Читать книгу Die Verwirrungen des Zöglings Törless - Robert Musil - Страница 1

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Eine kleine Station an der Strecke, welche nach Rußland führt.

Endlos gerade liefen vier parallele Eisenstränge nach beiden Seiten zwischen dem gelben Kies des breiten Fahrdammes; neben jedem wie ein schmutziger Schatten der dunkle, von dem Abdampfe in den Boden gebrannte Strich.

Hinter dem niederen, ölgestrichenen Stationsgebäude führte eine breite, ausgefahrene Straße zur Bahnhofsrampe herauf. Ihre Ränder verloren sich in dem ringsum zertretenen Boden und waren nur an zwei Reihen Akazienbäumen kenntlich, die traurig mit verdursteten, von Staub und Ruß erdrosselten Blättern zu beiden Seiten standen.

Machten es diese traurigen Farben, machte es das bleiche, kraftlose, durch den Dunst ermüdete Licht der Nachmittagssonne: Gegenstände und Menschen hatten etwas Gleichgültiges, Lebloses, Mechanisches an sich, als seien sie aus der Szene eines Puppentheaters genommen. Von Zeit zu Zeit, in gleichen Intervallen, trat der Bahnhofsvorstand aus seinem Amtszimmer heraus, sah mit der gleichen Wendung des Kopfes die weite Strecke hinauf nach den Signalen der Wächterhäuschen, die immer noch nicht das Nahen des Eilzuges anzeigen wollten, der an der Grenze große Verspätung erlitten hatte; mit ein und derselben Bewegung des Armes zog er sodann seine Taschenuhr hervor, schüttelte den Kopf und verschwand wieder; so wie die Figuren kommen und gehen, die aus alten Turmuhren treten, wenn die Stunde voll ist.

Auf dem breiten, festgestampften Streifen zwischen Schienenstrang und Gebäude promenierte eine heitere Gesellschaft junger Leute, links und rechts eines älteren Ehepaares schreitend, das den Mittelpunkt der etwas lauten Unterhaltung bildete. Aber auch die Fröhlichkeit dieser Gruppe war keine rechte; der Lärm des lustigen Lachens schien schon auf wenige Schritte zu verstummen, gleichsam an einem zähen, unsichtbaren Widerstande zu Boden zu sinken.

Frau Hofrat Törleß, dies war die Dame von vielleicht vierzig Jahren, verbarg hinter ihrem dichten Schleier traurige, vom Weinen ein wenig gerötete Augen. Es galt Abschied zu nehmen. Und es fiel ihr schwer, ihr einziges Kind nun wieder auf so lange Zeit unter fremden Leuten lassen zu müssen, ohne Möglichkeit, selbst schützend über ihren Liebling zu wachen.

Denn die kleine Stadt lag weitab von der Residenz, im Osten des Reiches, in spärlich besiedeltem, trockenem Ackerland.

Der Grund, dessentwegen Frau Törleß es dulden mußte, ihren Jungen in so ferner, unwirtlicher Fremde zu wissen, war, daß sich in dieser Stadt ein berühmtes Konvikt befand, welches man schon seit dem vorigen Jahrhunderte, wo es auf dem Boden einer frommen Stiftung errichtet worden war, hier heraußen beließ, wohl um die aufwachsende Jugend vor den verderblichen Einflüssen einer Großstadt zu bewahren.

Denn hier erhielten die Söhne der besten Familien des Landes ihre Ausbildung, um nach Verlassen des Institutes die Hochschule zu beziehen oder in den Militär oder Staatsdienst einzutreten und in allen diesen Fällen, sowie für den Verkehr in den Kreisen der guten Gesellschaft galt es als besondere Empfehlung, im Konvikte zu W. aufgewachsen zu sein.

Vor vier Jahren hatte dies das Elternpaar Törleß bewogen, dem ehrgeizigen Drängen seines Knaben nachzugeben und seine Aufnahme in das Institut zu erwirken.

Dieser Entschluß hatte später viele Tränen gekostet. Denn fast seit dem Augenblicke, da sich das Tor des Institutes unwiderruflich hinter ihm geschlossen hatte, litt der kleine Törleß an fürchterlichem, leidenschaftlichem Heimweh. Weder die Unterrichtsstunden noch die Spiele auf den großen üppigen Wiesen des Parkes noch die anderen Zerstreuungen, die das Konvikt seinen Zöglingen bot, vermochten ihn zu fesseln; er beteiligte sich kaum an ihnen. Er sah alles nur wie durch einen Schleier hindurch und hatte selbst untertags häufig Mühe, ein hartnäckiges Schluchzen hinabzuwürgen; des Abends schlief er aber stets unter Tränen ein.

Er schrieb Briefe nach Hause, beinahe täglich, und er lebte nur in diesen Briefen; alles andere, was er tat, schien ihm nur ein schattenhaftes, bedeutungsloses Geschehen zu sein, gleichgültige Stationen, wie die Stundenziffern eines Uhrblattes. Wenn er aber schrieb, fühlte er etwas Auszeichnendes, Exklusives in sich; wie eine Insel voll wunderbarer Sonnen und Farben hob sich etwas in ihm aus dem Meere grauer Empfindungen heraus, das ihn Tag um Tag kalt und gleichgültig umdrängte. Und wenn er untertags, bei den Spielen oder im Unterrichte, daran dachte, daß er abends seinen Brief schreiben werde, so war ihm, als trüge er an unsichtbarer Kette einen goldenen Schlüssel verborgen, mit dem er, wenn es niemand sieht, das Tor von wunderbaren Gärten öffnen werde.

Das Merkwürdige daran war, daß diese jähe, verzehrende Hinneigung zu seinen Eltern für ihn selbst etwas Neues und Befremdendes hatte. Er hatte sie vorher nicht geahnt, er war gern und freiwillig ins Institut gegangen, ja er hatte gelacht, als sich seine Mutter beim ersten Abschied vor Tränen nicht fassen konnte, und dann erst, nachdem er schon einige Tage allein gewesen war und sich verhältnismäßig wohl befunden hatte, brach es plötzlich und elementar in ihm empor.

Er hielt es für Heimweh, für Verlangen nach seinen Eltern. In Wirklichkeit war es aber etwas viel Unbestimmteres und Zusammengesetzteres. Denn der »Gegenstand dieser Sehnsucht«, das Bild seiner Eltern, war darin eigentlich gar nicht mehr enthalten. Ich meine diese gewisse plastische, nicht bloß gedächtnismäßige, sondern körperliche Erinnerung an eine geliebte Person, die zu allen Sinnen spricht und in allen Sinnen bewahrt wird, so daß man nichts tun kann, ohne schweigend und unsichtbar den anderen zur Seite zu fühlen. Diese verklang bald wie eine Resonanz, die nur noch eine Weile fortgezittert hatte. Törleß konnte sich damals beispielsweise nicht mehr das Bild seiner »lieben, lieben Eltern«, – dermaßen sprach er es meist vor sich hin – vor Augen zaubern. Versuchte er es, so kam an dessen Stelle der grenzenlose Schmerz in ihm empor, dessen Sehnsucht ihn züchtigte und ihn doch eigenwillig festhielt, weil ihre heißen Flammen ihn zugleich schmerzten und entzückten. Der Gedanke an seine Eltern wurde ihm hiebei mehr und mehr zu einer bloßen Gelegenheitsursache, dieses egoistische Leiden in sich zu erzeugen, das ihn in seinen wollüstigen Stolz einschloß wie in die Abgeschiedenheit einer Kapelle, in der von hundert flammenden Kerzen und von hundert Augen heiliger Bilder Weihrauch zwischen die Schmerzen der sich selbst Geißelnden gestreut wird. – – –

Als dann sein »Heimweh« weniger heftig wurde und sich allgemach verlor, zeigte sich diese seine Art auch ziemlich deutlich. Sein Verschwinden führte nicht eine endliche Zufriedenheit nach sich, sondern ließ in der Seele des jungen Törleß eine Leere zurück. Und an diesem Nichts, an diesem Unausgefüllten in sich erkannte er, daß es nicht eine bloße Sehnsucht gewesen war, die ihm abhanden kam, sondern etwas Positives, eine seelische Kraft, etwas, das sich in ihm unter dem Vorwand des Schmerzes ausgeblüht hatte.

Nun aber war es vorbei, und diese Quelle einer ersten höheren Seligkeit hatte sich ihm erst durch ihr Versiegen fühlbar gemacht.

Zu dieser Zeit verloren sich die leidenschaftlichen Spuren der im Erwachen gewesenen Seele wieder aus seinen Briefen und an ihre Stelle traten ausführliche Beschreibungen des Lebens im Institute und der neugewonnenen Freunde.

Er selbst fühlte sich dabei verarmt und kahl, wie ein Bäumchen, das nach der noch fruchtlosen Blüte den ersten Winter erlebt.

Seine Eltern aber waren es zufrieden. Sie liebten ihn mit einer starken, gedankenlosen, tierischen Zärtlichkeit. Jedesmal, wenn er vom Konvikte Ferien bekommen hatte, erschien der Hofrätin nachher ihr Haus von neuem leer und ausgestorben, und noch einige Tage nach jedem solchen Besuche ging sie mit Tränen in den Augen durch die Zimmer, da und dort einen Gegenstand liebkosend berührend, auf dem das Auge des Knaben geruht oder den seine Finger gehalten hatten. Und beide hätten sie sich für ihn in Stücke reißen lassen.

Die unbeholfene Rührung und leidenschaftliche, trotzige Trauer seiner Briefe beschäftigte sie schmerzlich und versetzte sie in einen Zustand hochgespannter Empfindsamkeit, der heitere, zufriedene Leichtsinn, der darauf folgte, machte auch sie wieder froh und in dem Gefühle, daß hiedurch eine Krise überwunden worden sei, unterstützten sie ihn nach Kräften.

Weder in dem einen noch in dem andern erkannten sie das Symptom einer bestimmten seelischen Entwicklung, vielmehr hatten sie Schmerz und Beruhigung gleichermaßen als eine natürliche Folge der gegebenen Verhältnisse hingenommen. Daß es der erste, mißglückte Versuch des jungen, auf sich selbst gestellten Menschen gewesen war, die Kräfte des Inneren zu entfalten entging ihnen.

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Törleß fühlte sich nun sehr unzufrieden und tastete da und dort vergeblich nach etwas Neuem, das ihm als Stütze hätte dienen können.

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Eine Episode dieser Zeit war für das charakteristisch, was sich damals in Törleß zu späterer Entwicklung vorbereitete.

Eines Tages war nämlich der junge Fürst H. ins Institut eingetreten, der aus einem der einflußreichsten ältesten, und konservativsten Adelsgeschlechter des Reiches stammte.

Alle anderen fanden seine sanften Augen fad und affektiert; die Art und Weise, wie er im Stehen die eine Hüfte herausdrückte und beim Sprechen langsam mit den Fingern spielte, verlachten sie als weibisch. Besonders aber spotteten sie darüber, daß er nicht von seinen Eltern ins Konvikt gebracht worden war, sondern von seinem bisherigen Erzieher, einem doctor theologiae und Ordensgeistlichen.

Törleß aber hatte vom ersten Augenblicke an einen starken Eindruck empfangen. Vielleicht wirkte dabei der Umstand mit, daß es ein hoffähiger Prinz war, jedenfalls war es aber auch eine andere Art Mensch, die er da kennen lernte.

Das Schweigen eines alten Landedelschlosses und frommer Übungen schien irgendwie noch an ihm zu haften. Wenn er ging, so geschah es mit weichen, geschmeidigen Bewegungen, mit diesem etwas schüchternen Sichzusammenziehen und Schmalmachen, das der Gewohnheit eigen ist, aufrecht durch die Flucht leerer Säle zu schreiten, wo ein anderer an hundert unsichtbaren Ecken des leeren Raumes schwer anzurennen scheint.

