verità
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Sara Brändle. verità
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Anker! Mein Dad hat immer gesagt: „Glaube niemals, dass du unwichtig bist. Hinter jedem Leben steckt ein Sinn. Das Leben vieler Menschen wäre leer, wenn du nicht da wärst.“ Nun sitze ich ganz allein in einem schwarzen Raum. Es ist gespenstisch und gefährlich. Wo ist denn da der Sinn geblieben? Ich weiß nicht, was ich hier mache und habe keine Ahnung, wie ich hierhergekommen bin. Niemand ist bei mir und niemand wird mich retten. Die dunklen, eisigen Wände und auch die schwere Decke scheinen immer näher zu kommen, bis sie mich alle zerquetschen werden. Ich beginne am ganzen Körper zu zittern. Ich suche verzweifelt einen Weg, um zu entkommen. Doch ich habe keine Chance. Kraftlos versuche ich die beiden auf mich zukommenden Wände auseinander zu drücken. Schließlich gebe ich auf und mit mir stirbt meine ganze dunkle und kaputte Seele. Schweißgebadet liege ich nun in meinem Bett, als der Wecker klingelt. Ich öffne meine Augen und schaue ins Dunkle. Die Tür öffnet sich und das Licht geht an „Elea, du musst aufstehen“, ruft meine Mum. Doch ich wende meinen Blick nicht von der Decke ab. Sie ist so weiß und farblos. Nur in der Mitte der Decke sind ein paar blaue Farbkleckse. Im Malen mit Farben war ich noch nie sehr begabt und das hat auch meine Decke zu spüren bekommen. Trotzdem wollte ich sie nicht übermalen. Sie gefallen mir irgendwie. Diese wenigen, blauen Farbkleckse sind jeden Morgen das Erste und jeden Abend das Letzte was ich sehe. Da klingelt der Wecker ein zweites Mal und reißt mich aus meinen Gedanken. Jetzt heißt es also aufstehen. Es ist ein Donnerstagmorgen, in der letzten Woche vor den Sommerferien. Donnerstag, ja genau. Der schlimmste Tag der Woche. Aber so ist das Leben. Man kann nichts dagegen tun. Es macht mit einem, was es will. Also stehe ich auf und mache mich fertig für die Schule. Ich ziehe mein neues T-Shirt an, welches ich mir gestern gekauft habe und betrachte mich damit im Spiegel. Es liegt eng an meinem Körper und die braunen Locken, die leicht auf meinen Schultern liegen, passen perfekt dazu. Meine Mum hat mir Frühstück gemacht und ich schlurfe die Treppe hinunter „Guten Morgen“, sagt sie gut gelaunt, während sie in ihrem Pyjama vor dem Herd steht und sich ein Spiegelei zubereitet „Guten Morgen“, gebe ich müde zurück. Genüsslich esse ich mein Müsli und versuche dabei möglichst ernst zu wirken, damit meine Mum kein Gespräch mit mir beginnt. Als ich einen Blick auf die Uhr werfe, bemerke ich, dass ich schon sehr spät dran bin. Deshalb mache ich mich schnell fertig und radle danach mit Höchsttempo in die Schule. Dort angekommen treffe ich Julia. Sie ist meine beste Freundin. Wir machen wirklich alles zusammen. Sie ist wie eine Schwester für mich. Schließlich habe ich ja keine und da ist sie der perfekte Ersatz. Gemeinsam begeben wir uns ins Schulhaus. In den Gängen herrscht Chaos. Schnell laufen wir die Treppen hoch bis ins Klassenzimmer. Heute sieht niemand aus meiner Klasse motiviert aus. Ich glaube, es liegt daran, dass wir alle Ferien verdient haben „Guten Tag alle zusammen“, begrüßt Frau Kramer uns „Dann beginnen wir jetzt mit dem Unterricht“, sagt sie. Und dann spricht sie und spricht und spricht … Ich mag keine Lehrer, die die halbe Unterrichtsstunde schon mit Erzählungen füllen, aber vor den Ferien ist es ein ganz guter Zeitvertreib. Danach gibt es nur noch eine kurze Arbeitszeit und dann wechseln wir auch schon das Klassenzimmer. So geht es weiter bis zur großen Pause. Julia und ich setzen uns auf eine Bank neben der Eingangstür „Hängt bei euch der Haussegen schief oder warum guckst du so?“, frage ich sie „Lena“, sagt sie nur. Lena ist Julias kleine Schwester, die es immer irgendwie hinkriegt, ihre große Schwester auf die Palme zu bringen. „Was hat sie dieses Mal angestellt?“ Ich kann mir echt nicht vorstellen, was dieses kleine Biest nun schon wieder ausgefressen hat. Doch wie erwartet, hat Julia auch heute wieder eine neue Geschichte auf Lager und auch morgen wird es wieder so sein. „Was ist nur los mit dieser Welt, dass sie immer etwas gegen uns hat.“ Ich glaube, das ist auch Julias Gedanke, denn sie hört nicht mehr auf sich zu beklagen, bis sie schließlich von der Schulglocke unterbrochen wird. Im Naturwissenschaftsunterricht nehme ich mein kleines Zeichnungsbuch hervor. Vor allem in diesem Fach zeichne ich, denn da ist es immer besonders langweilig. Heute haben wir Biologie. Unser Lehrer erzählt uns gerade etwas über den menschlichen Körper und dessen Wachstum. Doch das interessiert mich nicht. Gelangweilt nehme ich meine Stifte hervor und beginne ein Baby zu zeichnen. So falsch ist das schließlich gar nicht, denn es passt zum Thema
Aufbruch! Die Sonnenstrahlen, welche am Morgen mein Gesicht kitzeln, wecken mich auf. Langsam öffne ich meine Augen. Doch schon bald realisiere ich, dass der gestrige Tag kein Traum war. Italien ich komme „Italien!“, kreische ich plötzlich. Meine Mum hat gesagt, dass sie meinen leiblichen Vater im Urlaub in Italien kennengelernt hat. Doch die Aufregung, die ich verspürt habe, verlässt mich schnell wieder. Ich weiß nur seinen Namen und den Ort, an dem er vor 16 Jahren gearbeitet hat. Dazu ist Italien auch noch riesig und wahrscheinlich werde ich Kilometer weit von diesem Ort entfernt sein. Es ist hoffnungslos. Ich nehme mir vor, den restlichen Tag nicht mehr darüber nachzudenken, springe auf und renne nach unten in die Küche. Leise decke ich den Tisch und bereite das Frühstück vor. Schließlich muss ich mich ja irgendwie bei meiner Mum bedanken, da sie mir diese Reise erlaubt. Als sie die Küche betritt, strahlt ihr Gesicht. Ich mag es sehr, wenn meine Mum so glücklich ist wie heute. Es gab schon viel schlimmere Zeiten. Kurz nachdem Dad gestorben ist, war sie sehr oft traurig. Doch zum Glück geht es ihr jetzt wieder viel besser „Heute werde ich mich mit Julia treffen“, sage ich zu ihr. Die Vorstellung mit Julia für ein paar Wochen in ein Ferienlager zu fahren, ist fast zu schön, um wahr zu sein. Es werden viele andere Jugendliche in unserem Alter dabei sein, aus allen Ecken Deutschlands „Ja klar, das geht in Ordnung“, sagt meine Mum und schnappt sich einen Pancake. Sie nimmt sich noch die Tube mit Honig und gibt ein wenig davon auf ihren Pancake „Mmhhh … Die sind ja lecker geworden“, lobt sie mich, „bei deiner Tollpatschigkeit hätte ich das nicht gedacht.“ Ich schenke ihr ein sarkastisches Lächeln „Was riecht denn hier so gut?“, fragt Leon, der gerade verschlafen die Treppe hinunter watschelt „Meine Pancakes“, antworte ich stolz „Ach so. Na, dann gehe ich wohl lieber wieder.“ Für diesen Satz erntet mein kleiner Bruder einen Klaps auf den Kopf. Schlussendlich wird er nämlich wieder derjenige sein, der am meisten davon isst. Das kann ich jetzt schon bestätigen. Gleich nach dem Frühstück rufe ich den Veranstalter des Ferienlagers an und teile ihm mit, dass ich und Julia selbstverständlich dabei sind. Er versichert mir, dass er mir so schnell wie möglich die weiteren Informationen zukommen lässt. Ich bin wirklich total aufgedreht und schaffe es kaum, mich wieder zu beruhigen. Das liegt aber zum Teil auch daran, dass ich den Brief viel zu spät gefunden habe. Obwohl es noch eine Weile hin ist bis zum Ferienlager, beginne ich heute schon einmal mit packen. Es ist zwar nicht gerade meine Lieblingsbeschäftigung, aber für heute geht’s. Ich suche mir meine Liste raus, welche ich als Kind immer zum Packen gebraucht habe und lese sie durch. Mit jeder neuen Zeile bemerke ich, wie lange ich schon nicht mehr in den Ferien war. Es stehen die unnötigsten Dinge darauf, welche niemand in meinem Alter je brauchen würde. Also nehme ich ein Blatt und einen Stift und schreibe mir eine neue Liste. Danach schreibe ich mir noch auf ein Notizblatt, wann ich morgen früh was erledigen muss, damit ich ja nichts vergesse. Das mache ich immer so, wenn ich irgendetwas Wichtiges vorhabe. Ich weiß, viele Leute halten das für überflüssig, aber so bin ich halt. Ich muss immer die Kontrolle über alles haben. Es ist sehr wichtig für jemanden wie mich, bei dem sonst in kürzester Zeit ein riesiges Chaos ausbrechen würde. Ich gehe meine Packliste durch und verstaue alles, was ich brauche, in meinem Koffer. Auf einmal klopft es an der Tür und meine Mum tritt in den Raum. Ich weiß genau, dass sie nur wissen will, ob ich auch sicher alles dabeihabe, aber ich hasse es. Dann bringt sie wieder einmal meinen sorgfältig erarbeiteten Plan durcheinander. Genau so trifft es auch ein. Sie schaut alle meine Sachen durch, bis ich keine Ahnung mehr habe, wo ich gerade war. Dann will sie mir noch tausende von Dingen einpacken, welche ich sowieso nie brauchen werde. Am Ende zwingt sie mich wahrscheinlich noch, eine Winterjacke einzupacken. Als sie endlich wieder aus meinem Zimmer verschwindet, schaue ich noch einmal alles von Anfang an durch, um sicher zu gehen, dass meine Mum auch ja keinen von meinen Plänen durcheinandergebracht hat. Schlussendlich ist dann endlich alles wie es sein sollte und ich mache mich auf den Weg zu Julia. Ich habe das Gefühl, ich fliege mit meinem Fahrrad, so schnell düse ich durch die Gegend. Bei Julia angekommen, begrüße ich sie mit einer herzlichen Umarmung. Auch Julia ist total am hyperventilieren. Es geht zwar erst nächsten Sonntag los, aber wir beide können es kaum erwarten. Zusammen lesen wir die Mail, welche ich heute Morgen vom Veranstalter bekommen habe und gehen unsere weiteren Vorbereitungen durch „Julia!“ Meine Stimme klingt unsicher und ich weiß nicht genau, womit ich anfangen soll. Verwundert blickt sie mich an. „Ich habe recherchiert und das Café, in dem mein leiblicher Vater gearbeitet hat, liegt ein paar Kilometer entfernt von unserem Ferienlager. Mit dem Bus braucht man nur zwei Stunden bis dorthin.“ „Und das nennst du ein paar Kilometer?“ Vorwurfsvoll und mit hochgezogenen Augenbrauen starrt sie mich an „Ich habe ein wenig in Mums Sachen herumgeschnüffelt. Ich habe mir zwar geschworen, dass ich das nie tun werde, aber in diesem Moment konnte ich nicht anders. Von dort weiß ich, dass er Francesco Moretti heißt und wo er gearbeitet hat. Kannst du dich nicht einfach darauf einlassen? Wenn wir in Italien sind, können wir einen kleinen Ausflug dorthin machen.“ Mit bettelndem Blick sehe ich sie an. „Bitte …“ „Das besprechen wir später noch“, antwortet sie. Langsam beginnt Julia zu sprechen wie meine Mum. Natürlich hat sie Recht, denn jetzt müssen wir uns zuerst noch um viel wichtigere Dinge kümmern. Wir wollen ja nicht, dass noch etwas schiefläuft. Zugegeben, es fällt mir jedoch schwer zu glauben, dass diese Dinge wichtiger sind als meinen leiblichen Vater zu finden. Keinen Vater zu haben, ist nicht das Einzige, was für mich schiefgelaufen ist. Es wäre schön, nur dieses eine Mal Glück zu haben. Ich habe sogar das Gefühl, dass wir gar nicht so eine richtige Familie sind „Chaostruppe“, nennt Julia uns immer. Auch heute hat sie wieder etwas an uns auszusetzen. „Hey, es ist schon zwölf Uhr. Du musst jetzt schnell nach Hause.“ „Wieso?“, frage ich verdattert „Sag mir jetzt nicht, du hast euern traditionellen Fa-milientag vergessen.“ Mit vorwurfsvollem Blick schaut sie mich an „Ach nein, ich doch nicht“, sage ich sarkastisch. Doch sie hat Recht. Ich muss jetzt wirklich schnell nach Hause. Der einzige Tag, an dem wir so richtig eine Familie sein können, ist der vierte Samstag im Monat und das ist heute. Da unternehmen wir immer etwas zu dritt oder wir bleiben zu Hause, spielen Spiele und schauen uns alte Erinnerungsfotos an. Heute wird es wohl ein Spieletag, wenn ich so nach draußen sehe. Als allererstes spielen wir immer Monopoly. Das ist eine Tradition bei uns. Ich liebe dieses Spiel, weil ich dabei oft gewinne. So vergeht der Nachmittag. Am Abend holt Mama unsere alten Fotoalben aus dem Schrank und wir schauen sie gemeinsam an. Mein Lieblingsfoto von mir ist eines, auf dem ich ungefähr drei Jahre alt bin. In meinen Fingern halte ich ein tropfendes Eis. Dann geht es noch weiter, mit ganz vielen süßen Kinderbildern von mir und manchmal auch von Leon. Wir waren wirklich niedlich als Kinder. Das kann niemand bestreiten
Abenteurerherz! Ich erwache aus dem Schlaf und blicke um mich. Gegenüber von mir sitzt Julia, die immer noch tief und fest schläft. Heute Mittag hat Herr Schneider uns gesagt, dass wir noch etwas schlafen sollen, weil wir erst um 23 Uhr in Italien ankommen. Danach hat uns Livia noch ein paar Stunden lang vollgelabert. Um 7 Uhr haben wir dann versucht zu schlafen. Doch jetzt ist es 9 Uhr und ich bin schon wieder wach. In unserem Zugabteil ist es sehr ruhig und nur wenige sind noch oder schon wieder wach. Wir fahren noch zwei Stunden bis wir endlich ankommen. Auch Livia sitzt schlafend neben mir und hat ihren Arm über meine Beine gelegt. Ich versuche ihn möglichst behutsam von mir zu nehmen, damit sie nicht erwacht. Dann stehe ich auf und gehe ein Weilchen durch den Zug, um mir die Zeit zu vertreiben. Als ich mich schließlich wieder zurück an meinen Platz begeben möchte, rempelt mich jemand von hinten an „Pass doch auf“, sagt eine Stimme und ich drehe mich um. Hinter mir steht ein Junge, der offenbar auch zu unserer Reisegruppe gehört. Mit finsterem Blick schaut er mich an „Kennen wir uns?“, frage ich ihn. Ich bin komplett überrumpelt und realisiere gar nicht was ich da überhaupt sage. Der Junge ist groß und schaut mit seinen kristallklaren, blauen Augen auf mich herab. Er trägt ein schwarzes Shirt und eine genauso schwarze Jeans, was ihn irgendwie böse wirken lässt „Ne, wieso sollten wir“, antwortet er genervt, „lässt du mich jetzt endlich durch?“ Er drängt sich an mir vorbei und geht weiter. Ich glaube, den kenne ich doch nicht. So einen arroganten Typen möchte ich auch gar nicht kennen. Es gibt schon unfreundliche Menschen auf dieser Erde „Elea“, ruft eine Stimme und ich blicke um mich und entdecke Livia, die wohl aufgewacht ist. „Schhh…“, flüstere ich, „die anderen schlafen doch noch.“ „Ist ja schon gut, ich halte jetzt meine Klappe“, sagt sie und geht wieder zurück. Wie lange das wohl anhält, frage ich mich und gehe ihr hinterher. So eine Plappertasche wie Livia habe ich zuvor noch nie kennengelernt. Mittlerweile ist auch Julia aufgewacht und sieht mich mit müdem Blick an „Na, gut geschlafen?