Читать книгу Das Geheimnis der Abtei - Уилки Коллинз, Elizabeth Cleghorn - Страница 1

I

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Über mich selbst habe ich nur wenig und nichts Erhebliches zu sagen. Früh verwaist, wurde ich zu dem Berufe einer Erzieherin heran gebildet und begann, kaum siebzehn Jahre alt, diese Laufbahn, mit keinem sehr großen Schatze von Kenntnissen. Ich lernte jedoch durch den Unterricht selbst viel zu, so dass ich im Alter von fünfundzwanzig Jahren ziemlich festen Fuß in meinem Berufe hatte, und dass mir die besten Empfehlungen zur Seite standen. Ich habe deshalb von keinen traurigen Verhältnissen, keinem bitteren Kummer, keinen trüben Erinnerungen zu erzählen; mein Leben floss ruhig und gleichmäßig in der Ausübung der erwählten Pflichten hin, und die darin erreichbaren Erfolge waren das einzige Ziel meines bescheidenen Ehrgeizes. Nie litt ich Hunger, nie war ich der Gefahr ausgesetzt, Misshandlungen zu erdulden; wenn auch oft vernachlässigt, zuweilen sogar lieblos behandelt, genoss ich doch öfter Güte und Achtung, und war im Alter von zweiundfünfzig Jahren im Stande, von meinen Mühen auszuruhen und mich mit den Einkünften aus langjährigen Ersparnissen und aus einer kleinen Erbschaft in einer behaglichen Wohnung, nahe bei zwei früheren und mir teuer gebliebenen Zöglingen, niederzulassen. Auf den Wunsch der letzteren geschieht es, dass ich die seltsamen Ereignisse niederschreibe, welche sich in einer Familie zutrugen, der ich meine Dienste gewidmet hatte.

Der Schauplatz meiner grauenvollen Geschichte war ein unregelmäßiges Gebäude von großer Ausdehnung, dessen einzelne Teile aus verschiedenen Zeiten, und manche aus der früheren Klosterzeit herrührten. Es wurde »die graue Abtei« genannt, war ehemals ein Kapuzinerkloster gewesen und lag in einer einsamen Gegend von Cornwall, nahe an der Meeresküste. Meine Zöglinge waren zwei junge Mädchen, Zwillinge und die Töchter eines pensionierten Offiziers der ostindischen Armee, welcher ein junges, geliebtes Weib in Indien verloren hatte und mit zerrütteter Gesundheit und gebrochenem Lebensmute zurückgekommen war, um in England von seiner kleinen Pension zu leben, so gut er konnte. Die einzige ihm verwandte Person, für die er große Anhänglichkeit hegte, war eine Cousine, welche, in jugendlich blühender Schönheit stehend, einen mürrischen, gichtbrüchigen alten Baronet von bedeutendem Vermögen geheiratet hatte. Auf ihren Wusch ließ sich Capitain Sinclair mit seinen zwei kleinen Töchtern in einem Dorfe nieder, welches nahe bei der Abtei gelegen war, in der die Dame, Lady Deighton, mit ihrem unliebenswürdigen Gemahle zur Zeit seiner Rückkehr nach England wohnte.

Nachdem der Baronet die Prophezeiungen seiner Ärzte mehrmals dadurch Lügen gestraft hatte, dass er sich von heftigen gichtischen Anfällen in Kopf und Magen wieder erholte, und nachdem er von einem Schlagfluss getroffen worden war, der ihn ganz hilflos machte, wurde der alte Mann eines Morgens, ungefähr ein Jahr nach Capitain Sinclairs Niederlassung im Dorfe, tot in seinem Bett gefunden.

Lady Deighton's Wittum, welches ihr schlauer und habsüchtiger Vater der Tochter vor der Heirat gesichert hatte, war sehr beträchtlich. Mit dem Tode ihres Gemahls fielen ihr nämlich »die graue Abtei« ein prachtvolles Schloss in Hampshire, Fairly Park genannt, und viele tausend Pfund jährlicher Renten zu. Ein jeder, der die Dame kannte, nahm an, dass sie sich, sobald die Trauerzeit es erlaubte, nach der gefälligeren Residenz in Hampshire begeben und dort das in der ersten Zeit ihrer Ehe geführte vergnügungssüchtige Leben wieder beginnen werde; denn das Gerücht ging, dass sie von ihrem eifersüchtigen Gemahle nach der Abtei gelockt und dann gezwungen worden sei, dort zu bleiben. Der Schlaganfall des letzteren war ungefähr ein Jahr nach ihrer Ankunft dort erfolgt, und bis zum Augenblicke seines Todes hatte die unglückliche Frau unaufhörlich die Ausbrüche seiner Heftigkeit und seines Eigensinnes tragen müssen. Nunmehr war sie jedoch frei.

