offenbar gut situierte Herren in zumeist graublauen Nadelstreifenanzügen saßen daran, alle mit dem Gesicht in seine Richtung gewandt. Nun ja, nicht wirklich alle saßen mehr da, wo sie sollten.

Arthurs wanderndem Blick entgingen nicht drei leere Drehstühle, noch in leichter Rotation begriffen, wie Windmühlen in einer sanften Brise, gerade so, als hätten sich die absenten Platzinhaber erst vor wenigen Sekunden fluchtartig davongemacht. Und zwar offenbar unter den Konferenztisch, da sich sonst nirgendwo im Raum eine Spur von ihnen zeigte.

Es waren die paar Herren unter 60, die ihren Körper noch zu so einem schnell vorgetragenen Kunststück der Beweglichkeit motivieren konnten. Die übrige Gesellschaft hatte sich aus Altersgründen auf's Starren verlegt. Vielleicht war es ihnen auch egal, denn jeder dieser Herren hatte sein Stück vom Kuchen des Lebens bereits abbekommen.

Besser gesagt, hatte jeder eine komplette Konditorei leer gefressen.

So what!? Fuck it! Uns kann keiner an den Karren fahren!, mochten sie vielleicht denken. Oder aber sie besudelten gerade ihre Seniorenwindeln, die einige dieser Opas sicher bereits trugen – nur zur Sicherheit, als letzte Verteidigungslinie sozusagen, wenn der Beckenboden schlapp machte.

Eine bleierne Stille lag über der Szenerie.

Im Wesentlichen wurde nur schwer geatmet.

Schweres Atmen war aktuell definitiv das dominierende Geräusch in diesem Raum, und es begann Arthur zunehmend zu nerven.

Das Bild, das sich ihm gerade zeigte, wäre wohl kein anderes, wenn er mit wildem Kampfgebrüll und einer durchgeladenen AK-47 im Anschlag durch die Tür gestürmt wäre.

Was er, genau genommen, auch soeben getan hatte, soviel muss an dieser Stelle erwähnt werden.

Ein bitteres Lächeln umspielte Arthurs Lippen, als er die Waffe sinken ließ, bis ihre Mündung auf den Boden vor ihm zeigte.

Das allgemeine schwere Atmen schien gleich etwas leichter zu werden.

Er legte die Stirn in Falten und rief sich die vergangenen fünf Minuten ins Gedächtnis. Die paar Minuten, bevor er den Raum verlassen hatte, um die Waffe aus seinem Büro zu holen, wo sie seit Jahren als Wandschmuck diente. Sein alter Herr hatte sie einem Wehrmachtsoldaten aus den kalten Händen gewunden, der sie wiederum einem Rotarmisten aus dessen ebenso kalten Händen entwendet hatte.

Soweit die Kurzfassung der Geschichte der betagten Waffe.

Er, also Ben, hatte sie geerbt. Geladen und einsatzbereit, was allerdings niemand ahnte, der sein Büro betrat.

Was also war geschehen, um ihn danach greifen zu lassen?

Die anwesenden Herren (drei davon aktuell unter dem Tisch befindlich) waren zur Beichte erschienen, könnte man sagen.

Und wie es immer ist, mit ungezogenen Jungs, die richtig Mist gebaut hatten: Wenn die schmutzige Wäsche dann auf den Tisch kommt, möchte plötzlich jeder der erste sein, der alles gesteht. In der vagen Hoffnung, dem herab sausenden Rohrstock der zürnenden Vaterfigur so lange entgehen zu können, bis dem Alten die Puste ausging.

Die Vaterfigur war heute er selbst, das war Arthur klar. Zumindest war er in ihrem Körper aufgewacht. Lange schon hatte er sich danach gesehnt, einmal ein hohes Tier zu sein, ein Big Boss, jemand dessen Wort Gewicht hat, der etwas bewegen, einen Unterschied machen konnte, vielleicht schon an einem einzigen Tag. Jemand, den man in Insiderkreisen als „Regenmacher“ bezeichnete. An den Chefposten der amerikanischen Notenbank hatte Arthur bei seinen Gedankenspielen zwar nie gedacht, aber in seiner Situation musste man nehmen, was man kriegen konnte. Wie in dem alten Sprichwort: Wenn das Schicksal dir Zitronen (oder den Notenbankvorsitz) gibt, dann mach Zitronensaft draus. Oder so ähnlich. Eigentlich hatte Arthur momentan auch gar keine Zeit für derlei philosophische Überlegungen. Hatte er die Waffe überhaupt entsichert?

Ein erstes Räuspern mischten sich unter das Atmen, und von unter dem Tisch wurden zaghafte Krabbelgeräusche hörbar, die exakt so klangen, als würden Vorstandsmitglieder von Goldman-Sachs und der Rating-Agentur Moody's unter einem Konferenztisch hervor und zurück auf ihre Plätze kriechen, um dort angekommen so zu tun, als wäre nichts geschehen. Immer die Fassung wahren, so lautete das eherne Motto dieser Herren. Mit bleichen Gesichtern zwar, aber ansonsten äußerlich unbewegt. Immer so zu tun als wäre alles in bester Ordnung. Bis zum bitteren Ende.

Denn das konnten diese feinen Herren am besten.

Dieser betrübliche Umstand war Arthur klar geworden, als sie ihn über die bevorstehende Krise unterrichtet hatten. Und über ihre völlige Unschuld daran. Woraufhin er sich wortlos erhoben hatte, in sein Büro gegangen und mit der Waffe zurückgekehrt war.

Die genauen Zusammenhänge waren ihm immer noch nicht ganz klar, und er vermutete bei den übrigen Anwesenden dasselbe Problem, auch wenn es diese Knilche niemals zugeben würden.

Die Krise also. Okay. Was würde die Krise auslösen?

Irgendwas mit Immobilien.

In den Nachrichten und Zeitungen war noch nichts darüber berichtet worden, und er, Arthur, hörte heute zum ersten Mal davon. Doch er würde kommen. Der große Knall. Soweit war sein Gehirn den verklausulierten Ausführungen der Fonds-Manager und Bänker gefolgt, die sich heute in seinem Büro versammelt hatten.

Viele Banken hatten Immobilienkredite ohne Bonitätsprüfungen vergeben, zudem waren die betreffenden Häuser meist drastisch überbewertet worden. Zum allem Überfluss hatten die Rating-Agenturen bis zum Schluss Bestnoten für die faulen Kreditpakete vergeben.

Jetzt würde es so richtig knallen, und das Platzen der Immobilienblase nicht nur einige sehr renommierte Geldhäuser in Schwierigkeiten, sondern auch tausende arglose Kreditnehmer in die Obdachlosigkeit bringen. Schuld daran war offenbar niemand, der „Markt“ hatte sich selbst in diese Situation gebracht, so hatte man es ihm, dem Boss, in den letzten zwei Stunden händeringend zu erklären versucht. Kein Grund, jemanden zu feuern oder gar öffentlich bloßzustellen.

Merde happens, wie die Franzosen sagten. Wenn sie bilingual waren.

Okay, können wir dann bitte unsere Boni ausgezahlt bekommen?

Ah. Klar. Vielleicht doch eher ein Grund, auf jemanden zu feuern…?

An dieser Stelle hatte er kurz die Augen geschlossen und seine Gedanken waren auf die Enterprise abgeschweift, wie es ihm immer häufiger in den letzten Wochen passierte. Immer öfter wünschte er sich weg von diesem Planeten. Der wievielte Dreckstag seiner Irrfahrt war es heute ?

Vor seinem geistigen Auge zogen die Bilder vergangener Tage vorbei, eine schier endlose Reihe. Viele davon banal, einige bemerkenswert, einige wenige sogar recht spektakulär, des Erinnerns würdig.

Tage, an denen er beinahe, wirklich beinahe, etwas verändert hätte. Am Zustand der Welt, wohlgemerkt. Aber ein Tag war einfach nicht genug, das hatte er immer wieder feststellen müssen.

Nicht genug, um nachhaltig etwas zu verändern.

Denn das Problem war: Arthur hatte immer nur einen Tag, dann ging die Reise weiter, trug ihn fort an einen völlig anderen Ort, in ein anderes Land, in einen anderen Wirtskörper, den er unfreiwillig „kaperte“. Besser gesagt, er wachte schlicht und ergreifend in ihm auf, nicht mehr und nicht weniger, ohne etwas dagegen tun zu können.

Er wachte auf - und konnte sich erinnern. Leider. Oder glücklicherweise.

An Gestern. Genau genommen, an zwei verschiedene „Gestern“.

Sein eigenes Gestern, und das seines aktuellen Gastgebers.

Nur eines war verlässlich: Der Ablauf der Zeit. Dieser war völlig ungerührt von seinem Dilemma, seinem “Zustand“, wie auch immer man es nennen wollte. Die Tage vergingen exakt wie im Kalender vorgesehen, kein Murmeltiertag wurde gefeiert, es gab keine Zeitschleife oder ähnlichen Unsinn, und war heute der dritte Mai, so konnte er sicher sein, morgen am vierten Mai zu erwachen. Nur in welchem Körper, das war eine Lotterie. Oder folgte seine Wanderschaft verborgenen Regeln, die er nur noch nicht zu entdecken vermocht hatte? Konnte er sein Reiseziel beeinflussen?

Er bezweifelte es mittlerweile, auch angesichts der völligen Willkür seiner Stationen. Oft fand er sich in Köpfen, mit denen oder deren Inhabern er im wirklichen Leben nichts hätte zu tun haben wollen.

Etwas Gutes ließ sich diesem Irrsinn immerhin abgewinnen:

Man bekam einen Einblick in die Gedankenwelt vieler Menschen, auch derer, die man für komplette Idioten gehalten haben würde, wäre man ihnen auf der Straße begegnet.