Der Umgang mit dem Prinzen wurde so zur Quelle eines feinen psychologischen Genusses für Törleß. Er bahnte in ihm jene Art Menschenkenntnis an, die es lehrt, einen anderen nach dem Falle der Stimme, nach der Art, wie er etwas in die Hand nimmt, ja selbst nach dem timbre seines Schweigens und dem Ausdruck der körperlichen Haltung, mit der er sich in einen Raum fügt, kurz nach dieser beweglichen, kaum greifbaren und doch erst eigentlichen, vollen Art, etwas SeelischMenschliches zu sein, die um den Kern, das Greif und Besprechbare, wie um ein bloßes Skelett herumgelagert ist, so zu erkennen und zu genießen, daß man die geistige Persönlichkeit dabei vorwegnimmt.

Törleß lebte während dieser kurzen Zeit wie in einer Idylle. Er stieß sich nicht an der Religiosität seines neuen Freundes, die ihm, der aus einem bürgerlich freidenkenden Hause stammte, eigentlich etwas ganz Fremdes war. Er nahm sie vielmehr ohne alles Bedenken hin, ja sie bildete in seinen Augen sogar einen besonderen Vorzug des Prinzen, denn sie potenzierte gewissermaßen das Wesen dieses Menschen, das er dem seinen völlig unähnlich, aber auch ganz unvergleichlich fühlte.

In der Gesellschaft dieses Prinzen fühlte er sich etwa wie in einer abseits des Weges liegenden Kapelle, so daß der Gedanke, daß er eigentlich nicht dorthin gehöre, ganz gegen den Genuß verschwand, das Tageslicht einmal durch Kirchenfenster anzusehen und das Auge so lange über den nutzlosen vergoldeten Zierat gleiten zu lassen, der in der Seele dieses Menschen aufgehäuft war, bis er von dieser selbst ein undeutliches Bild empfing, so als ob er, ohne sich Gedanken darüber machen zu können, mit dem Finger eine schöne, aber nach seltsamen Gesetzen verschlungene Arabeske nachzöge.

Dann kam es plötzlich zum Bruche zwischen beiden.

Wegen einer Dummheit, wie sich Törleß selbst hinterher sagen mußte.

Sie waren nämlich doch einmal ins Streiten über religiöse Dinge gekommen. Und in diesem Augenblicke war es eigentlich schon um alles geschehen. Denn wie von Törleß unabhängig schlug nun der Verstand in ihm unaufhaltsam auf den zarten Prinzen los. Er überschüttete ihn mit dem Spotte des Vernünftigen, zerstörte barbarisch das filigrane Gebäude, in dem dessen Seele heimisch war, und sie gingen im Zorne auseinander.

Seit der Zeit hatten sie auch kein Wort wieder zueinander gesprochen. Törleß war sich wohl dunkel bewußt, daß er etwas Sinnloses getan hatte, und eine unklare, gefühlsmäßige Einsicht sagte ihm, daß da dieser hölzerne Zollstab des Verstandes zu ganz unrechter Zeit etwas Feines und Genußreiches zerschlagen habe. Aber dies war etwas, das ganz außer seiner Macht lag. Eine Art Sehnsucht nach dem früheren war wohl für immer in ihm zurückgeblieben, aber er schien in einen anderen Strom geraten zu sein, der ihn immer weiter davon entfernte.

Nach einiger Zeit trat dann auch der Prinz, der sich im Konvikte nicht wohl befunden hatte, wieder aus.

– –   –   –   –   –   –   –   –   –   –   –   –Nun wurde es ganz leer und langweilig um Törleß. Aber er war einstweilen älter geworden, und die beginnende Geschlechtsreife fing an sich dunkel und allmählich in ihm emporzuheben. In diesem Abschnitt seiner Entwicklung schloßer einige neue, dementsprechende Freundschaften, die für ihn später von größter Wichtigkeit wurden. So mit Beineberg und Reiting, mit Moté und Hofmeier, eben jenen jungen Leuten, in deren Gesellschaft er heute seine Eltern zur Bahn begleitete.

Merkwürdigerweise waren dies gerade die Übelsten seines Jahrganges, zwar talentiert und selbstverständlich auch von guter Herkunft, aber bisweilen bis zur Roheit wild und ungebärdig. Und daß gerade ihre Gesellschaft Törleß nun fesselte, lag wohl an seiner eigenen Unselbständigkeit, die, seitdem es ihn von dem Prinzen wieder fortgetrieben hatte, sehr arg war. Es lag sogar in der geradlinigen Verlängerung dieses Abschwenkens, denn es bedeutete wie dieses eine Angst vor allzu subtilen Empfindeleien, gegen die das Wesen der anderen Kameraden gesund, kernig und lebensgerecht abstach.

Törleß überließ sich gänzlich ihrem Einflusse, denn seine geistige Situation war nun ungefähr diese: In seinem Alter hat man am Gymnasium Goethe, Schiller, Shakespeare, vielleicht sogar schon die Modernen gelesen. Das schreibt sich dann halbverdaut aus den Fingerspitzen wieder heraus. Römertragödien entstehen oder sensitivste Lyrik, die im Gewande seitenlanger Interpunktionen wie in der Zartheit durchbrochener Spitzenarbeit einherschreitet: Dinge, die an und für sich lächerlich sind, für die Sicherheit der Entwicklung aber einen unschätzbaren Wert bedeuten. Denn diese von außen kommenden Assoziationen und erborgten Gefühle tragen die jungen Leute über den gefährlich weichen seelischen Boden dieser Jahre hinweg, wo man sich selbst etwas bedeuten muß und doch noch zu unfertig ist, um wirklich etwas zu bedeuten. Ob für später bei dem einen etwas davon zurückbleibt oder bei dem andern nichts, ist gleichgültig, dann findet sich schon jeder mit sich ab, und die Gefahr besteht nur in dem Alter des Überganges. Wenn man da solch einem jungen Menschen das Lächerliche seiner Person zur Einsicht bringen könnte, so würde der Boden unter ihm einbrechen oder er würde wie ein erwachter Nachtwandler herabstürzen, der plötzlich nichts als Leere sieht.

Diese Illusion, dieser Trick zugunsten der Entwicklung fehlte im Institute. Denn dort waren in der Bibliothek wohl die Klassiker enthalten, aber diese galten als langweilig, und sonst fanden sich nur sentimentale Novellenbände und witzlose Militärhumoresken.

Der kleine Törleß hatte sie wohl alle in einer förmlichen Gier nach Büchern durchgelesen, irgendeine banal zärtliche Vorstellung aus ein oder der anderen Novelle wirkte manchmal auch noch eine Weile nach, allein einen Einfluß, einen wirklichen Einfluß, nahm dies auf seinen Charakter nicht.

Es schien damals, daß er überhaupt keinen Charakter habe.

Er schrieb zum Beispiel unter dem Einflusse dieser Lektüre selbst hie und da eine kleine Erzählung oder begann ein romantisches Epos zu dichten. In der Erregung über die Liebesleiden seiner Helden röteten sich dann seine Wangen, seine Pulse beschleunigten sich und seine Augen glänzten.

Wie er aber die Feder aus der Hand legte, war alles vorbei; gewissermaßen nur in der Bewegung lebte sein Geist. Daher war es ihm auch möglich, ein Gedicht oder eine Erzählung wann immer, auf jede Aufforderung hin, niederzuschreiben. Er regte sich dabei auf, aber trotzdem nahm er es nie ganz ernst und die Tätigkeit schien ihm nicht wichtig. Es ging von ihr nichts auf seine Person über, und sie ging nicht von seiner Person aus. Er hatte nur unter irgend einem äußeren Zwang Empfindungen, die über das Gleichgültige hinausgingen, wie ein Schauspieler hiezu des Zwanges einer Rolle bedarf.

Es waren Reaktionen des Gehirns. Das aber, was man als Charakter oder Seele, Linie oder Klangfarbe eines Menschen fühlt, jedenfalls dasjenige, wogegen die Gedanken, Entschlüsse und Handlungen wenig bezeichnend, zufällig und auswechselbar erscheinen, dasjenige, was beispielsweise Törleß an den Prinzen jenseits alles verständlichen Beurteilens geknüpft hatte, dieser letzte, unbewegliche Hintergrund, war zu jener Zeit in Törleß gänzlich verloren gegangen.

In seinen Kameraden war es die Freude am Sport, das Animalische, welches sie eines solchen gar nicht bedürfen ließ, sowie am Gymnasium das Spiel mit der Literatur dafür sorgt.

Törleß war aber für das eine zu geistig angelegt und dem anderen brachte er jene scharfe Feinfühligkeit für das Lächerliche solcher erborgter sentiments entgegen, die das Leben im Institute durch seine Nötigung steter Bereitschaft zu Streitigkeiten und Faustkämpfen erzeugt. So erhielt sein Wesen etwas Unbestimmtes, eine innere Hilflosigkeit, die ihn nicht zu sich selbst finden ließ.

Er schloß sich seinen neuen Freunden an, weil ihm ihre Wildheit imponierte. Da er ehrgeizig war, versuchte er hie und da, es ihnen darin sogar zuvorzutun. Aber jedesmal blieb er wieder auf halbem Wege stehen und hatte nicht wenig Spott deswegen zu erleiden. Dies verschüchterte ihn dann wieder. Sein ganzes Leben bestand in dieser kritischen Periode eigentlich nur in diesem immer erneuten Bemühen, seinen rauhen, männlicheren Freunden nachzueifern, und in einer tief innerlichen Gleichgültigkeit gegen dieses Bestreben.

Besuchten ihn jetzt seine Eltern, so war er, solange sie allein waren, still und scheu. Den zärtlichen Berührungen seiner Mutter entzog er sich jedesmal unter einem anderen Vorwande. In Wahrheit hätte er ihnen gerne nachgegeben, aber er schämte sich, als seien die Augen seiner Kameraden auf ihn gerichtet.

Seine Eltern nahmen es als die Ungelenkigkeit der Entwicklungsjahre hin.

Nachmittag kam dann die ganze laute Schar. Man spielte Karten, aß, trank, erzählte Anekdoten über die Lehrer und rauchte die Zigaretten, die der Hofrat aus der Residenz mitgebracht hatte.

Diese Heiterkeit erfreute und beruhigte das Ehepaar.

Daß für Törleß mitunter auch andere Stunden kamen, wußten sie nicht. Und in der letzten Zeit immer zahlreichere. Er hatte Augenblicke, wo ihm das Leben im Institute völlig gleichgültig wurde. Der Kitt seiner täglichen Sorgen löste sich da und die Stunden seines Lebens fielen ohne innerlichen Zusammenhang auseinander.

Er saß oft lange – in finsterem Nachdenken – gleichsam über sich selbst gebeugt.

– –   –   –   –   –   –   –   –   –   –   –   –Zwei Besuchstage waren es auch diesmal gewesen. Man hatte gespeist, geraucht, eine Spazierfahrt unternommen, und nun sollte der Eilzug das Ehepaar wieder in die Residenz zurückführen.

Ein leises Rollen in den Schienen kündigte sein Nahen an und die Signale der Glocke am Dache des Stationsgebäudes klangen der Hofrätin unerbittlich ins Ohr.

»Also nicht wahr, lieber Beineberg, Sie geben mir auf meinen Buben acht?« wandte sich Hofrat Törleß an den jungen Baron Beineberg, einen langen, knochigen Burschen mit mächtig abstehenden Ohren, aber ausdrucksvollen, gescheiten Augen.