Ein prachtvolles Leichenbegängnis geleitete die Überreste des Baronets nach der Familiengruft in der Kirche des Dorfes, und seine schöne junge Witwe verweilte während des folgenden Trauerjahres in sittsamer Zurückgezogenheit in der Abtei. Aber an dem Tage nach Ablauf dieser Zeit schritt sie Arm in Arm mit ihrem Vetter Sinclair nach derselben Kirche, und kehrte als ehelich Verbundene mit ihm zurück. Ungefähr sieben Jahre nach diesem Ereignis trat ich in die Familie als Erzieherin der beiden Sinclairschen Zwillingstöchter, welche damals das zwölfte Jahr zurückgelegt hatten. Jüngere Kinder waren nicht vorhanden. Fairly Park blieb unbewohnt, denn Lady Deighton war im Lauf der Zeit sehr leidend und kränklich geworden und verließ die düsteren, früher so sehr gehassten Mauern der Abtei nicht wieder. Jeder mit Geld zu beschaffende Luxus umgab mich in meiner neuen Wohnung, mein Gehalt war hoch, meine Zimmer bequem und in einem neueren Teile des Gebäudes; gelegen; die Kinder zeigten sich fleißig und folgsam, und ihr Vater beobachtete stets die größte Artigkeit gegen mich. Er war ein liebenswürdiger, schwacher und etwas melancholischer Mann, der mir sehr dankbar war, dass ich ihm die Unannehmlichkeit ersparte, seine Kinder in die Schule schicken zu müssen. Viele Erzieherinnen waren vor mir dort gewesen, aber keine derselben hatte die Einsamkeit und Einförmigkeit des Lebens in der Abtei ertragen können; und als daher ein Monat nach dem anderen verstrich und der zärtliche Vater sah, dass ich völlig zufrieden war und ihn nie quälte, seine Einwilligung zu Ausflügen und Besuchen zu geben, die, obgleich angeblich zum Besten seiner Töchter, auch für mich eine angenehme Zerstreuung gewesen wären, so ließ er erkennen, dass er mir in Wahrheit dankbar war.

Nach meiner Ankunft sah ich mehrere Tage lang nur den Capitain Sinclair und die beiden Töchter, Ellen und Janet. Er äußerte einige unverständliche Entschuldigungen in Betreff seiner Frau, in denen die Worte Gesundheit, Nerven, Stimmung usw., ohne Angabe eines besonderen Leidens, gemurmelt wurden. Bald jedoch erfuhr ich von der freundlichen und verständigen Frau des Ortspfarrers, dass allgemein vermutet werde, sie habe während der langen und anstrengenden Pflege ihres verstorbenen Gemahls so sehr gelitten, dass sich jetzt zuweilen Geistesstörungen bei ihr zeigten, in denen sie die sonderbarsten Dinge begehe und seltsame Reden führe. Mrs. Dalton die erwähnte Dame, – die einzige, welche mich zuweilen besuchte – schilderte die in Lady Deightons Gesundheit und Lebensweise sich zeigenden Veränderungen als allmälig eingetreten. Einige Zeit nach dem Tode ihres Gemahles schien sie sich der Befreiung von den Ausbrüchen seiner rasenden Heftigkeit und von einem Leben sklavischer Unterwerfung zu freuen; sie besuchte bis zu ihrer zweiten Heirat regelmäßig die Kirche, ging spazieren und ritt oder fuhr aus, wie sie früher getan, allein wenige Monate später begann sie zu kränkeln und wurde sehr reizbar. Das Übel bestand in einer mit Nervenleiden verbundenen Abzehrung. Die grellsten Wechsel zeigten sich in ihrer Stimmung, so wie Schroffheit und Eigensinn in ihrem Benehmen. Obgleich sie alle Speisen mit einer wahren Gier genoss, wurde sie doch im Gesicht und am Körper immer magerer und widersetzte sich hartnäckig jedem Versuche einer Veränderung der Luft und des Aufenthaltes, welche ihr als das beste Heilmittel empfohlen worden war. Endlich jedoch ließ sie sich einmal bewegen, einen in der Umgegend gelegenen Badeort auf einige Wochen zu besuchen. Ein Haus wurde gemietet und elegant eingerichtet, und die Familie langte mit einem zahlreichen Gefolge von Dienstboten daselbst an; allein schon am folgenden Morgen weckte Capitain Sinclair vor Tagesanbruch den erstaunten Haushalt und ließ anspannen, und wenige Stunden später traf die ganze Gesellschaft in der Abtei wieder ein.

»Von jener Zeit an,« fügte meine Berichterstatterin hinzu, »stieg Lady Deighton nie wieder in einen Wagen; ihre Spaziergänge im Garten wurden immer seltener, und seit Jahresfrist hat sie ihre Zimmer, die ältesten und düstersten in der ganzen Abtei, nicht mehr verlassen. Ihr Gemahl bewohnt sie nicht mit ihr, denn nicht einmal eine Dienerin will sie in ihrem Gemache schlafen lassen, welches jeden Abend ängstlich von ihr verriegelt wird, als fürchtete sie ermordet zu werden.«

»Lässt sie niemand außer ihrer Familie zu sich?«

»Nein, selbst keinen Arzt. Seit Jahren ist sie in keiner Kirche gewesen und hat weder mit mir noch mit meinem Gatten gesprochen. Der arme Sinclair unterwirft sich ihrem Willen in jeder Beziehung. Sieben Jahre sind sie jetzt verheiratet, aber er hat gewiss noch keine sieben glücklichen Monate mit ihr verlebt.«

»Wie erträgt er seine Lage?«

»Wie Sie sehen. Er wälzt sich im Lehnsessel umher, oder geht spazieren und reitet mit den Kindern aus, raucht und liest in den zahllosen von London kommenden Zeitungen, und vertreibt sich auf diese Weise die Zeit.