Diese Einschätzung beruhte ohnehin zumeist auf Gegenseitigkeit.

Arthur kicherte kindisch vor sich hin bei diesem Gedanken, seine Umwelt ausblendend, die Anzahl der Tage ergründend.

Ah ja, jetzt erinnerte er sich wieder: Es waren bislang exakt 729 gewesen.

Das war sie, die gesuchte Zahl, ein Teil seiner Erinnerung. Seiner ureigenen Erinnerung. Nicht etwa 42, nein, diese Zeit war lange vorbei, sondern 729. Und sie war korrekt, seine frühere Karriere als Finanzbuchhalter ließ daran keinen Zweifel. Mit Zahlen an sich hatte er nie ein Problem gehabt. Aber diese spezielle Zahl erschütterte ihn dann doch etwas.

Beinahe zwei Jahre schon auf diesem Trip, und nichts erreicht, außer etwas Geld eingesammelt, von mehr oder weniger freiwilligen Spendern, sowie eine erste Bestandsaufnahme vom erschütternden Gesamtzustand der Welt gemacht. Und „erschütternd“ war das richtige Wort.

Die Bilder der Abendnachrichten verblassten im grellen Licht der Realität, wenn einem das Wasser bis zum Hals oder die Rebellen-Miliz vor der Türe stand. In der Regel war auch die Nahrung knapp.

Oft war er nur ein kleiner Fisch im Haifischbecken, ohne jeden Einfluss, ein gesichtsloser Niemand, den man nach Belieben herumschubsen konnte und der oft genug auf die Hilfe der Blauhelme hoffen musste…

Aber manchmal, so wie heute, saß er an den Hebeln der Macht.

Jetzt war es an ihm, andere herum zu schubsen. Oder ihnen zu helfen.

Und so begab es sich an diesem Tag, in jenem Sitzungsraum im 15. Stock des „Fed“-Gebäudes in New York City, dass der amtierende Chef der Notenbank den Entschluss fasste, ein paar sehr deutliche Worte an die versammelten Granden der Finanzwelt zu richten. Mit etwas Nachdruck.

Alle verfügbaren Augenpaare folgten gebannt der Waffe, als er sie, nicht gerade sanft, auf dem Konferenztisch ablegte. Immerhin, die ungeteilte Aufmerksamkeit dieser gierigen Arschlöcher hatte er nun.

Sein Räuspern hallte trocken von den getäfelten Wänden wider.

„Was ich von eurem Vorschlag halte?“ brachte er mühsam beherrscht hervor. „Die korrupten Machenschaften eurer dreckigen Anstalten zu vertuschen, damit ihr Burschen euch der Strafverfolgung entziehen könnt!?“ Arthur brüllte nun fast. „Für wen haltet ihr geschniegelten Arschlöcher euch eigentlich, dass ihr so leichtfertig mit der Existenz braver, hart arbeitender Menschen verfahren dürft? Ihr feinen Kerls, die sich noch nie die Hände schmutzig gemacht haben, zumindest nicht im wörtlichen Sinne? Und die ihr hier gerade so viel Rückgrat zeigt, wie frisch aufgetaute Fischstäbchen?“ Er holte kurz Luft und lockerte seine Fliege.

„Ich werde persönlich dafür sorgen, dass ihr gierigen Drecksäcke die Konsequenzen tragen werdet für die Katastrophe am Immobilienmarkt! Dass ihr auf ewig darben werdet an einem Ort ohne Türen! Ihr hört von mir. Und jetzt raus mit euch!!“

Ungeachtet der Tatsache, dass greise Vorstände und Direktoren keine athletischen Eigenschaften aufweisen, war der Konferenzraum heute überraschend schnell geleert. Arthurs sachdienliche Hinweise hatten ihre Wirkung nicht verfehlt.

Oder war es doch die Waffe gewesen, die sich immer noch in Reichweite befand? Unter anderen Umständen ganz sicher eine schwere Straftat. Nötigung, in Tateinheit mit illegalem Waffenbesitz, das war übel.

Aber als Chef der Notenbank durfte er jeden Bänker des Landes mit der Waffe bedrohen. Niemand würde Anzeige erstatten, soviel war klar. Arthur warf die Waffe achtlos in eine Schublade und setze sich an seinen angestammten Platz am Kopfende des Tisches. Netter Ausbruch, alter Knabe, kam es ihm in den Sinn, aber natürlich völlig wirkungslos. Keiner der Geflüchteten würde zur Rechenschaft gezogen werden, egal wie sehr er polterte. Die Fehler waren über viele Jahre gemacht worden, die eingebrockte Suppe aus Hochrisiko-Krediten durfte der auslöffeln, der sie immer auslöffelte: Der kleine Mann. Guten Appetit. Auf dem Weg nach Hause, auf dem Rücksitz einer Limousine mit offenbar aus gutem Grund gepanzerten Scheiben zerbrach sich Arthur den Kopf darüber, was er in seiner gegenwärtigen Position noch erreichen könnte. Wenn man doch nur etwas Vorbereitungszeit hätte! Ein Tag war verdammt wenig, wenn man sich zuerst in den neuen Körper einleben und dessen Erinnerungen durchforsten musste. Das war immer ein aktiver Prozess, denn das Gedächtnis spuckt nur auf gezielte Anfrage etwas aus.

Wo war er? Wer war er? Was war er? Welche Schulen hatte er besucht, welche Karriere gemacht? Meist war er Mitglied im Club der einfachen Leute, logischerweise, wie es die Statistik gebot, denn diese Gruppe stellten ja den Großteil der Weltbevölkerung.

„Jeder Einzelne kann etwas verändern“, sagt man immer.

„Weit gefehlt“, murmelte Arthur grimmig zur Antwort.

Nicht einmal der viel gerühmte Notenbankchef kann etwas verändern.

Es geht immer nur um die Verwaltung der Katastrophen und natürlich um Schadensbegrenzung. Auch um die Wiederherstellung von Vertrauen. Modernes Geld basiert in erster Linie auf Vertrauen, da es keinen echten eigenen Wert besitzt. Eventuell kann sachte an kleineren Stellschrauben gedreht werden, mehr nicht. Den berühmten „großen Wurf“ gab es nicht, den würde das System auch gar nicht verkraften, - oder zulassen.

Arthur wurde fast schwindelig, wenn er das Wissen des Fed-Bosses über Geld abrief. Was „Geld“ eigentlich war, wie es entstand, also „erzeugt“ wurde. Nicht etwa in den Notenpressen der Druckereien, nein, das war nur ein vernachlässigbarer Bruchteil der gesamten Geldmenge auf diesem Planeten. Dieses Geld war sehr real. Zu real für die Tricks der Finanzprofis. Es war das, was Otto Normalverbraucher gemeinhin unter „Geld“ verstand. In diese Kategorie fiel auch das rein digitale Geld, das nur in den Computern der Banken existierte. Um dieses zu erzeugen, musste keine Presse angeworfen werden. In den Stunden vor der Sitzung hatte Arthur seine Zugangsrechte als Big Boss genutzt und sich in den Zentralrechner der Bank eingeloggt. Dort entstand das Geld, wie er schnell verstanden hatte. Mit ein paar Klicks war er auf der richtigen Eingabemaske gelandet:

<Neues Konto anlegen>

Er gab einen Phantasienamen ein, Ford Prefect, und eröffnete ein Konto. Als Kontostand wurde 0 angezeigt. Noch.

Den feinen Unterschied zwischen einen armen Schlucker und einem Multimillionär machten ein paar Fingerbewegungen über die Tastatur.

Denn so unfassbar es Arthur anfangs erschien, auf diesem Computer ließ sich das Feld mit dem aktuellen Kontostand editieren. Also beliebig verändern. Es war schließlich reine Software, Einsen und Nullen in einer elektronischen Datenbank. Wo sollte das Problem sein?

Es war kinderleicht.

Lange noch konnte er die Faszination dieses Momentes nachfühlen.

Zunächst zögerlich, mit zitternden Fingern, hatte Arthur eine Zahl eingetippt. Erst eine 1, dann eine Null, und noch eine, und noch eine. Nach sechs Nullen hörte er auf und klickte auf „speichern“, während ihm ein Schweißtropfen an der Nasenspitze hing. Der Rechner surrte kurz, die Datenleitung blinkte, und der Vorgang war abgeschlossen. Es gab nun ein neues, international anerkanntes Konto. Mit einer Million Dollar echten Geldes darauf. Das konnte überwiesen, abgehoben oder beliebig für Zahlungen verwendet werden. Es war so echt wie es nur ging. Die perfekte Fälschung, die somit aufhörte, eine Fälschung zu sein. Erzeugt binnen Sekunden, wofür der brave Arbeiter sein ganzes Leben – oder länger – ackern musste. Mit nur ein paar Mausklicks. Arthur hatte es kaum fassen können, wie einfach es hier war, unter die Zauberer zu gehen.

Er hatte soeben eine Million Dollar herbeigezaubert. Applaus, Applaus!

Eine Bank konnte also Geld einfach so „erfinden“! Dann war es einfach da.

Faszinierend, Captain, hätte der Typ mit den spitzen Ohren jetzt gesagt.

Er konnte sich nicht erinnern, im Schulunterricht jemals über dieses Detail informiert worden zu sein. Doch auch dieses digitale Geld, wenngleich viel mehr als das reale Papiergeld, war nur ein kleiner Farbtupfer im globalen Bildnis Mammons. Der weitaus überwiegende Teil des Geldes bestand in… Tja, man konnte es nicht anders sagen... Wetten. Er musste etwas tiefer im Kopf des obersten Bänkers stöbern, um auch nur im Ansatz zu verstehen, wie es sich damit verhielt. Es waren Wetten auf Marktentwicklungen, auf Kursentwicklungen, aber vor allem Wetten darauf, wie andere Wetten ausgehen würden. Und diese Wetten ließen sich zu Paketen bündeln, auf die wiederum, richtig, Wetten abgeschlossen werden konnten. Der Hebel („leverage“ genannt, im Kopf des Bänkers) wurde dabei immer größer, das Risiko natürlich auch. Die Geldwirtschaft hatte sich längst verselbstständigt und kreiste nur noch um sich selbst.