Der kleine Törleß schnitt ob dieser Bevormundung ein mißmutiges Gesicht und Beineberg grinste geschmeichelt und ein wenig schadenfroh.

»Überhaupt«, – wandte sich der Hofrat an die übrigen, – »möchte ich Sie alle gebeten haben, falls meinem Sohne irgend etwas sein sollte, mich gleich davon zu verständigen.«

Dies entlockte nun doch dem jungen Törleß ein unendlich gelangweiltes: »Aber Papa, was soll mir denn passieren?!« obwohl er schon daran gewöhnt war, bei jedem Abschiede diese allzugroße Sorgsamkeit über sich ergehen lassen zu müssen.

Die anderen schlugen indessen die Hacken zusammen, wobei sie die zierlichen Degen straff an die Seite zogen, und der Hofrat fügte noch hinzu: »Man kann nie wissen, was vorkommt, und der Gedanke, sofort von allem verständigt zu werden, bereitet mir eine große Beruhigung: schließlich könntest du doch auch am Schreiben behindert sein.«

Dann fuhr der Zug ein. Hofrat Törleß umarmte seinen Sohn, Frau von Törleß drückte den Schleier fester ans Gesicht, um ihre Tränen zu verbergen, die Freunde bedankten sich der Reihe nach, dann schloß der Schaffner die Wagentür.

Noch einmal sah das Ehepaar die hohe, kahle Rückfront des Institutsgebäudes, – die mächtige, langgestreckte Mauer, welche den Park umschloß, dann kamen rechts und links nur mehr graubraune Felder und vereinzelte Obstbäume.

– –   –   –   –   –   –   –   –   –   –   –   –  –

Die jungen Leute hatten unterdessen den Bahnhof verlassen und gingen in zwei Reihen hintereinander auf den beiden Rändern der Straße, – so wenigstens dem dicksten und zähesten Staube ausweichend, – der Stadt zu, ohne viel miteinander zu reden.

Es war fünf Uhr vorbei und über die Felder kam es ernst und kalt, wie ein Vorbote des Abends.

Törleß wurde sehr traurig.

Vielleicht war daran die Abreise seiner Eltern schuld, vielleicht war es jedoch nur die abweisende, stumpfe Melancholie, die jetzt auf der ganzen Natur ringsumher lastete und schon auf wenige Schritte die Formen der Gegenstände mit schweren glanzlosen Farben verwischte.

Dieselbe furchtbare Gleichgültigkeit, die schon den ganzen Nachmittag über allerorts gelegen war, kroch nun über die Ebene heran, und hinter ihr her wie eine schleimige Fährte der Nebel, der über den Sturzäckern und bleigrauen Rübenfeldern klebte.

Törleß sah nicht rechts noch links, aber er fühlte es. Schritt für Schritt trat er in die Spuren, die soeben erst vom Fuße des Vordermanns in dem Staube aufklafften – und so fühlte er es: als ob es so sein müßte: als einen steinernen Zwang, der sein ganzes Leben in diese Bewegung – Schritt für Schritt – auf dieser einen Linie, auf diesem einen schmalen Streifen, der sich durch den Staub zog, einfing und zusammenpreßte.

Als sie an einer Kreuzung stehen blieben, wo ein zweiter Weg mit dem ihren in einen runden, ausgetretenen Fleck zusammenfloß, und als dort ein morschgewordener Wegweiser schief in die Luft hineinragte, wirkte diese, mit ihrer Umgebung in Widerspruch stehende, Linie wie ein verzweifelter Schrei auf Törleß.

Wieder gingen sie weiter. Törleß dachte an seine Eltern, an Bekannte, an das Leben. Um diese Stunde kleidet man sich für eine Gesellschaft an oder beschließt ins Theater zu fahren. Und nachher geht man ins Restaurant, hört eine Kapelle, besucht das Kaffeehaus. Man macht eine interessante Bekanntschaft. Ein galantes Abenteuer hält bis zum Morgen in Erwartung. Das Leben rollt wie ein wunderbares Rad immer Neues, Unerwartetes aus sich heraus . . .

Törleß seufzte unter diesen Gedanken und bei jedem Schritte, der ihn der Enge des Institutes näher trug, schnürte sich etwas immer fester in ihm zusammen.

Jetzt schon klang ihm das Glockenzeichen in den Ohren. Nichts fürchtete er nämlich so sehr wie dieses Glockenzeichen, das unwiderruflich das Ende des Tages bestimmte – wie ein brutaler Messerschnitt.

Er erlebte ja nichts und sein Leben dämmerte in steter Gleichgültigkeit dahin, aber dieses Glockenzeichen fügte dem auch noch den Hohn hinzu und ließ ihn in ohnmächtiger Wut über sich selbst, über sein Schicksal, über den begrabenen Tag erzittern.

Nun kannst du gar nichts mehr erleben, während zwölf Stunden kannst du nichts mehr erleben, für zwölf Stunden bist du tot . . .: das war der Sinn dieses Glockenzeichens.

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Als die Gesellschaft junger Leute zwischen die ersten niedrigen, hüttenartigen Häuser kam, wich dieses dumpfe Brüten von Törleß. Wie von einem plötzlichen Interesse erfaßt, hob er den Kopf und blickte angestrengt in das dunstige Innere der kleinen, schmutzigen Gebäude, an denen sie vorübergingen.

Vor den Türen der meisten standen die Weiber, in Kitteln und groben Hemden, mit breiten, beschmutzten Füßen und nackten, braunen Armen.

Waren sie jung und drall, so flog ihnen manches derbe slawische Scherzwort zu. Sie stießen sich an und kicherten über die »jungen Herren«; manchmal schrie eine auch auf, wenn im Vorübergehen allzu hart ihre Brüste gestreift wurden, oder erwiderte mit einem lachenden Schimpfwort einen Schlag auf die Schenkel. Manche sah auch bloß mit zornigem Ernste hinter den Eilenden drein; und der Bauer lächelte verlegen – halb unsicher, halb gutmütig – wenn er zufällig hinzugekommen war.

Törleß beteiligte sich nicht an dieser übermütigen, frühreifen Männlichkeit seiner Freunde.

Der Grund hiezu lag wohl teilweise in einer gewissen Schüchternheit in geschlechtlichen Sachen, wie sie fast allen einzigen Kindern eigentümlich ist, zum größeren Teile jedoch in der ihm besonderen Art der sinnlichen Veranlagung, welche verborgener, mächtiger und dunkler gefärbt war als die seiner Freunde und sich schwerer äußerte.

Während die anderen mit den Weibern schamlos – taten, beinahe mehr um »fesch« zu sein als aus Begierde, war die Seele des schweigsamen, kleinen Törleß aufgewühlt und von wirklicher Schamlosigkeit gepeitscht.

Er blickte mit so brennenden Augen durch die kleinen Fenster und winkligen, schmalen Torwege in das Innere der Häuser, daß es ihm beständig wie ein feines Netz vor den Augen tanzte.

Fast nackte Kinder wälzten sich in dem Kot der Höfe, da und dort gab der Rock eines arbeitenden Weibes die Kniekehlen frei oder drückte sich eine schwere Brust straff in die Falten der Leinwand. Und als ob all dies selbst unter einer ganz anderen, tierischen, drückenden Atmosphäre sich abspielte, floß aus dem Flur der Häuser eine träge, schwere Luft, die Törleß begierig einatmete.

Er dachte an alte Malereien, die er in Museen gesehen hatte, ohne sie recht zu verstehen. Er wartete auf irgend etwas, so wie er vor diesen Bildern immer auf etwas gewartet hatte, das sich nie ereignete. Worauf . . .?. . . Auf etwas Überraschendes, noch nie Gesehenes; auf einen unerhörten Anblick, von dem er sich nicht die geringste Vorstellung machen konnte; auf irgend etwas von fürchterlicher, tierischer Sinnlichkeit; das ihn wie mit Krallen packe und von den Augen aus zerreiße; auf ein Erlebnis, das in irgendeiner noch ganz unklaren Weise mit den schmutzigen Kitteln der Weiber, mit ihren rauhen Händen, mit der Niedrigkeit ihrer Stuben, mit . . . mit einer Beschmutzung an dem Kot der Höfe . . . zusammenhängen müsse. . . . Nein, nein; . . . er fühlte jetzt nur mehr das feurige Netz vor den Augen; die Worte sagten es nicht; so arg, wie es die Worte machen, ist es gar nicht; es ist etwas ganz Stummes, – ein Würgen in der Kehle, ein kaum merkbarer Gedanke und nur dann, wenn man es durchaus mit Worten sagen wollte, käme es so heraus; aber dann ist es auch nur mehr entfernt ähnlich, wie in einer riesigen Vergrößerung, wo man nicht nur alles deutlicher sieht, sondern auch Dinge, die gar nicht da sind . . Dennoch war es zum Schämen.

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»Hat das Bubi Heimweh?« fragte ihn plötzlich spöttisch der lange und um zwei Jahre ältere v. Reiting, welchem Törleßʼ Schweigsamkeit und die verdunkelten Augen aufgefallen waren. Törleß lächelte gemacht und verlegen und ihm war, als hätte der boshafte Reiting die Vorgänge in seinem Innern belauscht.

Er gab keine Antwort. Aber sie waren mittlerweile auf den Kirchplatz des Städtchens gelangt, der die Form eines Quadrates hatte und mit Katzenköpfen gepflastert war, und trennten sich nun voneinander.

Törleß und Beineberg wollten noch nicht ins Institut zurück, während die andern keine Erlaubnis zu längerem Ausbleiben hatten und nach Hause gingen.


Die beiden waren in der Konditorei eingekehrt.

Dort saßen sie an einem kleinen Tische mit runder Platte, neben einem Fenster, das auf den Garten hinausging, unter einer Gaskrone, deren Lichter hinter den milchigen Glaskugeln leise summten.

Sie hatten es sich bequem gemacht, ließen sich die Gläschen mit wechselnden Schnäpsen füllen, rauchten Zigaretten, aßen dazwischen etwas Bäckerei und genossen das Behagen, die einzigen Gäste zu sein. Denn höchstens in den hinteren Räumen saß noch ein vereinzelter Besucher vor seinem Glase Wein; vorne war es still und selbst die feiste, angejährte Konditorin schien hinter ihrem Ladentische zu schlafen.

Törleß sah – nur so ganz unbestimmt – durch das Fenster – in den leeren Garten hinaus, der allgemach verdunkelte.

Beineberg erzählte. Von Indien. Wie gewöhnlich. Denn sein Vater, der General war, war dort als junger Offizier in englischen Diensten gestanden. Und nicht nur hatte er wie sonstige Europäer Schnitzereien, Gewebe und kleine Industriegötzen mit herüber gebracht, sondern auch etwas von dem geheimnisvollen, bizarren Dämmern des esoterischen Buddhismus gefühlt und sich bewahrt. Auf seinen Sohn hatte er das, was er von da her wußte und später noch hinzulas, schon von dessen Kindheit an übertragen.

Mit dem Lesen war es übrigens bei ihm ganz eigens. Er war Reiteroffizier und liebte durchaus nicht die Bücher im allgemeinen. Romane und Philosophie verachtete er gleichermaßen. Wenn er las, wollte er nicht über Meinungen und Streitfragen nachdenken, sondern schon beim Aufschlagen der Bücher wie durch eine heimliche Pforte in die Mitte auserlesener Erkenntnisse treten. Es mußten Bücher sein, deren Besitz allein schon wie ein geheimes Ordenszeichen war und wie eine Gewährleistung überirdischer Offenbarungen. Und solches fand er nur in den Büchern der indischen Philosophie, die für ihn eben nicht bloße Bücher zu sein schienen, sondern Offenbarungen, Wirkliches, – Schlüsselwerke wie die alchimistischen und Zauberbücher des Mittelalters.