»Hat er keine andere Gesellschaft?«

»Wenig oder keine. Alle Einladungen lehnt er regelmäßig ab, und in die Verwaltungsangelegenheiten der Grafschaft mischt er sich nie. Mit meinem Gatten kommt er dann und wann zusammen, und die Ärzte, welche früher seine Frau behandelten, besuchen ihn von Zeit zu Zeit, hören wie es ihr geht, und empfangen ihre Gebühren für die Versicherung, dass ihr Zustand hoffnungslos sei. Aber er ist ein sehr zärtlicher Vater, ein gütiger Dienstherr, und stets bereit, den Armen zu helfen. Nie versagt er seinen Beistand, wenn mein Gatte seine Börse für irgendeinen Hilfsbedürftigen in Anspruch nimmt. Er hält ihn für einen sehr guten Menschen, aber hegt die Überzeugung, dass Sinclairs Herz mit seiner jungen Gattin in Indien bestattet worden sei, und dass er für Lady Deighton nie etwas anderes als Dankbarkeit und verwandtschaftliche Freundschaft empfunden habe. Überdies,« fügte die Frau lächelnd hinzu, »glaube ich, dass seine Dankbarkeit gegen Sie unbegrenzt sein wird, wenn Sie das Leben in der Abtei ertragen können, was bisher noch keine andere Dame in Ihrer Stellung vermocht hat.«

»Heute abend soll ich Lady Deighton vorgestellt werden,« bemerkte ich; »wir werden Tee bei ihr trinken.«

»Ja, ich weiß, das geschieht zuweilen,« erwiderte Mrs. Dalton, »allein Ihre Vorgängerinnen beklagten sich immer sehr über diese Sitte. Wie sie mir erzählten, schlichen sich die Kinder nach dem Tee stets so bald als möglich davon, und Capitain Sinclair pflegte wenig oder nichts zu sprechen, so dass sie die sonderbaren Reden der Lady so lange anhören mussten, bis die Schlafzeit ihrer Zöglinge ihnen gestattete, sich zu entfernen.«

»Sonderbare Reden?« wiederholte ich.

»Ja, ihr Gespräch ist zuweilen sehr sonderbar,« versetzte die Frau. »So selten ich sie überhaupt gesehen habe, weiß ich doch, dass sie auch schon früher, ehe ihr einsiedlerisches Leben begann, sehr seltsame Reden führen konnte. Ihr Vater war, wie man sagt, ein erklärter Atheist, dem alle religiösen Grundsätze und Empfindungen fehlten. Er lebte nur von seiner Geschicklichkeit im Spiel und von Wetten bei Pferderennen. Der Elende verkaufte förmlich seine schöne Tochter an Sir Thomas Deighton, denn das ihr kontraktlich ausgesetzte Wittum war ungeheuer. Ohne Zweifel hoffte er den alten gichtbrüchigen Baronet lange zu überleben, allein diese Erwartung erfüllte sich nicht, denn kurze Zeit nach der Hochzeit setzte ein Schlagfluss seinem Leben ein Ende.«

»Aber von welcher Art sind denn die sonderbaren Reden?«

»Ihr Vater war abgesehen von seiner Ungläubigkeit ein wütender Republikaner und hatte lange Zeit in Frankreich gelebt, wo er vertraute Freunde unter den Führern der Revolution besessen haben soll. Drei wichtige Jahre in dem Leben seiner Tochter, die vom zwölften bis zum fünfzehnten,« hatte sie unter allen Schrecken der Revolution während der Zeit von 1790 bis 1793 in Paris verlebt. Sie ist deshalb mit der Guillotine ebenso bekannt wie mit ihrer Schere und spricht ganz ruhig und sogar billigend von Menschen und Dingen, welche für uns Gegenstände des Abscheus sind.«

»Ach, ich wünschte, mein erster Abend bei ihr wäre vorüber!« rief ich unwillkürlich.

Der erste Abend bei Lady Deighton ging besser vorüber, als ich erwartet hatte. Ihre Zimmer lagen in der Nähe der alten Kapelle, teilweise über der großen Klosterküche, und die Sage erzählte, dass sie ehemals von den herrschenden Äbten der Brüderschaft bewohnt worden seien. Es gab in diesem Teile des Gebäudes viele kleine, düstere Räume und zahllose verworrene Gänge und geheime Treppen. Sie hatte zwei Gemächer inne, ein Wohnzimmer und ein Schlafgemach, deren Fenster nach einem inneren Hofe der Abtei gingen. Ein etwas labyrinthischer Verbindungsweg brachte uns endlich zu einer großen, schweren Tür, welche sich auf eine Art von Vorsaal öffnete, und dann schritt der mich führende Capitain durch eine zweite große Tür voran und trat mit mir in ein düsteres Gemach von mittelmäßiger Größe. Im nächsten Augenblicke stand ich vor Lady Deighton.