Der Teil von ihr, der tatsächlich „arbeitete“, also an der realen Wirtschaft partizipierte, war verschwindend gering. Es war an Absurdität nicht zu überbieten und zog eine unvermeidliche Konsequenz nach sich: Die Schere zwischen arm und reich würde sich weiter öffnen, auch wenn das in der sogenannten „1. Welt“ nicht offensichtlich war, da es hier – noch – einen Mittelstand gab. Wie lange noch? Wann würde der gesellschaftliche Friede brechen, ab wann sich die Reichen in bewachten Vierteln einschließen müssen, wie es heute in Südamerika bereits der Fall war?

Auch nachdem er vermittels eines der Dienstmädchen seines Anwesens, wie jeden Mittwoch und Samstag, sexuelle Befriedigung erlangt hatte und sich zur Ehefrau des Bänkers ins Bett legte, hatte er darauf noch keine Antwort gefunden. Offenbar wusste sie auch der Chef der amerikanischen Notenbank nicht, was Arthur zum einen beruhigte, zum anderen erschütterte. Das Geld führt uns alle am Gängelband durch die Manege, und wir müssen alle springen, wenn es ruft. Geld ist nicht alles, aber ohne Geld ist alles nichts, so musste man leider feststellen. Alle Annehmlichkeiten dieser Welt konnten mit Geld erworben werden, es vermehrte sich zudem aus sich selbst heraus, ein gar eigenartig Ding war es. Nein, hier gab es für Arthur nichts mehr zu tun, keine Einzelperson konnte diesen monströsen Geist zurück in die Flasche zwingen.

Die Zeiten der durch Gold gedeckten Geldmenge war lange vorbei und würde nie mehr wiederkehren. Doch die Zahlen und Größenordnungen im Kopf des obersten Bänkers stellten alle seine bisherigen Vermutungen in den Schatten, es war einfach jenseits des menschlich Vorstellbaren.

In solchen Momenten sehnte sich Arthur in sein altes, sein erstes und eigentliches Leben zurück, in den Körper, der nurmehr von Maschinen am Leben gehalten wurde, der sein ewiges Gefängnis sein sollte, aus dem ihm aber dennoch der Ausbruch gelungen war. Warum auch immer.

Seine Erinnerung an den fraglichen Tag stand ihm klar wie ein Film vor Augen, der Tag, an dem er von der Arbeit heimgekehrt war und sich anschickte, den frisch angelieferten Küchenherd anzuschließen. Damit der Teekessel wieder sein fröhliches Liedchen pfeifen konnte.

Sollen wir nicht eine Profi anrufen? hatte seine Frau mehrfach gefragt. Das sei doch gefährlich mit dem Starkstrom…?

Papperlapapp, hatte er gedacht, die Kabel aus der Wand waren schön bunt, und passten farblich zu denen, die das Gerät vorzuweisen hatte. Einfach die jeweiligen Enden miteinander verbinden, eine Sache von 10 min, dann wäre das Prachtstück einsatzbereit, Null Problemo!, hatte er damals enthusiastisch erklärt. Und war fröhlich ans Werk gegangen.

Die richtige Sicherung in die richtige Stellung zu schalten, das war natürlich Voraussetzung für gefahrloses Arbeiten an der Hauselektrik. Und wenn alle Sicherungen korrekt beschriftet sind, ist das auch überhaupt kein Problem. Wenn.

Doch manchmal stimmen die Beschriftungen nicht, wie er feststellen musste. Den Moment, als die Welt um ihn herum erst ihre Farbe, dann ihren Klang verlor, konnte Arthur beinahe schmecken, so seltsam das auch klingen mochte. Bevor die betreffende Sicherung flog, hatte es in Arthurs Oberstübchen bereits unzählige davon hinausgeworfen, ein Gefühl, als würde er plötzlich durch seine Augenhöhlen in seinen Schädel hineingepresst und alle Türen fielen hinter ihm ins Schloss, undurchdringlich für Licht und Ton. Denn das ist ja der wahre Zustand unseres Gehirns, dem schwammartigen Thron unseres „Ichs“:

Es ist eingeschlossen hinter Knochenmauern in ewiger Dunkelheit, kann selbst weder hören noch sehen. Die Realität, oder was wir dafür halten, konstruiert es kontinuierlich aus dem Strom elektromagnetischer Signale, die unentwegt über Nervenbahnen hereinströmen. Mehr Information steht diesem wabbeligen grauen Klumpen nicht zur Verfügung. Was da draußen, jenseits des Schädelknochens, tatsächlich existiert, kann es nur vermuten. Als oberste Verarbeitungsebene seiner elektrochemischen Software wird vom Gehirn - im evolutionär jüngsten Abschnitt seiner Struktur - der Teil unseres Körpers generiert, der sich für uns hält, also der festen Überzeugung ist, ein Cop, ein Penner, Chef der Notenbank oder eben Arthur zu sein. Das Ich. Oft kopiert, selten erreicht. Beim Hirntod wird diese Software heruntergefahren, die Nervenbahnen leiten nicht mehr, die chemischen Brücken an den Synapsen werden aus Energiemangel inaktiv.

Dann beginnt der Zerfall des Netzwerkes, und mit ihm zerfällt alles, was „uns“ ausgemacht hat, unsere Empfindung von uns selbst, unser „Ich“, und auch unser wichtigster Schatz, unsere Bibliothek: Die Erinnerungen.

Dann sind wir weg, oder „tot“, wie man sagt.

Tatsächlich und unwiederbringlich weg. Man musste glücklicherweise auch nicht irgendwo weiter herumgeistern, was auch seine Vorteile hatte. Denn die Unendlichkeit ist lang - vor allem gegen Ende hin.

Und langweilig. Da musste man wirklich nicht durchgehend dabei sein.

Der worst case nach einem Unfall war jedoch nicht der Tod, sondern ein Zurückbleiben des „Ich“ in einem von der Außenwelt völlig abgetrennten Gehirn, mit Zugriff auf die Erinnerungen, sich seiner selbst völlig bewusst, aber ohne jeglichen Informationszufluss von der Welt außerhalb des Schädels. Es war fortan dunkel und still, genauer gesagt pechschwarz und mucksmäuschenstill, eine dunklere Dunkelheit als man sie sich vorstellen könnte, und eine Stille, die so undurchdringlich schien, wie die Türen von Fort Knox. Man nennt es „locked-in Syndrom“. Man war in sich eingesperrt.

Von außen ist nicht zu erkennen, ob sich noch ein Bewusstsein hinter dem ausdruckslosen, aufgedunsenen Gesicht befindet.

Mit anderen Worten: Man sitzt in der Falle. So wie er selbst. Arthur.

Der brutale elektrische Schlag hatte seine Nervenbahnen lahmgelegt, ob vorübergehend oder permanent, er vermochte es nicht zu sagen. War sein Körper hingefallen? In welcher Position befand er sich? All das war für ihn nicht in Erfahrung zu bringen. Nur, dass sein Herz noch schlug und sein Gehirn weiter mit sauerstoffreichem Blut versorgte, das schien sicher zu sein. Denn sein Gehirn erzeugte ihn beharrlich weiter, ihn, der wusste, dass er Arthur war, Brite, Finanzbuchhalter und verheiratet, mit einer satten Hypothek auf dem kleinen Häuschen am Rande der Stadt. Er war ganz er selbst, nur eben in sich gefangen. Er wollte schreien, aber kein Ton kam heraus, oder genauer gesagt, er konnte keinen Ton hören.

Ob er schrie, sein Mund also geöffnet war und die Lunge Luft über die Stimmbänder presste, das wusste er nicht, bezweifelte es aber.

Die Nervenbahnen waren sicher nicht nur in eine Richtung stillgelegt. Nichts kam herein und nichts ging hinaus. Dunkelheit und Stille waren vollkommen. Wie viel Zeit war schon vergangen? Sekunden oder Tage? Wie lange kann man bei vollkommener Dunkelheit und Stille bei Verstand bleiben? Es blieb nur die Hoffnung auf eine Veränderung des Zustandes.

Hatte man seinen Körper schnell gefunden? Hatte er sich beim Sturz auf den harten Küchenboden zusätzlich am Kopf verletzt? Arthur spielte alle Möglichkeiten durch, immer und immer wieder, bis ihm ein grausiger Begriff in den Sinn kam, der plötzlich wie eine Horrorvision sein ganzes Denken ausfüllte: Wachkoma

Er steckte in einem Körper fest, der am Leben gehalten wurde, ohne mit der Umwelt kommunizieren zu können. Und das…für immer??

Die Schläuche, die ihn fütterten und beatmeten, die lieblosen fremden Hände, die seine intimsten Stellen säuberten, all dies konnte nun bereits vor sich gehen, seit Tagen oder Jahren, da er kein Gefühl mehr für den Verlauf der Zeit hatte. Es ließ sich nicht mehr sagen, da sich nichts mehr ereignete, was eine chronologische Reihung ermöglicht hätte. Arthur schwamm in einem unendlichen Ozean aus Zeit, auf seine Erinnerungen zurückgeworfen, ohne Silberstreif am Horizont, was zuerst eine Panik, dann Resignation hervorrief. Dann begann er die Müdigkeit zu spüren, nicht als Ermüdung des Körpers, sondern des Geistes. Sein Ich brauchte eine Pause, und Arthur ließ es zu, er kapitulierte, denn es gab ohnehin nichts mehr, was er hätte tun können. Oder einen Grund dafür. Damit verschwand der Teil seiner messbaren Gehirnwellen, die auf ein Bewusstsein hindeuteten. Die elektrochemische Software seines Gehirns hatte auf Basismodus zurückgeschaltet, die nackte Benutzeroberfläche zeigte in dieser Analogie nur noch den blinkenden Cursor.