Mit ihnen schloß sich dieser gesunde, tatkräftige Mann, der strenge seinen Dienst versah und überdies seine drei Pferde fast täglich selber ritt, meist gegen Abend ein.

Dann griff er aufs Geratewohl eine Stelle heraus und sann, ob sich ihr geheimster Sinn ihm nicht heute erschlösse. Und nie war er enttäuscht, so oft er auch einsehen mußte, daß er noch nicht weiter als bis zum Vorhof des geheiligten Tempels gelangt sei.

So schwebte um diesen nervigen, gebräunten Freiluftmenschen etwas wie ein weihevolles Geheimnis. Seine Überzeugung, täglich am Vorabend einer niederschmetternd großen Enthüllung zu stehen, gab ihm eine verschlossene Überlegenheit. Seine Augen waren nicht träumerisch, sondern ruhig und hart. Die Gewohnheit, in Büchern zu lesen, in denen kein Wort von seinem Platze gerückt werden durfte, ohne den geheimen Sinn zu stören, das vorsichtige, achtungsvolle Abwägen eines jeden Satzes nach Sinn und Doppelsinn, hatte ihren Ausdruck geformt.

Nur mitunter verloren sich seine Gedanken in ein Dämmern von wohliger Melancholie. Das geschah, wenn er an den geheimen Kult dachte, der sich an die Originale der vor ihm liegenden Schriften knüpfte, an die Wunder, die von ihnen ausgegangen waren und Tausende ergriffen hatten, Tausende von Menschen, die ihm wegen der großen Entfernung, die ihn von ihnen trennte, nun wie Brüder erschienen, während er doch die Menschen seiner Umgebung, die er mit allen ihren Details sah, verachtete. In diesen Stunden wurde er mißmutig. Der Gedanke, daß sein Leben verurteilt sei, ferne von den Quellen der heiligen Kräfte zu verlaufen, seine Anstrengungen verurteilt, an der Ungunst der Verhältnisse vielleicht doch zu erlahmen, drückte ihn nieder. Wenn er aber dann eine Weile betrübt vor seinen Büchern gesessen war, wurde ihm eigentümlich zumute. Seine Melancholie verlor zwar nichts von ihrer Schwere, im Gegenteil, ihre Traurigkeit steigerte sich noch, aber sie drückte ihn nicht mehr. Er fühlte sich mehr denn je verlassen und auf verlorenem Posten, aber in dieser Wehmut lag ein feines Vergnügen, ein Stolz, etwas Fremdes zu tun, einer unverstandenen Gottheit zu dienen. Und dann konnte wohl auch vorübergehend in seinen Augen etwas aufleuchten, das an den Aberwitz religiöser Ekstase gemahnte.

– –   –   –   –   –   –   –   –   –   –   –   –  –

Beineberg hatte sich müde gesprochen. In ihm lebte das Bild seines wunderlichen Vaters in einer Art verzerrender Vergrößerung weiter. Jeder Zug war zwar bewahrt; aber das, was bei jenem ursprünglich vielleicht nur eine Laune gewesen war, die ihrer Exklusivität halber konserviert und gesteigert wurde, hatte sich in ihm zu einer phantastischen Hoffnung ausgewachsen. Jene Eigenheit seines Vaters, die für diesen im Grunde genommen vielleicht doch nur den gewissen letzten Schlupfwinkel der Individualität bedeutete, den sich jeder Mensch – und sei es auch nur durch die Wahl seiner Kleider – schaffen muß, um etwas zu haben, das ihn vor anderen auszeichne, war in ihm zu dem festen Glauben geworden, sich mittels ungewöhnlicher seelischer Kräfte eine Herrschaft sichern zu können.

Törleß kannte diese Gespräche zur Genüge. Sie gingen an ihm vorbei und berührten ihn kaum.

Er hatte sich jetzt halb vom Fenster abgewandt und beobachtete Beineberg, der sich eine Zigarette drehte. Und er fühlte wieder jenen merkwürdigen Widerwillen gegen diesen, der zuzeiten in ihm aufstieg. Diese schmalen dunklen Hände, die eben geschickt den Tabak in das Papier rollten, waren doch eigentlich schön. Magere Finger, ovale, schön gewölbte Nägel: es lag eine gewisse Vornehmheit in ihnen. Auch in den dunkelbraunen Augen. Auch in der gestreckten Magerkeit des ganzen Körpers lag eine solche. Freilich, – die Ohren standen mächtig ab, das Gesicht war klein und unregelmäßig und der Gesamteindruck des Kopfes erinnerte an den einer Fledermaus. Dennoch, – das fühlte Törleß, indem er die Einzelnheiten gegeneinander abwog, ganz deutlich, – waren es nicht die häßlichen, sondern gerade die vorzüglicheren derselben, die ihn so eigentümlich beunruhigten.

Die Magerkeit des Körpers, – Beineberg selbst pflegte die stahlschlanken Beine homerischer Wettläufer als sein Vorbild zu preisen, – wirkte auf ihn durchaus nicht in dieser Weise. Törleß hatte sich darüber bisher noch nicht Rechenschaft gegeben und nun fiel ihm im Augenblicke kein befriedigender Vergleich ein. Er hätte Beineberg gern scharf ins Auge gefaßt, aber dann hätte es dieser gemerkt und er hätte irgendein Gespräch beginnen müssen. Aber gerade so, – da er ihn nur halb ansah und halb in der Phantasie das Bild ergänzte, – fiel ihm der Unterschied auf. Wenn er sich die Kleider von dem Körper wegdachte, so war es ihm ganz unmöglich, die Vorstellung einer ruhigen Schlankheit festzuhalten, vielmehr traten ihm augenblicklich unruhige, sich windende Bewegungen vor das Auge, ein Verdrehen der Gliedmaßen und Verkrümmen der Wirbelsäule, wie man es in alten Darstellungen des Martyriums oder in den grotesken Schaubietungen der Jahrmarktsartisten finden kann.

Auch die Hände, die er ja gewiß ebensogut in dem Eindrucke irgendeiner formvollen Geste hätte festhalten können, dachte er nicht anders als in einer fingernden Beweglichkeit. Und gerade an ihnen, die doch eigentlich das Schönste an Beineberg waren, konzentrierte sich der größte Widerwille. Sie hatten etwas Unzüchtiges an sich. Das war wohl der richtige Vergleich. Und etwas Unzüchtiges lag auch in dem Eindrucke verrenkter Bewegungen, den der Körper machte. In den Händen schien es sich nur gewissermaßen anzusammeln und schien von ihnen wie das Vorgefühl einer Berührung auszustrahlen, das Törleß einen ekligen Schauer über die Haut jagte. Er war selbst über seinen Einfall verwundert und ein wenig erschrocken. Denn schon zum zweitenmal an diesem Tage geschah es, daß sich etwas Geschlechtliches unvermutet und ohne rechten Zusammenhang zwischen seine Gedanken drängte.

Beineberg hatte sich eine Zeitung genommen und Törleß konnte ihn jetzt genau betrachten.

Da war tatsächlich kaum etwas zu finden, das dem plötzlichen Auftauchen einer solchen Ideenverknüpfung auch nur einigermaßen hätte zur Entschuldigung dienen können.

Und doch wurde das Mißbehagen aller Unbegründung zu Trotz immer lebhafter. Es waren noch keine zehn Minuten des Schweigens zwischen den beiden verstrichen und dennoch fühlte Törleß seinen Widerwillen bereits auf das äußerste gesteigert. Eine Grundstimmung, Grundbeziehung zwischen ihm und Beineberg schien sich darin zum ersten Male zu äußern, ein immer schon lauernd dagewesenes Mißtrauen schien mit einem Male in das bewußte Empfinden aufgestiegen zu sein.

Die Situation zwischen den beiden spitzte sich immer mehr zu. Beleidigungen, für die er keine Worte wußte, drängten sich Törleß auf. Eine Art Scham, so als ob zwischen ihm und Beineberg wirklich etwas vorgefallen wäre, versetzte ihn in Unruhe. Seine Finger begannen unruhig auf der Tischplatte zu trommeln.

– –   –   –   –   –   –   –   –   –   –   –   –  –

Endlich sah er, um diesen sonderbaren Zustand loszuwerden, wieder zum Fenster hinaus.

Beineberg blickte jetzt von der Zeitung auf; dann las er irgendeine Stelle vor, legte das Blatt weg und gähnte.

Mit dem Schweigen war auch der Zwang gebrochen, der auf Törleß gelastet hatte. Belanglose Worte rannen nun vollends über diesen Augenblick hinweg und verlöschten ihn. Es war ein plötzliches Aufhorchen gewesen, dem nun wieder die alte Gleichgültigkeit folgte . . .

»Wie lange haben wir noch Zeit?« fragte Törleß.

»Zweieinhalb Stunden.«

Dann zog er fröstelnd die Schultern hoch. Er fühlte wieder die lähmende Gewalt der Enge, der es entgegenging. Der Stundenplan, der tägliche Umgang mit den Freunden. Selbst jener Widerwille gegen Beineberg wird nicht mehr sein, der für einen Augenblick eine neue Situation geschaffen zu haben schien.

». . . Was gibt es heute zum Abendessen?«

»Ich weiß nicht.«

»Was für Gegenstände haben wir morgen?«

»Mathematik.«

»Oh? Haben wir etwas auf?«

»Ja, ein paar neue Sätze aus der Trigonometrie; doch du wirst sie treffen, es ist nichts Besonderes an ihnen.«

»Und dann?«

»Religion.«

»Religion? Ach ja. Das wird wieder etwas werden . . . Ich glaube, wenn ich so recht im Zug bin, könnte ich gerade so gut beweisen, daß zweimal zwei fünf ist, wie daß es nur einen Gott geben kann . . .«

Beineberg blickte spöttisch zu Törleß auf. »Du bist darin überhaupt komisch; mir scheint fast, daß es dir selbst Vergnügen bereitet; wenigstens glänzt dir der Eifer nur so aus den Augen . . .«

»Warum nicht?! Ist es nicht hübsch? Es gibt immer einen Punkt dabei, wo man dann nicht mehr weiß, ob man noch lügt oder ob das, was man erfunden hat, wahrer ist als man selber.«

»Wieso?«

»Nun, ich meine es ja nicht wörtlich. Man weiß ja gewiß immer, daß man schwindelt; aber trotzdem erscheint einem selbst die Sache mitunter so glaubwürdig, daß man gewissermaßen, von seinen eigenen Gedanken gefangen genommen, still steht.«

»Ja, aber was bereitet dir denn daran Vergnügen?«

»Eben dies. Es geht einem so ein Ruck durch den Kopf, ein Schwindel, ein Erschrecken . . .«

»Ach hör auf, das sind Spielereien.«

»Ich habe ja nicht das Gegenteil behauptet. Aber jedenfalls ist mir dies in der ganzen Schule noch das Interessanteste.«

»Es ist so eine Art mit dem Gehirn zu turnen; aber es hat doch keinen rechten Zweck.«

»Nein«, sagte Törleß und sah wieder in den Garten hinaus. In seinem Rücken – ferne – hörte er die Gasflammen summen. Er verfolgte ein Gefühl, das melancholisch, wie ein Nebel, in ihm aufstieg.

»Es hat keinen Zweck. Du hast recht. Aber man darf sich das gar nicht sagen. Von alldem, das wir den ganzen Tag lang in der Schule tun, – was davon hat eigentlich einen Zweck? Wovon hat man etwas? Ich meine etwas für sich haben – du verstehst? Man weiß am Abend, daß man wieder einen Tag gelebt hat, daß man so und so viel gelernt hat, man hat dem Stundenplan genügt, aber man ist dabei leer geblieben, – innerlich meine ich, man hat sozusagen einen ganz innerlichen Hunger . . .«

Beineberg brummte etwas von Üben, Geist vorbereiten – noch nichts anfangen können – später . . .