Sie war eine große, stark gebaute Frau, aber von schönem Wuchse, und hatte edle Züge, ein römisches Profil und große, tiefblaue Augen, die aus dem Kopfe gleichsam herauszuspringen schienen, was an der außerordentlichen Magerkeit ihres Gesichtes lag. Die Farbe desselben war ehedem wahrscheinlich von zarter Weiße und blühend gewesen, aber jetzt war an Stelle derselben eine gelbliche Blässe getreten, während auf den Backenknochen ein brennend roter Fleck ruhte. Ihre niedrige Stirn trug zahlreiche Falten, welche sich bis an die Schläfe erstreckten, und die Augenbrauen und Wimpern waren von fast rötlicher Farbe. Eine wallende Fülle lichten Haares, stark mit Grau gemischt, aber immer so nachlässig geordnet, dass es fast unordentlich aussah, war von einem schwarzen Spitzenschleier bedeckt, welcher unter dem Kinn von einem losen Knoten zusammengehalten wurde, und ihre schmalen, purpurroten Lippen ließen die weißen, etwas vorspringenden Oberzähne, namentlich beim Sprechen, teilweise unbedeckt. Ihre Kleidung bestand aus einem Hausrocke von schwerer Seide, welcher vorn offen war; ein kostbarer Shawl ruhte auf ihren Schultern, und zwei oder drei andere lagen auf dem Sofa, auf dem sie saß. Nie habe ich sie in einer anderen Kleidung gesehen. Vor ihr stand ein Tisch mit einigen Büchern und Schreibmaterialien. Das übrige Mobiliar des Zimmers war alt und schwerfällig. Alles sah darin aus, als wenn die Bewohnerin keinen Wert auf geschmackvolle Ordnung legte. So war es auch. Die Freuden des Auges sowie jede andere Freude, hatten das unglückliche Weib für immer verlassen.

»Sie stand auf und empfing mich sehr artig. Im Lauf diesses Abende sprach sie nur wenig, aber ihr Benehmen war das einer feingebildeten Frau, und in ihren Reden zeigte sich nichts Auffallendes. Später jedoch, nachdem sie bekannter mit mir geworden war, bemerkte ich eine zunehmende Veränderung in Ton und Sprache. Sie stellte häufig paradoxe Behauptungen auf, welche alle Moralität über den Haufen warfen. Oft war es schwer zu erkennen, ob sie im Ernste spreche; aber häufig zeigte sich auch unverkennbar eine bittere Aufrichtigkeit in dem heftigen Tone, mit dem sie die Meinung zu verteidigen suchte, dass es eigentlich kein wirkliches Vergehen gebe. Die Spuren der entsetzlichen Erfahrungen, welche sie in Frankreich unter der Herrschaft der Guillotine gemacht hatte, zeigten sich in ihren Definitionen vom Totschlag und Mord. Ihrer Theorie zufolge konnten »die Umstände« einen so mildernden Schatten über das schreiendste Verbrechen werfen, dass der ganze Charakter desselben dadurch verändert wurde.

Sinclair schien stets auf unangenehme Weise berührt zu werden, wenn sie so wilde Behauptungen vorbrachte. Die Töchter schlichen regelmäßig davon, sobald der Tee vorüber war; und wenn die Unterhaltung eine dem Vater unangenehme Wendung nahm, pflegte er aufzustehen, im Zimmer hin und her zu gehen und der Tür näher und näher zu kommen, bis er endlich auch die Gesellschaft verließ. Ich mochte nicht gegen die Dame streiten, allein da ich mich nicht wohl vor der Schlafzeit der Kinder entfernen konnte, so war es unmöglich, Erwiderungen und selbst Einwendungen zu vermeiden. Diese ertrug sie mit großer Ruhe, meistens mit einer Miene, welche das Bewusstsein von Superiorität und Mitleid für meine hartnäckigen Vorurteile ausdrückte; allein es gab auch Momente, wenngleich selten, in denen sie von meinen Worten ergriffen und erweicht zu werden schien, seltsamerweise namentlich dann, wenn ich eine Stelle aus dem heiligen Buche zitierte, das sie scheinbar verachtete. Nicht ohne Staunen nahm ich wahr, wie tief sie zei solchen Gelegenheiten berührt wurde, und einige Augenblicke pflegte sich dann in ihren Zügen ein Ausdruck von so peinlicher Hilflosigkeit zu zeigen, dass ich sie kaum ansehen konnte. Es war jedoch nichts als Mitleid und eine gewisse Neugierde, was ich empfand, denn angezogen von ihr fühlte ich mich niemals.

Ich war ungefähr ein Jahr in der Abtei gewesen, als sie an einem Abende – dem letzten, den wir zusammen verlebten – gesprächiger als gewöhnlich war. Es wurde von der zwischen den Zwillingstöchtern bestehenden Ähnlichkeit gesprochen, und wir waren beide der Meinung, dass dieselbe nicht größer sei als die, welche häufig zwischen Geschwistern verschiedenen Alters bestehe.