Er wurde hier nicht mehr benötigt. Dann spürte er, wie sich der Boden unter ihm auftat. Beinahe so, als hätte sich eine Falltür geöffnet, fast wie eine Art Notausgang. Er war sicher, dass er nun sterben würde. Bilder aus seinem Leben zogen an ihm vorüber, während er fiel. Tiefer, immer tiefer, immer schneller. Wieder hatte er versucht, zu schreien. Etwas streifte sein Gesicht, das er doch gar nicht mehr besaß. Mit seinem alten Körper hatte er nichts mehr zu tun, er fühlte die letzten Verbindungen abreißen. Das Dunkel um ihn schien zu verwirbeln. Er glaubte, ein Flattern zu hören, ohne Ohren, nur mit seinem Geist. Waren das bereits die Engel des christlichen Himmels? Ein Schauer lief ihm über den nicht vorhandenen Rücken.

Hoffentlich war er im rechten Glauben aufgewachsen. Auch das war ja eine Lotterie, ebenso wie der Geburtsort. Schon glaubte er, die Hitze des Höllenfeuers fühlen zu können. Die Schwärze, in der er fiel, schien jetzt ihren absoluten Charakter verloren zu haben. Es war nun vergleichbar mit jener Dunkelheit, die durch geschlossenen Augenlider erzeugt wird.

Er stutzte bei diesem Gedanken. Als Herr über einen Körper hätte er sich nun mit der rechten Hand an der Schläfe berührt, seine Denkerpose. Fast glaubte er, tatsächlich eine imaginäre Hand an seinem imaginären Kopf zu spüren. Dann gesellte sich ein weiterer, kühner Gedanke hinzu: Vielleicht sollte er dann versuchen, diese imaginären Augenlider anzuheben?

Vorsichtig machte er sich an diese Aufgabe. Sie fühlten sich unendlich schwer an, obwohl sie doch nur in seinem Geist, seinem vom Wahnsinn befallenen Geist existierten, diese Augenlider. Doch mit dem Mute der Verzweiflung griff er mit seiner gebündelten psychischen Energie danach, füllte sich zugleich die imaginären Lungen mit imaginärer Luft, und entlud all seine Kraft in einem Urschrei.

In genau diesem Moment war er in einem fremden Bett hochgeschreckt, die Augen weit aufgerissen, den eigenen Schrei noch in den Ohren. Sein irrer Blick war verständnislos umhergewandert. Es war kein Krankenbett, in dem er lag. Keine Schläuche führten aus ihm hinaus oder in ihn hinein. Sein neues Gehirn wurde auch wieder mit Signalen von der Außenwelt versorgt.

Mit anderen Worten: Er war wieder frei.

So hatte seine Wanderschaft begonnen.

Kapitel 5: Der Obdachlose (Teil 1)

„Wie – heißt – du?“ schallte es Arthur nun in gereiztem Ton entgegen.

Langsam drangen die energisch vorgetragenen Worte in sein Bewusstsein.

Von weit her kommend mühte er sich, seinen Geist auf die vorliegende Situation zu fokussieren, was manchmal wirklich nicht einfach war.

Oh Mann, welcher Trottel wollte denn jetzt schon wieder etwas von ihm?

Er blickte auf, unsanft aus seinen fieberhaften Überlegungen gerissen, und leckte sich die spröden Lippen. Seine Zähne schmerzten, viele davon waren faulig oder nur noch als Ruinen vorhanden, wie ihm seine tastende Zunge vermeldete. Das war gestern deutlich besser gewesen. Eine top gepflegte Kauleiste. Und morgen würde es – alle Daumen gedrückt – auch wieder besser sein. Na ja, für den Rest dieses Tages würde er seine Zunge auf keine weiteren Exkursionen mehr schicken, denn dieser extreme Verfall des eigenen Körpers war doch irgendwie deprimierend.

Immer hatte er penibel auf seine Mundhygiene geachtet, in seinem früheren Leben, und brav nach jeder Mahlzeit die Zähne geputzt. Sogar im Büro hatte er, zum Gespött seiner Kollegen, eine Zahnbürste samt Becher in der Schublade seines Schreibtisches gelagert gehabt.

Und nun das! Pfui deibel!

Sein eigener säuerlicher Körpergeruch füllte seine Nase, und er musste einen Würgereiz unterdrücken.

Die schmutzige und zerlumpte Kleidung, die er beim Herabsehen an sich erblickte, trug das ihrige bei zu einem Anblick, den kein ehrbarer Bürger gerne sieht, oder gar in seinem Wohnviertel anzutreffen wünscht.

Man konnte es nicht bestreiten: Er war ein armseliger Vagabund, ein Obdachloser, ein Landstreicher.

Eine verlorene Seele, eine gescheiterte Existenz, achtlos zurückgelassen am Wegesrand der hektisch voraneilenden kapitalistischen Gesellschaft.

So hatte er das jedenfalls immer gesehen.

Zumindest konnte er es so seinem heutigen Zweitgedächtnis entnehmen.

Also „er“, das war in diesem Fall Brian Henderson aus Syracuse, NewYork. Er erinnerte sich an die abgebrochene Highschool, an den Missbrauch durch seinen Stiefvater, an die Tränen seiner Mutter, und natürlich an den immer präsenten Vorwurf: Junge, warum hast du nichts aus dir gemacht?

Ja wie denn!? wollte er ihnen zurufen, den selbstgerechten Zeugen seines Absturzes, die sein Stolpern und Fallen aus sicherer Distanz, aber stets mit mahnend erhobenem Zeigefinger verfolgt hatten.

Alle waren sie nun lange fort.

Er hatte sich in sein Schicksal gefügt, es nie schaffen zu können, nie ein geregeltes Leben mit Job und Familie, Haus und Hund aufzubauen.

Wie und wo hätte er auch anfangen sollen? Mit welchen Mitteln, welchen persönlichen Ressourcen, welcher Ambition? Hatte er je darum gebeten, in diese Existenz geworfen zu werden? Nicht, dass er sich daran hätte erinnern können. Da war man einfach da, ohne gefragt worden zu sein, und hatte nicht nur dankbar dafür zu sein, sonder natürlich auch zahllosen Anforderungen gerecht zu werden. Und wehe, man entpuppte sich als Enttäuschung. Dann dufte man sein ganzes restliches Leben mit diesem verdammten schlechten Gewissen herumlaufen.

„Jeder verdient eine zweite Chance“, heißt es so schön. Hierbei wird vorausgesetzt, dass eine erste Chance selbstverständlich ist. Das war sie aber keineswegs, wie ihm an diesem Tage klar wurde. Es war Glückssache.

Reine Glückssache. Nichts als blinder, dummer Zufall, aus welchem Bauch man gezogen wurde, und welche Umgebung man als Erstes erblickte, nachdem man den Plazenta-Schleim aus dem Gesicht gewischt hatte.

War es ein moderner Kreißsaal in einem Erste-Welt-Krankenhaus, oder eine Wellblechhütte am Rande der Müllkippe von Manila?

Jeder musste mitspielen, in dieser Geburtsortslotterie, und jeder hatte nur einen Versuch. Nur einen einzigen Griff in die Lostrommel. Mehr nicht. Man musste nehmen, was man zugelost bekam, ohne Gnade.

So sah es aus. Man mochte direkt zornig darüber werden. Fast so zornig, wie die immer lauter werdende Stimme aus der anderen Ecke des kleinen Verhörzimmers, in dem er sich heute aufzuhalten genötigt fand:

„Name! Verdammt nochmal! Kann doch nicht so schwer sein!“

Dem bulligen Cop ihm gegenüber schien gleich der recht enge, korrekt zugeknöpfte Hemdkragen zu platzen. Seine Hände ballten sich immer wieder zu Fäusten, was wohl unterschwellig ein Gefühl der Bedrohung vermitteln sollte. Guter Cop, böser Cop. Nur ohne den guten Cop. Im Grunde hatte der Bulle aber recht. Es konnte doch nicht so schwer sein, seinen eigenen Namen zu nennen?

Tja, schmunzelte Arthur innerlich, eigentlich …. schon.

Es war kompliziert, wie immer. Die Auswahl war groß. Was sollte er sagen?

Lügner brauchen bekanntlich ein gutes Gedächtnis, und in dieser Hinsicht war Arthur gegenwärtig bedient, er war ein Jongleur von Erinnerungen, reif für den Zirkus, wenn man es ihm von außen hätte ansehen können. Was aber nicht der Fall war.

Dem so genervten Beamten der Exekutive, Carl mit Vornamen, saß an diesem bedeutungsschweren Tag eine erbärmlich schmuddelige Gestalt gegenüber, die allem Anschein nach das war, was der Volksmund als „Penner“ zu bezeichnen pflegte.

Man hatte ihn daher bislang nur mit Einweghandschuhen angefasst. Und mit hochgezogener Nase. Arthur räusperte sich, lächelte gequält und sagte, mit ruhiger Stimme und zugleich absolut wahrheitsgemäß:

„Ich heiße Brian.“

Ein Aufatmen ging durch den Raum. Endlich etwas Kooperation.