“, frage ich sie. „Geht so, bequem war es nicht gerade, aber was soll’s. Ich glaube nicht, dass wir die nächste Zeit so viel schlafen. Schließlich sind wir in einem Camp. “ Da muss ich ihr Recht geben, aber ich hoffe trotzdem, dass wir nicht völlig übermüdet aus Italien zurückkehren. Denn dann heißt es wieder: „Ab in die Schule». Doch daran will ich jetzt gar nicht denken. Nun ist erst einmal entspannen und genießen angesagt. Auch wenn ich mir vorstellen kann, dass dieses Lager mehr Abenteuer als Entspannung mit sich bringt. Es ist aber trotzdem viel besser als einfach nur nutzlos Zuhause herumzusitzen und zu warten, bis die Ferien vorbei sind. Denn mein Abenteuer fängt jetzt an. In diesem Augenblick kommen mir zwei Stunden so unglaublich lange vor. Als ich aus dem Fenster schaue, sehe ich, wie die Landschaft an uns vorüberzieht. Die Sonne ist schon untergegangen und alles sieht jetzt viel dunkler und geheimnisvoller aus. Ich kenne viele Menschen, welche Angst haben im Dunkeln. Doch ich finde, dass die Dunkelheit etwas ganz Besonderes an sich hat. Ich glaube nicht an das Gute und an das Böse, weil in allem Bösen auch etwas Gutes steckt. Wir verschließen nur viel zu oft die Augen davor. Manchmal kommt es mir vor, als würde die Nacht heller scheinen als der Tag. Denn die Nacht ist nicht böse. Wir Menschen wählen immer den Weg, welcher für uns einfacher ist. Der Tag macht uns keine Angst, aber vor der Nacht verschließen wir die Augen. Doch wenn man die Nacht und das Dunkle genießt oder einfach nur den Sternenhimmel betrachtet, dann merkt man, dass die Nacht genauso schön ist. Sich einfach auf etwas einlassen und zu vertrauen ist schwierig, aber es macht das Leben schöner. Gedankenverloren sitze ich nun in diesem Zug und denke über das Leben nach. Es ist schon 23 Uhr und ich bin total gespannt. Als Livia sich wieder neben mich setzt und zu tratschen beginnt, scheint die Zeit viel schneller zu vergehen. Schon kurz darauf kommen wir am Bahnhof an. Ein Bus bringt uns bis zu unserer Unterkunft. Vor uns steht ein großes Gebäude. „Wir sind da“, ruft Herr Schneider und geht auf das Haus zu. „Ich vermute, ihr seid alle sehr müde. Auch wenn ihr am liebsten zuerst den Ort erkunden würdet, glaube ich, es wäre das Beste, wenn wir nur noch die Zimmereinteilung machen und dann schauen wir morgen weiter.“ Herr Schneider führt uns durch das Haus, bis in den ersten Stock. Dort sind die Zimmer für die Jungs. Ein Stock höher sind die Zimmer für uns Mädchen. Alle stürmen sofort los, um ein möglichst schönes Zimmer zu bekommen. Auch Julia, Livia und ich suchen uns ein Zimmer aus. Als wir endlich das passende gefunden haben, hole ich mein Gepäck nach drinnen. Nachdem ich den Koffer nach oben getragen habe, schaue ich mir den Raum genauer an. Es ist etwas altmodisch, aber sehr schön eingerichtet. Es hat ein riesiges Fenster, durch welches man direkt auf das Meer blickt. Ich wusste gar nicht, dass unser Ferienlager so nahe am Meer liegt. Es ist wirklich eine wunderschöne Aussicht. Das Wasser glitzert und der Mond spiegelt sich darin. Jetzt kommen auch Livia und Julia mit ihrem Gepäck in das Zimmer gestürmt. „Wow!“, sagt Livia, „Da haben wir uns ja ein Zimmer mit einem tollen Panorama geschnappt.“ Damit hat sie wirklich Recht. Besser hätten wir es gar nicht treffen können. Von unseren Betten aus kann man direkt aufs Meer blicken. Im Raum steht ein Kajütenbett und ein einzelnes Bett. „Ich schlaf oben!“, ruft Livia und klettert die Leiter hinauf. Damit sind Julia und ich sofort einverstanden, weil wir beide sonst wahrscheinlich in der Nacht aus dem Bett fallen würden. Wir diskutieren noch eine ganze Weile, wer von uns welches Bett kriegt, aber schlussendlich einigen wir uns darauf, dass ich im Kajütenbett schlafe und Julia das andere Bett nimmt. Es ist schon fast Mitternacht und wir müssen uns langsam bettfertig machen. Doch zuerst müssen wir unsere Koffer auspacken. Wenn wir sie einfach nur durchwühlen, dann werden wir morgen wahrscheinlich gar nichts mehr finden. Während dem Auspacken bemerke ich, dass es vielleicht doch nicht so eine schlechte Idee gewesen wäre, mit meiner Mum zu packen. Da ich selbst natürlich nicht daran gedacht habe, dass mein Pyjama das Erste sein wird, was ich brauche. Doch mein Kontrollwahn hat es natürlich nicht zugelassen, dass mir jemand beim Packen hilft. Wenn nicht alles nach meinem Plan läuft, dann drehe ich meistens völlig durch. Als dann auch ich meinen Pyjama, welcher übrigens ganz zuunterst lag, endlich gefunden habe, gehen wir schlafen. Doch wie wir Livia inzwischen kennen, muss sie uns zuerst noch eine Geschichte erzählen. Aber ich glaube, an Livia werde ich mich bald gewöhnen. Denn auch wenn sie viel spricht, sie sagt in jeder Situation immer genau das Richtige, um mich zum Lachen zu bringen. Ich finde es jetzt schon total toll, dass ich sie hier kennenlernen darf. Neue Freunde zu finden ist immer eine tolle Sache „Guten Morgen.“ Ich öffne meine Augen und blicke in das strahlende Gesicht von Livia. „Heute wird ein wundervoller Tag“, verkündet sie fröhlich. Verschlafen reibe ich mir die Augen. „In einer Stunde gibt es Frühstück, also macht euch bereit für dieses Abenteuer!“ „Für das Abenteuer Frühstück?“, fragt Julia, die wie ich noch total müde ist „Ich weiß zwar auch nicht, was Frühstück mit einem Abenteuer zu tun hat, aber etwas zu essen schadet bestimmt nicht“, antworte ich und stehe auf. Nachdem ich mich ein paar Mal gestreckt, gewaschen und zum Schluss angezogen habe, bin ich nun startklar fürs Frühstück. Auch Julia hat sich nun aufgerappelt, doch die Müdigkeit steht ihr ins Gesicht geschrieben. Frühaufsteher sind wir beide nicht, aber Livia dafür umso mehr. Die ist schon früh am Morgen die Freude in Person. Vielleicht kann sie uns ja die nächsten Wochen noch ein wenig damit anstecken. Nach dem Frühstück informiert uns Herr Schneider über den weiteren Tagesablauf. Heute wird erst mal ausgepackt und wir können uns etwas von der Reise erholen. Doch kurz nach dem Frühstück gibt es zuerst einen Rundgang durchs Haus. Herr Schneider führt die Gruppe durch den Essbereich und die Küche, danach kommen wir in den Aufenthaltsraum. Es ist ein großer, gemütlich eingerichteter Raum. Darin steht ein Sofa und rundherum sind viele Sitzsäcke aufgestellt. Es sieht wirklich sehr bequem aus und am liebsten würde ich mir jetzt gleich mein Buch holen und mich auf dieses wundervolle Sofa setzen. Das wäre jetzt die perfekte Atmosphäre, um ein wenig zu relaxen. Doch jetzt begeben wir uns alle einen Stock höher, wo die Zimmer der Jungs sind. Zum Schluss gehen wir noch in den dritten Stock, wo sich auch nochmals Mädchenzimmer befinden. Dann sind wir auch schon am Ende unserer Besichtigung angelangt. Das Haus ist nicht wirklich groß, aber total gemütlich. Wir sind insgesamt nur fünfzig Jugendliche, deshalb reicht es völlig aus. Ich freue mich schon darauf, welch tolle Abenteuer wir in diesem Haus erleben werden und wie viele Erinnerungen wir mit nehmen. Doch jetzt gehen Livia, Julia und ich erstmal zurück in unser Zimmer. Wir beschließen, zuerst unsere Koffer auszuräumen. Wir sind alle nicht gerade Ausräumprofis oder besser gesagt Einräumprofis, deshalb brauchen wir ziemlich lange, bis endlich alle unsere Sachen richtig verstaut sind. Ratlos stehen wir nun in unserem Zimmer. Was sollen wir jetzt tun? Für große Abenteuer haben wir jetzt noch nicht genügend Energie, aber nur herumsitzen, ist auch nicht das Wahre. Ich sehe mich um und mein Blick fällt auf das offene Fenster. Draußen ist es warm und die Sonne spiegelt sich auf dem Wasser. „Gehen wir doch schwimmen“, schlage ich vor. „Ja“, sagt Livia begeistert, „tolle Idee.“ Auch Julia stimmt freudig zu. Wir ziehen rasch unsere Badesachen an und gehen hinunter zum Strand. Der Sand ist heiß und meine Füße brennen, während ich hinunter zum Wasser renne. Das Meer ist klar und wunderschön. Ich bin erleichtert, als meine Füße endlich das kalte Wasser erreichen. Dann bleibe ich stehen und mein Blick schweift der Küste entlang
Kampfgeist! Ich stehe auf einer einsamen Straße, mitten in einer italienischen Altstadt. Neben mir sind viele belebte Restaurants und Häuser. Mit meinem wunderschönen Sommerkleid und meinen Lieblingsschuhen stehe ich da. Hinter mir blinkt etwas und ich drehe mich um. Da ist nichts zu sehen, außer ein paar lachenden Pärchen, die die Straße entlang gehen. Ich blicke wieder nach vorne und da sehe ich meinen Vater. Meinen leiblichen Vater. Ich habe ihn noch nie zuvor gesehen, doch ich spüre einfach, dass er es ist. Ich gehe auf ihn zu und werde immer schneller. Meine Füße tragen mich so schnell sie können. Schneller und schneller … Bis ich vor ihm stehe. Ich blicke in sein Gesicht, welches mich zärtlich anlächelt. Ich möchte ihn in meine Arme schließen. Hinter mir ertönt ein lautes Lachen und schon wieder drehe ich mich abrupt um. Es sind alle Lichter ausgegangen und keine Menschenseele ist mehr in der Nähe. Ich will meinem Vater etwas sagen, doch auch der ist wie vom Erdboden verschluckt. Ich blicke in den Himmel. Ein Tropfen landet auf meiner Stirn und plötzlich kommt es über mich. Schwarzer Regen prasselt auf mich hinunter. Wenn ich jetzt nichts tue, werde ich daran ersticken. Ich möchte weglaufen, doch meine Schuhe sind wie am Boden angeklebt. Es gibt keinen Weg nach vorne oder zurück. Meine Augen brennen und als ich sie schließe und danach wieder öffnen möchte, blicke ich in das grelle Licht der Sonne. Ich höre das Rauschen des Wassers und die vielen Stimmen der Menschen um mich herum. Ich setze mich auf und suchend blicke ich um mich. Mein Herz schlägt rasend schnell und mein Atem ist hektisch. Der Junge aus dem Zug beobachtet mich. Als sich unsere Blicke treffen, schaut er schnell zur Seite. Zum Glück war alles nur ein Traum. Doch in letzter Zeit habe ich viele dieser Träume und immer enden sie mit einem qualvollen Tod. Was ist, wenn das alles wirklich etwas mit meinem Vater zu tun hat? Seit ich weiß, dass mein Dad nicht mein richtiger Vater ist, träume ich oft von den beiden. Vielleicht habe ich ja Verlustängste. Vielleicht fürchte ich mich davor, meinen leiblichen Vater nun auch noch zu verlieren oder sogar nie zu finden. Dieser Gedanke versetzt mich in Panik. Ich muss nach ihm suchen und ich werde Julia dazu bringen, mir zu helfen. Da entdecke ich auch schon Livia und Julia, die gerade aus dem Wasser kommen „Hey du Schlafmütze, bist du auch endlich wach?“, rufen sie mir zu. „Wir dachten, wir könnten in die Stadt gehen, um uns ein Eis zu holen.“ Bei dieser tollen Idee bin ich natürlich sofort dabei. Wir ziehen uns schnell was über und schlendern dann durch die Stadt. Schon nach kurzer Zeit kommen wir zu einer kleinen Eisdiele, welche einer älteren und sehr freundlichen Dame gehört. Zum Glück haben wir Julia dabei. Sie kann ein wenig italienisch sprechen. Dies hat sie von ihrem Opa gelernt, denn der ist Italiener. Mit unserem Eis gehen wir zurück zum Strand. Mittlerweile ist es schon drei Uhr nachmittags und nun sind sogar alle Betreuer des Sommerlagers am Strand. Ist ja auch verständlich bei dieser Hitze. Auch wir verbringen den restlichen Nachmittag hier. Am Abend versammeln wir uns alle im Esszimmer und es gibt Abendessen „Ich hätte nicht erwartet, dass das Essen hier so lecker ist“, sagt Julia. „Das ist italienische Küche, da ist das Essen immer lecker“, gibt Livia zurück „Du musst es ja wissen.“ Julia wirft ihr einen fragwürdigen Blick zu „Also ich könnte mich sehr gut daran gewöhnen“, sage ich. Nach dem Essen gehen wir alle in den Aufenthaltsraum. Es herrscht eine sehr gute Stimmung und wir verstehen uns alle prima. Es wird viel gelacht, geredet und man lernt viele neue Leute kennen. So wird der Abend ein voller Erfolg. Nach einiger Zeit falle ich todmüde ins Bett. Doch am nächsten Tag haben wir bereits wieder volles Programm. Schon früh am Morgen geht es los. Heute steht die Stadtbesichtigung an. Nach dem Frühstück werden wir in mehrere Gruppen eingeteilt. Die meisten aus meiner Gruppe kenne ich nicht, außer Elias. Doch kennen ist ein wenig zu viel gesagt. Schließlich weiß ich nur seinen Namen. Nun kommt Herr Schneider zu unserer Gruppe und gibt uns eine Karte. Dazu bekommen wir eine Liste mit Orten. Es ist ein kleines Spiel. Wir müssen in unserer Gruppe zu all diesen Orten gehen, dort ein Foto machen und schließlich hierher zurückkommen. Es ist etwa so wie bei einem Schul-Orientierungslauf Die anderen Gruppen stürmen schon los. Ich bin froh, dass wir die ganze Sache ein wenig koordinierter angehen. Sonst würde ich hier noch verrückt werden. Nach einer kurzen Besprechung laufen auch wir endlich los. Zuerst geht es Richtung Supermarkt „Bist du nicht eine Freundin von Livia?“, fragt mich Elias, während wir durch die Gegend schlendern „Ja, aber ich habe sie erst hier kennengelernt. Kennst du sie schon länger?“, frage ich ihn. „Ja, ich habe mit ihr bereits den Kindergarten besucht.“ „Das ist wirklich schon eine ganze Weile“, füge ich lachend hinzu, „da kennst du sie bestimmt viel besser als ich. Ist es Zufall, dass ihr beide hier seid, oder habt ihr euch gemeinsam angemeldet?“ „Nein, wir haben uns unabhängig voneinander angemeldet“, erklärt Elias. „Ich und die anderen Jungs waren ganz froh über die kleine Ablenkung in den Sommerferien, denn wir hatten wirklich so gut wie nichts vor.“ „Mir ging es genauso. Sonst wäre ich die ganzen Ferien bestimmt nur faul rumgesessen.“ „Da ist es!“, ruft jemand aus unserer Gruppe. Ich schaue nach vorne und sehe, dass wir nur wenige Meter vom Supermarkt entfernt stehen. Wir zücken also die Kamera, welche wir für dieses Spiel benutzen dürfen und machen ein Foto. Danach suchen wir den nächsten Ort auf der Liste. Die Suche ist ziemlich anstrengend und nach ein paar Stunden sind wir alle sehr müde. Die Hitze hier macht uns allen zu schaffen. Daran sind wir einfach nicht gewöhnt. Zum Glück haben wir endlich alle Orte gefunden. Doch nun müssen wir den Weg zurück zur Unterkunft finden. Fabio, der Junge, der die Karte hält, hat uns bis jetzt sehr gut durch die ganze Stadt geführt. Er macht das wirklich toll. Nachdem wir etwa eine halbe Stunde gelaufen sind, sagt er plötzlich: „Ich glaube, wir sind hier falsch.