»Ich sah einmal in früherer Zeit,« sagte sie, »eine wunderbare Ähnlichkeit, und unter sehr eigentümlichen Verhältnissen, die ich nie vergessen werde. Als ich im Jahre 1792 mit meinem Vater in Paris lebte, lag unsere Wohnung in einer Straße, welche von einem der Gefängnisse nach dem Platze der Guillotine führte. Unsere Zimmer befanden sich im unteren Stockwerke, und oft sahen wir den mit Verurteilten angefüllten Karren dicht an unseren Fenstern vorüber fahren. Es gewährte mir Unterhaltung, den verschiedenen Ausdruck ihrer Gesichter zu beobachten und mir zu vergegenwärtigen, wie jeder von ihnen seine letzte Szene spielen werde. Meistens las ich darin Stolz oder dumpfe Verzweiflung, aber zuweilen auch eitlen Mut, für den ich Bewunderung hegen, und nicht selten eitle Todesfurcht, die ich verachten musste. Eines Morgens, als Santerre und der hässliche Danton bei uns frühstückten, vernahm ich den wohlbekannten Ton des nahenden Karrens. Keiner verließ jedoch seinen Sitz, bis ein plötzliches Krachen und ein lautes Geschrei uns sämtlich an die Fenster lockte. Ein Rad war gebrochen, und da es vor unserem Hause geschah, so konnten wir die Personen im Karren deutlich sehen. Es waren ihrer acht und von gewöhnlicher Erscheinung, ausgenommen ein junges Mädchen, deren Gesicht unseren Fenstern gerade zugekehrt war. Sobald mein Vater und dessen Freunde ihrer gewahr wurden, entfuhr ihnen unwillkürlich ein Ausruf der Verwunderung, und ich selbst staunte nicht minder, denn das Gesicht schien mir so bekannt zu sein. Ich glaubte das Mädchen kennen zu müssen, obgleich ich wusste, dass es mir fremd war, und erst nach mehreren Minuten wurde mir klar, dass ich mein eigenes Bild betrachtete. Ich galt damals für hübsch,« fuhr sie mit einem gespenstigen Lächeln fort, »und das junge Mädchen war ohne Zweifel sehr schön. Ihre Hautfarbe, das Haar, die Züge und die Gestalt waren der meinigen so ähnlich, dass ich in einen Spiegel zu blicken glaubte. Wir sahen einander unverwandt an, und als das Rad wieder befestigt war und der Karren sich fortbewegte, lächelte sie und warf mir mit ihrer schönen weißen Hand ein Lebewohl zu. Da stand ich in Fülle der Gesundheit, mich des Lebens freuend, während sie nach wenigen Minuten ihren jugendlichen Kopf auf den Block legen und für immer vom Dasein scheiden musste! Ich erinnere mich, eine geheime Freude empfunden zu haben, dass unser Geschick ebenso verschieden war, wie unsere Züge ähnlich. Später habe ich oft an das arme Mädchen gedacht, – oft gewünscht, dass ich an ihrem Platze dem Schafott zugefahren sein möchte.«

Sie hielt inne, und jener Ausdruck von peinlicher Hilflosigkeit schlich über ihr Gesicht, so dass ich mich versucht fühlte, zu sagen:

»Ja, wenn wir in die Zukunft blicken könnten, so würde das Leben unerträglich sein. Es ist eine barmherzige Einrichtung der Vorsehung, dass sie uns verborgen bleibt.«

Augenblicklich verschwand jener weichere Ausdruck in ihren Zügen und stolzer Trotz funkelte in ihren glänzenden Augen, indem sie antwortete:

»Barmherzigkeit? Wer ist barmherzig? Was ist Barmherzigkeit? Ist es nicht abgeschmackt, Worte zu gebrauchen, die keine Bedeutung haben? Wo ist Barmherzigkeit zu finden? Nicht auf Erden, wo jedes Geschöpf dem anderen nachstellt, und nicht im Himmel, der kalt und erbarmungslos auf das Elend herab blickt! Leben heißt leiden!«

Ich war sehr froh, dass in diesem Augenblicke das Eintreten eines Dienstboten sie nötigte abzubrechen, und dass die Uhr der Abtei die Stunde verkündete, welche mir gestattete, das Zimmer zu verlassen. Die Dame hatte mich an diesem Abende in eine so unbehagliche Stimmung versetzt, dass ich längere Zeit sinnend in meinem Zimmer verweilte, ehe ich mich zu den Kindern begab. Sie war es, die den einzigen Schatten über mein damaliges Leben warf. Bequemlichkeiten jeder Art umgaben mich, meine Zöglinge machten Fortschritte und hegten große Anhänglichkeit für mich, und selbst die Dienstboten, dem Beispiele des höflichen Herrn folgend, beobachteten eine Artigkeit gegen mich, die ich früher von ihresgleichen nie erfahren hatte. Nur Lady Deighton trübte mein Leben zuweilen, da ich mich an ihre Eigentümlichkeiten nicht gewöhnen konnte. Oft erschreckte sie mich in solchem Grade, dass ich es nicht wieder vergessen kaonte und von einer quälenden Neugier in Betreff ihrer ergriffen wurde, wegen deren ich mir häufig Vorwürfe machte. Allein dies war im Vergleich mit den vielen Annehmlichkeiten meiner Stellung ein kleines Übel, und das Ende meiner Reflexionen über diesen Gegenstand war deshalb stets der Entschluss, in der Abtei zu bleiben und alles zu tun, was in meinen Kräften stand, um die Zuneigung der unglücklichen Frau zu gewinnen und ihre Leiden, welchen Ursprung sie auch haben mochten, zu erleichtern. Keine Ahnung hatte ich an jenem Abende davon, dass schon am folgenden Tage ein zufälliges Ereignis eintreten werde, welches in kurzer Zeit die ganze Familie zerstreuen und mich nötigen sollte, eine andere Heimat zu suchen.