Nach der etwas zähen Feststellung seiner Identität – er wusste sogar seine, sprich: Brians Sozialversicherungsnummer auswendig – wurden ihm seine Vergehen vorgetragen: Zum einen die Nutzung einer kürzlich gestohlenen Kreditkarte, zum anderen die Anbahnung eines intimen Kontaktes mit einem minderjährigen Jungen.

Ach ja, der Junge, dachte Arthur wehmütig. Arthur junior. Er hätte gerne nochmal mit ihm gesprochen und ihn auch während des großen Endspiels angefeuert. Irgendwie hatte er früher nie Zeit gefunden, seinen Sohn zu den Spielen zu begleiten. Zudem waren ihm Menschenmengen schon immer unangenehm gewesen. Das Gedränge erinnerte ihn an die alten Zeiten auf dem schulischen Pausenhof, an die er nicht gerne dachte. Und beruflich war er ziemlich eingespannt gewesen. Jetzt hatte er die Zeit, aber die Umstände waren, sagen wir mal, schwierig. Die fragliche Kreditkarte hatte er bereits in seiner Manteltasche vorgefunden, als er heute morgen aufgewacht war. Sie war ihm, also diesem Penner, den er heute verkörperte, tags zuvor im Stadtpark „zugefallen“.

Ungern dachte Arthur an seine eigenen Missetaten, auch wenn es gar nicht seine waren. In diesem Fall war es nicht ganz so schlimm gewesen. Dieser Brian, also er, hatte lediglich beobachtet, wie die Geldbörse einem offenbar gut situierten Herrn beim Aufstehen von der Parkbank aus der Tasche gerutscht und auf der Bank liegen geblieben war. Da hatte er sie einfach eingesackt. Leider war darin nur wenig Bargeld zu finden gewesen, aber eben auch jene gültige Kreditkarte, die der Penner aber gar nicht benutzt hatte. So viel kriminelle Energie steckte wohl nicht in ihm.

Er hingegen, also Arthur, hatte sie heute benutzt, zugegeben, aber nur, um das Zugticket nach Boston zu kaufen, um es noch rechtzeitig zum großen Spiel zu schaffen, dessen Termin er aus der Zeitung erfahren hatte.

Also war er hingegangen, hatte seinen Sohn vor dem Seiteneingang des Stadions abgepasst und angesprochen, um ihm alles Gute zu wünschen, wenngleich er von ihm natürlich nicht erkannt worden war.

In diesem Moment war er verhaftet worden, er, der vermeintliche Dieb und Betrüger, dessen Weg vom Bahnhof durch die Stadt bis zum Stadion lückenlos von Überwachungskameras aufgezeichnet worden war.

Eigentlich hätte es Arthur auffallen müssen, er ärgerte sich daher nicht wenig über sich selbst. Warum war die Kreditkarte am Tag nach dem Verlust noch nicht gesperrt? Na logisch, um ihn prima nachverfolgen zu können. Wann wurde wo welches Zugticket damit gekauft? Wurden noch andere Einkäufe getätigt? Alles im System. Der gläserne Bürger. Einer der Gründe, warum die hohe Politik das Bargeld lieber heute als morgen von der Bildfläche hätte verschwinden lassen, denn neben der Bekämpfung von Schwarzarbeit ließ sich auf diese Weise jede Menge anderer Schabernack unterbinden, den der gemeine Bürger so im Schilde führen konnte.

Auf dem Vorplatz vom Stadion hatten dann die Handschellen geklickt, ein wirklich mustergültiger Polizeieinsatz. Keine Schüsse, keine Verletzten, kein freilaufender Krimineller mehr. Und so war er nun hier gelandet, in einem Verhörzimmer des Policedepartments von Boston, Massachusetts.

Er hatte keine Lust, sich weiter zu erklären und schwieg von nun an beharrlich. Man hätte ihm ohnehin kein Wort geglaubt, wie auch, er glaubte es ja selbst nur mit einiger Mühe. Meist dachte er gar nicht mehr darüber nach. Aber es war wie es war, er konnte sich erinnern. Jeden Tag. An gestern. Sein persönliches gestern.

Gestern zum Beispiel war er reich gewesen, schönes Haus, schöne Frau, sauberes Bett, darin eine gute Nummer geschoben. So wie es sein soll.

Da wäre er besser wach geblieben. Was sich aber gerade nach einer guten Nummer als äußerst schwierig darstellte, wie jeder Kerl bestätigen kann.

Arthur seufzte leise.

Morgen wollten sie ihn in die große Strafanstalt überstellen, um seine Untersuchungshaft anzutreten. Also Brian, genau genommen. Den Penner, dem man nun, dank ihm, neben Kreditkartenbetrug auch versuchten Missbrauch Minderjähriger unterstellte, da er sich an einen kleinen Jungen herangemacht hatte.

Oder zumindest hatte er unbeabsichtigt diesen Eindruck erweckt.

Es würde daher wohl eine harte Zeit werden für den unglücklichen Brian, im Knast, mit all den harten Jungs, mit dieser Vorgeschichte, dachte Arthur, und bedauerte Brian ein wenig für sein hartes Los. Aber eigentlich konnte es ihm egal sein, wie diese gescheiterte Existenz ihr Ende fand.

Ob in einigen Jahren mit vom Alkohol zerfressener Leber in der Gosse, oder mit einer von Hand angespitzten Zahnbürste in der Bauchdecke steckend, in einer Blutlache auf dem kalten, trostlosen Boden der Gefängnisdusche liegend, war eigentlich auch egal. Ihn selbst betraf das nicht. Zum Glück.

Er würde dann bereits wieder fort sein.

Morgen.

Ein neuer Tag. Ein neuer Sonnenaufgang, weit weg von hier. Anderer Ort, neue Probleme. Fressen, Vögeln, Fernsehen. Das Übliche.

Und er würde sich wieder erinnern.

An heute.

Und an gestern.

Wie jeden Tag.

Es war zum Kotzen.

Kapitel 6: Der Verräter

Anfangs war Arthur immer aus dem Schlaf hochgeschreckt und hatte sich hektisch umgesehen, eine rasche Bestandsaufnahme machend und das Gedächtnis durchforschend, um möglichst gewappnet zu sein für alles was da kommen möge, am neuen, am heutigen Tag. Im Laufe der Tage war er mehr und mehr dazu übergegangen, es lässig zu nehmen, da es ja ohnehin keine große Rolle spielte. Einen Tag konnte man immer herumbringen, egal, wer oder wo man war. Also tat er meist das, was er als er selbst, als disziplinierter Brite, sich nie gegönnt hatte: Er dreht sich erst noch einmal gemütlich herum, vielleicht ergab sich ja noch was anderes, wenn er zum Beispiel noch einmal einschlief und eine Station weiterfuhr. Diesbezüglich hatte Arthur allerdings eine Entdeckung gemacht. Ein leichtes Eindösen reichte nicht aus, um das Gehirn das aktuelle Ich komplett abschalten zu lassen. Dazu schien es einer Tiefschlaf-Phase zu bedürfen, einer REM- Phase. Reichte der Schlaf nicht tief, dann durfte – oder musste – er bleiben.

Das besagte Herumdrehen gestaltete sich diesmal jedoch ungewöhnlich schwierig. Irgendetwas sperrte sich. Er ruckelte etwas herum.

Wo zum Teufel war er?

Beziehungsweise wo war der Körper, über den er für heute die Kontrolle hatte? Ein schwer identifizierbarer Geruch drang an seine Nase.

Was war das bloß? Die Augen immer noch geschlossen, versuchte er, seine detektivischen Fähigkeiten zu schärfen.

Was teilten ihm seine fünf Sinne mit? Er lag offenbar zärtlich angeschmiegt an wärmende Körper, angeschmiegt im Sinne von exakt eingepasst, ein bisschen wie Tetris im Bett. Von vorne und von hinten, also das gute und das böse Löffelchen zugleich. Dabei dachte Arthur mit etwas Wehmut an sein gestriges Abenteuer, und an die phantastischen Frauenkörper, die er sowohl aus der Ferne als auch aus nächster Nähe hatte bewundern dürfen. Soviel Glück würde er doch nicht zweimal haben? Renata, bist du es?

Er tastete vorsichtig seine Umgebung ab.

Als Antwort drang eine Lautäußerung an sein Ohr, die ihm spanisch vorkam, weil es sich um Spanisch handelte. Und zwar Spanisch mit deutlich hörbarem lateinamerikanischem Akzent (Kolumbien?). Die Aussage an sich war eine Beleidigung, und zwar seine sexuelle Orientierung betreffend.

Er seufzte innerlich, und saugte vorsichtig an der Oberfläche seines neuen Gedächtnisses. José Rodriguez, 52, gebürtig in einem Vorort von Bogotá, erste Anzeichen eines Herzleidens (Kurzatmigkeit), was allerdings nur Arthur in diesem Moment bemerkte, da er einen solchen Fall aus seiner bewegten Vergangenheit kannte. Okay. Was sonst noch?

Armut, Verzweiflung, Alkohol, soweit so normal. Shit happens. Life is no sugar licking, oder so ähnlich. Viel Elend, was es da zu bestaunen gab.

Und mittendrin José. Der Beginn einer Karriere in einem berüchtigten Drogenkartell. Erst als Laufbursche, dann als Wachtposten, schließlich als Kurier. War er damit ein böser Mann, ein Verbrecher? Man konnte es sich einfach machen und mit einem klaren Ja antworten. Drogenhandel war ein Verbrechen. Man konnte sich ja dagegen entscheiden, und stattdessen Chefarzt oder Topmanager werden. Jedem Menschen standen doch alle Möglichkeiten offen!? Wer nur genug Ehrgeiz und Einsatz zeigte, konnte den Absprung aus der Armut schaffen, egal woher er oder sie kam!