“ Auch das noch. Bei dieser nicht auszuhaltenden Hitze sind wir alle froh, wenn wir bald zurück sind, aber jetzt haben wir uns auch noch verlaufen „Gib mal her“, sagt Elias und Fabio streckt ihm die Karte entgegen. Wir werfen einen Blick auf die Karte, doch wir können nicht feststellen, wo wir uns gerade befinden. Also gehen wir zurück in eine Gegend, die etwas mehr bewohnt ist und beginnen uns durchzufragen. Die Menschen hier sind alle sehr freundlich und hilfsbereit. Wir müssen uns zwar mit Händen und Füßen verständigen, doch zum Schluss bekommen wir meistens eine klare Antwort. Schließlich kommen wir wieder beim Supermarkt an. Von dort aus wissen wir den Weg nach Hause wieder ganz genau. Eine Weile später sind wir endlich bei der Unterkunft. Die restlichen Gruppen stehen schon alle versammelt vor dem Haus. Als sie uns erblicken, kommt Herr Schneider eilig auf uns zu. „Na, da seid ihr ja endlich“, sagt er mit aufgebrachter Stimme, „wir haben uns schon Sorgen gemacht.“ „Wir auch“, sagt Fabio lachend. Da hat er wirklich Recht. Ich bin auch ziemlich froh, dass wir nun wieder hier sind. Es ist schon drei Uhr nachmittags und die Hitze macht mich wirklich fertig „Als Belohnung für eure tolle Mitarbeit, dürft ihr nun alle eine Runde schwimmen gehen“, verkündet Herr Schneider. Das ist genau das, was ich jetzt brauche. Jeden Nachmittag noch schnell eine Abkühlung im Meer ist wirklich ein Traum. Ich bin heilfroh, dass ich mich auf dieses Lager eingelassen habe. Abends um sechs Uhr sind Livia, Julia und ich alle angezogen und bereit für das Abendessen. Ich trage wieder mein tolles Sommerkleid, welches super zu meinen braunen, langen Locken passt. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass dieses Kleid mich ein wenig schlanker wirken lässt. Na gut, ich bin auch von Natur aus schon relativ schlank, aber in diesem Kleid gefalle ich mir selbst ein wenig besser. Auch Livia und Julia sehen hinreißend aus. Julia ist meine kleine Fashionikone. Sie hat einfach immer das perfekte Outfit bereit „Wir sind die hübschesten Ladys in diesem ganzen Haus“, sagt Livia freudig. Lachend begeben wir uns nach unten. Wir haben uns viel über diesen aufregenden Tag zu erzählen. Im Speisesaal angekommen, schlägt Livia vor: „Wir könnten uns doch zu Elias und den anderen Jungs setzen.“ Da niemand etwas dagegen hat und wir sonst sowieso niemanden kennen, folgen wir ihrem Vorschlag. Elias stellt uns alle Jungs vor und natürlich tun wir dasselbe. Am Tisch sitzen fünf Jungs, einer davon ist Elias. Den kenne ich ja schon. Der Junge neben ihm, mit den braunen glatten Haaren, ist Liam. Ihn kenne ich aus dem Zug. Er ist sehr groß, schlank und irgendwie einschüchternd. Sein Blick ist wie immer starr und böse und als er mich ansieht, ist von einem Lächeln weit und breit nichts zu sehen. Dann ist da auch noch Marvin. Er ist sehr groß und hat blondes, kurzes Haar. Seine Kleider fallen sehr bunt aus, was ihn irgendwie zum Paradiesvogel dieser Gruppe macht. Dieser Gedanke bringt mich ein wenig zum Lachen und ich kichere leise vor mich hin. Neben Marvin sitzt Ben. Er ist etwas kleiner als alle anderen. Er grinst breit über das ganze Gesicht. Ich vermute, er ist der Clown der Bande. Als letztes wäre da noch Fabian, der sehr sympathisch rüberkommt. Charakterlich fällt es mir aber sehr schwer ihn einzuschätzen. Mit diesen fünf Jungs am Tisch ist es sehr witzig und es kommt so richtige Lagerstimmung auf. Irgendwann fällt mein Blick auf Liam. Sein Gesichtsausdruck ist unverändert. Wie eine Maske, die er nie abnimmt. Ich frage mich, was in ihm vorgeht. Ist er traurig? Oder hat er einfach keine Lust auf all das hier? Doch meine Gedanken werden von Julia unterbrochen „Starre ihn nicht so an“, flüstert sie mir zu. Mir ist überhaupt nicht aufgefallen, dass ich ihn anstarre, aber nun wende ich meinen Blick schnell von ihm ab. Es ist mir ein wenig peinlich und ich merke, wie ich rot werde, als er mich ansieht. Doch sein Gesichtsausdruck bleibt unverändert. Er verzieht keine Miene. Ich sehe, wie er beginnt mit Elias zu tuscheln, doch ich kann nicht verstehen über was sie sich unterhalten. Ich stehe auf und gehe in Richtung Toilette „Wo willst du hin?“, ruft mir Livia nach, doch ich reagiere nicht und gehe einfach weiter. Ich öffne die Türe zur Mädchentoilette und stelle mich vor den Spiegel. Was ist heute nur los mit mir? Ich bin überhaupt nicht ich selbst. Ich schalte das Wasser an und halte meine Handgelenke unter das kühle und erfrischende Wasser
Bürde des Herzens! „Wie bin ich hierhergekommen?“, frage ich Livia, als ich meine Augen öffne und unser kleines Zimmer erblicke „Elias hat dich hoch getragen“, sagt sie mit einem verschwörerischen Lächeln. „Du kannst froh sein, dass du leicht und nett bist. Mich hätten sie bestimmt da unten liegen lassen.“ „Ja, das hätte ich auch so gemacht“, sagt Julia zu Livia und schenkt ihr ein übertriebenes Lächeln. Ich stehe auf und gehe ins Badezimmer. Bei meinem Anblick im Spiegel, würde ich am liebsten davonlaufen. Ich sehe einfach schrecklich aus. Meine Nase ist immer noch ein wenig blutverschmiert und mein Mund ist angeschwollen „Scheiße!“, denke ich mir. Ich hole mir meinen Waschlappen aus dem Kulturbeutel und beginne vorsichtig mein Gesicht zu waschen. Danach sieht es bereits wieder ein wenig besser aus. Mit der richtigen Creme und ein bisschen Make-up sehe ich im Großen und Ganzen ziemlich gut aus. Kurz darauf gehen wir hinunter zum Frühstücken „Haha, du siehst genauso scheiße aus wie Liam“, sagt unser Paradiesvogel Marvin ganz frech „Immerhin sehen wir beide noch besser aus als du“, gebe ich zurück und wir beginnen alle zu lachen. Schnell suchen wir uns einen guten Tisch und setzen uns „Hey, wie geht’s?“, fragt Elias, der sich neben mich setzt. „Gut, war ein verrückter Abend gestern, aber jetzt ist alles wieder in Ordnung.“ „Das war es wohl“, sagt Ben und beisst in sein riesiges Marmeladenbrötchen. Es schmeckt ihm anscheinend. Als ich ihm auch noch mein Schokoladenbrötchen reiche, brummt er nur. Doch dann denke ich wieder an den gestrigen Abend. Verrückt trifft meiner Meinung nach sehr genau darauf zu. Ich hoffe nur, dass es nicht noch mehr solcher Vorfälle gibt. Doch die große Frage ist immer noch dieselbe. Wo war Herr Schneider gestern? Wieso war er auf einmal verschwunden und dann plötzlich wieder da? Er ist für uns verantwortlich und kann uns doch nicht einfach alleine lassen. Zum Glück weiß meine Mum nicht, was hier gestern passiert ist. Die dreht wahrscheinlich bereits so durch vor Sorgen. Beide Kinder sind aus dem Haus und sie hat keine Ahnung, was bei uns abgeht. Tja, so ist das halt als Mutter. Man macht sich einfach immer Sorgen „Iss nicht so viel“, sagt Fabian zu Ben, der nun schon das vierte Marmeladenbrötchen in sich hineinstopft. „Hör auf deine Mutter, sie hat immer Recht“, kommentiert Marvin diesen kleinen Befehl. „Ihr müsst wissen, Fabian und Elias sind unsere Mamis. Sie waren schon immer die Vernünftigsten unter uns.“ „Manchmal sind sie aber auch zu vorsichtig“, erklärt Ben in einem genervten Tonfall „Auch die Vernünftigen muss es geben“, sagt Livia. „Und das aus ihrem Mund“, denke ich mir. Denn sie ist genau das Gegenteil von vernünftig, ruhig und vorsichtig. Mir ist neu, dass sie dieses Wort überhaupt kennt „Fabian hat schon Recht. Heute solltet ihr nicht zu viel essen“, sagt Herr Schneider, welcher hinter uns steht und zuhört. „Schließlich machen wir heute eine kleine Wanderung und mit vollem Magen zu wandern ist nicht zu empfehlen.“ „Scheiße“, sagt Ben, „von einer Wanderung stand aber nichts in der Anmeldung.“ „Na dann ist es ja eine tolle Überraschung.“ Tja, vom Wandern bin ich auch nicht wirklich begeistert, aber vielleicht wird es ja doch noch toll. Man sollte immer optimistisch sein. Nur so hat man Freude am Leben. Nach dem Frühstück gehe ich kurz auf unser Zimmer und mache mich bereit für die kleine Wanderung. Ich weiß überhaupt nicht, was ich anziehen soll. Schließlich entscheide ich mich für die bequemen Hotpants und dazu ein lockeres, pinkfarbenes Trägershirt. Es ist sehr heiß draußen und ich will ja nicht verschmachten. Während dem Wandern wird es vermutlich noch wärmer werden. Als Livia, Julia und ich nach draußen gehen, stehen die meisten schon bereit. Herr Schneider trägt einen großen Rucksack mit. Ich glaube nicht, dass ich eine Wanderung mit diesem Rucksack in dieser Hitze überleben würde. Deshalb bin ich sehr froh, dass wir nicht so viele Dinge mitschleppen müssen. Als alle bereit sind, steigen wir in den Bus und fahren in Richtung Landesinneres. Es ist heiß im Bus und meine Beine kleben unangenehm am Ledersitz fest. Neben mir wedelt Julia mit ihrem Fächer, den sie extra noch eingepackt hat. Die kleinen Windstöße ändern aber auch nicht wirklich viel. „Es ist viel zu heiß hier drin“, meint Elias. Marvin kommentiert dazu nur freudig: „Soll ich aussteigen?“ „An dir, Marvin, liegt es bestimmt nicht“, sage ich zum Spaß. „Kann ich mich neben dich stellen? Dort ist es bestimmt viel kühler“, scherze ich. Julia schmunzelt und Marvin sieht mich nur ganz grimmig an. Die Wahrheit ist hart. So war es schon immer und so wird es auch bleiben. Nach einer Dreiviertelstunde steigen wir endlich wieder aus dem Bus aus. Es ist ein wirklich befreiendes Gefühl. Jemand tippt mir auf die Schulter. Ich drehe mich um und hinter mir entdecke ich Liam, welcher mich mit einem verklemmten Lächeln anschaut. „Die hier hast du im Bus vergessen.“ Er hält meine Trinkflasche in seinen Händen und streckt sie mir entgegen. „Ohh…danke!“ Er dreht sich um und läuft mit großen Schritten an mir vorbei zu Elias „So, los geht’s!“, ruft Herr Schneider. Ich sehe mich um. Gleich neben uns ist die Station der Bergbahn. Doch natürlich werden wir nicht fahren, sondern wandern. Herr Schneider marschiert los und wir alle, wie ein großer Haufen Kücken, hinterher. Es ist ein steiler Anstieg und ich bin schon nach den ersten paar Metern außer Atem. Zwischendurch machen wir immer wieder kleine Pausen. Das ist auch gut so, denn außer Herrn Schneider ist keiner von uns der Anstrengung hier gewachsen. Dafür sind wir umso stolzer, als wir endlich oben ankommen. Wir stehen auf einer riesigen Plattform, die zur Terrasse eines Restaurants gehört. Der Ausblick ist einfach atemberaubend. Man kann die ganzen Städte um uns herum erkennen und auf einer Seite sieht man sogar das Meer. Dieser mühsame Marsch hat sich wirklich gelohnt. „Seht ihr“, sagt Herr Schneider, „ich wollte nicht ohne Grund mit euch diesen Berg erklimmen.“ Wir setzen uns auf der Terrasse an einen Tisch und Herr Schneider spendiert uns allen ein Eis. Ich nehme ein Zitroneneis. Ich finde, das ist das Beste, denn es ist so erfrischend. Ben gönnt sich natürlich wieder ein Schokoladeneis. War ja auch nicht anders zu erwarten. „Müssen wir eigentlich auch wieder hinunterlaufen?“, fragt Fabian Herrn Schneider. „Ihr könnt euch alle freuen, denn hinunter werden wir fahren.“ Das ist wirklich ein Grund zur Freude, denn ich kann nicht mehr. Jetzt noch hinunter zu laufen, wäre wirklich die Qual der Qualen gewesen. Wir genießen die Zeit hier noch eine ganze Weile, bis wir uns dann wieder auf den Weg nach unten machen. So einfach ist das jedoch nicht, denn wir müssen warten, bis Ben auch bereit ist. Als er dann endlich fertig gegessen hatte, er isst nämlich nicht nur am meisten, sondern auch am langsamsten, können wir wieder mit der Bergbahn nach unten fahren. Es ist steil und zwischendurch wackelt es heftig so dass wir beinahe alle umfallen. Unten angekommen geht es mit dem Bus zurück in die Stadt. Den restlichen Nachmittag haben wir frei und deshalb beschließen wir diesen wieder am Strand zu verbringen. „Ich habe eine Idee“, sagt Elias. „Ein paar von uns kennen sich ja noch nicht gut und deshalb spielen wir jetzt ein kleines Spiel.“ Wir setzen uns alle im Kreis auf unsere Badetücher. Im Spiel geht es darum, dass jeder drei Behauptungen über sich selbst formuliert und eine davon falsch ist. Die anderen müssen herausfinden, welche es ist „Ich fange an“, sagt Ben. „Ich bin 16 Jahre alt. Ich mag keine Schokolade und ich habe einen Hund.“ „B ist falsch“, rufen wir alle im Chor und lachen. Das war wirklich eine viel zu einfache Aufgabe. Natürlich geht es nicht so einfach weiter. Bei Fabian liege ich komplett falsch und von Elias Hobbys habe ich auch keine Ahnung. Nur bei Julia lande ich natürlich einen Volltreffer „Okay, Elea du bist dran“, sagt Elias nun. „Alles klar“, sage ich. „Ich bin 15 Jahre alt, mein Dad lebt nicht mehr und ich habe eine Schwester.“ „C“, sagt Elias sofort „Ja das stimmt“, gebe ich zu. Woher er das wohl weiß? Vielleicht ist er auch einfach gut im Raten. Auf jeden Fall kenne ich jetzt alle aus dieser Truppe ein wenig besser und sie mich auch. Das ist doch mal ein voller Erfolg. „Wer von euch hat Lust baden zu gehen?“, fragt Liam und springt auf. Alle stehen auf, außer mir. Ich habe keine Lust, mich so kurz vor dem Abendessen noch nass zu machen. „Komm schon. Wir gehen nur noch kurz ins Wasser.“ „Ne, geht ihr nur alleine.“ Doch Liam will sich das nicht gefallen lassen. Er kommt auf mich zu und sagt: „Doch, du kommst auch mit!“ Dann hebt er mich hoch und trägt mich bis ins Wasser. „Ich komme ja mit, du kannst mich jetzt wieder runterlassen.“ Doch er lacht nur, läuft immer weiter und als es tief genug ist, da lässt er mich einfach fallen. Als ich wieder auftauche, schaue ich ihn mit einem frechen Lächeln an „Solche Dinge geschehen, wenn man eine Spaßbremse ist“, sagt er lachend. Ich weiß, ich wäre nie stark genug ihn einfach unter Wasser zu drücken und deshalb gehe ich zuerst ganz normal an ihm vorbei. Als er mir jedoch den Rücken zudreht, greife ich ihn von hinten an und drücke seinen Kopf unter Wasser. Er ist nicht darauf vorbereitet und hat somit keine Chance sich zu wehren. „Es steht Eins zu Eins, würde ich sagen.“ „Uuhhh“, sagt Marvin, „hier wird es heute noch einen Fight geben.“ „Ne, das lassen wir mal lieber“, antworte ich, „ich glaube, da würde ich dann doch verlieren.“ Liam stimmt mir zu und kassiert dafür einen Kick ins Schienbein. Das bringt ihn aus dem Gleichgewicht und – plumps – liegt er schon wieder im Wasser „Das heißt dann wohl 2:1.“ Geheimnisvoll sieht er mich an. Ich glaube, er denkt sich bereits etwas aus, damit es heute noch zu einem 2:2 kommt. Deshalb mache ich mich schnell auf und davon, renne aus dem Wasser und zurück zu den Badetüchern. Meine Uhr zeigt an, dass es bereits in einer halben Stunde Abendessen gibt. Nun kommen auch alle anderen aus dem Wasser. „Ich weiß nicht Julia, aber wenn ich du wäre, würde ich mich langsam beeilen, so lange wie du für dein Styling brauchst.