Totgeschwiegene Leben

Totgeschwiegene Leben
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UNÜBLICHE LEBENSWEGE Fünf Lebensbilder vergessener Persönlichkeiten von 1750 bis heute: Eine junge Frau tritt ins Kloster ein und wagt so einen Schritt in die Freiheit. Ein Organist, Komponist und Schriftsteller findet erst in der Fremde Anerkennung. Eine Mutter verlässt nach dem Ersten Weltkrieg ihren Mann und ihre acht Kinder und macht sich mit einem österreichischen Offizier davon. Eine Schuldirektorin gerät in politische und ideologische Wirren und fällt in Ungnade. Ein uneheliches Kind wird abgeschoben und entkommt der NS-Euthanasie.
"Totgeschwiegene Leben" wurde im ladinischen Original «Vites scutedes via. Essays letereres» (2020) beim literarischen Wettbewerb «Scribo. Auturs ladins scrí» der ladinischen Kulturabteilung Südtirol ausgezeichnet.

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Rut Bernardi. Totgeschwiegene Leben

Totgeschwiegene Leben

Inhalt

Vorwort

Luzifer, der Lichtträger

Nemo propheta in patria

Der Ledermantel

Opportunismus oder Überlebenskunst?

Der Kirschbaum blüht im Frühling

Anmerkungen. Maria Theresia Sanoner

Matie Ploner

Rosalia Nogler

Anna Maria Wanker

Pepi Demetz

Literarische Quellen und Dokumente. Maria Theresia Sanoner

Matie Ploner

Rosalia Nogler

Anna Maria Wanker

Pepi Demetz

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Rut Bernardi

Literarische Porträts

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Die Gottesanbeterin oder das Maringgele, wie sie von den Bauern genannt wurde, liebte Maria Theresia über alles. Es war das erste Lebewesen, das sie auf Säben willkommen geheißen hatte. Damals hatte sie sich vor der großen eigenartigen Sechsfüßlerin und Neuflüglerin noch gefürchtet, doch mit der Zeit waren sie Freundinnen geworden. Die langanhaltende Reglosigkeit – die Gottesanbeterin verharrte oft stundenlang unbeweglich, um dann blitzschnell mit den langen ausklappbaren Fangbeinen in der Luft eine Fliege zu fangen – faszinierte Maria Theresia genauso, wie die Gottesanbeterin als Tarnung ihre Farbe und Gestalt an die Umgebung so genau anpassen konnte, dass man sie nur selten sah. Wenn Maria Theresia eine entdeckte und sie leise ansprach, drehte diese ihren Kopf mit dem kleinen spitzen Mund in ihre Richtung, schaute sie mit den großen Marsmännchenaugen verwundert an und hörte aufmerksam zu, wie Maria Theresia ihre Schönheit lobte, ihre Bewunderung für die meditative Fähigkeit, im Jetztzustand auszuharren, bekundete und ehrfürchtig beichtete, auf ihrem Gottesweg noch lange nicht so weit zu sein.

So oft Maria Theresia konnte, lief sie die Treppe hinauf, die zur Heilig-Kreuz-Kirche führte. Im beinah rechteckigen, am Morgen lichtdurchfluteten Kirchenschiff überkam sie ein Gefühl von Leichtigkeit und Ruhe. Nur bei Wallfahrten zum wundertätigen Kruzifix der Heilig-Kreuz-Kirche – wie zum Beispiel jene der Gadertaler, die seit Jahrhunderten nach Säben pilgerten, um Beistand gegen Rübenwürmer, Heuschrecken und andere Katastrophen, wie Sonnenfinsternisse, Erdbeben oder den Schwarzen Tod, zu erbitten – füllte sich die Kirche bis auf den letzten Platz. Doch gerade in den ersten Jahren Maria Theresias auf Säben wurde den Gadertalern das Jí en Jeunn, der Gang nach Säben, untersagt. Erst nach dem Tod Josephs II. wurde die Wallfahrt 1792 wieder aufgenommen, und in den Folgejahren wurde sie nur noch im Jahr 1804 durchgeführt. Die Schwestern freuten sich immer so sehr auf den 13. Juni, den Tag des heiligen Antonius, und konnten die Ankunft der Gadertaler kaum erwarten. Maria Theresia war so ergriffen, die Wallfahrer – seit einiger Zeit waren nur noch Männer zugelassen – in ihrer Muttersprache beten zu hören. Sobald sie am Morgen die Pilger auf der orografisch linken Eisackseite aus dem Villnößtal kommen sah, betete sie, wie sie es für sich immer leise tat, auf Ladinisch mit, bis alle die Heilig-Kreuz-Kirche erreicht hatten. Die Schwestern saßen während der heiligen Messe in einem über dem Eingang abgeschirmten Raum, wo man sie nicht sah.

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