»Vorbereiten? Üben? Wofür denn? Weißt du etwas Bestimmtes? Du hoffst vielleicht auf etwas, aber auch dir ist es ganz ungewiß. Es ist so: Ein ewiges Warten auf etwas, von dem man nichts anderes weiß, als daß man darauf wartet . . . Das ist so langweilig . . .«

»Langweilig . . .« dehnte Beineberg nach und wiegte mit dem Kopfe.

Törleß sah noch immer in den Garten. Er glaubte das Rascheln der welken Blätter zu hören, die der Wind zusammentrug. Dann kam jener Augenblick intensivster Stille, der stets dem völligen Dunkelwerden kurz voran geht. Die Formen, welche sich immer tiefer in die Dämmerung gebettet hatten, und die Farben, welche zerflossen, schienen für Sekunden still zu stehen, den Atem anzuhalten . . .

»Höre, Beineberg,« sprach Törleß, ohne sich zurückzuwenden, »es muß während des Dämmerns immer einige Augenblicke geben, die ganz eigener Art sind. So oft ich es beobachte, kehrt mir dieselbe Erinnerung wieder. Ich war noch sehr klein, als ich um diese Stunde einmal im Walde spielte. Das Dienstmädchen hatte sich entfernt, ich wußte das nicht und glaubte es noch in meiner Nähe zu empfinden. Plötzlich zwang mich etwas aufzusehen. Ich fühlte, daß ich allein sei. Es war plötzlich so still. Und als ich um mich blickte, war mir, als stünden die Bäume schweigend im Kreise und sähen mir zu. Ich weinte; ich fühlte mich so verlassen von den Großen, den leblosen Geschöpfen preisgegeben . . . Was ist das? Ich fühle es häufig wieder. Dieses plötzliche Schweigen, das wie eine Sprache ist, die wir nicht hören?«

»Ich kenne das nicht, was du meinst; aber warum sollten nicht die Dinge eine Sprache haben? Können wir doch nicht einmal mit Bestimmtheit behaupten, daß ihnen keine Seele zukommt!«

Törleß gab keine Antwort. Beinebergs spekulative Auffassung behagte ihm nicht.

Nach einer Weile begann aber dieser: »Warum siehst du noch fortwährend zum Fenster hinaus? Was findest denn du daran?«

»Ich denke noch immer nach, was das sein mag?« In Wahrheit hatte er aber bereits an etwas Weiteres gedacht, was er nur nicht eingestehen wollte. Die hohe Anspannung, das Lauschen auf ein ernstes Geheimnis und die Verantwortung, mitten in noch unbeschriebene Beziehungen des Lebens zu blicken, hatte er nur für einen Augenblick aushalten können. Dann war wieder jenes Gefühl des Allein und Verlassenseins über ihn gekommen, das stets dieser zu hohen Anforderung folgte. Er fühlte: hierin liegt etwas, das jetzt noch zu schwer für mich ist, und seine Gedanken flüchteten zu etwas anderem, das auch darin lag, aber gewissermaßen nur im Hintergrunde und auf der Lauer: Die Einsamkeit.

Aus dem verlassenen Garten tanzte hie und da ein Blatt an das erleuchtete Fenster und riß auf seinem Rücken einen hellen Streifen in das Dunkel hinein. Dieses schien auszuweichen, sich zurückzuziehen, um im nächsten Augenblicke wieder vorzurücken und unbeweglich wie eine Mauer vor den Fenstern zu stehen. Es war eine Welt für sich, dieses Dunkel. Wie ein Schwarm schwarzer Feinde war es über die Erde gekommen und hatte die Menschen erschlagen oder vertrieben oder was immer getan, das jede Spur von ihnen auslöschte.

Und Törleß schien es, daß er sich darüber freue. Er mochte in diesem Augenblick die Menschen nicht, die Großen und Erwachsenen. Er mochte sie nie, wenn es dunkel war. Er war gewöhnt sich dann die Menschen wegzudenken. Die Welt erschien ihm danach wie ein leeres, finsteres Haus und in seiner Brust war ein Schauer, als sollte er nun von Zimmer zu Zimmer suchen – dunkle Zimmer, von denen man nicht wußte, was ihre Ecken bargen – tastend über die Schwellen schreiten, die keines Menschen Fuß außer dem seinen mehr betreten sollte, bis – in einem Zimmer sich die Türen plötzlich vor und hinter ihm schlössen und er der Herrin selbst der schwarzen Scharen gegenüberstünde. Und in diesem Augenblicke würden auch die Schlösser aller anderen Türen zufallen, durch die er gekommen, und nur weit vor den Mauern würden die Schatten der Dunkelheit wie schwarze Eunuchen auf Wache stehen und die Nähe der Menschen fernhalten.

Das war seine Art der Einsamkeit, seit man ihn damals im Stiche gelassen hatte, – im Walde, wo er so weinte. Sie hatte für ihn den Reiz eines Weibes und einer Unmenschlichkeit. Er fühlte sie als eine Frau, aber ihr Atmen war nur ein Würgen in seiner Brust, ihr Gesicht ein wirbelndes Vergessen aller menschlichen Gesichter und die Bewegungen ihrer Hände Schauer, die ihm über den Leib jagten . . .

Er fürchtete diese Phantasie, denn er war sich ihrer ausschweifenden Heimlichkeit bewußt, und der Gedanke, daß solche Vorstellungen immer mehr Herrschaft über ihn gewinnen könnten, beunruhigte ihn. Aber gerade dann, wenn er sich am ernstesten und reinsten glaubte, überkamen sie ihn. Man könnte sagen, als eine Reaktion auf diese Augenblicke, wo er empfindsame Erkenntnisse ahnte, die sich zwar in ihm schon vorbereiteten, aber seinem Alter noch nicht entsprachen. Denn in der Entwicklung einer jeden feinen moralischen Kraft gibt es einen solchen frühen Punkt, wo sie die Seele schwächt, deren kühnste Erfahrung sie einst vielleicht sein wird, – so als ob sich ihre Wurzeln erst suchend senken und den Boden zerwühlen müßten, den sie nachher zu stützen bestimmt sind, – weswegen Jünglinge mit großer Zukunft meist eine an Demütigungen reiche Vergangenheit besitzen.

Törleßʼ Vorliebe für gewisse Stimmungen war die erste Andeutung einer seelischen Entwicklung, die sich später als ein Talent des Staunens äußerte. Späterhin wurde er nämlich von einer eigentümlichen Fähigkeit geradezu beherrscht. Er war dann gezwungen, Ereignisse, Menschen, Dinge, ja sich selbst häufig so zu empfinden, daß er dabei das Gefühl sowohl einer unauflöslichen Unverständlichkeit als einer unerklärlichen, nie völlig zu rechtfertigenden Verwandtschaft hatte. Sie schienen ihm zum Greifen verständlich zu sein und sich doch nie restlos in Worte und Gedanken auflösen zu lassen. Zwischen den Ereignissen und seinem Ich, ja zwischen seinen eigenen Gefühlen und irgendeinem innersten Ich, das nach ihrem Verständnis begehrte, blieb immer eine Scheidelinie, die wie ein Horizont vor seinem Verlangen zurückwich, je näher er ihr kam. Ja, je genauer er seine Empfindungen mit den Gedanken umfaßte, je bekannter sie ihm wurden, desto fremder und unverständlicher schienen sie ihm gleichzeitig zu werden, so daß es nicht einmal mehr schien, als ob sie vor ihm zurückwichen, sondern als ob er selbst sich von ihnen entfernen würde, und doch die Einbildung, sich ihnen zu nähern, nicht abschütteln könnte.

Dieser merkwürdige, schwer zugängliche Widerspruch füllte später eine weite Strecke seiner geistigen Entwicklung, er schien seine Seele zerreißen zu wollen und bedrohte sie lange als ihr oberstes Problem.

Vorläufig kündigte sich die Schwere dieser Kämpfe aber nur in einer häufigen plötzlichen Ermüdung an und schreckte Törleß gleichsam schon von ferne, sobald ihm aus irgendeiner fragwürdig sonderbaren Stimmung – wie vorhin – eine Ahnung davon wurde. Er kam sich dann so kraftlos vor wie ein Gefangener und Aufgegebener, gleichermaßen von sich wie von den anderen Abgeschlossener; er hätte schreien mögen vor Leere und Verzweiflung und statt dessen wandte er sich gleichsam von diesem ernsten und erwartungsvollen, gepeinigten und ermüdeten Menschen in sich ab und lauschte – noch erschrocken von diesem jähen Verzichten und schon entzückt von ihrem warmen, sündigen Atem – auf die flüsternden Stimmen, welche die Einsamkeit für ihn hatte – – – – – – –

Törleß machte plötzlich den Vorschlag zu zahlen. In Beinebergs Augen blitzte ein Verstehen auf; er kannte die Stimmung. Törleß war dieses Einverständnis zuwider; seine Abneigung gegen Beineberg wurde wieder lebendig und er fühlte sich durch die Gemeinschaft mit ihm geschändet.

Aber das gehörte fast schon mit dazu. Das Schändliche ist eine Einsamkeit mehr und eine neue finstere Mauer.

Und ohne miteinander zu sprechen, schlugen sie einen bestimmten Weg ein.


Es mußte in den letzten Minuten ein leichter Regen gefallen sein, – die Luft war feucht und schwer, um die Laternen zitterte ein bunter Nebel und die Bürgersteige glänzten stellenweise auf.

Törleß nahm den Degen, der aufs Pflaster schlug, eng an den Leib, allein selbst das Geräusch der aufklappernden Absätze durchrieselte ihn eigentümlich.

Nach einer Weile hatten sie weichen Boden unter den Füßen, sie entfernten sich von der inneren Stadt und schritten durch breite Dorfstraßen dem Flusse zu.

Dieser wälzte sich schwarz und träge, mit tiefen, glucksenden Lauten unter der hölzernen Brücke. Eine einzige Laterne, mit verstaubten und zerschlagenen Scheiben, stand da. Der Schein des unruhig vor den Windstößen sich duckenden Lichtes fiel dann und wann auf eine treibende Welle und zerfloß auf ihrem Rücken. Die runden Streuhölzer gaben unter jedem Schritte nach . . . rollten vor und wieder zurück . . .

Beineberg stand still. Das jenseitige Ufer war mit dichten Bäumen bestanden, welche, da die Straße rechtwinkelig abbog und längs des Wassers weiter führte, wie eine schwarze, undurchdringliche Mauer drohten. Erst nach vorsichtigem Suchen fand sich ein schmaler, versteckter Weg, der geradeaus hineinführte. Von dem dichten, üppig wuchernden Unterholze, an das die Kleider streiften, ging jedesmal ein Schauer von Tropfen nieder. Nach einer Weile mußten sie wieder stehen bleiben und ein Streichholz anreiben. Es war ganz still, sogar das Gurgeln des Flusses war nicht mehr zu hören. Plötzlich kam von ferne ein unbestimmter, gebrochener Ton zu ihnen. Er hörte sich wie ein Schrei oder eine Warnung an. Oder auch wie der bloße Zuruf eines unverständlichen Geschöpfes, das irgendwo gleich ihnen durch die Büsche brach. Sie schritten auf den Ton zu, blieben stehen, schritten wieder weiter. Im ganzen mochte es wohl eine Viertelstunde gedauert haben, als sie aufatmend laute Stimmen und die Klänge einer Ziehharmonika unterschieden.