Wie bereits erwähnt, stand die Abtei in einer wilden und entlegenen Gegend von Cornwall, und die Wege in der Umgebung waren deshalb meistens sehr schlecht und teilweise sogar gefährlich. Von dieser Beschaffenheit war namentlich ein Weg, welcher von dem nördlich hinter der Abtei gelegenen steilen Hügel herab und in die durch das Dorf laufende Landstraße führte. Auf demselben erlitten am Morgen nach der soeben geschilderten Unterhaltung mit Lady Deighton zwei Reisende, während sie in ihrem eigenen Wagen den Hügel herab fuhren, einen Unfall. Es kam die Nachricht nach der Abtei, dass in geringer Entfernung ein Wagen zerschellt und einer der darin befindlich gewesenen Herren auf der Stelle getötet, der andere aber schwer verletzt worden sei. Als Capitain Sinclair jedoch in Begleitung mehrerer Dienstboten den Ort des Unfalls erreichte, ergab sich, dass die Sache nicht so schlimm war, wie sie geschildert worden. Man fand einen Chig, dessen Rad und Deichsel zerbrochen, und dessen Pferd mit den abgerissenen Strängen entflohen war, und einen Herrn, welcher augenscheinlich in großer Pein an der Seite des Weges auf der Erde lag, und dem sein unverletzter Begleiter beizustehen versuchte. Sinclair schickte sogleich einen reitenden Boten nach dem zunächst wohnenden Arzte ab, und ließ dann den Verletzten auf Kissen nach der Abtei tragen und in einem Zimmer des unteren Stockes niederlegen. Der Leidende erholte sich bald so weit, dass er aufstehen konnte, und erklärte dann, keine anderen Verletzungen erlitten zu haben, als einen Stoß an den Kopf, von dem er betäubt worden, und, wie er fürchte, einen Knochenbruch am linken Arme. Der Wundarzt versicherte nach genauer Untersuchung dass es nur ein einfacher Bruch über dem Handgelenke sei, der in kurzer Zeit heilen werde. Über die Verletzung am Kopfe konnte er sich nicht so bestimmt aussprechen. Er verordnete Blutegel und kalte Umschläge und befahl, dass der Kranke sich mindestens zwei Tage lang in einem verdunkelten Zimmer völlig ruhig verhalte.

Das Gemach, wohin er gebracht worden war, lag im neueren Teile der Abtei und wurde schnell mit einem Bett und anderen Erfordernissen versehen; und nachdem die Blutegel ihr Werk verrichtet hatten, wurde der Kranke der Hut und Pflege unserer alten Haushälterin überlassen.

Als Capitain Sinclair hierauf mit dem anderen Fremden in unser Wohnzimmer trat, erkannte ich in letzterem einen mir seit mehreren Jahren bekannten Herrn. Er war der Oheim einer Schülerin, deren Erziehung ich vollendet hatte, und mit der ich seitdem in sehr inniger Beziehung geblieben war. Wir freuten uns beide, einander zu sehen, und er bat mich sodann, ihn als Mr. Davis, den Pfarrer von Stepworth in Sommersetshire, dem Hausherren vorzustellen, indem er bemerkte, dass sein verletzter Reisegefährte ein junger Rechtsgelehrter aus Schottland namens Mac Ivor, sei, mit dem er einen kleinen Ausflug unternommen habe. Capitain Sinclair, dessen menschenfreundlichen Herz sich besser mit seiner in Indien gewohnten Gastfreundschaft, als mit der in der Abtei üblichen Lebensweise vertrug, erklärte Mr. Davis, dass er und sein Gefährte sich so lange als seine Gäste ansehen müssten, bis letzterer ohne Nachteil die Reise fortsetzen könne.

Bald darauf trennten wir uns, um für die Mittagstafel Toilette zu machen, und als wir wieder zusammenkamen, war ich angenehm überrascht zu sehen, wie sehr Sinclair sich durch diesen unerwarteten Besuch aus seiner gewöhnlichen Schlaffheit hatte erwecken lassen. Am nächsten Morgen brachte Mr. David gute Nachrichten von Mac Ivor. Letzterer versicherte ganz wohl zu sein und murrte entsetzlich über die beschränkenden Vorschriften des Arztes und die gewissenhafte Befolgung derselben von Seiten der alten Wärterin. Als noch ein Tag verstrichen und alle Befürchtung in Betreff der Verletzung am Kopfe verschwunden war, zeigte Mr. Davis an, dass Mac Ivor seinen Entschluss erklärt habe, am nächsten Tage in unserem Kreise zu erscheinen.

»Sie werden finden, dass er ein viel angenehmerer Gesellschafter ist als ich,« sagte er. »Jedermann hat ihn lieb.«

Capitain Sinclair, welcher selbst entfernte Verwandte in Schottland hatte, begann nach dem Clan und der Familie des jungen Rechtsgelehrten zu fragen.

»Er stammt aus einem sehr alten Geschlechte der Hochlande,« versetzte Mr. Davis, »und alle Glieder seiner Familie sollen ebenso geschickt und so sonderbar sein, wie er selbst ist. Es gibt keinen Mac Ivor der nicht sogenannte »Käfer« im Kopfe hat. Viele seiner Vorfahren waren berühmte Seher, sagt man. Auch seine Mutter gehörte der Familie durch ihre Geburt an, denn sie war Geschwisterkind mit seinem Vater. Er selbst hat deutliche Erinnerungen an gewisse Ereignisse, die sich beim Tode seines Vaters zutrugen und mindestens sehr sonderbar genannt zu werden verdienen. Er war damals sechs Jahre alt und ohne Zweifel ein Knabe von klarem Verstande. Der Vater hatte sich lange Zeit von Hause abwesend befunden, in England, und an einem stillen Sommerabende wurde seine Rückkehr stündlich erwartet. Zu ihrem von Gärten umgebenen Wohnhause führte eine lange Allee. Der Knabe saß im Kreise seiner älteren Geschwister, gespannt auf den fernen Schall von Rädern horchend, um beim ersten Zeichen hinaus zu springen und dem kommenden Vater entgegen zu eilen, als plötzlich die Mutter vom Sitze aufstand und, starr vor sich hin blickend, sagte: »Es ist ein Fremder, der uns naht!« In demselben Augenblicke vernahmen die Kinder auch das lange erwartete Rollen eines sich nahenden Wagens, allein gleichzeitig wurde ihre Aufmerksamkeit in höchst peinlicher Weise auf ihre Mutter gelenkt, welche zu Boden sank, ihren Kopf unter dem Shawle barg und, als der Wagen vor der Pforte hielt, mit leichenblassem Gesichte aufblickend, fortfuhr: » Euer Vater liegt sterbend auf einem englischen Bett, – Fremde wachen bei ihm! Er ist tot!« Mac Ivor versichert, dass alles, was sie gesagt, sich als vollkommen wahr erwiesen habe. Sein Vater war auf der Rückreise plötzlich schwer erkrankt, und der kommende Wagen brachte einen Boten mit dieser traurigen Nachricht. Wie sich später ergab, war der Vater bereits gestorben, ehe der Bote bei der Familie anlangte.«