“ Ich nerve sie oft damit, denn sie braucht immer viel zu lange um ihre Haare zu föhnen. Ein wenig verständlich ist das ja, denn sie hat dichtes, glattes und blondes Haar. Sie findet das jedoch nicht immer so lustig, wenn ich sie darauf hinweise. Tja, dafür habe ich meinen Spaß. Heute nach dem Abendessen, gehen wir alle zusammen nochmal zum Strand, denn es ist kein Abendprogramm geplant. Wir Mädchen schauen uns den wunderschönen Sonnenuntergang an und was die Jungs machen weiß ich eigentlich auch nicht so genau. Die stellen irgendwelchen Unsinn an. Ben, Marvin und Fabian gehen danach schlafen. Ich glaube, sie sind sehr müde vom Wandern. Diese drei Typen sind wirklich zum Lachen. Livia und Julia gehen auch bald schlafen und so sind nur noch Elias, Liam und ich hier. Die Sonne ist ganz untergegangen und wir setzen uns in den Sand. Meine Füße strecke ich und immer mal wieder kommt eine kleine Welle, die mich wieder ein bisschen abkühlt „Was würden wir nur tun, wenn wir jetzt Zuhause wären?“ Elias stellt diese Frage ganz unwissend, dass mich das wieder an meine Mutter denken lässt. „Wahrscheinlich würden wir nur rumsitzen und uns langweilen.“ Ich bin auch Liams Meinung, denn ich weiß, welche Frustration ich in der Schule hatte, wenn ich an die Sommerferien dachte „Es ist so wunderschön hier“, sage ich ganz verträumt. Und das ist es wirklich. Ich glaube, ich war noch nie an so einem schönen Ort wie hier. Zumindest kann ich mich nicht daran erinnern „Seid ihr nicht müde?“, fragt Elias. „Ne.“ „Okay, dann gehe ich eben alleine schlafen.“ Elias packt sein Badetuch und stapft durch den Sand in Richtung Haus „Elea, darf ich dich etwas fragen?“, sagt Liam ganz schüchtern, so dass sich seine Stimme ganz verändert „Ja klar.“ Ich frage mich, was ihn so beschäftigt, dass er nun so vorsichtig ist. „Heute beim Kennenlernspiel hast du erzählt, dass dein Vater tot ist. Wieso ist er gestorben?“ „Mittlerweile ist es eineinhalb Jahre her. Es war am Samstag, dem 20. Oktober 2018. Mein Dad, meine Mum, mein kleiner Bruder und ich saßen beim Mittagessen. Dad machte sich danach auf den Weg zu einem Arbeitskollegen, dieser hatte Geburtstag. Ich sagte ihm noch ‚Tschüss‘ und wünschte ihm einen schönen Nachmittag. Kurze Zeit später klingelte es an der Tür. Ein Polizist stand da und erzählte meiner Mum etwas von einem Unfall. Sie musste sofort mitgehen und sagte mir, ich soll bitte solange auf Leon aufpassen. In diesem Moment dachte ich noch gar nicht daran, dass etwas Schlimmes passiert sein könnte. Doch mit der Zeit machte ich mir große Sorgen, denn meine Mum kehrte nicht wieder zurück. Als ich sie anrief, ging sie auch nicht ans Telefon. Nach einer Stunde wurde ich unruhig. Ich sagte Leon, dass er zuhause bleiben soll. Ich machte mich mit dem Fahrrad auf den Weg in die Richtung, in die meine Mum mit dem Polizisten gefahren war. Plötzlich stand vor mir eine Frau, die die Straße absperrte. Dann sah ich unser Auto, auf dem Dach liegend, mitten auf der Straße.“ Ich beginne zu schluchzen und es fällt mir schwer davon zu erzählen. Doch Liam rutscht zu mir rüber und nimmt mich in den Arm. Ich erzähle weiter: „Ich stieg von meinem Fahrrad und rannte zur Unfallstelle. Aus meiner Kehle kamen nur noch Schreie, immer und immer wieder habe ich geschrien: ‚Dad, Dad, wo bist du?‘
Party Time! Ich habe Durst und brauche etwas zu trinken. Das Wasser, welches hier aus der Leitung kommt, ist nicht gut und auch nicht klar. Deshalb schleiche ich nach unten in die Küche. Auf dem Weg begegne ich Herrn Schneider, der wie ein unheimliches Gespenst durch das Haus läuft „So, so, hast du auch Durst?“, sagt er nur und verschwindet wieder in seinem Zimmer. Schnell gehe auch ich etwas trinken und danach wieder schlafen. Ich hoffe, dass ich morgen, trotz wenig Schlaf, nicht total kaputt sein werde. Doch so kommt es leider, denn als ich geweckt werde, ist es schon fast Mittag und ich bin immer noch so müde. „Nein, nein, Elea.“ Livia steht neben mir und ist natürlich schon wieder hell wach. Auch Julia ist da und hält mir bereits die erste Standpauke am frühen Morgen. Also eigentlich ist es ja Mittag, aber mir kommt es vor wie Morgen „Vorgestern hat dich Elias hinauf getragen und gestern war es Liam. Also irgendwann musst du dich wohl entscheiden. Du kannst nicht beide haben“, scherzt sie. „Tut mir leid, aber da muss ich mich rechtfertigen. Dass sie mich hochgetragen haben, hat nichts mit Gefühlen zu tun. Das liegt daran, dass ich selten in meinem Bett einschlafe. Die anderen Jungs wären nicht kräftig genug, um mich hochzutragen, denn Marvin ist ein Lauch und Ben noch viel schwächer.“ „So, so.“ Ich glaube, dass Livia und Julia mit dieser Aussage nicht einverstanden sind. Ich ja in Wirklichkeit auch nicht. Doch ich will nichts von Elias und von Liam eigentlich auch nicht. Nach gestern Abend bin ich mir jedoch nicht mehr so sicher. Aber ich werde nicht schlau aus ihm. Am Anfang war er gefühllos und eiskalt, dann freundlich, dann wieder eiskalt und schließlich beginnt er vor meinen Augen zu weinen. Diese ganzen Gefühle verwirren mich immer mehr. Ich kann einfach nicht denken mit leerem Magen und deshalb beeile ich mich und gehe mit Livia und Julia frühstücken. Am Tisch warten die Jungs schon auf uns. Da es heute einen Brunch gibt, essen auch sie erst jetzt, obwohl Ben höchstwahrscheinlich schon fast verhungert ist „Hey, meine Hübschen, ihr werdet von Tag zu Tag schöner“, lobt Marvin, dieser Charmeur, uns. „Danke, das können wir nur zurückgeben.“ Stolz und ein wenig selbstverliebt blickt Marvin an sich hinunter. Mein Blick fällt auf Liam. Er schaut mich lächelnd an, dann auf den leeren Platz neben sich und anschließend schaut er wieder mich an. Ich nicke und setze mich neben ihn „Endlich sitzen alle.“ Ben springt auf und läuft schnurstracks auf die frischen und lecker duftenden Schokoladenbrötchen zu. Auch ich mache mich auf und bediene mich an dem reichhaltigen Frühstücksbuffet. Als Erstes entscheide ich mich für die Pancakes „Die sehen lecker aus“, flüstert Elias mir zu und stellt sich hinter mich in die Reihe. „Ja, sie haben mich gerade so angelacht, da dachte ich, ich schnappe mir einen.“ „Gute Wahl“, meint Fabian, der sich nun auch der langen Schlange anschließt. Pancakes sind hier wohl sehr beliebt. Anscheinend will jeder einen haben. Die Köche haben heute Morgen wohl sehr viel zu tun. Bin ich froh, dass ich das nicht machen muss und mich nur bedienen kann. Schließlich ist es auch schwer einzuschätzen, wer was isst. Zum Glück haben wir Ben. Der isst liebendgerne noch alle Resten auf. Heute ist schon der sechste Tag unserer Reise. Zwei Wochen gehen schnell vorbei. Ich habe das Gefühl, dass ich erst etwa zwei Tage hier bin. Es ist schade, dass in den schönen Momenten die Zeit immer so rast. Heute Abend steigt eine große Party, denn eine andere Gruppe Jugendlicher, die auch hier in einem Ferienlager sind, kommen zu Besuch. Daher müssen wir noch sehr viel organisieren. So einfach ist das Ganze nicht. Ich finde es aber schön, wieder einmal andere deutsche Jugendliche zu sehen. Egal wo man hier hingeht, jeder spricht italienisch und ich verstehe kein Wort. Das ist manchmal wirklich schrecklich. Nach dem Frühstück treffen wir uns alle im Aufenthaltsraum. Für die Vorbereitungen werden wir von Herrn Schneider in verschiedene Arbeitsgruppen aufgeteilt. Ich bin in der Gruppe Deko. Das ist perfekt, denn ich liebe es zu dekorieren. Liam ist auch mit mir in der Gruppe. Ob das nun gut oder schlecht ist, kann ich nach den letzten Tagen nicht so wirklich einschätzen. Wir basteln viele kleine Aufhänger, die wir schlussendlich an der Decke und an den Wänden befestigen „Kannst du mir bitte helfen die Deko aufzuhängen?“, frage ich Liam, als ich bemerke, dass ich trotz Stuhl, um einiges zu klein bin. Liam nickt nur und blickt weiterhin ziemlich grimmig durch die Gegend. Na toll, jetzt hat er bestimmt wieder einen schlechten Tag und das obwohl heute Abend Party ist. Vielleicht auch genau deswegen. Ich glaube, er ist nicht so gerne von Menschen umgeben. Ich auf jeden Fall freue mich riesig und die Vorbereitungen sind in vollem Gange. Laura und Sebastian basteln einen riesigen Banner auf dem mit großen Buchstaben steht: Party Time. Dieser tolle Banner muss natürlich gut zu sehen sein und deshalb beschließen Liam und ich, ihn vom Dach her nach unten hängen zu lassen. Deshalb steigen wir mit dem Banner die Treppe nach oben bis ins Dachgeschoss. Von da aus wollen wir aufs Dach steigen „Ich will aber nicht riskieren, vom Dach zu fallen.“ Liam sieht mich nur lachend an. Schwups! Und schon wechselt er wieder von dem bösen, eiskalten Jungen in den fröhlichen, netten und guten Freund „Ich werde nicht zulassen, dass du fällst“, sagt er nun und greift nach meiner Hand. Ich bin überhaupt nicht darauf vorbereitet und weiß nun nicht genau ob ich meine Hand wieder wegziehen soll. Mein Wille und meine Liebe stehen auf der einen Seite, meine Vernunft und meine Erfahrung auf der anderen. Doch ich lasse es zu
Ich finde dich! Ich erwache im Dunkeln. Livia und Julia schlafen noch. Leise gehe ich auf den knarrenden Holzdielen entlang bis zu Julias Bett. Ich setze mich neben sie und versuche, sie wach zu rütteln. Sie blickt auf. Erschrocken schnellt sie hoch. Ich muss im Dunkeln und in meinem weißen Nachthemd wohl einem Geist ähnlich sehen. Das verrät mir jedenfalls ihr Blick „Es ist schon bald vier Uhr“, flüstere ich ihr zu. „Ich will einfach wissen, wer mein Vater ist. Wenn wir jetzt den ersten Bus nehmen, dann sind wir um sieben Uhr beim Café, in dem mein Vater gearbeitet hat.“ „Bist du verrückt? Was für ein Café überhaupt?“ Ich seufze. Mein Vater hat in einem Café gearbeitet und dort will ich nun hin. Wenn du nicht mitkommst, gehe ich alleine.“ Enttäuscht schaue ich sie an. „Das ist wirklich eine dumme Idee“, sagt sie nur. Ich drehe mich um und stapfe ins Badezimmer. Ein paar Minuten später komme ich angezogen und mit einer kleinen, gepackten Tasche hinaus. „Ich gehe jetzt“, sage ich überzeugt. Mit großen Schritten verlasse ich das Zimmer. Ich kann froh sein, dass niemand erwacht ist, denn leise war ich nicht. Nun schleiche ich der Wand entlang, die Treppe hinunter und aus dem Haus. Die Tür fällt mit einem lauten Knall hinter mir zu. Wenn jetzt nicht alle wach sind, dann weiß ich auch nicht mehr. Ich renne durch die Dunkelheit, mit schnellen Schritten hinunter zur Bushaltestelle. Schwer atmend setze ich mich dort auf die Bank. Mein Herz schlägt schnell und ich weiß nicht genau, ob das nun von meinem kleinen Sprint kommt oder von der Aufregung. Ich nehme meine Kopfhörer und mein Handy hervor. Die Kopfhörer stecke ich mir ins Ohr und drehe die Musik ganz laut auf. Minuten verstreichen und immer noch starre ich ins Dunkle. Ich spüre eine Hand auf meiner Schulter, mein Herz macht einen Satz und mir stockt der Atem. Erschrocken fahre ich herum. Hinter mir steht Julia. Ich atme aus und meine Erleichterung ist kaum zu übersehen. Wie konnte sie es nur wagen, mich so zu erschrecken? „Ich kann dich doch nicht einfach alleine lassen.“ Dann zieht sie mich in eine lange Umarmung. Mir wird erst jetzt bewusst, wie froh ich doch bin, das nicht alleine durchziehen zu müssen. Ich weiß nicht, ob ich das sonst wirklich geschafft hätte. Nun fährt auch schon der Bus vor und wir steigen ein. Niemand außer uns und der jungen Busfahrerin, die einen relativ freundlichen Eindruck macht, ist im Bus. Wir setzen uns ganz nach hinten und machen es uns bequem. Einen meiner Köpfhörer gebe ich Julia. Es ist eine lange Fahrt. Schließlich stehen Julia und ich an einer Bushaltestelle. Die Sonne ist aufgegangen und es ist frisch. Ich blicke auf mein Handy und suche die Karte raus, die uns zu dem kleinen Café führen soll. „Mach dir bitte nicht zu viele Hoffnungen. Ich will nicht, dass du enttäuscht wirst.“ „Ja klar.“ Julia meint es bestimmt nur gut, aber ich weiß was ich tue. Ich werde meinen Vater finden, mit allen mir zur Verfügung stehenden Mitteln. Julia und ich gehen den Weg entlang, bis wir zu einer schmalen Gasse kommen
Schicksal! „Hey wie geht’s?“, fragt Liam und drückt mir einen Kuss auf den Mund, als ich sein Zimmer betrete „Gut.“ Ich gehe weiter und lasse mich auf sein Bett plumpsen „Ich geh dann mal“, meint Elias, der die ganze Zeit auf seinem Kajütenbett saß. Ich habe ihn gar nicht bemerkt. „Ja, tschau, Elias.“ Liam setzt sich neben mich. „Na, ist schon klar was heute für ein Programm ansteht?“ „Nein, ich habe keine Ahnung.“ Es klopft an der Tür und ich frage mich, wieso Elias wohl schon wieder zurück ist. Liam macht ihm klar, dass er reinkommen kann. Jedoch steht da nicht Elias in der Tür. Es ist Herr Schneider, der mir anscheinend etwas mitzuteilen hat. Er erzählt mir, dass meine Mutter ihn angerufen hat. Herr Schneider gibt mir zu verstehen, dass ich mitkommen soll und so folge ich ihm aus dem Zimmer. Auch Liam kommt hinterher. „Was will deine Mutter von dir?“ „Ich habe keinen blassen Schimmer“, antworte ich und folge Herrn Schneider in sein Zimmer. Er nimmt das Handy und wählt die Nummer meiner Mutter. Nun drückt er es mir in die Hände und verlässt das Zimmer. Liam schaut mich verwirrt an. Ich drücke den Hörer an mein Ohr und es ertönt ein leises Piepsen „Hofmann?“, ertönt da plötzlich eine Stimme. „Hey Mum, was ist denn los?“ „Ähmm, es ist so …“ Ihre Stimme klingt zittrig und verzweifelt. Was kann denn nur so Schlimmes passiert sein, dass sie mich hier anruft. „Gestern wollte ich zu Oma. Als ich da war, öffnete sie die Türe nicht. Zuerst dachte ich, sie möchte wie schon so oft, einfach nicht mit mir reden. Ich holte also den Ersatzschlüssel und ging hinein. Sie lag in ihrem Bett und schlief. Ich wollte sie aufwecken, doch sie wachte nicht auf. Elea …, Oma ist gestorben.“ Ich stand die ganze Zeit nur still da und hörte ihr zu. Erst jetzt realisiere ich, was sie da eigentlich sagt. Der Hörer gleitet mir aus der Hand „Elea?“, kommt Mums Stimme aus dem Handy, welches unversehrt auf dem Boden liegt „Elea?“, sagt nun auch Liam, der gar keinen Plan hat, um was es hier gerade geht „Was ist los?“ Ich kann nicht antworten. Meine Kehle ist wie zugeschnürt. Meine Knie werden weich und meine Beine beginnen zu zittern. Dann falle ich zu Boden. Mums Stimme ertönt noch immer aus dem Handy. Ich drücke auf den roten Knopf und plötzlich herrscht Stille. Liam, der immer noch keine Ahnung hat, hebt mich hoch und trägt mich bis in mein Zimmer. Eine Träne nach der anderen fließt über meine Wangen, wie ein Wasserfall aus Trauer. Liam wischt sie mit seinen kalten Händen zur Seite. Eine ganze Weile liege ich einfach nur so da. Ich schließe meine Augen und versuche einfach alles zu vergessen. Ich möchte nur schlafen und mich von der realen Welt zurückziehen, um in meine Fantasiewelt abzutauchen. Als ich die Augen wieder öffne, sitzt Liam auf dem Bett mir gegenüber. Als er bemerkt, dass ich wach bin, steht er auf und kommt auf mich zu „Alles ok?“, fragt er. Ich nicke nur. Doch eigentlich ist überhaupt nichts ok. Er erklärt mir, dass Herr Schneider ihm erzählt hat, was passiert ist und dass alle anderen einen Ausflug machen. Das interessiert mich jedoch nicht wirklich. Dann setzt er sich neben mich auf’s Bett. Ich lege mich wieder hin, mit meinem Kopf auf seinen Beinen und blicke ihm direkt in die Augen „Ich habe sie wirklich mehr geliebt als alles andere“, sage ich ruhig. „Wieso musste sie ausgerechnet jetzt gehen, als ich nicht bei ihr war. Das ist doch verrückt.“ „Das Leben ist verrückt, Elea.“ Damit hat er wohl Recht. Da kann ich ihm zu 100 % zustimmen. Wieso das aber so ist, werde ich nie verstehen „Willst du nach Hause?“, fragt er mich nun „Was?“ Ich bin ein bisschen verwirrt und verstehe die Frage nicht ganz „Deine Mum hat mich gefragt, ob du nach Hause willst. Ich habe mit ihr telefoniert“, antwortet er. Ich überlege kurz, doch dann antworte ich mit „Nein“. Ich denke nicht, dass es jetzt viel bringen würde, wenn ich mich zu Hause in meine Decke kuschle und den Rest der Sommerferien weinend verbringe. Hier habe ich wenigstens etwas Ablenkung. Ich muss schnell auf die Toilette und begebe mich deshalb auf wackligen Beinen in Richtung Badezimmer. Ich nehme mir meinen kleinen Spiegel aus dem Kulturbeutel. Ich kann ihn nicht halten und er fällt zu Boden. Dort zerbricht er in zwei Teile. Ich hebe die eine Hälfte auf und betrachte mich. Meine Augen sind rot vom vielen Weinen „Alles in Ordnung?“, ruft Liam aus dem Zimmer. „Ja.“