Soweit die vielzitierte Theorie. Gerne vertreten von Self-made Leuten, denen beim ersten oder zweiten Versuch der große Wurf gelungen war. Oder auch von Damen, die sich einfach vom richtigen Typen hatten ficken lassen, und die dann anderen erzählen wollten, dass man „immer am Ball bleiben müsse“, wenn man es schaffen wollte. So wie sie eben. Ha ha.

Natürlich war es völliger Blödsinn. Wie viel Glück tatsächlich mit im Spiel gewesen war, daran wollte sich das Self-made-Ego gar nicht mehr so gerne erinnern. Niemand war faul oder fleißig geboren, ebenso wenig wie gut oder böse, und Arthur war mittlerweile zu dem Schluss gelangt, dass es im Grunde genommen auch keine „guten“ oder „bösen“ Menschen gab.

Jeder wurde zu dem, was die Kindheit aus ihm machte. Jeder folgte dem Instinkt zu überleben, und tat was dazu nötig war. Würde man zwei Menschen, einen guten und einen bösen, austauschen, also von Geburt an, so würde der Böse gut und der Gute böse geworden sein. Da gab es kein Entrinnen. Daher enthielt sich Arthur prinzipiell jeglichen Urteils über den Lebenslauf seiner Schützlinge. Im Grunde konnte niemand etwas für seinen Werdegang, denn der freie Wille hatte in dieser existentiellen Frage kein wirkliches Mitspracherecht. Im Raume stand hier keine Geringere als die von Philosophen oft vermutete, von Rechtsgelehrten jedoch strikt abgelehnte generelle Schuldunfähigkeit des Menschen, welche das auf Strafe basierende Justizsystem in Frage stellen würde. Kann oder darf man jemanden bestrafen, der gar nicht anders handeln konnte?

Wenn es völlig klar wäre, dass auch der Richter selbst, in den Schuhen des Delinquenten steckend, so oder ähnlich gehandelt haben würde?

Dass es eben keine „bösen“ Menschen gab?

Dann blieben als Rechtfertigung für die verhängte Strafe anstelle der gerechten Sühne nur noch zwei Möglichkeiten übrig: Rache, also Aug um Auge, Zahn um Zahn, was zivilisatorisch indiskutabel war, und die gute alte Abschreckung. Dünnes Eis für das Justizsystem, da Studien belegen, dass die verhängten Strafen kaum eine abschreckende Wirkung entfalten. Zum einen werden Verbrechen in der Regel nicht aus reiner Langeweile begangen, sondern haben einen Grund, einen Auslöser, darunter Hass, Verzweiflung, Armut, oder alles kombiniert. Zum anderen denkt der Täter bei der Tat entweder überhaupt nicht, oder ist sich sicher, nicht erwischt zu werden. Mit Abschreckung kam man hier nicht weiter. Und wenn es eine individuelle Schuld gar nicht gab, was blieb dann noch?

Rache, wie schon erwähnt. Die Rache des Opfers oder der zu Recht zornigen Hinterbliebenen am Täter. Wie in der „guten alten Zeit“. Das war vielleicht nicht die beste Strategie. Aber wie war er darauf gekommen?, fragte sich Arthur in diesem Augenblick, immer noch am Boden liegend.

Ah, richtig, der Drogenschmuggler, also er selber, heute und hier.

Hmmm, wo war dieses „hier“ eigentlich? Vielleicht sollte er doch einmal die Augen öffnen? Immer dieselbe Frage. Na schön. Überraschung!

Och nöö… dachte er sofort, was geht denn hier ab!? Sein Blick wanderte fassungslos umher, doch es gab nicht wirklich viel zu sehen.

Nur viel Unerfreuliches.

Der Raum, in dem sich sein heutiger Gastgeberkörper zur Ruhe gebettet hatte, war etwa zwanzig Quadratmeter groß, so schätze er nach einem kurzen Rundumblick. Innendesign: Abblätternde Betonfarbe, hellgrau, darunter eine Schicht in geschmackvollem lindgrün. Kann man machen. Muss man nicht machen.

An der Decke drei kahle Glühbirnen, keine LEDs, ts ts, dachte denn hier niemand an die Umwelt?? Weiter. Einrichtungsgegenstände: keine.

Hmmmm. Keine war ziemlich minimalistisch. Allerdings hätten auch keine Möbel Platz gehabt, denn der Raum war keineswegs leer. Der Schock traf Arthur nicht allzu hart, da er doch noch etwas tiefer in seinem Gedächtnis gegraben hatte, und auf die Szenen seiner Verhaftung und Aburteilung gestoßen war. Ohne Anwalt und rechtsstaatliches Verfahren ging so was echt zügig vonstatten, dachte er anerkennend.

Das sparte auch ungemein Steuergelder ein. Generell war es grundsätzlich keine schlechte Sache, wenn überbordende Bürokratie abgebaut wurde. Und schuldig war er ja nun zweifelsohne gewesen, er, also der José, den er heute steuerte, durch einen hoffentlich erträglichen Knast-Tag. Mal sehen, was die Duschen an Überraschungen zu bieten hatten. Würde er sich heute wohl nach der Seife bücken? Beinahe hätte er laut aufgelacht. Er war doch mittlerweile ziemlich abgebrüht, nach über zwei Jahren seiner skurrilen Wanderschaft. Es mangelte ihm immer öfter an der nötigen Ernsthaftigkeit.

Aber wenn man jeden Tag jemand anderes war, wie sollte man da überhaupt noch etwas ernst nehmen? Auf jeden Fall brauchte man ein Ziel, auf das man hinarbeiten konnte, um nicht in völlige Lethargie zu versinken. Sein nobles Ziel war die Verbesserung des Allgemeinzustandes der Welt, und damit einhergehend die experimentelle Analyse dessen, was denn nun tatsächlich der Einzelne an einem Tag verändern konnte.

Denn das sagte man doch immer so? Dass jeder etwas bewirken konnte?

Aber war da wirklich etwas dran? Konnte man? Wirklich?

Es war gar nicht so einfach, wie sich herausgestellt hatte. Nicht einmal der verfluchte Notenbankchef konnte mehr tun, als an winzigen Stellschrauben zu drehen. Es war stets so, als würde man versuchen, mit ein paar Paddel-schlägen rechts oder links des Rumpfes, den Kurs eines Kreuzfahrtschiffes zu ändern. Man konnte sich redlich abmühen, aber es brachte keinen messbaren Erfolg. Dennoch würde er es beharrlich weiter versuchen, bis seine Reise auf die eine oder andere Weise endete.

Was passieren würde, wenn der Körper, in dem Arthur das Licht der Welt erblickt hatte, seine Funktion schließlich einstellte, vermochte er nicht zu sagen. Möglicherweise wäre es das Ende seiner Reise, aber würde er dann in dem Körper steckenbleiben, den er zu diesem Zeitpunkt bewohnte? Und am Ende mit diesem sterben? Na ja, das würde sich schon zeigen, es war müßig darüber zu spekulieren. Immerhin würde er für den Fall, dass er sich weiterhin erinnerte, keine finanziellen Sorgen haben, hatte er doch bereits an Tag 27 seiner Wanderschaft einen genialen Einfall gehabt:

Er transferierte Geld auf ein Nummernkonto, dessen Zugangsdaten er immer als Erinnerung mit sich trug. Im Laufe der Zeit hatte sich darauf ein ordentliches Sümmchen angesammelt. Regelmäßig kontrollierte er den Kontostand, so denn ein Internetzugang verfügbar war. Zur Not aus einem Internet-Café heraus, wozu er aber nur selten gezwungen war. Die meisten Leute verfügten heute glücklicherweise über einen privaten Anschluss.

So abgelegen konnte der Winkel der Welt gar nicht sein, in den es ihn verschlug. Für seine Zukunft hatte Arthur also bereits vorgesorgt, wie man es von einem Buchhalter und Finanzberater erwarten durfte. Zuletzt hatte der Chef der amerikanischen Notenbank ihm ein ganzes Monatsgehalt überwiesen. Wirklich nett von dem Kerl. Und er würde keine Anzeige erstatten, da er sich natürlich daran erinnerte, es selbst getan zu haben.

Nur der Grund war schwer zu begreifen. Was war nochmal der Anlass gewesen? Es fühlte sich für diesen Typ vermutlich so an, als wäre er gar nicht er selbst gewesen, auch wenn er sich an alle Details dieses Tages erinnerte. Er hatte bei einer Sitzung die Beherrschung verloren, seine Waffe aus dem Büro geholt. Ob der Rücktritt des alten Ben kurz nach Arthurs Intermezzo darin seine Ursache hatte? Dass er sich seitdem selbst nicht mehr voll vertraute, sich gar die Zurechnungsfähigkeit absprach?

Vielleicht sogar intensiver psychologischer Betreuung bedurfte? Das scherte Arthur nicht. Mit diesem geldgeilen Gesindel hatte er keinerlei Mitleid. Aber es machte ja ohnehin keinen Unterschied, wer dort im Chefsessel saß. Die verschlungenen Pfade des globalen Kapitals kannte schon lange niemand mehr vollständig, der Überblick war mit der Einführung des Computerhandels endgültig verloren gegangen. Das Netzwerk des Mammon war zu komplex geworden, für unsere kleinen Köpfe. Alles, was blieb, war geschäftig an Stellschrauben zu drehen und zu hoffen, dass es weiterhin funktionierte, dass der kleine Mann auf der Straße dem Befehl des Kapitals weiterhin Folge leistete, brav in seinem Hamsterrad lief, und vor allem, das hatte höchste Priorität, an den Wert der bedruckten Zettelchen glaubte, in der modernen Form mehr Stoff als Papier, die man „Geldscheine“ nannte. Dann ging alles weiter seinen gewohnten Gang. Bis zur nächsten Krise, versteht sich.