Zwischen den Bäumen wurde es nun lichter, und nach wenigen Schritten standen sie am Rande einer Blöße, in deren Mitte ein quadratisches, zwei Stock hohes Gebäude massig aufgebaut war.

Es war das alte Badhaus. Seinerzeit von den Bürgern des Städtchens und den Bauern der Umgegend als Heilstätte benützt, stand es jetzt schon seit Jahren fast leer. Nur in seinem Erdgeschosse bot es einem verrufenen Wirtshause Unterkunft.

Die beiden standen einen Augenblick still und horchten hinüber.

Eben setzte Törleß den Fuß vor, um aus dem Gebüsch herauszutreten, als drüben schwere Stiefel auf der Diele des Flures knarrten und ein Betrunkener mit unsicheren Schritten ins Freie trat. Hinter ihm, in dem Schatten des Flurs, stand ein Weib und man hörte es mit hastender, zorniger Stimme etwas flüstern, so als ob es etwas von ihm forderte. Der Mann lachte dazu und wiegte sich in den Beinen. Dann kam es wie ein Bitten herüber. Aber auch das konnte man nicht verstehen. Nur der schmeichelnde, zuredende Klang der Stimme war fühlbar. Das Weib trat jetzt weiter heraus und legte dem Manne eine Hand auf die Schulter. Der Mond beleuchtete sie, – ihren Unterrock, ihre Jacke, ihr bittendes Lächeln. Der Mann sah geradeaus, schüttelte mit dem Kopfe und hielt die Hände fest in den Taschen. Dann spuckte er aus und stieß das Weib weg. Es mochte wohl irgend etwas gesagt haben. Nun konnte man auch ihre Stimmen verstehen, die lauter geworden waren.

». . . Du willst also nichts geben? Du . . .!«

»Schau, daß du hinaufkommst, du Dreckfink!«

»Was? So ein Bauernlümmel!«

Zur Antwort klaubte der Trunkene mit schwerfälliger Bewegung einen Stein auf: »Wenn du nicht gleich abfahrst, du dummes Mensch, so schlagʼ ich dir den Buckel ein!« und er holte zum Wurfe aus. Törleß hörte das Weib mit einem letzten Schimpfworte die Stiege hinaufflüchten.

Der Mann stand eine Weile still und hielt unschlüssig den Stein in der Hand. Er lachte; sah nach dem Himmel, wo zwischen schwarzen Wolken weingelb der Mond schwamm; dann glotzte er die dunkle Hecke der Gebüsche an, als überlege er darauf loszugehen. Törleß zog vorsichtig den Fuß zurück, er fühlte sein Herz bis zum Halse hinauf schlagen. Endlich schien sich der Trunkene doch besonnen zu haben. Seine Hand ließ den Stein fallen. Mit rohem, triumphierendem Lachen rief er eine grobe Unanständigkeit zu dem Fenster hinauf, dann drückte er sich um die Ecke.

Die beiden standen noch immer bewegungslos. »Hast du sie erkannt?« flüsterte Beineberg; »es war Božena.« Törleß gab keine Antwort; er horchte, ob der Betrunkene nicht wiederkehre. Dann wurde er von Beineberg vorwärts geschoben. Mit raschen, vorsichtigen Sätzen waren sie – an dem Lichtschein, der keilförmig durch die Fenster des Erdgeschosses fiel, vorbei – in dem dunklen Hausflur. Eine hölzerne Treppe führte in engen Windungen in das erste Stockwerk hinauf. Hier mußte man ihre Schritte auf den knarrenden Stufen gehört haben, oder hatte ein Degen gegen das Holz geschlagen: – die Türe der Schankstube wurde geöffnet und jemand kam nachsehen, wer im Hause sei, während die Ziehharmonika plötzlich schwieg und das Gewirr der Stimmen einen Augenblick wartend aussetzte.

Törleß preßte sich erschrocken um die Windung der Stiege. Aber man schien ihn trotz des Dunkels bemerkt zu haben, denn er hörte die spöttische Stimme der Kellnerin, während die Türe wieder geschlossen wurde, irgend etwas sagen, worauf ein unbändiges Gelächter folgte.

Auf dem Treppenabsatz des ersten Stockwerkes war es völlig finster. Weder Törleß noch Beineberg trauten sich einen Schritt vorwärts zu tun, ungewiß, ob sie nicht etwas umwerfen und dadurch Lärm verursachen würden. Von der Aufregung angetrieben, suchten sie mit hastenden Fingern nach der Türklinke.

– –   –   –   –   –   –   –   –   –   –   –   –  –

Božena war als Bauernmädchen in die Großstadt gekommen, wo sie in Dienst trat und später Kammerzofe wurde.

Es ging ihr anfangs ganz gut. Die bäurische Art, welche sie so wenig ganz abstreifte wie ihren breiten, festen Gang, sicherte ihr das Vertrauen ihrer Herrinnen, welche an diesem Kuhstalldufte ihres Wesens seine Einfalt liebten, und die Liebe ihrer Herren, welche daran das parfum schätzten. Wohl nur aus Laune, vielleicht auch aus Unzufriedenheit und dumpfer Sehnsucht nach Leidenschaft gab sie dieses bequeme Leben auf. Sie wurde Kellnerin, erkrankte, fand in einem eleganten öffentlichen Hause Unterkommen und wurde allgemach, in dem Maße, wie das Lotterleben sie verbrauchte, wieder – und immer weiter – in die Provinz hinausgespült.

Hier endlich, wo sie nun schon seit mehreren Jahren wohnte, nicht weit von ihrem Heimatsdorfe, half sie untertags in der Wirtschaft mit und las des Abends billige Romane, rauchte Zigaretten und empfing hie und da den Besuch eines Mannes.

Sie war noch nicht geradezu häßlich geworden, aber ihr Gesicht entbehrte in auffallender Weise jeglicher Anmut, und sie gab sich förmlich Mühe, dies durch ihr Wesen noch mehr zur Geltung zu bringen. Sie ließ mit Vorliebe durchblicken, daß sie die Eleganz und das Getriebe der vornehmen Welt sehr wohl kenne, nunmehr aber darüber hinaus sei. Sie äußerte gerne, daß sie darauf, wie auf sich selbst, wie überhaupt auf alles pfeife. Trotz ihrer Verwahrlosung genoß sie deswegen ein gewisses Ansehen bei den Bauernsöhnen der Umgebung. Sie spuckten zwar aus, wenn sie von ihr sprachen, und fühlten sich verpflichtet, mehr noch als gegen andere Mädchen grob gegen sie zu sein, im Grunde waren sie aber doch ganz gewaltig stolz auf dieses »verfluchte Mensch«, das aus ihnen hervorgegangen war und der Welt so durch den Lack geguckt hatte. Einzeln zwar und verstohlen, aber doch immer wieder kamen sie, sich mit ihr zu unterhalten. Dadurch fand Božena einen Rest von Stolz und Rechtfertigung in ihrem Leben. Eine vielleicht noch größere Genugtuung bereiteten ihr aber die jungen Herren aus dem Institute. Gegen sie kehrte sie absichtlich ihre rohesten und häßlichsten Eigenschaften heraus, weil diese – wie sie sich auszudrücken pflegte – ja trotzdem gerade so zu ihr gekrochen kommen würden.

Als die beiden Freunde eintraten, lag sie wie gewöhnlich rauchend und lesend auf ihrem Bette.

Törleß sog, noch in der Türe stehend, mit begierigen Augen ihr Bild in sich ein.

»Gott, was für süße Buben kommen denn da?« rief sie spöttisch den Eintretenden entgegen, die sie ein wenig verächtlich musterte. »Je, du Baron? Was wird denn die Mama dazu sagen?!« – Das war solch ein Anfang nach ihrer Art.

»Aber haltʼs . . .« brummte Beineberg und setzte sich zu ihr aufs Bett. Törleß setzte sich abseits; er ärgerte sich, weil Božena sich nicht um ihn bekümmerte und tat, als ob sie ihn nicht kennte.

Die Besuche bei diesem Weib waren in der letzten Zeit zu seiner einzigen und geheimen Freude geworden. Gegen Ende der Woche wurde er schon unruhig und konnte den Sonntag nicht erwarten, wo er am Abend zu ihr schlich. Hauptsächlich dieses Sicheinschleichenmüssen beschäftigte ihn. Wenn es zum Beispiel vorhin den trunkenen Burschen in der Schankstube eingefallen wäre, auf ihn Jagd zu machen? Aus bloßer Lust, dem lasterhaften jungen Herrchen eins auszuwischen? Er war nicht feig, aber er wußte, daß er hier wehrlos sei. Der zierliche Degen kam ihm entgegen diesen groben Fäusten wie ein Spott vor. Außerdem die Schande und die Strafe, die er zu gewärtigen hätte! Es bliebe ihm nur übrig zu fliehen oder sich aufs Bitten zu verlegen. Oder sich von Božena schützen zu lassen. Der Gedanke durchrieselte ihn. Aber das war es! Nur das! Nichts anderes! Diese Angst, dieses Sichaufgeben lockte ihn jedesmal von neuem. Dieses Heraustreten aus seiner bevorzugten Stellung unter die gemeinen Leute; unter sie – tiefer als sie!

Er war nicht lasterhaft. Bei der Ausführung überwogen stets der Widerwille gegen sein Beginnen und die Angst vor den möglichen Folgen. Nur seine Phantasie war in eine ungesunde Richtung gebracht. Wenn sich die Tage der Woche bleiern einer nach dem andern über sein Leben legten, fingen diese beizenden Reize an, ihn zu locken. Aus den Erinnerungen an seine Besuche bildete sich eine eigenartige Verführung heraus. Božena erschien ihm als ein Geschöpf von ungeheuerlicher Niedrigkeit und sein Verhältnis zu ihr, die Empfindungen, die er dabei zu durchlaufen hatte, als ein grausamer Kultus der Selbstaufopferung. Es reizte ihn, alles zurücklassen zu müssen, worin er sonst eingeschlossen war, seine bevorzugte Stellung, die Gedanken und Gefühle, die man ihm einimpfte, all das, was ihm nichts gab und ihn erdrückte. Es reizte ihn, nackt, von allem entblößt, in rasendem Laufe zu diesem Weibe zu flüchten.

Das war nicht anders als bei jungen Leuten überhaupt. Wäre Božena rein und schön gewesen und hätte er damals lieben können, so hätte er sie vielleicht gebissen, ihr und sich die Wollust bis zum Schmerz gesteigert. Denn die erste Leidenschaft des erwachsenden Menschen ist nicht Liebe zu der einen, sondern Haß gegen alle. Das sich unverstanden Fühlen und das die Welt nicht Verstehen begleitet nicht die erste Leidenschaft, sondern ist ihre einzige nicht zufällige Ursache. Und sie selbst ist eine Flucht, auf der das Zuzweiensein nur eine verdoppelte Einsamkeit bedeutet.

Fast jede erste Leidenschaft dauert nicht lange und hinterläßt einen bitteren Nachgeschmack. Sie ist ein Irrtum, eine Enttäuschung. Man versteht sich hinterher nicht und weiß nicht, was man beschuldigen soll. Dies kommt, weil die Menschen in diesem Drama einander zum größeren Teile zufällig sind: Zufallsgefährten auf einer Flucht. Nach der Beruhigung erkennen sie sich nicht mehr. Sie bemerken aneinander Gegensätze, weil sie das Gemeinsame nicht mehr bemerken.

Bei Törleß war es nur darum anders, daß er allein war. Die alternde, erniedrigte Prostituierte vermochte nicht alles in ihm auszulösen. Doch war sie soweit Weib, daß sie Teile seines Inneren, die wie reifende Keime noch auf den befruchtenden Augenblick warteten, gleichsam frühzeitig an die Oberfläche riß.