Verborgen! Heute ist es Julia, die mich aus meinem Tiefschlaf reißt. Es ist drei Uhr nachts. Sie hat ein Taxi gerufen, welches uns zu dem ehemaligen Wohnort meines Vaters bringen soll. Oder vielleicht wohnt er immer noch da? Ich werfe mir meinen Lieblingspulli über den Kopf und ziehe meine Jeans an. Draußen ist es stockdunkel. Hoffentlich läuft es so gut wie beim letzten Mal und es bemerkt uns niemand. Wir steigen ins Taxi und fahren stundenlang durch die Dunkelheit. Kurz nach sechs Uhr kommen wir an „Wir sind so dumm“, sagt Julia, „wir haben nicht bedacht, dass um diese Uhrzeit natürlich noch niemand wach ist.“ Mist, daran habe ich wirklich nicht gedacht. Wir müssen Livia anrufen und sie einweihen. Damit sie sich eine Ausrede überlegen kann, wenn Herr Schneider nach uns sucht. Ich zücke mein Handy und tippe ihre Nummer ein „Es ist 6:30 Uhr wo seid ihr?“, sagt sie verschlafen „Ähhmmm …, bitte raste nicht aus.“ Ich versuche ihr zu erklären, was los ist und wozu ich ihre Hilfe brauche. Als ich ihr alles gesagt habe, meint sie nur: „Wow, ja klar mach ich.“ Dann herrscht Stille. Ich höre ein Knacken und sie legt auf. „Sie hilft uns“, sage ich überrascht zu Julia. „Also glaube ich, viel hat sie nicht gesagt.“ Wir laufen wie beim letzten Mal los, durch eine kleine Altstadt, bis wir schließlich bei der richtigen Adresse ankommen. Auf dem Klingelschild steht Lorenzo Bianchi „Das ist definitiv nicht mein Vater“, sage ich enttäuscht. Julia schaut mich voller Mitleid an. „Komm, wir gehen ein wenig spazieren. Danach frühstücken wir und in ein paar Stunden kommen wir hierher zurück und klingeln. Vielleicht weiß der Besitzer etwas über deinen Vater.“ „Ja, geht klar! Ich denke, das ist eine gute Idee.“ Voller Elan machen wir uns auf den Weg, um uns das Warten mit der Besichtigung des schönen Italiens noch ein wenig zu versüßen. Dieses Land ist ein wahres Wunder. Könnte ich doch nur für immer hier bleiben. Früher habe ich mir oft vorgestellt, wie es hier wohl ist. Immerzu habe ich gedacht, wenn ich doch nur dort sein könnte, wo meine Gedanken gerade sind. Doch so etwas wie Telepathie gibt es in unserer Welt leider noch nicht. Wunder oder wahre Zufriedenheit leider auch nicht. Was mich wiederum zurück zu dem Gedanken an meinen Vater bringt. Wenn ich ihn finden würde, wäre ich dann vollkommen glücklich? Werde ich irgendwann dieses Wunder der Zufriedenheit erleben? Ich kenne keinen Menschen, der das erreicht hat außer meiner Oma. Doch wenn ich nur schon ein paar Sekunden lang dieses Gefühl empfinden dürfte, könnte ich behaupten, dass es für mich immer einen Grund geben wird zu leben. Denn es lohnt sich besonders für diese schönen Momente. Zur Zeit ist jedoch mein Vater der Grund dafür, dass ich dieses Ziel noch nicht erreicht habe. Deshalb ist das mein größter Wunsch. Da nun schon einige Zeit vergangen ist, gehen Julia und ich zurück zu dem ehemaligen Wohnort meines Vaters. Ich steige die Treppe zur Haustür hinauf „Soll ich wirklich klingeln?“ Verunsichert schaue ich zu Julia hinüber. „Ja klar, wenn du jetzt diese Chance hast, etwas über deinen Vater herauszufinden, dann musst du diese unbedingt nutzen.“ Sie stellt sich neben mich und lächelt mich aufmunternd an „Und schlussendlich muss sowieso ich mit dem Besitzer sprechen, denn du verstehst kein einziges Wort Italienisch“, fügt Julia hinzu. Damit hat sie auf jeden Fall Recht. Ermutigend greift sie nach meinem Finger, drückt ihn gegen die Klingel und ein schriller Laut ertönt. Kurz darauf höre ich Schritte und die Tür öffnet sich. Ein kleiner, alter Mann steht vor uns. Er trägt ein schickes Hemd und eine alte Jeans. Auf seinem Kopf hat er einen kleinen Hut und in seiner Hand hält er eine schwarze Jacke. Sein Gesicht sieht freundlich aus und er lächelt mich mit einem erwartungsvollen Blick an. Ich sehe zu Julia, die nun versucht dem Mann zu erklären, warum wir hier sind. Verständnisvoll sieht er uns an. Ich verstehe nicht, was die beiden da besprechen, aber so wie es aussieht, ist der Mann bereit uns zu helfen. Was gut ist, denn das war unsere erste große Hürde „Er sagt, dass er gerade spazieren gehen wollte und ob wir ihn begleiten würden“, übersetzt Julia. Gemeinsam mit dem Mann machen wir uns auf den Weg. Es stört mich und treibt mich beinahe in den Wahnsinn, dass ich nicht verstehen kann, was der Mann erzählt. Ich möchte unbedingt wissen, ob er etwas über meinen Vater weiß. Vielleicht gibt es dadurch eine Chance, ihn zu finden. Wir spazieren eine ganze Weile durch die Altstadt, bis wir schließlich vor einem Café stehen bleiben und der alte Mann sich von uns verabschiedet. Als er im Café verschwunden ist, blicke ich Julia erwartungsvoll an „Sprich!“ Ich vermute, mein Verhalten ist momentan ein bisschen zu hysterisch. Das ist hoffentlich auch der Grund, warum Julia ihre Augen verdreht und mir befiehlt, mich erst einmal zu beruhigen. Ist ja klar, denn sie kann wahrscheinlich nicht verstehen, wie es ist, ganz gespannt darauf zu warten, etwas über seinen eigenen Vater zu erfahren. „Komm schon, ich warte bereits seit dem Spaziergang. Es wird endlich Zeit, dass du mir sagst was Sache ist. Sonst drehe ich durch.“ „Okay! Es ist so. Dieser Mann hat wirklich deinem Vater das Haus abgekauft. Jedoch hat er keine Informationen über ihn. Keine Adresse und seine Telefonnummer ist auch nicht mehr gültig. Das einzige, was er weiß ist, dass dein Vater nach dem Hausverkauf nach Deutschland zog.“ „Scheiße!“, sage ich lautstark. „Deutschland ist riesig, da habe ich keine Chance ihn zu finden.“ Traurig blicke ich zu Boden. Julia zieht mich an sich und nimmt mich in den Arm „Tut mir leid“, flüstert sie mir zu. Meine Augen sind feucht und ich muss mich anstrengen, um die Tränen zurückzuhalten. Meine letzte Hoffnung ist soeben in tausend Einzelteile zersprungen und nichts und niemand kann sie wieder zusammenfügen. Ich werde ihn nicht finden. Ich muss lernen, mit all diesen Fragen in meinem Kopf umzugehen und leider auch mit der Gewissheit, keine vollständige Zufriedenheit empfinden zu können. Der Gedanke an meinen Vater wird immer irgendwo in meinem Hinterkopf bleiben. Julia nimmt mich bei der Hand und zieht mich mit sich „Komm, wir fahren wieder zurück“, seufzend geht sie weiter. Mit starrem Blick folge ich ihren Schritten. Der Weg bis zum Bus ist anstrengend. Meine Beine werden immer schwerer und ich kann meine Augen nicht mehr lange offen halten. In der Ferne kann ich den Bus erkennen und wir beginnen schneller zu laufen, bis wir schließlich bei unserem dort ankommen. Die Fahrt dauert eine gefühlte Ewigkeit, doch dann kommt unsere Haltestation in Sicht und wir steigen aus. Wir stehen vor der Unterkunft und meine Hand umklammert den schweren, eisernen Türgriff. Ich drücke ihn hinunter und öffne die Tür. Niemand ist im Haus und es ist so still wie noch nie zuvor. Nicht einmal bei Nacht ist es so ruhig. Wir treten ein und mit trägen Schritten gehen wir hoch in unser Zimmer und hoffen ganz fest, dass uns dabei niemand entdeckt. Dort angekommen schaue ich aus dem Fenster und blicke auf den überfüllten Strand. „Die sind alle im Wasser“, sage ich zu Julia. Sie wirft mir einen kritischen Blick zu, dann meint sie: „Ich gehe auch hinunter, aber du bleibst wohl besser hier und schläfst noch ein bisschen. Du siehst total müde aus.“ Ich muss ihr zustimmen, ich habe wirklich noch sehr viel Schlaf nötig. Ich sehe aus wie ein Geist und nicht wie ein Mensch und in meinem Innern sieht es genauso aus. Julia schnappt sich ihre Badesachen und läuft zur Tür „Ist alles okay?“, fragt sie mich. In bin mir nicht sicher, was genau ich darauf antworten soll, denn ich habe soeben die Hoffnung verloren, meinen Vater zu finden. Aber nachdem ich nicke und ihr ein Lächeln vortäusche, winkt sie mir zum Abschied und verlässt den Raum. Erschöpft lege ich mich auf mein Bett und schlafe kurz darauf ein. Ich stehe in Liams Zimmer. Ich bin alleine und verlassen. Niemand ist bei mir. Die Tür öffnet sich und Liam tritt ein. Seine Augen zeigen mir klar, wie leid ihm alles tut, doch ich beginne ihn anzuschreien. Ich weiß nicht wieso, denn das was ich da spreche, stimmt überhaupt nicht mit meinen Gedanken überein. Meine Stimme ist laut und aufbrausend. Liam schaut mich entschuldigend an und will mir alles erklären. Doch aus mir spricht die Wut. Da ist kein anderes Gefühl. In mir drin ist gar nichts. Ich weiß nicht, wieso wir uns überhaupt streiten. Schließlich stoße ich ihn weg und er stürzt mit voller Wucht gegen das Regal. Er fällt zu Boden und um ihn herum entsteht eine riesige Blutlache. Geschockt setze ich mich neben ihn auf den Boden. Ich lege meine Finger an seine Halsschlagader um seinen Puls zu fühlen. Doch da ist gar nichts. Sein Herz hat aufgehört zu schlagen
Truth! Leise schleichen wir uns ins Schlafzimmer von Ben. Die Türe knarrt, als ich sie öffnen will „Schhhh …“, macht Julia und sieht mich mit einem finsteren Blick an „Ist ja gut. Was kann ich denn dafür, dass diese alte Tür so laut ist“, flüstere ich. Im Zimmer ist es stockdunkel und wir zünden unsere Taschenlampen an „Da ist ja Liams Tasche“, sagt Livia. Ihr Finger zeigt auf die große, grüne Sporttasche, die zusammengedrückt in der Ecke liegt. Leise gehe ich hin und hebe die Tasche auf. Ich stürze jedoch über eine kleine Dose. Ein leises Scheppern ertönt und der ganze Inhalt der Tasche liegt auf dem Boden „Mist!“, fluche ich leise vor mich hin. Schnell hebe ich alles auf und packe es zurück in die Tasche. Da bemerke ich einen kleinen Zettel, der zusammengeknüllt zwischen all diesen Dingen liegt. Ich nehme ihn in die Hand und falte ihn auf. „Hör auf damit, das macht man nicht“, sagt Livia. „Wir müssen gehen, es hat uns bestimmt jemand gehöhrt.“ „Liam ist mein Bruder“, sage ich plötzlich. Julia sieht mich verwirrt an. „Was? Das glaube ich nicht! Zeig her!“ Sie reißt mir den Zettel aus der Hand und liest. Wie versteinert stehe ich neben ihr und glaube nicht, was ich da gerade erfahren habe. Liam ist mein Bruder. Wie kann das sein? Warum weiß ich nichts davon? Mein Leben lang wurde mir verschwiegen, dass ich noch einen Bruder habe. Wenn er die ganze Zeit wusste, dass ich seine Schwester bin, wieso ist er dann überhaupt mit mir zusammengekommen? Ich bin fassungslos. Liam ist mein Freund und nicht mein Bruder. Das kann doch alles nicht wahr sein „Meine Schwester Elea Hofmann“, liest Julia vor. An den Zettel ist ein Foto von mir geheftet „Ich muss zu ihm, jetzt sofort. Das kann doch alles nur ein Scherz sein“, sage ich, doch Livia stellt sich vor mich und hält mich auf „Das ist nicht die Wahrheit. Elias ist dein Bruder. Der Zettel ist nur in Liams Tasche, weil er Elias geholfen hat, Informationen über dich zu finden.“ Ich kann nicht verstehen, was sie mir erklären will. Jetzt soll also Elias mein Bruder sein. Eigentlich sollte mir jetzt ein Stein vom Herzen fallen, doch sie haben mich alle belogen „Dann muss ich jetzt eben mit Elias sprechen“, sage ich und renne aus dem Zimmer „Er weiß es!“, ruft Livia mir hinterher „Ja, klar weiß er es, schließlich gehört ihm ja der Zettel!“, schreie ich zurück. Was ist denn jetzt los? Scheinbar wissen alle um mich herum, dass ich Elias Schwester bin. Nur mir hat niemand etwas gesagt. Ich renne den Flur entlang und platze in sein Zimmer. Er sitzt auf seinem Bett. Neben ihm sitzt Liam, der zusammenzuckt, als sich mit einem Ruck die Tür öffnet. Als Elias mich erblickt, schaut er mich verwirrt an „Du hast die ganze Zeit gewusst, dass du mein Bruder bist und hast mir nichts gesagt. Dann bist du auch noch so blöd, jemand anderem den Zettel unterzuschieben, damit niemand Verdacht schöpft. Das ist wirklich das Letzte!“, schreie ich ihn an und ich spüre, wie mir die Tränen in die Augen steigen. Mein Körper ist starr und ich kann mich nicht mehr bewegen. Meine Augen brennen „Ich …, lass es mich dir erklären!“, sagt er und aus seiner Stimme höre ich die Verzweiflung sprechen. Doch ich möchte keine Erklärung. Kein Grund der Welt, kann das wieder gut machen. Livia und Julia kommen jetzt auch ins Zimmer gestürmt und bleiben stehen, als sie uns beide erblicken „Wer wusste noch alles davon?“, frage ich und drehe mich zu Livia um „Nur Elias, ich und … ähm … Liam war auch eingeweiht. Das ist der Grund, wieso du den Zettel bei ihm gefunden hast“, sagt sie ganz leise, als hätte sie Angst, ich würde jede Minute auf sie losgehen. Sie sollte auch große Angst haben, denn ich bin nicht weit von dieser Tat entfernt. Am liebsten würde ich allen eine verpassen. Die Tränen fließen mir jetzt nur so die Wangen runter. Liam wusste es auch! Diese Worte ziehen mich wie ein Sog hinunter. Wie eine Riesenwelle, die über mich kommt und alles unter sich begräbt. Ich fühle mich innerlich wie tot, nur der Schmerz lässt mich wissen, dass ich noch am Leben bin. Diese Menschen haben mir so viel bedeutet und jetzt war alles nur eine Lüge. Ich hätte nie gedacht, dass ich jemals so einen starken Schmerz verspüren könnte