Nach diesen betrüblichen Gedankengängen hatte Arthur jegliche Lust verloren, den Raum, in dem er gegenwärtig lag, näher zu untersuchen, aber er rang sich dann doch dazu durch. Der Raum war wie gesagt bar jeden Mobiliars, aber nicht leer. Genaugenommen war er randvoll, zumindest was den Fußboden anging: Dort lagen, dicht aneinander gedrängt, dutzende Männer aller Altersklassen, nicht unähnlich dem gestrigen Filmset, eine Bandbreite von Teenagern bis alten Männern, die auf diese Weise schlafend die Nacht verbracht hatten. Eben waren die nackten Glühbirnen eingeschaltet worden, die schnörkellos an Kabeln von der Betondecke hingen. Erstes Murren wurde laut.

Von anderer Stelle drang noch Schnarchen zu ihm herüber. Durch ein kleines vergittertes Fensterchen dicht unter der Decke war fahles Tageslicht zu erkennen.

Die frische Morgenluft, die hereinwehte, machte auf dem Absatz wieder kehrt, angesichts der quasi schnittfesten Ausdünstungen von etwa drei Dutzend ungepflegter Männerkörper. Arthur musste einen Würgereiz unterdrücken, als er sich auf die Wahrnehmung seines olfaktorischen Sinnesorgans konzentrierte.

Man konnte es nicht diplomatischer Ausdrücken: Es stank bestialisch in dieser Zelle des Zentralgefängnisses von Kolumbiens Hauptstadt Bogotá, Abteilung Langzeithäftlinge, alle Anwesenden mit Mord bzw. organisierter Drogenkriminalität auf dem Kerbholz. Eine feine Gesellschaft.

Zwölf Jahre hatten sie ihm aufgebrummt, dem alten José, da er bei seiner Verhaftung bereits in den inneren Zirkel des Kartells aufgestiegen war. Die einzige Karriere, die er jemals hatte erwarten können, angesichts seiner Herkunft aus einem Armenviertel. Arthur verurteilte ihn nicht, da er die Ausweglosigkeit in den fremden Gedankenspuren lesen konnte. Langsam regten sich jetzt die Körper um ihn herum, und unterbrachen seine Erkundungsreise in ein vergangenes Leben, mit all seinen Hoffnungen und Träumen, dem Scheitern und der Verzweiflung, der emotionalen Abstumpfung und schließlich der Fügung in ein alternativloses Schicksal.

Die Verrichtung der morgendlichen Notdurft in einem kleinen Verschlag in der Ecke, der ein Plumpsklo beherbergte, war ebenso ekelerregend wie entwürdigend. Keiner der Männer hier schien sich mehr daran zu stören, der Mensch kann sich wohl an fast alle Lebensumstände gewöhnen, so grausig sie auch sein mögen. Dann wurde das Frühstück gereicht, eine undefinierbare Pampe aus Mais und Weizengrieß, nur der Hunger trieb es hinein. Arthur hatte gelesen, dass es in solchen Gruppen ähnlich einem Wolfsrudel eine feste Hackordnung gäbe, und er bemühte sich, keinen Schnitzer zu machen, der ihm, also José, gefährlich werden konnte. Allein der Fehler, ranghöheren Rudeltieren in die Augen zu schauen, konnte unter solch extremen Umständen bereits das Leben kosten, das war die harte Realität. Während der gesamten Dauer des Freigangs im Innenhof der schwer gesicherten Anstalt blieb sein Blick daher auf den Boden gerichtet. Dennoch nagte ein unangenehmes Gefühl an ihm, eine Sorge, deren Ursache er noch ergründen musste. Irgend etwas war kürzlich vorgefallen, das teilte ihm sein Unterbewusstsein mit.

Vor einigen Tagen musste es gewesen sein, also vor Arthurs Gastspiel in José, den er nun möglichst unbeschadet durch diesen Tag zu steuern versuchte. Nicht ganz uneigennützig, denn Arthur hatte keine Ahnung, was passieren würde, wenn sein Wirt zu Tode kommen sollte. Würde seine Reise dann abrupt enden? Wäre er dann ebenfalls tot, nach dem Motto: Die Uhr mag stehen, der Zeiger fallen – es sei die Zeit für mich vorbei, oder würde er sich wieder eingeschlossen finden in seinem vollständig gelähmten Körper, der sterblichen Hülle des Arthur D. im fernen England?

Das wollte er um jeden Preis vermeiden, daher wäre es besser einzuschlafen, als zu sterben, denn der Schlaf transportierte ihn immer weiter, über einen endlosen Ozean schlafender Körper ohne aktuelles Ich, ohne aktives Bewusstsein, allesamt leeren Hüllen gleich, um schließlich in irgend einem von ihnen zu erwachen.

Er war dann diese Person, dieser Mensch, mit all seinen charakterlichen Eigenschaften, nur eben mit dieser einen entscheidenden Abweichung:

Er erinnerte sich an gestern. Nicht nur an das Gestern, das sein aktueller Körper durchlebt hatte, sondern auch sein eigenes, Arthur-Gestern.

Das war die erste Zeit unglaublich verwirrend gewesen, und es schien auch eine physiologische Veränderung am jeweils betroffenen Gehirn hervorzurufen. Denn aufgrund dieser Anomalie, also seines Eindringens, wurden in das Gedächtnis des neuen Wirtes neben dessen regulären Erinnerungen zusätzlich noch die parallelen Erinnerungen Arthurs gepresst, praktisch im Moment des Erwachens. Und diese wurden immer mehr, je länger seine Wanderschaft andauerte. Arthur spürte daher immer in den ersten Minuten seines Aufenthaltes einen leichten Kopfschmerz, in etwa so, als hätte man Luft geschluckt, und müsste warten, bis sie durch die Speiseröhre gewandert war. Nur eben im Kopf. Als würde ein Pfropfen hineingestopft, der sich ausdehnte, das ganze Hirngewebe durchtränkte, um ein Teil des Ganzen zu werden. Blieb nur zu hoffen, dass es dadurch nicht zu einem erhöhten Schlaganfall-Risiko kam, denn Arthur wollte den Menschen, die er einen Tag begleiten durfte, keinen Schaden zufügen, sondern im Gegenteil, ihnen unter anderem darin behilflich sein, aus starren Verhaltensmustern auszubrechen, um ihr Leben in eine bessere Richtung zu leiten, und im Idealfall, wenn sich die Gelegenheit ergab, sogar den Zustand der Welt ein klein wenig zu verbessern. Oder es zumindest zu versuchen. Denn das war Arthurs eigentliche Mission. Er wollte etwas verändern. Wollte Spuren hinterlassen, die über ihn selbst hinauswiesen.

Und da es kein einzelnes großes Stellrad zu geben schien, war das Drehen an vielen kleinen Stellrädchen ohnehin die aussichtsreichste Methode. Was gab es also in seiner heutigen Situation zu tun? Er dachte an die Familie des Mannes, der er heute war. Besucht hatten sie ihn nie, aber er war auch kein guter Ehemann und Vater gewesen, schon gar kein Vorbild. Seine beiden Töchter hatte er nun im Stich gelassen. Wie sollten sie sich da draußen durchschlagen? Und wem war damit gedient, dass er hier einsaß, an diesem schmutzigen Ort voller schmutziger Menschen mit schmutzigen Gedanken? Hatte er nicht das Recht, sein Glück zu suchen wie jeder andere Mensch? Und welchen Schaden hatte er verursacht?

Das weiße Pulver, das nach Europa und in die USA ging, das hatte er niemandem persönlich in die Nase gestopft. Das tat jeder selbst und aus eigenem Antrieb. Wieso glaubte eine abstrakte übergeordnete Instanz wie „der Staat“, so tief in das persönliche und private Gebaren seiner Bürger eingreifen zu dürfen? Wer hatte das Recht, Felder niederzubrennen, und den Bauern damit die einzige lukrative Einnahmequelle zu nehmen, nur weil aus ihren Pflanzen einmal jenes berüchtigte weiße Pulver oder jene verheißungsvolle goldbraune Flüssigkeit werden sollte?

Die feinen, ach so guten Menschen anderer Kontinente, hineingeboren in funktionierende Wirtschaftssysteme mit allerlei sozialer Absicherung, die machten es sich sehr leicht, über ihn, den Verbrecher, den dreckigen Drogenhändler, den Stab zu brechen. Sie an seiner Stelle hätten natürlich alles anders gemacht, sie wären immer fleißig zur Schule gegangen, hätten dann eine Ausbildung absolviert und mit reichlich Esprit und Ehrgeiz sowie einem fröhlichen Liedchen auf den Lippen den Weg zu wirtschaftlichem und sozialem Aufstieg beschritten. Sicher, sicher!

Mit dieser Vorstellung im Kopf fiel es diesen feinen Leuten leicht, ihn zu verachten. Aber so lief das nun mal nicht. Rückblickend wusste er nicht, was er hätte anders machen können, um die Katastrophe, das totale Scheitern seines Lebens, zu vermeiden. Nein, ihn traf keine Schuld, so war sich José sicher, und Arthur konnte nicht umhin, ihm zuzustimmen. Man konnte von Menschen nicht erwarten, dass sie sich brav in ihr elendes Schicksal fügten und Recht und Gesetz achteten, während ihr Leben, die einzige Existenz, die sie jemals haben würden, an ihnen vorbeizog, der Sand erbarmungslos durch die Uhr lief, während ihnen die unzähligen Annehmlichkeiten der modernen Welt durch ein unglückliches Los in der Geburtsort-Lotterie versagt blieben.

Man mochte diesen Zustand durch eine extreme Neigung zur Religiosität ertragen und verdrängen können, aber für nicht-religiöse Menschen war es ein Lebensentwurf, der einfach nicht hinnehmbar war.