Das waren dann seine sonderbaren Vorstellungen und phantastischen Verführungen. Fast ebenso nahe lag es ihm aber manchmal, sich auf die Erde zu werfen und vor Verzweiflung zu schreien.

– –   –   –   –   –   –   –   –   –   –   –   –  –

Božena bekümmerte sich noch immer nicht um Törleß. Sie schien es aus Bosheit zu tun, bloß um ihn zu ärgern. Plötzlich unterbrach sie ihr Gespräch: »Gebt mir Geld, ich werde Tee und Schnaps holen.«

Törleß gab ihr eines der Silberstücke, die er am Nachmittage von seiner Mutter erhalten hatte.

Sie holte vom Fensterbrett einen zerbeulten Schnellsieder und zündete den Spiritus an; dann stieg sie langsam und schlürfend die Treppe hinunter.

Beineberg stieß Törleß an. »Warum bist du denn so fad? Sie wird denken, du traust dich nicht.«

»Laß mich aus dem Spiel,« bat Törleß, »ich bin nicht aufgelegt. Unterhalte nur du dich mit ihr. Was will sie übrigens fortwährend mit deiner Mutter?«

»Seit sie weiß, wie ich heiße, behauptet sie, einmal bei meiner Tante in Dienst gewesen zu sein und meine Mutter gekannt zu haben. Zum Teil scheint es wohl wahr zu sein, zum Teil lügt sie aber sicher – rein zum Vergnügen: obwohl ich nicht recht verstehe, was ihr daran Spaß macht.«

Törleß wurde rot; ein merkwürdiger Gedanke war ihm eingefallen. – Da kam aber Božena mit dem Schnaps zurück und setzte sich wieder neben Beineberg aufs Bett. Sie griff auch gleich wieder das frühere Gespräch auf.

». . . Ja, deine Mama war ein schönes Mädchen. Du siehst ihr eigentlich gar nicht ähnlich, mit deinen abstehenden Ohren. Auch lustig war sie. Mehr als einer wird sie sich wohl in den Kopf gesetzt haben. Recht hat sie gehabt.«

Nach einer Pause schien ihr etwas besonders Lustiges eingefallen zu sein: »Dein Onkel, der Dragoneroffizier, weißt du? Karl hat er glaube ich geheißen, er war ein Kousin deiner Mutter, der hat ihr damals den Hof gemacht! Aber Sonntags, wenn die Damen in der Kirche waren, ist er mir nachgestiegen. Alle Augenblicke habe ich ihm etwas anderes aufs Zimmer bringen müssen. Fesch war er, das weiß ich heute noch, nur hat er sich so gar nicht geniert . . .« Sie begleitete diese Worte mit einem vielsagenden Lachen. Dann verbreitete sie sich weiter über dieses Thema, das ihr augenscheinlich besonderes Vergnügen bereitete. Ihre Worte waren familiär, und sie brachte sie mit einem Ausdruck vor, der jedes einzelne beschmutzen zu wollen schien. ». . . Ich meine, er hat auch deiner Mutter gefallen. Wenn sie das nun gewußt hätte! Ich glaube, deine Tante hätte mich und ihn aus dem Hause schmeißen müssen. So sind nun einmal die feinen Damen, gar wenn sie noch keinen Mann haben. Liebe Božena das und liebe Božena jenes – so ist es den ganzen Tag gegangen. Als aber die Köchin in die Hoffnung kam, da hättest duʼs hören sollen! Ich glaube gar, sie meinten, daß sich unsereins nur einmal im Jahr die Füße wasche. Der Köchin sagten sie zwar nichts, aber ich konnte es hören, wenn ich im Zimmer bediente und sie gerade davon sprachen. Deine Mutter machte ein Gesicht, als möchte sie am liebsten nur Kölnerwasser trinken. Dabei hatte deine Tante gar nicht lange danach selbst einen Bauch bis zur Nase . . .«

Während Božena sprach, fühlte sich Törleß ihren gemeinen Anspielungen fast wehrlos preisgegeben.

Was sie schilderte, sah er lebendig vor sich. Beinebergs Mutter wurde zu seiner eigenen. Er erinnerte sich der hellen Räume der elterlichen Wohnung. Der gepflegten, reinen, unnahbaren Gesichter, die ihm zu Hause bei den Diners oft eine gewisse Ehrfurcht eingeflößt hatten. Der vornehmen, kühlen Hände, die sich selbst beim Essen nichts zu vergeben schienen. Eine Menge solcher Einzelheiten fiel ihm ein und er schämte sich, hier in einem kleinen übelriechenden Zimmer zu sein und mit einem Zittern auf die demütigenden Worte einer Dirne zu antworten. Die Erinnerung an die vollendete Manier dieser nie formvergessenen Gesellschaft wirkte stärker auf ihn als alle moralische Überlegung. Das Wühlen seiner dunklen Leidenschaften kam ihm lächerlich vor. Mit visionärer Eindringlichkeit sah er eine kühle, abwehrende Handbewegung, ein chokiertes Lächeln, mit dem man ihn wie ein kleines unsauberes Tier von sich weisen würde. Trotzdem blieb er wie festgebunden auf seinem Platze sitzen.

Mit jeder Einzelheit, deren er sich erinnerte, wuchs nämlich neben der Scham auch eine Kette häßlicher Gedanken in ihm groß. Sie hatte begonnen, als Beineberg die Erläuterung zu Boženas Gespräch gab, worauf Törleß errötet war.

Er hatte damals plötzlich an seine eigene Mutter denken müssen, und dies hielt nun fest und war nicht loszubekommen. Es war ihm nur so durch die Grenzen des Bewußtseins geschossen – blitzschnell oder undeutlich weit – am Rande – nur wie im Fluge gesehen – kaum ein Gedanke zu nennen. Und hastig war darauf eine Reihe von Fragen gefolgt, die es verdecken sollten: ›Was ist es, das es ermöglicht, daß diese Božena ihre niedrige Existenz an die meiner Mutter heranrücken kann? Daß sie sich in der Enge desselben Gedankens an jene herandrängt? Warum berührt sie nicht mit der Stirne die Erde, wenn sie schon von ihr sprechen muß? Warum ist es nicht wie durch einen Abgrund zum Ausdruck gebracht, daß hier gar keine Gemeinsamkeit besteht? Denn, wie ist es doch? Dieses Weib ist für mich ein Knäuel aller geschlechtlichen Begehrlichkeiten; und meine Mutter ein Geschöpf, das bisher in wolkenloser Entfernung, klar und ohne Tiefen, wie ein Gestirn jenseits alles Begehrens durch mein Leben wandelte . . .‹

Aber alle diese Fragen waren nicht das Eigentliche. Berührten es kaum. Sie waren etwas Sekundäres; etwas, das Törleß erst nachträglich eingefallen war. Sie vervielfältigten sich nur, weil keine das Rechte bezeichnete. Sie waren nur Ausflüchte, Umschreibungen der Tatsache, daß vorbewußt, plötzlich, instinktiv ein seelischer Zusammenhang gegeben war, der sie vor ihrem Entstehen schon in bösem Sinne beantwortet hatte. Törleß sättigte sich mit den Augen an Božena und konnte dabei seiner Mutter nicht vergessen; durch ihn hindurch verkettete die beiden ein Zusammenhang: Alles andere war nur ein sich Winden unter dieser Ideenverschlingung. Diese war die einzige Tatsache. Aber durch die Vergeblichkeit, ihren Zwang abzuschütteln, gewann sie eine fürchterliche, unklare Bedeutung, die wie ein perfides Lächeln alle Anstrengungen begleitete.

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Törleß sah im Zimmer umher, um dies loszuwerden. Aber alles hatte nun schon diese eine Beziehung angenommen. Der kleine eiserne Ofen mit den Rostflecken auf der Platte, das Bett mit den wackligen Pfosten und der gestrichenen Lade, von der die Farbe an vielen Stellen abblätterte, das Bettzeug, das schmutzig durch die Löcher des abgenützten Lakens sah; Božena, ihr Hemd, das von der einen Schulter geglitten war, das gemeine, wüste Rot ihres Unterrockes, ihr breites, schwatzendes Lachen; endlich Beineberg, dessen Benehmen ihm im Vergleich zu sonst wie das eines unzüchtigen Priesters vorkam, der toll geworden, zweideutige Worte in die ernsten Formen eines Gebetes flicht, . . . all das stieß nach der einen Richtung, drängte auf ihn ein und bog seine Gedanken gewaltsam immer wieder zurück.

Nur an einer Stelle fanden seine Blicke, die geschreckt von einem zum andern flüchteten, Frieden. Das war oberhalb der kleinen Gardine. Dort sahen die Wolken vom Himmel herein und reglos der Mond.

Das war, als ob er plötzlich in die frische, ruhige Nachtluft hinausgetreten wäre. Eine Weile wurden alle Gedanken ganz still. Dann kam ihm eine angenehme Erinnerung. Das Landhaus, das sie letzten Sommer bewohnt hatten. Nächte im schweigenden Park. Ein sternzitterndes, samtdunkles Firmament. Die Stimme seiner Mutter aus der Tiefe des Gartens, wo sie mit Papa auf den schwach schimmernden Kieswegen spazieren ging. Lieder, die sie halblaut vor sich hinsang. Aber da, . . . es fuhr ihm kalt durch den Leib, . . . war auch wieder dieses quälende Vergleichen. Was mochten die beiden dabei gefühlt haben? Liebe? Nein, der Gedanke kam ihm jetzt zum erstenmal. Überhaupt war das etwas ganz anderes. Nichts für große und erwachsene Menschen; gar für seine Eltern. Nachts am offenen Fenster sitzen und sich verlassen fühlen, sich anders fühlen als die Großen, von jedem Lachen und von jedem spöttischen Blicke mißverstanden, niemandem erklären können, was man schon bedeute, und sich nach einer sehnen, die das verstünde . . . das ist Liebe! Aber dazu muß man jung und einsam sein. Bei ihnen mußte es etwas anderes gewesen sein; etwas Ruhiges und Gleichmütiges. Mama sang einfach am Abend in dem dunklen Garten und war heiter . . . .

Aber gerade das war es, was Törleß nicht verstand. Die geduldigen Pläne, welche für den Erwachsenen, ohne daß er es merkt, die Tage zu Monaten und Jahren zusammenketten, waren ihm noch fremd. Und ebenso jenes Abgestumpftsein, für das es nicht einmal mehr eine Frage bedeutet, wenn wieder ein Tag zu Ende geht. Sein Leben war auf jeden Tag gerichtet. Jede Nacht bedeutete für ihn ein Nichts, ein Grab, ein Ausgelöschtwerden. Das Vermögen, sich jeden Tag sterben zu legen, ohne sich darüber Gedanken zu machen, hatte er noch nicht erlernt.

Deswegen hatte er immer etwas dahinter vermutet, das man ihm verberge. Die Nächte erschienen ihm wie dunkle Tore zu geheimnisvollen Freuden, die man ihm verheimlicht hatte, so daß sein Leben leer und unglücklich blieb.

Er erinnerte sich an ein eigentümliches Lachen seiner Mutter und sich wie scherzhaft fester an den Arm ihres Mannes Drücken, das er an einem jener Abende beobachtet hatte. Es schien jeden Zweifel auszuschließen. Auch aus der Welt jener Unantastbaren und Ruhigen mußte eine Pforte herüberführen. Und nun, da er wußte, konnte er nur mit jenem gewissen Lächeln daran denken, gegen dessen böses Mißtrauen er sich vergeblich wehrte – – – –

Božena erzählte unterdessen weiter. Törleß hörte mit halber Aufmerksamkeit hin. Sie sprach von einem, der auch fast jeden Sonntag kam . . . »Wie heißt er nur? Er ist aus deinem Jahrgang«.