Einsamkeit! Eine Woche ist es nun schon her. Eine Woche voller Trauer und Einsamkeit. Kurz nachdem ich die Wahrheit erfahren hatte, erwachte ich im Krankenhaus wieder. Die Krankenschwester erklärte mir, dass ich mich in einem Schockzustand befand und deshalb das Bewusstsein verlor. Es wurde ein Krankenwagen gerufen und sie haben mich ins Krankenhaus gebracht. Ich selbst konnte mich an nichts mehr erinnern. Da ist nur ein riesengroßes, schwarzes Loch. Meine Mutter und meine Freunde warteten schon die ganze Zeit vor der Tür. Doch ich bat die Krankenschwester, sie nicht hereinzulassen. Sie haben mich alle hintergangen und ich wollte nicht mit ihnen sprechen. Das werde ich ihnen nicht so schnell verzeihen können. Ich lag gefühlte zehn Stunden in diesem weißen, scheußlichen Raum und wollte mit niemandem sprechen. Irgendwann holte mich endlich eine Krankenschwester. Meine Mum stand draußen und dann kam die qualvolle Aufgabe, mit ihr im Auto nach Hause zu fahren. In unserem kleinen, stickigen Auto gab es für mich keinen Platz zum Durchatmen und es machte mich fast verrückt, so nah bei meiner Mum zu sein. Ich antwortete auf keine ihrer Fragen oder ihren Versuch, sich bei mir zu entschuldigen. Ihre völlig unverständlichen Erklärungen machten mich noch wütender. Das Schlimmste war jedoch der altbekannte Satz, den sie immer wiederholte „Es ist alles nicht so, wie du denkst.“ Diesen Satz kenne ich eigentlich nur aus kitschigen Liebesfilmen. Klar wundert es mich, wie es zu all diesen Geheimnissen kam. Doch ich wollte mir keine Erklärung anhören, denn ich glaube ihr kein Wort mehr. Jeder einzelne Satz war gelogen und das würde ich mir nicht noch weitere Jahre antun. Zuhause angekommen, brachte mich meine Mutter sofort in mein Zimmer. Ich war immer noch ziemlich wacklig auf den Beinen und konnte kaum gehen. Bei jedem Schritt sank ich ein wenig mehr in mich zusammen. Doch nun bin ich hier gelandet. Seit einer Woche sitze ich schon hier in meinem Bett und habe mich kaum bewegt. Ich schlafe und ab und zu bringt Julia mir etwas zu essen. Von meiner Mutter will ich nichts entgegennehmen, aber Julia kann nichts dafür. Ich darf sie nicht genauso abweisen, wie alle anderen. Doch mein Bett werde ich trotzdem nicht verlassen. Meine Knie halte ich eng mit meinen Armen umschlungen und schon seit Stunden starre ich diese weiße Wand an. Immer wenn ich denke, dass nun wahrscheinlich der richtige Moment wäre, um mit jemandem darüber zu sprechen, muss ich an Oma denken und dann wird alles nur noch schlimmer. Es zerreißt mich, dass sie nicht mehr da ist und ich vermisse sie so sehr. Keine Tränen der Welt können diesen Schmerz beschreiben, den ich empfinde. Die ganze Woche verbringe ich damit, darüber nachzudenken, wieso dies alles genau mir passieren musste. Und wieso kamen alle diese Ereignisse auf einmal zusammen? Wie eine Welle, die mich überflutet. Sie hat mich ausgeschaltet, mich erdrückt und zunichtegemacht. Wozu dies alles? Wenn ich den Sinn nicht verstehe, warum suche ich dann weiter danach? Warum lassen wir all die Schmerzen und Sehnsucht über uns ergehen? Wir werden zerstört und unsere Seele zerrissen. Warum können wir das nicht einfach beenden? Ich weiß, Selbstmord ist eine schreckliche Sache. Niemand kann das bestreiten. Doch ist der Gedanke, keine Schmerzen mehr zu verspüren, nicht der schönste überhaupt? Suizidgefährdete werden von der Menschheit oft nicht verstanden. Doch Shakespeare sagte mal: „Der Narben lacht, wer Wunden nie gefühlt.“ Deshalb denke ich, dass diese Menschen sehr stark sind. Denn niemand in ihrem Umfeld bemerkt, wie kaputt sie innerlich eigentlich sind. KAPUTT! Genauso wie ich mich gerade fühle. Doch ich bin nicht stark. Bei mir merkt jeder Mensch aus zehn Kilometern Entfernung, wie kaputt ich bin. Wegen Oma, Elias, meinem Vater und Livia. Doch am meisten quält mich der Gedanke an Liam. Vor dem Lager hätte ich niemals gedacht, dass ich für einen Menschen je so etwas empfinden könnte wie für Liam. Wenn du verliebt bist und verletzt wirst, ist das wie eine Wunde. Es wird heilen, aber es wird immer eine Narbe bleiben. Denn die Wahrheit ändert sich nicht. Ich weiß nicht, ob ich ihm oder irgendwem von ihnen, jemals verzeihen kann. Er hat gesagt, er liebt mich. Doch es gibt Menschen, deren Taten zeigen, dass ihre Worte nichts wert sind. Wir vergessen aber nie die Menschen, die uns gezeigt haben, wie sich Liebe anfühlt. Liebe bedeutet Glück und Geborgenheit, aber oft auch Schmerz, Trauer und Vermissen. Verliebt sein heißt noch lange nicht, auch immer glücklich zu sein. Wo viel Gefühl ist, ist auch viel Leid. Kein Feind kann dir so wehtun wie der Mensch, den du liebst. In der letzten Zeit hat mich Julia sehr oft besucht. Sie ist noch die einzige Person, der ich vertrauen kann. Ich kann mit ihr über meine Trauer sprechen. Sie sagt mir oft, dass ich weiterleben soll, und dass ich nicht mein ganzes Glück von ein paar Personen abhängig machen darf. Ich habe es probiert. Etwas zu verdrängen, ist die einfachste Lösung, aber auf Dauer tötet es die Seele. Der schlimmste Schmerz ist der, den du nicht zeigen, nicht erklären, über den du nicht reden kannst und der dein Herz zerreißt, deine Seele zum Weinen bringt und dich innerlich zerstört. So zu tun, als ob es nicht wehtut, tut am meisten weh. Davon erzählen kann ich aber auch niemandem. Im Sprechen bin ich nicht sehr gut. Ich kann es ihm nicht sagen, dazu fehlt mir der Mut. Deshalb stehe ich auf, schnappe mir einen Notizblock und beginne alles aufzuschreiben. Ich glaube, darin bin ich wirklich besser, denn schon nach kurzer Zeit stehen meine ganzen Emotionen in Worten auf diesem kleinen Stück Papier. Für mich gibt es keinen besseren Weg auszudrücken, wie es mir geht. Lieber Liam, Hast du schon mal jemanden kennengelernt, bei dem du sofort gedacht hast, es wird so wehtun, wenn er geht? Du warst so eine Person für mich. Es tut weh. Ich hätte nie zulassen dürfen, dass du mir so wichtig wirst. Ich wusste von Anfang an, dass ich dich irgendwann verliere, denn so läuft es immer. Du bist in mein Leben gekommen und kurz darauf wieder gegangen. Doch in dir habe ich eine Person kennengelernt, die mir gezeigt hat, dass Liebe nicht nur ein Wort ist. Du hast mir aber auch gezeigt, wie schmerzhaft Liebe sein kann. Wenn ich liebe, dann liebe ich mit ganzem Herzen und dann gibt es keinen anderen. Ich liebe dich und ich weiß nicht, ob all diese Worte je beschreiben können, wie sehr ich es tue. Aber das wird nicht mehr helfen, denn du bist jetzt weit weg von mir. Glück wird zu Trauer, Liebe wird zu Schmerz, Freude wird zu Einsamkeit und du wirst zu einer Erinnerung. Ich liebe dich trotz allem, was du mir angetan hast. Wieso ich dich immer noch liebe, ist ganz einfach. Es sind deine Augen, die mich inspirieren. Es ist dein Lächeln, das mein Herz schneller schlagen lässt. Wenn du bei mir bist, tanzt mein Verstand, mein Herz atmet und meine Augen lieben. All das vermisse ich. Ich vermisse dich. Vermissen … Ein Gefühl, das schwer zu beschreiben ist, aber trotzdem unglaublich intensiv. Es ist erstaunlich, wie sehr man die Nähe eines Menschen vermissen kann, obwohl es noch 7 Milliarden andere gibt. Ich vermisse deine Stimme. Ich vermisse deine Gegenwart. Ich vermisse deine Art. Ich vermisse dich. Du bist all das, was ich brauche, was ich liebe und was mir fehlt. Es gibt keine Wörter oder Tränen, die beschreiben, wie sehr ich dich vermisse. Egal, was ich mache. Egal, wie ich mich ablenke. Egal, wie laut die Musik ist. Die Sehnsucht nach dir ist immer lauter. Ich schließe meine Augen und sehe dein Gesicht. Ich berühre meine Lippen und denke an dich. Wenn ich nachts wach liege, dann nur wegen dir. Ich denke nach, bis mir die Tränen kommen und ich jegliche Hoffnung verliere, dich je wieder zu sehen. So enden meine Tage in letzter Zeit immer und das alles nur weil ich dich einfach schrecklich vermisse. Willkommen in der Hölle. Hier bin ich jetzt gelandet. Ich fühle mich einsam. Ich lache, will aber weinen. Ich spreche, will aber schweigen. Ich tu so, als wäre ich glücklich, aber zerbreche gerade. Plötzlich klingt jedes Liebeslied so, als wäre es nur für dich geschrieben. Diese Gefühle zerstören mich. Doch manchmal, wenn ich an die schönsten Momente mit dir denke, huscht ein kleines Lächeln über mein Gesicht. Das schönste am Leben sind genau die kleinen Momente, die du nicht hören oder sehen kannst, du kannst sie nur im Herzen fühlen. In diesen Momenten spürst du, du bist zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Dich kennenzulernen war eines der schönsten Dinge in meinem Leben. Am Tag warst du mein schönster Gedanke. In der Nacht mein schönster Traum und wenn du bei mir warst, der schönste Moment. Wenn jetzt der einzig mögliche Weg ein Traum ist …, dann lass mich ewig schlafen! Manchmal merkt man erst wie sehr man einen Menschen liebt, wenn man ihn verliert. Kein Mensch war ohne Grund in deinem Leben. Der eine war ein Geschenk, der andere eine Lektion und du warst beides. Wenn ich jetzt nur noch zwei Atemzüge hätte, würde ich den einen nehmen, um dich zu küssen und den anderen, um dir zu sagen, dass ich dich liebe
Leben! Es ist Morgen, die Sommerferien sind vorbei und für mich geht es wieder zurück in die Schule. Doch diese Ferien haben mich verändert. Nichts ist mehr, wie es war. Während dem Unterricht erzählen alle meine Freundinnen von ihren aufregenden Ferien „Ich war mit meiner Familie in der Türkei und Mia und ich sind oft im Meer baden gegangen und …“, sagt Delia. Anscheinend hat auch sie, wie alle meine Freundinnen, wirklich tolle Ferien gehabt „Und du Elea?“, fragt sie nun mich „Ich war in Italien und ich …, ich weiß nicht, ist alles etwas scheiße gelaufen. Ich habe einen Bruder“, platzt es aus mir heraus „Das wissen wir“, sagt Delia und blickt mich etwas irritiert an „Nein, den meine ich nicht“, rechtfertige ich mich, „ich habe noch einen Halbbruder, er heißt Elias. Ich weiß, ist jetzt wahrscheinlich alles sehr verwirrend. Bei mir war es noch viel schlimmer. Ich verlor mein Bewusstsein und erwachte einige Stunden später wieder im Krankenhaus.“ Bei diesem Gedanken huscht mir ein kleines Lächeln übers Gesicht und auch Delia und Julia beginnen plötzlich laut zu lachen. „So etwas kann auch nur dir passieren“, sagt Selina mit ihrer quietschigen Stimme und gackert dabei wie ein kleines Huhn. Zum ersten Mal seit Langem, empfinde ich wieder so etwas wie Freude oder Spaß. Julia blickt zu mir und sieht mich mit einem herzlichen Lächeln an. Das ist der Moment, in dem ich sagen kann, dass es nie vorbei ist. Es gibt immer etwas, was einem wieder nach oben helfen kann. Bei mir sind es meine Freundinnen, die immer noch neben mir sitzen und sich kaum noch halten können vor Lachen. Auch Fabienne und Selina lachen nun. Philip, der neben uns sitzt, wirft mir einen bösen Blick zu. Er hat ja Recht. Neben uns kann man sich ganz bestimmt nicht konzentrieren, aber was soll’s. Das interessiert mich momentan überhaupt nicht. Nach unserem Lachflash erzähle ich ihnen natürlich auch von allen Problemen, die diese Geschichte mit sich bringt. Doch jetzt frage ich mich, wieso ich es nicht schon viel früher geschafft habe, mit jemandem darüber zu sprechen. Es tut so gut davon zu erzählen, Unterstützung zu bekommen und einfach mal alles rauszulassen. Sie sind die Menschen, die immer für mich da sein werden, egal was passiert. Mit ihnen kann ich endlich auch über die traurigen Dinge lachen, aber natürlich auch über die tollen, wie zum Beispiel jetzt. Unser Lehrer kommt ins Schulzimmer und geht wieder raus. Er wollte eigentlich die neuen Deutschbücher holen. Jedoch steht er nun wieder vor uns, aber ohne Bücher. Seine Vergesslichkeit ist schrecklich und kaum zu ertragen. Im Moment aber, macht es uns Riesenspaß. Wenn es doch nur immer so sein könnte. Julia legt ihre Hand auf meine und drückt sie leicht. Ihr Blick ist voller Mitleid. Ich erkenne in ihr die Hoffnung, dass mich dies wieder so glücklich macht wie früher. Vielleicht hofft sie auch, dass ich wieder so werde wie früher, aber bis dahin ist es noch ein langer Weg und schließlich wird mein Schicksal entscheiden, wie die Geschichte ausgeht. Julia trägt aber sicherlich Großes dazu bei. Sie ist immer für mich da und das macht mich glücklich. Mit ihr kann ich lachen, weinen und über alles sprechen. Sie ist die Hand, die mich festhält, wenn ich falle. Das war sie schon immer und das wird sie auch für immer bleiben. Sie hat mich noch nie enttäuscht belogen oder hintergangen