»Und halten Sie das für wahr?« fragte ich.

»Was soll ich sagen?« war seine Antwort. »Hier handelt es sich um eine Tatsache, die ein Augenzeuge bekundet, welcher jeder Ausschmückung durch erdachte Hinzufügungen unfähig ist. Ich kann der Erzählung meinen Glauben nicht versagen, und danke nur Gott, dass unsere englischen Mütter keine solche Sehergabe besitzen, um ihre Kinder damit auf den Tod zu erschrecken.«

»Hat Ihr Freund diese seltsame Gabe nicht ererbt?« fragte der Capitain Sinclair.

»Nein – ich glaube nicht,« entgegnete Mr. Davis etwas zögernd. »Mindestens habe ich nie gehört, dass er sich eines Blickes in die Zukunft rühmen könne. Aber wenn alles wahr ist, was man sich von ihm erzählt, so hat er zuweilen ein seltsames Erkenntnisvermögen in Bezug auf gegenwärtige Umstände.«

»Ein solches Erkenntnisvermögen ist nichts sehr Ungewöhnliches,« bemerkte ich lächelnd; »ich verstehe in der Tat nicht recht, was Sie meinen.«

»Ja, es ist schwer, das zu erklären, was man selbst nicht recht begreift. Er soll zu Zeiten eine Ahnung von der Nähe oder dem Vorhandensein eines Verbrechens haben. Er selbst spricht nicht gern darüber, denn nur einmal, so lange ich ihn kenne, habe ich aus seinem Munde eine darauf bezügliche Äußerung gehört und auch diese war nur ganz kurz ,als wenn er sich scheute, den Gegenstand zu berühren.«

»Was sagte er?«

»Er sagte, es sei wahr, dass ihn ein sonderbares, peinliches Gefühl an Orten beschleiche, wo eine böse Tat begangen worden, und dass er öfters durch dieses Gefühl auf eine nicht zu beschreibende Weise zu der Entdeckung des Verbrechers hingeführt worden sei.«

»Das ist nichts als eine Art von Wahnsinn,« sagte ich.

»Nie gab es wohl einen klareren und gesunderen Verstand auf Erden, als der seinige ist,« versetzte Mr. Davis mit Wärme.

»Hat er Beispiele von der Ausübung dieser seltsamen Fähigkeit angeführt?« fragte Sinclair.

»Nein. Er sagte, die Fälle seien selten und stets mit großer Unbehaglichkeit und selbst Qual für ihn verbunden. Damit Sie jedoch nicht glauben, dass ich selbst derartige wunderbare Geschichten erfinde, will ich Ihnen ein merkwürdiges Beispiel erzählen, das ich zwar nicht selbst erlebt, aber aus dem Munde seines Schreibers, eines ganz zuverlässigen Menschen, gehört habe, der dabei gegenwärtig war.«

»Oh, erzählen Sie!« riefen alle Stimmen, unter denen sich auch die meiner mit großer Spannung zuhörenden Zöglinge befanden.

»Ich brauche nicht die besonderen Umstände zu erwähnen,« begann er, »wegen deren Mac Ivor von einer verwitweten Dame zu Rat gezogen wurde, deren Schicksal von der Auffindung eines Testamentes abhing, welches ihr verstorbener Gatte errichtet hatte, und das, wie sie behauptete von irgendjemandem gestohlen und beiseite geschafft worden war. Die Witwe machte zwei Zeugen namhaft, welche es in ihrer Gegenwart unterschrieben hatten. Der eine derselben war gestorben; der andere, ein Dienstbote der Familie, bekundete, irgendein Dokument unterzeichnet zu haben, aber konnte nicht mehr mit Bestimmtheit angeben, was es betroffen habe, und glaubte, es sei nur eine Vollmacht für einen Anwalt gewesen. Mac Ivor hegte vom ersten Augenblicke an Misstrauen gegen den Neffen der Dame, welcher zwar ein reicher Mann, aber dennoch entschlossen war, sein Recht als nächster Intestaterbe geltend zu machen, obgleich die Witwe seines Oheims dadurch an den Bettelstab kommen musste. Er stieß jedoch bei Mac Ivor auf einen gefährlichen Gegner. Nachdem Letzterer in Erfahrung gebracht hatte, dass der noch lebende Zeuge von dem Neffen in Dienst genommen worden war, bestand er darauf, den Mann zu sehen und zu sprechen. Der Neffe machte viele Ausreden, schützte vor, derselbe sei abwesend, und später hieß es, er sei krank, allein Mac Ivor gab nicht nach; und nachdem er seine Absicht erklärt hatte, den Arzt zu sprechen, welcher den Mann behandelte, willigte der Neffe endlich ein, dass Mac Ivor ihn am folgenden Tage zu einer bestimmten Stunde in seinem Schlafzimmer besuchen dürfe. Bis dahin hatte Mac Ivor von dem beabsichtigten Besuche keinen anderen Erfolg erwartet, als den, durch ein scharfes Verhör des Mannes einiges Licht über das geheimnisvolle Verschwinden des Testamentes zu verbreiten. Der Schreiber, welcher mir die Geschichte erzählte, begleitete ihn nach dem Hause des Neffen und sagte, dass Mac Ivor sich auf dem Wege dahin ganz wie gewöhnlich mit ihm unterhalten, aber bei dem Eintritt in das Haus plötzlich starr um sich geblickt und die Farbe gewechselt habe. Ein Diener schritt ihm die Treppe hinauf voran, während der Schreiber hinter Mac Ivor folgte und deutlich sah dass sein Prinzipal mehrere Male wankte und sich halten musste. Als sie die Tür des Schlafzimmers erreichten, fasste er den Arm des Schreibers und zitterte sichtlich.«