»Reiting?«

»Nein.«

»Wie sieht er aus?«

»Er ist beiläufig so groß wie der da«, Božena wies auf Törleß, »nur hat er einen etwas zu großen Kopf.«

»Ah, Basini?«

»Ja, ja, so nannte er sich. Er ist sehr komisch. Und nobel; er trinkt nur Wein. Aber dumm ist er. Es kostet ihn eine Menge Geld und er tut nichts als mir erzählen. Er renommiert mit den Liebschaften, die er zu Hause haben will; was er nur davon hat? Ich sehe ja doch, daß er zum erstenmal in seinem Leben bei einem Frauenzimmer ist. Du bist ja auch noch ein Bub, aber du bist frech; er dagegen ist ungeschickt und hat Angst davor, deswegen erzählt er mir lang und breit, wie man als Genußmensch, – ja, so hat er gesagt, – mit Frauen umgehen müsse. Er sagt, alle Weiber seien nichts anderes wert; woher wollt ihr denn das schon wissen?!«

Beineberg grinste sie zur Antwort spöttisch an.

»Ja lachʼ nur!« herrschte ihn Božena belustigt an, »ich habe ihn einmal gefragt, ob er sich denn nicht vor seiner Mutter schämen würde. ›Mutter?. . Mutter?‹ sagte er drauf, ›was ist das? Das existiert jetzt nicht. Das habe ich zu Hause gelassen, bevor ich zu dir ging‹ . . . Ja, mach nur deine langen Ohren auf, so seid ihr! Nette Söhnchen, ihr feinen jungen Herren; eure Mütter könnten mir beinahe leid tun! . . . . . . .«

Bei diesen Worten bekam Törleß wieder die frühere Vorstellung von sich selbst. Wie er alles hinter sich ließ und das Bild seiner Eltern verriet. Und nun mußte er sehen, daß er damit nicht einmal etwas fürchterlich Einsames, sondern nur etwas ganz Gewöhnliches tat. Er schämte sich. Aber auch die anderen Gedanken waren wieder da. Sie tuen es auch! Sie verraten dich! Du hast geheime Mitspieler! Vielleicht ist es bei ihnen irgendwie anders, aber das muß bei ihnen das gleiche sein: eine geheime, fürchterliche Freude. Etwas, in dem man sich mit all seiner Angst vor dem Gleichmaß der Tage ertränken kann. . . . Vielleicht wissen sie sogar mehr . . .?!. . . Etwas ganz Ungewöhnliches? Denn sie sind am Tage so beruhigt; . . und dieses Lachen seiner Mutter?. . als ob sie mit ruhigem Schritte ginge, alle Türen zu schließen. – – – – – – – – – –

In diesem Widerstreite kam ein Augenblick, wo Törleß sich aufgab und sich mit erwürgtem Herzen dem Sturme überließ.

Und gerade in diesem Augenblicke stand Božena auf und trat zu ihm hin.

»Warum spricht denn der Kleine nichts? Hat er Kummer?«

Beineberg flüsterte etwas und lächelte boshaft.

»Was, Heimweh? Ist wohl die Mama weggefahren? Und der garstige Bub läuft gleich zu so einer!«

Božena vergrub zärtlich ihre Hand mit gespreizten Fingern in sein Haar. »Geh, sei nicht dumm. Da gib mir einen Kuß. Die feinen Menschen sind auch nicht von Zuckerwerk«, und sie bog ihm den Kopf zurück.

Törleß wollte etwas sagen, sich zu einem derben Scherze aufraffen, er fühlte, daß jetzt alles davon abhänge, ein gleichgültiges, beziehungsloses Wort zu sagen, aber er brachte keinen Laut heraus. Er starrte mit einem versteinten Lächeln in das wüste Gesicht über dem seinen, in diese unbestimmten Augen, dann begann die Außenwelt klein zu werden, . . . sich immer weiter zurückzuziehen. . . . Für einen Augenblick tauchte das Bild jenes Bauernburschen auf, der den Stein gehoben hatte, und schien ihn zu höhnen. . . . dann war er ganz allein. – – – – – – – – – – –


»Du, ich habʼ ihn«, flüsterte Reiting.

»Wen?«

»Den Spielladendieb.«

Törleß war eben mit Beineberg zurückgekommen. Es war knapp vor der Zeit des Nachtmahls und das diensthabende Aufsichtsorgan schon weggegangen. Zwischen den grünen Tischen hatten sich plaudernde Gruppen gebildet und ein warmes Leben summte und surrte durch den Saal.

Es war das gewöhnliche Schulzimmer mit weißgetünchten Wänden, einem großen schwarzen Kruzifix und den Bildnissen des Herrscherpaares zu seiten der Tafel. Neben dem großen eisernen Ofen, der noch nicht geheizt war, saßen, teils auf dem Podium, teils auf umgelegten Stühlen, die jungen Leute, welche nachmittags das Ehepaar Törleß zur Bahn begleitet hatten. Außer Reiting waren es der lange Hofmeier und Dschjusch, unter welchem Spitznamen ein kleiner polnischer Graf verstanden wurde.

Törleß war einigermaßen neugierig.

Die Spielladen standen im Hintergrunde des Zimmers und waren lange Kästen mit vielen versperrbaren Schubfächern, in denen die Pfleglinge des Institutes ihre Briefe, Bücher, Geld und allen möglichen kleinen Kram aufbewahrten.

Und bereits seit geraumer Zeit klagten einzelne, daß ihnen kleinere Geldbeträge fehlten, ohne daß sie jedoch bestimmte Vermutungen hätten aussprechen können.

Beineberg war der erste, der mit Gewißheit sagen konnte, daß ihm – in der Vorwoche – ein größerer Betrag gestohlen worden sei. Aber nur Reiting und Törleß wußten darum.

Sie hatten die Diener im Verdachte.

»So erzähl doch!« bat Törleß, aber Reiting machte ihm rasch ein Zeichen: »Pst! Später. Es weiß noch niemand davon.«

»Ein Diener?« flüsterte Törleß.

»Nein.«

»So deute doch wenigstens an, wer?«

Reiting wandte sich von den übrigen ab und sagte leise: »B.« Niemand außer Törleß hatte etwas von diesem vorsichtig geführten Gespräche verstanden. Aber auf diesen wirkte die Mitteilung wie ein Überfall. B.? – das konnte nur Basini sein. Und das war doch nicht möglich! Seine Mutter war eine vermögende Dame, sein Vormund Exzellenz. Törleß wollte es nicht glauben und dazwischen schnitt der Gedanke an Boženas Erzählung hindurch.

Er konnte kaum den Augenblick erwarten, da die anderen zum Speisen gingen. Beineberg und Reiting blieben zurück, indem sie vorgaben, noch vom Nachmittage her übersättigt zu sein.

Reiting machte den Vorschlag, doch lieber vorerst »hinauf« zu gehen.

Sie traten auf den Gang hinaus, der sich endlos lang vor dem Lehrsaale dehnte. Die flackernden Gasflammen erhellten ihn nur auf kurze Strecken und die Schritte hallten von Nische zu Nische, wenn man auch noch so leise auftrat . . . .

Vielleicht fünfzig Meter von der Türe entfernt, führte eine Stiege in das zweite Stockwerk, in welchem sich das Naturalienkabinett, noch andere Lehrmittelsammlungen und eine Menge leerstehender Zimmer befanden.

Von hier aus wurde die Treppe schmal und stieg in kurzen, rechtwinklig aneinander stoßenden Absätzen zum Dachboden empor. Und – wie alte Gebäude oft unlogisch, mit einer Verschwendung von Winkeln und unmotivierten Stufen gebaut sind – führte sie noch um ein beträchtliches über das Niveau des Bodens hinaus, so daß es jenseits der schweren, eisernen, versperrten Türe, durch welche sie abgeschlossen war, eigens einer Holzstiege bedurfte, um zu ihm hinab zu gelangen.

Diesseits aber entstand auf diese Weise ein mehrere Meter hoher verlorener Raum, der bis zum Gebälke hinaufreichte. In diesem, der wohl niemals betreten wurde, hatte man alte Kulissen gelagert, die von unvordenklichen Theateraufführungen herrührten.

Das Tageslicht erstickte selbst an hellen Mittagen auf dieser Treppe in einer Dämmerung, die von altem Staube gesättigt war, denn dieser Bodenaufgang, der gegen den Flügel des mächtigen Gebäudes zu lag, wurde fast nie benützt.

Von dem letzten Absatze der Stiege schwang sich Beineberg über das Geländer und ließ sich, indem er sich an dessen Gitterstäben festhielt, zwischen die Kulissen hinunter, welchem Beispiele Reiting und Törleß folgten. Dort konnten sie auf einer Kiste, welche eigens zu diesem Zwecke hingeschafft worden war, festen Fuß fassen und gelangten von ihr mit einem Sprunge auf den Fußboden.

Selbst wenn sich das Auge eines auf der Stiege Stehenden an das Dunkel gewöhnt gehabt hätte, so wäre es ihm doch unmöglich gewesen, von dort aus mehr als ein regelloses Durcheinander zackiger, mannigfach ineinander geschobener Kulissen zu unterscheiden.

Als jedoch Beineberg eine von ihnen ein wenig zur Seite rückte, öffnete sich den unten Stehenden ein schmaler schlauchartiger Durchgang.

Sie versteckten die Kiste, welche ihnen beim Abstiege gedient hatte, und drangen zwischen die Kulissen ein.

Hier wurde es vollständig dunkel und es bedurfte einer sehr genauen Kenntnis des Ortes, um weiterzufinden. Hie und da raschelte eine der großen leinenen Wände, wenn sie gestreift wurde, es rieselte über den Fußboden wie von aufgescheuchten Mäusen, und ein modriger alterTruhenGeruch stäubte auf.

Die drei dieses Weges Gewohnten tasteten sich unendlich vorsichtig, Schritt für Schritt bedacht, nicht an eine der als Fallstrick und Warnsignal über den Boden gespannten Schnüre zu stoßen, vorwärts.

Es verging geraume Zeit, bis sie zu einer kleinen Türe gelangten, welche rechter Hand, knapp vor der den Boden abtrennenden Mauer, angebracht war.

Als Beineberg diese öffnete, befanden sie sich in einem schmalen Raume unterhalb des obersten Stiegenabsatzes, der bei dem Lichte einer kleinen, flackernden Öllampe, welche Beineberg angezündet hatte, abenteuerlich genug aussah.

Die Decke war nur in jenem Teile wagrecht, der unmittelbar unter dem Treppenabsatze lag, und auch hier nur so hoch, daß man knapp aufrecht stehen konnte. Nach rückwärts zu schrägte sie sich aber, dem Profile der Stiege folgend, ab und endigte in einem spitzen Winkel. Mit der diesem gegenüberliegenden Stirnseite stieß der kleine Raum an die dünne Zwischenmauer, welche den Dachboden von dem Stiegenhause trennte und erhielt eine längsseitige natürliche Begrenzung durch das Gemäuer, an dem die Stiege hinaufgeführt war. Bloß die zweite Seitenwand, in welcher die Türe angebracht war, schien erst eigens hinzugekommen zu sein. Sie verdankte wohl der Absicht ihr Entstehen, hier eine kleine Kammer für Geräte zu schaffen, vielleicht auch nur einer Laune des Baumeisters, dem beim Anblicke dieses finsteren Winkels der mittelalterliche Einfall gekommen sein mochte, ihn zu einem Versteck vermauern zu lassen.

Die Verwirrungen des Zöglings Törless

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