Rosenhauch! Geliebte Oma. Du glaubst gar nicht, von was für einer Trauer ich überflutet wurde, als ich von deinem Tod erfuhr. Es ist egal, zu welchem Zeitpunkt man einen geliebten Menschen verliert, denn es tut immer weh und es ist immer zu früh. Ich war nicht da, als du gestorben bist. So viel Zeit in meinem Leben habe ich mit dir verbracht und doch war ich genau zu diesem Zeitpunkt nicht bei dir. Sie haben mich auch nicht zu deiner Beerdigung gelassen, weil sie meinten, dass ich das nicht verkraften würde. Sie sagen, ich bin schwach. Ich weiß es ganz bestimmt, denn ich habe Mum und Tante Anna reden hören. Deshalb bin ich nicht gekommen. Dieser Gedanke tut mir in der Seele weh. Niemals werde ich es mir verzeihen können, mich nicht richtig von dir verabschiedet zu haben. Die Tränen, die nun in meinen Augen brennen, werden vergehen, der Schmerz jedoch wird bleiben. Aber auch all die schönen Erinnerungen an dich werden bleiben. Weißt du noch, als ich letztens bei dir war und wir gemeinsam die alten Fotoalben von dir und Opa angeschaut haben? Ich hatte schon lange nicht mehr so viel gelacht wie an diesem Tag. Bei niemandem wird es mir je so leichtfallen, glücklich zu sein wie bei dir. Da wird mir mal wieder klar, was für einen hohen Anspruch der Himmel hat. Er nimmt halt nur die besten Engel. Ich denke oft darüber nach, wie es dir wohl geht, dort wo du jetzt bist. Ich wünschte, ich könnte dich fragen. Mit dir zu sprechen, würde mir so guttun. Genau aus diesem Grund erzähle ich dir alles. Denn ich weiß, du hörst mir zu und ich weiß, du wirst immer bei mir sein, ganz egal wohin ich gehe. Für immer, deine Elea. Träge lege ich den Stift aus meiner Hand und greife zu einem Briefumschlag. Ich falte den Brief und lege ihn hinein. Eine Träne tropft auf den Umschlag und die Worte, die ich in feinsäuberlicher Handschrift darauf geschrieben habe, verschmieren. Doch es verschmiert nicht die Bedeutung von all diesen wundervollen Worten. Sie drücken etwas aus, was mir überhaupt niemand nehmen kann und sie verbinden mich stärker mit Oma als alles andere. Vorsichtig schnappe ich mir mein Handy und schleiche aus dem Zimmer. Ich ziehe meine riesige, schwarze Regenjacke, sowie die Stiefel an und nehme einen Schirm mit. Den Brief verstecke ich unter meiner Jacke, damit er auch sicher heil und trocken ankommt. Ich öffne die Tür und sehe nach draußen. Es schüttet wie aus Eimern. Niemand würde bei diesem Wetter freiwillig nach draußen gehen. Das ist natürlich umso besser für mich, denn ich brauche jetzt unbedingt meine Ruhe. Ich gehe hinaus in den Regen und knalle die Tür hinter mir zu. Das kalte Wasser klatscht auf meine Haut. Mit eiligen Schritten laufe ich los. Die Pfützen auf dem Boden werden immer größer und der Wind wird immer stärker. Ich spüre meine Finger nicht mehr, denn es ist sehr kalt und mit jedem Schritt wird meine Kleidung schwerer und schwerer. Weit und breit ist niemand zu sehen. Nur ich bin da. Ich kämpfe gegen den Regen an, doch in Wahrheit kämpfe ich nur gegen mich selbst. Ein paar Minuten später komme ich klatschnass beim Friedhof an. Ich war noch nie hier, seit Oma gestorben ist. Nicht einmal bei ihrer Beerdigung durfte ich dabei sein. Ich saß Zuhause und habe geweint. Ich öffne das Tor zum Friedhof und trete ein. Dabei werde ich von einem Gefühl erfüllt, das ich nicht wirklich beschreiben kann. Es ist Trauer, Angst, Wut und Einsamkeit. Alles kommt auf einmal und ich wünsche mir, dass jedes dieser Gefühle wieder verschwindet. Alle zusammen lösen in mir einen riesigen Schmerz aus, der nicht zu beschreiben ist. Es ist ein unerträgliches Gefühl. Trotzdem mache ich noch einen Schritt und trete weiter ein. Ich laufe den kleinen Wegen, zwischen den Grabsteinen, entlang. Der Kies knarzt unter meinen nassen Füßen. Niemand außer mir ist hier. Ist ja auch logisch, bei diesem schlechten Wetter. Ich betrachte die vielen hübschen Blumen, die vor den Grabsteinen liegen und vom Sturm durcheinandergewirbelt worden sind. Und da ist er! Der Grabstein meiner Oma. Er ist wunderschön und glänzt von dem starken Regen. Ich nehme den Brief unter meiner Regenjacke hervor und lege ihn vor den Grabstein, zwischen die vielen Rosen. Die Tränen fließen wie ein Fluss meine Wangen hinunter
Betonherz! Ich bin vor ein paar Minuten zuhause angekommen und habe mich in mein Zimmer geschlichen. Kurz darauf klingelt es an der Tür. Ich öffne sie und sehe ihn an. Nun steht er wieder vor mir. Ich saß Tage lang herum, verlassen von aller Freude, die ein Mensch je empfinden konnte. Meine Haltung wirkt aggressiv, als Liam vor mir steht. Er hat mich am meisten verletzt und mein Herz in Stücke gerrissen. In manchen Zeiten der Wut, fanden die Einzelteile wieder zu einem großen Brocken Eis zusammen, nur um im nächsten Moment der Trauer wieder zu zerbrechen. Doch das ist Liebe. Wir gehen an dem zugrunde, was wir lieben. Ich verstehe sowieso nicht, wieso er hergekommen ist. Es macht mich wütend, denn wenn er wieder vor mir steht, kann ich ihn nicht hassen. Diese ehrlichen und treuen Augen, mit denen er mich entschuldigend ansieht, die können nicht nur eine Lüge sein. Er bricht mich jeden Tag ein bisschen mehr, denn er hat Schatten gebracht, wo es früher einmal hell war „Hey“, vorsichtig macht er einen Schritt auf mich zu. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. In seiner Nähe fühle ich mich so machtlos und zerbrechlich. Nach den ersten Tagen in der Schule und dem Besuch bei meiner Oma, geht es mir endlich wieder besser und jetzt steht Liam vor mir „Hey“, erwidere ich nun mit einer Aggressivität in meiner Stimme, die ich noch nie zuvor gespürt habe „Ich möchte bitte mit dir sprechen.“ Ich höre nicht zu und knalle ihm die Türe vor der Nase zu. Doch er gibt nicht auf und klingelt wieder und wieder. Der schrille Ton bereitet mir Kopfschmerzen und ich komme nicht mehr damit klar. Dieses Mal geht meine Mum an die Tür „Elea!“, ruft sie nun, „Liam ist hier.“ Nun stehe ich wieder vor ihm und meine Mum geht zurück in die Küche „Alles was du gesagt hast, war nicht echt!“, schreie ich ihn an. Er versucht sich rauszureden und mir alles zu erklären, doch ich glaube ihm nicht. Ich weiß genau, wie gut er sich verstellen kann. Schließlich habe ich es selbst erlebt. Sein Lächeln stand ihm so perfekt. Seine beruhigende Stimme war wie eine Droge für mich. Ich konnte mich nicht mehr losreißen und war wie hypnotisiert von seinem Erscheinungsbild, sodass ich die Wirklichkeit nicht mehr sehen konnte. Er hat mein Herz berührt, aber seitdem er mich belogen hat, wird es nur kälter. „Bleib einfach weg von mir.“ „Kann ich bitte kurz hineinkommen?“, fragt er mich. Er weiß genau, dass ich seinem bettelnden Blick nicht widerstehen kann, so sehr ich es auch möchte „Warum war ich nur so blind?“ Mit Tränen in den Augen schaue ich zu ihm auf. „Ich konnte nicht erkennen, wer du wirklich bist. Ich war wie geblendet von dir. Alles hast du versteckt hinter deinem vollkommenen Gesicht. Das ist alles nur Schein, keine echte Liebe.“ „Das stimmt nicht! Ich habe nicht in allem gelogen. Ich weiß, dass ich einen großen Fehler gemacht habe, aber ich liebe dich wirklich und ich dachte, du mich auch.“ Ich weiß nicht genau, was ich darauf antworten soll. Kann ich ihm glauben? Denn er hat mir schon einmal bewiesen, dass ich ihm nicht vertrauen kann „Ich liebe dich auch“, sage ich ganz leise. „Doch genau das ist ja das Problem, denn ich will dich gar nicht mögen. Du denkst, du kannst in mein Leben treten und wieder raus, so oft du willst, als wäre ich ein verdammter Bahnhof.“ Verwirrt schaut Liam mich an. Schon wieder knalle ich die Tür zu. Dieses Mal mache ich keinen Rückzieher mehr und laufe schnell zurück in mein Zimmer. Wenn ich noch länger dageblieben wäre, hätte ich es nicht geschafft meinen Willen durchzusetzen. Ich bin schwach und durch Liam werde ich noch schwächer. Wenn ich ihm verzeihe und ihm wieder neues Vertrauen schenke, hätte ich Angst um mich. Irgendwann würde ich ihm mehr vertrauen als mir selbst. Dann wird er mich wieder belügen oder sogar betrügen und ich stehe allein da, weil ich mich selbst aufgegeben habe. Meine Mum betritt mein Zimmer. Sie setzt sich neben mich „Leon ist wieder da“, flüstert sie mir zu und lächelt mich an. Ihn habe ich total vergessen. Natürlich, die Schule hat ja bereits wieder begonnen. Mum hat ihn aber trotzdem noch ein paar Tage bei seinem besten Freund übernachten lassen, aber nun ist er wieder zurück. Ich stehe auf und laufe aus dem Zimmer. Mit meinen Fingern streiche ich mir die Tränen aus den Augen. Leon steht im Flur und als er mich erblickt, kann man erkennen, wie sich sein Gesichtsausdruck in ein breites Lächeln verwandelt. In seinen kurzen Hosen und einem süßen T-Shirt steht er da und lässt seine Taschen zu Boden fallen. Dann rennt er auf mich zu und umklammert mich ganz fest. Ich knie hin und halte ihn fest umschlungen in meinen Armen. Dann wuschle ich ihm mit meinen Händen durch seine süßen Goldlocken „Ich habe dich vermisst“, sagt er dann leise und ich ziehe ihn noch näher an mich „Ich dich auch.“ Auch wenn ich ihn manchmal am liebsten auf den Mond schießen würde, könnte ich nie ohne ihn leben. Nicht viele Menschen haben das Glück, so einen süßen, kleinen Bruder zu haben „Ich war an einem wunderschönen See“, sagt er nun ganz begeistert. „Das ist toll, aber willst du mir nicht später beim Abendessen erzählen, was du alles erlebt hast? Denn jetzt musst du erst einmal deine Sachen auspacken.“ Er nickt freudig und rennt mit seinen kurzen Beinen auf dem schnellsten Weg zurück in sein Zimmer. Auch ich tue das, zucke aber zusammen, als ich es betrete. Liam sitzt auf meinem Bett! „Deine Mum hat mich reingelassen“, sagt er „Mum!!!“, schreie ich so laut, dass es bestimmt auch die Nachbarn gehört haben. Es kommt jedoch keine Antwort. Sie genießt meine Wut und schweigt. „Ich weiß, du hast mich vorhin weggeschickt, aber ich verstehe nicht wieso, nachdem du mir den Brief geschrieben hast“, sagt Liam nun „Was für ein Brief?“ Entgeistert starre ich ihn an. Nein, das kann nicht sein. Woher sollte er den Brief denn bitte haben? „Den Brief, welchen Julia mir gegeben hat.“ Scheiße! Wieso hat Julia ihm meinen Brief gegeben. Das war doch unser Geheimnis. Dieser Brief war nicht zum Lesen bestimmt. Mit schnellen Schritten gehe ich zu meinem Pult und öffne die unterste Schublade. Sie ist leer! „Wenn dieser Brief auch nur zum Teil der Wahrheit entspricht, dann bitte verzeih mir.“ Liam sitzt vor mir, wie ein kleines Häufchen Elend. „Bitte!“, fleht er mich an „Wieso hast du mich überhaupt belogen?“, sage ich, um von seiner Frage abzulenken. „Elias war schon immer mein bester Freund und ich hatte es ihm versprochen. Würdest du das bei Julia nicht auch so tun?“ „Ja, ich schätze damit hast du Recht“, sage ich und es ist ein gewisses Schuldgefühl in meiner Stimme zu erkennen. Aber es war trotzdem nicht okay, was er gemacht hat. Ich war seine Freundin. Also sollte er bei mir ebenso treu und ehrlich sein, wie bei Elias. Ich setze mich neben ihn aufs Bett. „Ach, scheiße!“ Ich schlage mir die Hände vors Gesicht. „Es war einfach alles zu viel und ich weiß wirklich nicht mehr weiter.“ Ich lehne meinen Kopf an Liams Schulter „Ich weiß nicht mehr, was ich tun soll“, sage ich verzweifelt „Du musst mit mir sprechen und mich alles erklären lassen. Wenn du das nämlich nicht zulässt, wirst du es nie verarbeiten können.“ Er sieht mich ein wenig vorwurfsvoll an und das macht mich rasend „Ja genau, das hat Julia mir auch gesagt, und dass ich lernen muss zu verzeihen, Blabla … Ich kann nicht einfach einen Schalter in meinem Gehirn umlegen und euch allen verzeihen“, sage ich aufgebracht. Ich bin wütend! Wütend auf Liam, wütend auf jeden in meinem Umfeld, wütend auf mich und wütend auf die Welt. Jeder sagt mir, ich soll verzeihen, doch wie soll das gehen, wenn ich den Grund für ihre Taten nicht verstehe „Geh jetzt, bitte“, sage ich und versuche dabei ganz ruhig zu bleiben. Liam bewegt sich nicht von der Stelle „Bitte“, wiederhole ich. Langsam steht er auf und geht aus meinem Zimmer, ohne mich noch einmal anzusehen. Ich weiß nicht, ob ich tief in meinem Innern gehofft hatte, dass er trotzdem bleibt. Doch er hat getan, was ich ihm gesagt hatte. Wie man hier erkennen kann, bin ich das beste Beispiel dafür, dass Verstand und Herz eben nicht so oft zusammenarbeiten. Damit kann ich noch nicht so wirklich umgehen, aber ich gebe mein Bestes. Ich lasse mich nach hinten fallen und mein Kopf landet leicht auf meinem Kissen. Ich muss erst einmal wieder einen klaren Gedanken fassen. Doch dies geht ziemlich schnell und erneut hört man mich durch die ganze Nachbarschaft „Muuuuum!!! Was hast du dir nur dabei gedacht, ihn gegen meinen Willen reinzulassen?“, schreie ich, als sie schließlich vor mir steht. „Wenn du einmal hintergangen wurdest, kannst du dich nicht immer gleich gegen die ganze Welt stellen.“ Ich würde jetzt gerne erwidern, dass sie mich alle nur benutzt haben, doch ich schätze, das ist kein Grund für sie. Doch dann sagt sie einen Satz, der mich zum Nachdenken bringt. „Dein Vater ist der Ursprung dieser ganzen Geschichte und sie haben nur versucht dich kennenzulernen. Klar hat Elias dich ein Stück weit benutzt, doch Liam und Livia haben nur ihren Freund gedeckt. Sie trifft keine Schuld.“ In gewisser Weise hat sie Recht. Ich habe das Ganze zu sehr verallgemeinert. Ich habe die Schuld auf alle geschoben, aber nicht alle waren schuld. „Du musst mit ihnen sprechen“, sagt sie nun, „das heißt nicht, dass du dich bei ihnen entschuldigen musst, denn du hattest allen Grund sauer zu sein. Diese Sache sollte aber nicht genug Macht haben, eure Freundschaft zu zerstören.“ „Du hast ja Recht“, erwidere ich, „zumindest mit Livia und Liam. Doch das mit Elias ist nicht mal eine Freundschaft, sondern Familie.“ Dabei muss sie mir Recht geben. Mit den Worten: „Denk trotzdem einmal darüber nach“, verlässt sie mein Zimmer und lässt mich alleine zurück. Ich greife nach dem Handy, welches neben mir liegt. Ich lese die Nachrichten durch, die sich schon wieder verdoppelt haben. Dann fällt mein Blick auf eine Nachricht: Julia: Hey, wie geht’s? Mein Blick verändert sich und ist plötzlich wieder ganz starr. Mit meinen Fingern tippe ich die Buchstaben auf meinem Display. Ich: Mir ging es gut, bis ich erfahren habe, dass du Liam meinen Brief gegeben hast!!! Eigentlich hat sie mir damit einen Gefallen getan. Doch sie soll verstehen, dass sie das nicht ohne meine Einwilligung tun darf. Eine kurze Nachricht ploppt auf: Julia: TUT MIR LEID!!! Ich dachte, du brauchst ein wenig Unterstützung. Gerade als ich die nächsten Buchstaben eintippen will, beginnt mein Handy zu vibrieren und auf dem Display erscheint Julias Name „Tut mir leid, tut mir leid, tut mir leid“, kommen ihre Worte aus dem Handy „Schon in Ordnung, du hast mir ein Stück weit geholfen.“ Dieser Satz, aus meinem Mund, gefällt ihr natürlich sehr und ich kann hören, wie sie das Lachen unterdrückt. „Wenn dieser Teil meines Plans funktioniert hat, wird er auch weiterhin funktionieren.“ „Du hast einen Plan?“, frage ich empört. Damit habe ich jetzt nicht gerechnet. Doch als sie dieser Frage zustimmt, fordere ich sie auf, mir ihren Plan zu erklären. „Sprich mit Elias, mit Livia und lerne deinen Vater kennen. Das ist es doch, was du immer wolltest. Sprich mit ihnen, dann wird es dir besser gehen. Geht es dir jetzt nicht auch besser, nachdem du mit Liam gesprochen hast? Das nehme ich zumindest an, nachdem du mir mitgeteilt hast, dass mein Plan aufgegangen ist.“ Sie hat Recht. Na klar geht es mir nun besser. Es geht mir viel besser. Ich habe auch mit meiner Oma gesprochen und danach ging es mir besser. Na gut, gesprochen ist zu viel gesagt, denn ich habe nur ihr Grab besucht. Aber ich kann sie noch sehen, denn sie ist in den Sternen und weist mir meinen Weg. Vielleicht ist es meine Oma im Himmel, die mich darauf aufmerksam macht, dass ich mit ihnen reden soll. Vielleicht ist es aber auch nur Zufall, dass mir dies alle mitteilen wollen „Okay, ich rufe dich später noch einmal an.