Das fadenscheinige Versprechen auf ein besseres Leben nach dem Tode, für das ja gerade die Armen besonders in Betracht kommen sollten – zumindest laut offizieller Lehrmeinung – vermochte nicht jeden Geist zu befrieden, konnte nicht jeglichen Impuls zur Rebellion unterdrücken.

Aber eben doch bei großen Teilen der Bevölkerung.

Das berühmte „Opium des Volkes“.

Deshalb, so schloss Arthur aus seinen Überlegungen, war es so gefährlich, wenn der Glaube, also der Götterglaube, in diesen Regionen der Welt schwächer wurde. Religion war hier nicht nur Genussmittel, sondern eher die weiche Polsterung um eine Flasche Nitroglycerin herum. Eine sehr, sehr große Flasche, gefüllt mit dem Sprengstoff der sozialen Ungerechtigkeit.

Verschwand das Polstermaterial, so drohte eine Detonation verheerenden Ausmaßes, eine gewaltige Erschütterung der Grundfesten der Gesellschaft, wenn eine Mehrheit der armen Bevölkerung sich der himmelschreienden Ungerechtigkeit, die ihr tagtäglich widerfuhr, bewusst würde, während sie von im Überfluss schwelgenden Erdteilen um ein besseres Leben betrogen wurde. Bei diesen Gedanken begann sogar in dem sonst so besonnenen Buchhalter Arthur die kalte Wut aufzusteigen, und er fühlte sich vom Wunsch getrieben, zumindest der Familie von José behilflich zu sein, um im Kleinen etwas Linderung in dieses ungerechte, menschengemachte Elend zu bringen, wenn es ihm schon im Großen nicht gelingen wollte.

Er durchsuchte hierzu sein neues José-Gedächtnis nach zweckdienlichen Informationen zur Auffindung von Frau und Kindern, und übertrug sie in sein kognitives Notizbuch. In den nächsten Tagen würde er versuchen, Ihnen Geld von seinem Nummernkonto zukommen zu lassen, so sich denn die Möglichkeit ergab. Oder in den nächsten Wochen, sobald er seine Recherche abschließen und wieder einen Zugang zum Internet bekommen konnte. Denn hier drin sah es nicht so aus, als wäre an einer Ecke des Gefängnishofes ein Internet-Café eingerichtet. Arthur dreht sich von der Mauer weg, um den Blick schweifen zu lassen, was natürlich unnötig war, denn der José in ihm wusste bereits, dass es keinen Zugang zum Internet gab, zumindest keinen offiziellen. Die geschmuggelten Mobiltelefone, die immer verdächtig nach Popo rochen, waren für ihn derzeit unerreichbar. Es fehlten ihm noch die richtigen Kontakte, er war erst einige Wochen hier.

Während er an der Mauer entlang zu schlendern begann, überkam ihn wieder dieses beklemmende Gefühl, das er am Vormittag schon einmal gespürt hatte, aber nicht die Gelegenheit gefunden hatte, ihm auf den Grund zu gehen. Nun, das konnte man ja nun nachholen, Zeit war genug, da sich keine Gesprächspartner anboten, und andere Insassen sogar vor ihm zurückzuweichen schienen.

Seltsam, - oder war es nur Einbildung? Vor ihm schien sich die Menge der Insassen durch gruppendynamische Bewegungsmuster zu öffnen, wie ein großer Fischschwarm, um sich hinter ihm wieder zu schließen, so als vermiede man instinktiv seine Nähe. Arthur grub in den Erinnerungen. Dieser José war im Grunde kein schlechter Kerl, hatte sich immer voll reingehauen, dabei Raubbau am eigenen Körper betrieben, immer schon zu viel gesoffen, um das Elend ertragen zu können, hatte mit der Liebe seines Lebens eine Familie gegründet, und war aus der Not heraus in das örtliche Drogenkartell eingestiegen, um mit diesem Geld all seinen Lieben ein besseres Leben außerhalb des Armenviertels ermöglichen zu können.

Mit „besserem Leben“ war hier keine Yacht oder dickes Auto gemeint, sondern ein kleines Haus mit fließend Wasser. Ein eigenes Haus. Denn wer Mieter war, der war im Grunde genommen kein vollwertiger Bürger, sondern lediglich geduldet im eigenen Land. Das galt allerdings für alle Länder der Erde, arme wie reiche. Man war als Mieter davon abhängig, dass es immer jemanden gab, der einem gnädigerweise sein Eigentum gegen Geld zur Verfügung stellte. Wenn der einen hinauswarf, musste sich ein anderer Vermieter finden. Sonst war man obdachlos. Legte man sich dann auf eine Bank im Park, kam das Ordnungsamt und verscheuchte einen, wie einen räudigen Hund. Mieter waren Bürger zweiter Klasse. Sie wussten es nur nicht. Oder wollten es nicht wahrhaben.

Daher rührte sein Wunsch, ein eigenes Haus zu kaufen. Und genug Geld zu haben, um Arztrechnungen bezahlen zu können, denn so etwas wie eine Krankenversicherung hatte hier natürlich niemand.

Das war es schon. Das war der große Traum gewesen.

Nach der Verhaftung folgten dann Tage völliger Verzweiflung, er hatte in der Isolationszelle gewütet wie ein Berserker und sich Kopf und Hände an den Wänden blutig geschlagen.

Arthur wanderte jetzt mit gesenktem Blick über den Gefängnishof, der Schmerz und die Scham von José wüteten in ihm wie ein Ölbrand, der sich nicht löschen ließ. Obwohl er nur Beobachter war, sengte ihn die Hitze an.

Aber es war noch schlimmer. Man hatte beabsichtigt, auch seine Frau der Mittäterschaft anzuklagen, da er immer wieder Lieferungen des Kartells in der gemeinsamen Wohnung zwischengelagert hatte. Dann wären seine Töchter ins lokale Kinderheim gesteckt worden, eine vorzügliche Adresse mit bestem Ruf, wenn man Kindesmissbrauch als Qualitätsmerkmal wertete. Als ihm der Staatsanwalt einen „Deal“ anbot, zögerte er nicht.

José sagte gegen seine Bosse im Kartell aus. Die Anklage gegen seine Frau unterblieb. Sie würde nie davon erfahren, denn sie besuchte ihn nicht, und er hätte es ihr ohnehin nicht erzählt. Wenn er seine Zeit abgesessen hatte, würden sie ihn nicht mehr kennen, seine Lieben, sein Ein und Alles, seine kleine Familie… In Gedanken versunken wanderte Arthur weiter an der Mauer entlang. Dass sich etwas in seiner Umgebung verändert hatte, bemerkte er dabei gar nicht, so sehr war er in Josés Welt eingetaucht.

Die Tatsache, dass er nicht mehr isoliert auf dem Gefängnishof stand, sondern eine Gruppe aus vier Männern hinter ihn getreten war, wurde verhüllt durch den dunklen Schleier aus Verzweiflung, Scham und Schmerz, den die wachgerufenen Erinnerungen über seine Sinne geworfen hatten.

Als die lange Klinge auf Höhe des Herzens mit einer geübten Bewegung in seinen Rücken getrieben wurde, entwich seinen Lippen kein lauter Schrei, sondern nur ein dumpfes Stöhnen, so als wäre ihm mit Wucht in den Bauch getreten worden. Arthur brauchte daher einige Sekunden, um zu begreifen, was ihm bzw. dem alten José gerade widerfahren war.

Und als das Messer wieder herausgezogen wurde, - denn es war natürlich zu wertvoll in dieser Umgebung, um im Opfer zurückzubleiben -, ging er zuerst auf die Knie, als wollte er beten, dann fiel er langsam vornüber.

Eine kurze Panik überkam Arthur in diesem Moment, da er nicht sicher war, was das Ableben seines Gastgebers für ihn bedeuten würde. War es vergleichbar mit Einschlafen? „Schlafes Bruder“, war damit nicht der Tod gemeint? Konnte jener die Aufgabe seines Bruders übernehmen, und Arthur ein Wegstück mit sich nehmen, ohne ihn komplett auszulöschen?

Auf dieses Experiment hätte er gerne verzichtet.

Aber es war nun ohnehin nicht mehr zu ändern, und ob es seine Schuld war, ob José alleine besser aufgepasst hätte, vermochte er nicht zu sagen. Vermutlich hätte es so oder so keine Chance gegeben, der in der Branche üblichen Strafe für seinen Verrat zu entrinnen.

Er hatte es nur nicht wahrhaben wollen.

Schon bei Haftantritt war José ein toter Mann gewesen, daher hatte sich auch niemand die Mühe gemacht, sich mit ihm anzufreunden.

Niemand braucht eine wandelnde Leiche in seinem Freundeskreis.

Sein Herz hatte nun aufgehört zu schlagen, ein letztes Kammerflimmern hielt das Blut noch in minimaler Bewegung. Die Sauerstoffkonzentration in Josés Gehirn sank rapide. Schmerz war glücklicherweise kaum zu spüren, aber die Farben waren aus seinem Sichtfeld entschwunden.

Wie in einem Schwarz-Weiß-Film sah er die Beine der Umstehenden und die Mauern. Er spürte, dass sein zerstörter Herzmuskel überhaupt nicht mehr pumpte, und versuchte aus dem schwindenden Gedächtnis von José noch einmal die Namen seiner Familie zu extrahieren, damit er sich an sie erinnern und ihnen in den nächsten Tagen helfen konnte.

Und da waren sie, die Bilder aus glücklicheren Tagen, die Farben waren zurück, und Arthur hatte noch Zeit zu denken „Oh!, was für hübsche...“

Dann war nur noch traumlose Dunkelheit um ihn.

Wieder einer dieser Tage

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