»Aber,« erzählte Letzterer, »»als wir über die Schwelle traten, ließ mein Prinzipal meinen Arm los, stieß mich fast von sich und schritt geraden Wegs auf das Bett zu. Das Gemach war verdunkelt worden, so dass ich anfangs kaum den von den Kissen und Decken umhüllten angeblich Kranken zu erkennen vermochte. Mr. Mac Ivor riss die Decken fort und rief: »Hier ist keine Krankheit! Setzet Euch aufrecht!« Nie vorher hatte ich ihn mit einer so furchtbaren Stimme sprechen hören, wie in diesem Augenblicke. Der Mann richtete sich erschrocken auf, und sein Herr, welcher hinter den Bettvorhängen versteckt gewesen war, trat gleichfalls hervor und stand nun auf der anderen Seite des Bettes gegenüber. »Fragen Sie,« sagte er« »der Mann wird antworten. Er räumt ein, eine Unterschrift vollzogen zu haben, aber —.« Ohne seine Worte zu beachten, unterbrach ihn Mac Ivor. »Heraus damit!« rief er mit derselben Stimme wie vorher. »Heraus mit dem Testamente! Es liegt unter Eurem Kopfkissen!« Mit diesen Worten griff er unter das Bett und zog ein Dokument hervor. Der angebliche Kranke zitterte am ganzen Körper und war unfähig, es zu verhindern. Sein Herr tat einen Griff danach über das Bett und sagte einige sehr heftige Worte, aber Mac Ivor schob das Papier in seine Tasche und sagte nur: »Wenn ich nicht von Ihnen höre, so werden Sie von mir hören,« und verließ das Haus, während ich ihm wie ein Träumender folgte. Nie erwähnte er später des Vorfalls gegen mich, aber das Testament war gefunden, und die Dame erlangte ihr Recht.««

»Und was folgte darauf? Wurden der Diener und sein böser Herr nicht bestraft?« fragte ich.

»Der weitere Verlauf ist mir nicht bekannt,« versetzte Mr. Davis. »Die Dame wünschte dass die Sache verschwiegen bleibe. Es hieß, dass der Neffe über die Entdeckung des Testaments nicht minder als jeder andere erstaunt und der Meinung gewesen sei, dass der Mann die Urkunde vernichtet habe, welche er sich während der Krankheit seines früheren Herrn angeeignet hatte.«

»Die Erzählung befriedigt mich nicht recht,« bemerkte ich nach einer Pause; »über manche Punkte wünschte ich gründliche Auskunft zu haben.«

»Auch ich,« fügte Mr. Davis hinzu. »Einige Male habe ich versucht, bei Mac Ivor selbst auf die Sache anzuspielen, allein er fertigte mich jedes Mal kurz ab. Seine Antwort war nur, dass es allerdings ein merkwürdiger Fall sei, aber dass häufig vermisste Dokumente durch ganz zufällige Umstände wieder aufgefunden würden. Bei diesen Worten drückte sich zugleich eine solche Unruhe in seinem Gesichte aus, dass ich nicht länger von dem Gegenstande sprechen mochte.«

»Meine Meinung ist,« versetzte ich mit Bestimmtheit, »dass Mr. Ivor auf irgendeinem Privatwege Kenntnis von den Umständen erlangt hatte und mit Benutzung derselben den Mann einschüchterte und um Geständnisse brachte, sowie dass das Mystische in der Erzählung lediglich aus den Träumereien des Schreibers herrührt.«

Gegen diese Erklärung, welche der Geschichte allen Reiz raubte, protestierten meine beiden Zöglinge mit größtem Eifer, worauf sich die Unterhaltung einem anderen Gegenstande zuwendete.

Nachdem die Herren uns verlassen hatten, erschöpften sich beide Mädchen in Vermutungen über die Persönlichkeit dieses geheimnisvollen Mac Ivor. Janet, welche eine Neigung zum Romantischen hatte, meinte, dass er groß, mager und bleich sein, und schwarzes Haar, eine römische Nase und wild funkelnde, dunkle Augen haben müsse; wogegen Ellen behauptete, dass die Augen blau, die Nase griechisch und das Haar braun sein müssten.

Das Geheimnis der Abtei

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