“ Mit diesen Worten beende ich dieses Telefonat. Nachdenklich schaue ich auf den leuchtenden Bildschirm meines Handys. Ich tippe auf das kleine Zeichen mit dem Telefon, wähle Elias Namen und halte das Handy an mein Ohr „Hey“, gebe ich leise von mir. „Elea, ich bin so froh, dass du mich anrufst. Es tut mir alles so leid.“ „Das ist auch recht so“, antworte ich beleidigt, „Um mich ging es die ganze Zeit und ich bin die, die sich deshalb in ihrem eigenen Leben verirrt hat.“ Ein paar Sekunden lang schweigt er. Vielleicht habe ich ihn mit meiner vorwurfsvollen Art überfordert „Kommst du heute Abend, um sieben Uhr, zu Livias Geburtstagsparty? Dann können wir über alles sprechen“, antwortet er ganz ruhig. Ich denke kurz darüber nach. Eine Party mit vielen Menschen und dann auch noch Elias, Livia und Liam gleichzeitig? „Okay“, sage ich knapp und lege auf. Das war jetzt eine eher peinliche Unterhaltung. Vielleicht hätte ich zuerst darüber nachdenken, was ich ihm sagen will und nicht einfach drauflos telefonieren sollen. Jetzt muss ich sofort Julia anrufen, denn ohne sie gehe ich bestimmt nicht dahin. Ich greife nach meinem Handy und wähle Julias Nummer. „Du musst sofort herkommen, wir gehen heute Abend auf Livias Party.“ „Okay“, sagt sie nur und legt auf. Kurze Zeit später platzt sie auch schon ins Zimmer. „Jetzt geht’s an die Arbeit.“ Sie klatscht in die Hände und dann macht sie sich ans Werk. Sie sollte Stylistin werden, denn das würde total ihren Fähigkeiten entsprechen. „Weißt du schon, was du anziehen wirst?“ „Nein, ich habe keine Ahnung.“ Ich frage mich gerade, ob ich überhaupt etwas Passendes für diesen Anlass habe „Ich rufe jetzt deinen Liam an, denn wir brauchen definitiv männliche Unterstützung.“ Mit allen Mitteln versuche ich sie davon abzuhalten. Erstens ist er nicht mein Liam und zweitens habe ich keine Ahnung, wo wir beide zurzeit stehen. Seit ich ihn vor ein paar Stunden weggeschickt habe, ist ja nichts mehr passiert „Liam, komm schnell her. Elias hat uns heute Abend zur Party eingeladen und nun brauchen wir deine männliche Meinung“, spricht Julia ins Handy. Kurze Zeit später ist Liam auch schon zur Stelle. Jetzt habe ich wirklich keine Ahnung mehr, wie ich mich verhalten soll. Ein beklemmendes Gefühl steigt in mir auf. Auch Liam blickt Hilfe suchend um sich und setzt sich dann auf mein Bett
Lebenswert! Wir stehen vor einer großen Waldhütte, mitten im Nirgendwo. Sie ist nicht so weit von meinem Zuhause entfernt. Die Hütte gehört angeblich ihrem Vater. Liam macht einen Schritt auf die Tür zu. Die ganze Fahrt über sind wir nur ruhig nebeneinandergesessen und haben nicht gesprochen. Nun greift er ganz unerwartet nach meiner Hand. Er klopft und kurz darauf öffnet ein kleines, hübsches Mädchen die Tür. Sie lächelt uns freundlich an. Wahrscheinlich ist sie die jüngere Schwester von Livia. Sie bittet uns herein. Ich folge Liam die Treppen hinauf, bis in einen großen Raum. Er ist überfüllt mit jungen Menschen, die tanzen, essen, trinken und einfach nur feiern. Nicht ganz diese Partys, die ich bevorzuge, aber zum Feiern bin ich auch nicht wirklich hier. Ich möchte Antworten und Erklärungen. Julia, Liam und ich gehen zum Getränketisch und schnappen uns eine kalte Cola. Ich sehe, wie Julias Blick von mir abschweift und sich auf jemanden hinter mir fixiert. Das ist bestimmt Livia. Ich spüre ihre Blicke, die starr auf mich gerichtet sind. Meine Hände verkrampfen sich und mein Puls beginnt zu steigen. Ich atme tief durch und dann drehe ich mich rasch um „Happy Birthday“, sage ich mit einem etwas gespielten Lächeln. Livia kommt auf mich zu und zieht mich an sich. Sie hält mich fest umklammert und dann gibt sie ein schluchzendes „Danke“ von sich „Es tut mir alles so leid.“ Das ist doch ihr Geburtstag. Sie sollte nicht traurig sein. „Ja, ich weiß, es tut euch allen leid und das ist auch recht so. Doch du hast nur deinem besten Freund deine Treue bewiesen.“ Livia schaut mich verwirrt an. Sie wischt sich die Tränen weg und ihr huscht ein kleines Lächeln übers Gesicht. Sie nimmt mich an der Hand und zieht mich mit „Kommt auch“, rufe ich Julia und Liam zu. Julia jedoch winkt ab und läuft in Richtung Tanzfläche. Das hätte ich mir ja denken können. Livia läuft mit uns die Treppe hinunter und ins nächste Zimmer. Am Ende des Raumes steht ein Sofa. Elias sitzt ganz nervös da und blickt auf, als wir eintreten „Hey“, sage ich und setze mich neben ihn. Liam und Livia bleiben im Türrahmen stehen. „Du schuldest mir noch einige Antworten“, sage ich und Elias lächelt verlegen. Ich schätze, damit bestätigt er meine Aussage. Ich hoffe natürlich, dass er auch Antworten hat. Elias ist kein Mensch, der lange um den heißen Brei herumspricht, sondern lieber direkt zum Punkt kommt „Ich beginne einfach ganz am Anfang“, sagt er. „Vor etwa einem Jahr trennten sich meine Eltern. Ich dachte immer, es liegt daran, dass sie sich nicht mehr liebten und ständig gestritten haben. Das war zwar einer der Gründe, aber erst später erfuhr ich, dass mein Vater meine Mum vor vielen Jahren betrogen hatte und zwar mit deiner Mutter. Daraus bist dann du entstanden. Er hatte es uns nicht erzählt, weil er seine eigene Familie nicht zerstören wollte. Doch als er sich von Mum getrennt hatte, wollte er dich finden. Ich weiß, das klingt, als wäre er ein total schlechter Mensch. Es gibt keinen Grund für dich, das nicht zu denken“, er seufzt. Für Elias war es bestimmt auch nicht einfach, nach fünfzehn Jahren zu erfahren, dass er eine Schwester hat. Mir fällt es ja genauso schwer. Ich hoffe nur, dass ich es bald akzeptieren kann. Er spricht weiter: „Seit der Trennung lebe ich bei unserem Vater. Er hat mir alles erzählt, was ich wissen wollte und somit auch deinen Namen. Als ich dann kurze Zeit später diesen auf der Teilnehmerliste des Ferienlagers sah, wusste ich sofort, wer du bist. Ich habe es nur Liam und Livia erzählt. Auch vor meinem Vater habe ich es verheimlicht. Ich wollte dich so kennenlernen wie du bist und nicht gleich mit der Tür ins Haus fallen. Den Rest hast du ja dann selbst miterlebt.“ Ich nicke. Das habe ich sehr wohl. Ich brauche eine Weile, um alles zu verarbeiten, was Elias da gerade gesagt hat. Mein Vater wollte mich also finden. Okay, dass er das erst vor einem Jahr versucht hat, ist ein Minuspunkt für ihn, aber wenigstens bin ich ihm nicht ganz egal. Auch Elias Sicht kann ich langsam verstehen. Ich glaube, ich hätte genauso gehandelt wie er. Er musste ja erst einmal herausfinden wer und wie ich so bin. Ich lernte ihn eher als guten Freund kennen und nicht als großen Bruder. „Weiß dein …, also eigentlich unser Vater, was passiert ist?“, frage ich ihn. „Ja, ich habe ihm alles erzählt.“ OMG! Er hat ihm alles erzählt. „Das sind genug Antworten für den Moment“, sage ich zu Elias und nicke ihm dankend zu „Wirst du mir eines Tages verzeihen können?“, fragt er mich nun ganz vorsichtig „Meine Mum hat mir klar gemacht, dass nicht ihr, sondern mein Vater die Schuld trägt. Also ja, irgendwann vielleicht.“ Er zieht mich an sich und drückt mich ganz fest „Meine kleine Schwester, bitte verzeih mir, dass ich dich angelogen habe“, flüstert er und ich muss schmunzeln. Es ist irgendwie eine lustige Vorstellung, dass der Junge, der mir gegenübersitzt, mein Bruder ist. Mein Kopf hat das mittlerweile verstanden, nur mein Herz noch nicht ganz „Jetzt gehen wir feiern“, sagen Livia und Liam, die wie aus heiterem Himmel plötzlich neben mir stehen. Jetzt haben sie die ganze familiäre Stimmung zerstört, aber für den Moment stimmt es so für mich. Ich würde nicht sagen, dass jetzt alles in Ordnung ist, aber die schlimmsten Fragen sind nun geklärt. Hand in Hand mit Liam folge ich Livia nach oben und wir gehen zum Sofa, auf dem Julia und die anderen Jungs es sich mittlerweile gemütlich gemacht haben. Ich setze mich auf Liams Schoß. Ich weiß nicht, wieso ich das tue. War es vielleicht ein Automatismus durch die Geborgenheit, die ich bei ihm empfinde oder war es der Wunsch, einfach dort weiter zu machen, wo wir aufgehört haben? „Geht es dir jetzt gut?“, flüstert er mir ins Ohr „Ja klar.“ Ich weiß nicht, wieso ich momentan so glücklich bin. Es gab keine Diskussionen, keine Tränen, ich habe einfach nur vergeben. Ich denke zumindest, dass ich das habe. Mein Kopf ist zwar noch nicht ganz so weit, doch dieses Mal hat mein Herz entschieden. Ich glaube, ich habe in letzter Zeit zu viel geweint, so dass meine Augen kein Tränenwasser mehr übrighaben. „Ich habe noch nie verstanden, was ihr alle für Probleme hattet“, sagt Marvin nun und ich muss schmunzeln. Da ist ja unser Spaßvogel wieder. Immer da, um für gute Laune zu Sorgen. „Ich auch nicht“, meint Ben mit vollgestopftem Mund, „wir hatten doch alle eine richtig tolle Zeit und plötzlich habt ihr so ein Drama gemacht.“ „Jetzt seid still und genießt den Abend, denn schließlich ist heute Livias Geburtstag.“ Julia sieht uns vorwurfsvoll an. Genießen …, ich glaube, das ist genau das, was ich heute Abend noch brauche. Dieser Moment ist einfach perfekt „Kommt, wir tanzen“, sagt Liam. „Und das aus deinem Mund.“ Ich lache und stehe auf. „Los geht’s!“ Erst jetzt wird es wirklich zu einer Party. Livia hat viele durchgeknallte Freunde, aber wir sind eindeutig am schlimmsten. Dieses Maß an Verrücktheit kann wirklich niemand übertreffen. Wir tanzen bis unsere Füße schmerzen. Ich wette, dass Livia noch nie eine so tolle Geburtstagsparty gefeiert hat. Doch plötzlich stellt die Musik um und es wird romantisch. Liam kommt zu mir rüber und schlingt seine Arme um meine Taille. Ich schaue in seine kristallklaren Augen. Seine Lippen schön und voll, so dass ich schmelze, wenn sie flüstern und sein Lachen so wunderschön und ehrlich. Das muss Liebe sein. Ich kann es einfach fühlen. Ich glaube, die letzten paar Wochen waren unsere ersten Meilensteine. Ich werfe einen Blick nach links, wo Elias und Julia eng umschlungen tanzen. Ein Lächeln huscht mir übers Gesicht. Doch das wird noch größer, als ich rechts von mir Livia und Marvin entdecke. Ich kann mir ein Lachen einfach nicht verkneifen, denn die zwei wären als Paar einfach zu komisch. Doch wer weiß schon was die Zukunft bringt. Wir jedenfalls sind jung und es ist noch alles offen. Ich lehne meinen Kopf gegen Liams Brust und genieße den Moment. Mein Freund …, mein Bruder …, meine besten Freunde …, sie alle sind hier versammelt. Ein unbeschreibliches Gefühl ist es, welches ich empfinde. Ich hätte nie gedacht, dass es jemals so kommen wird. Plötzlich reißt mich ein schriller Ton aus meinen Gedanken. Jemand hat die Musik laut aufgedreht und ein Popsong ertönt. Vorbei mit der romantischen Stimmung, jetzt geht die Party wieder los. Es wird so viel getanzt und gelacht, wie nie zuvor „Komm mit nach draußen“, sagt Liam und zieht mich an meiner Hand aus dem Getümmel. Ich bin verwirrt und verstehe nicht was los ist „Wieso?“, frage ich verdattert „Dad ist draußen“, meint Elias, der nun auf mich zukommt, gefolgt von Livia und Julia. „Was?“ Ich kann nicht glauben, was er da gerade gesagt hat. Mein Vater steht da draußen. Endlich werde ich ihn kennenlernen. Mein größter Traum wird in Erfüllung gehen, nur ist es nicht mehr mein größter Traum. Er hat sich nie um mich gekümmert und dafür hasse ich ihn, ohne ihn zu kennen. „Ich kann das nicht!“ „Doch du kannst das“, sagt Livia streng. Liam nimmt mich bei der Hand und zieht mich nach draußen. Unter Protest folge ich ihm. Ich werde das schon schaffen. Das hoffe ich zumindest. Wir gehen eine schmale Straße entlang. In der Ferne kann ich eine Person erkennen. Es ist mittlerweile schon dunkel geworden. Mein Herz schlägt schneller als je zuvor. Liam hält sanft meine Hand und ich vertraue ihm. Ein paar Schritte noch und dann bin ich da. Ich stehe vor ihm. Mein Vater, auf den ich so lange Zeit gewartet habe. Er lächelt mich auf dieselbe Art an, wie Elias es immer getan hat. Dann streckt er die Hand nach mir aus und zieht mich an sich „Meine Tochter“, flüstert er mir ins Ohr. Ich spüre Glück und Erleichterung. Doch ich habe nicht das Bedürfnis, ihn sofort Dad oder Papa zu nennen, denn er war nie für mich da wie ein richtiger Vater. Francesco reicht völlig aus. Trotzdem soll das Ganze ein Neuanfang werden. Das ist wohl auch der Grund dafür, dass ich ihm kurze Zeit später, als er so unbeholfen vor mir steht, einfach eine Ohrfeige verpasse. Verdattert schaut er mich an. „Das brauchte ich jetzt, um überhaupt einen Neuanfang zu wagen.“ Trotz diesem kleinen Aussetzer meinerseits, nimmt er mich wieder in den Arm. Ich habe endlich erreicht, was ich immer wollte. Nun halte ich meinen leiblichen Vater in den Armen. Ich glaube, er weint nun sogar. Wieso weint er? „Es ist kein Tag vergangen, an dem ich nicht an dich gedacht habe“, sagt er nun. Dann war ich ihm die ganzen Jahre doch nicht völlig egal. Elias schließt sich unserer kleinen familiären Umarmung an. „Jetzt sind wir endlich alle zusammen“, sagt er ganz zufrieden. Da kann ich ihm nicht vollständig zustimmen, denn zu meiner Familie gehören definitiv auch meine Mum und Leon. Ich bin mir auch nicht sicher, ob sie gut auf meinen Vater zu sprechen sind, aber das werde ich noch früh genug erfahren „Du bist wunderschön“, sagt mein Vater nun „Das zu sagen wäre eigentlich mein Job“, reklamiert Liam mit einem breiten Grinsen. Wo er Recht hat, hat er Recht. Doch ein Vater, der seiner Tochter soeben zum ersten Mal begegnet ist, darf sie wohl behandeln, als wäre sie eine Prinzessin. Vor allem wenn er so lange darauf verzichtet hat. Ehrlich gesagt denke ich, dass jeder Vater dieses Recht hat. Ich bin nun also die Prinzessin und Liam mein Prinz. Da gibt es meine zwei Väter, meine Mum, meine Oma und meine beiden Brüder. Meine ganze Familie eben. Livia klatscht begeistert in die Hände „Wow!“, ruft sie voller Freude, „ich wusste, dass es so kommen wird. Man sollte eben nicht immer vom Schlimmsten ausgehen, sondern manchmal auch vom Besten.“ Ich sehe zu Liam hinüber, welcher mich glücklich anlächelt, soweit ich das in der Dunkelheit erkennen kann. Ich gehe zu ihm und nehme ihn in die Arme. Dann hebt er mich hoch und küsst mich sanft. So sanft, dass ich glaube, ich kann fliegen, und dass mich nichts mehr aufhalten kann
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