Ich weiß bis heute nicht, wie ich diese 23 Tage überlebt habe, ohne ein Wort mit jemandem gewechselt zu haben und immer mit der Angst vor den Mitgefangenen, die nicht gut über die Deutschen sprachen. Deswegen habe ich mich immer wieder aus dem Blickfeld der Mitreisenden verzogen. Jedes Mal war ich froh, wenn die da oben endlich eingeschlafen waren! Ich habe oft gefragt wie Jesus am Kreuz: «Mein Gott, warum hast du mich verlassen?» Dann immer wieder die Fragen: «Was wird noch alles kommen in den neun Jahren, die vor dir liegen? Wirst du sie überhaupt überleben und wenn, was wird dann aus dir werden mit 34 Jahren ohne Beruf? Kommst du überhaupt noch einmal nach Deutschland zurück oder musst du in Sibirien verrecken?» Menschlichkeit und Unmenschlichkeit, Kraft und Kraftlosigkeit, Hoffnung und Hoffnungslosigkeit – diese scheinbar so gegensätzlichen Worte wurden Eins in einer nicht enden wollenden Zeit. Von 1942 bis 1953 war Ulrich W. Slawinski in Russland/Sibirien in Kriegsgefangenschaft. Er erlebte dort den Winter seines Lebens, nicht nur im Herzen dieses fremden und fernen Landes, sondern auch in den Herzen der Menschen. Das autobiographische Werk «Weit war der Weg zurück ins Heimatland» erzählt aus der Sicht des nun über 90-jährigen Ehemannes, Vaters, Opas und Uropas seine Erlebnisse in unumschweiflicher Form, mit viel Weisheit und Lebenserfahrung.
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Ulrich Slawinski. Weit war der Weg zurück ins Heimatland
I. Einberufung zum Wehrdienst
In Königstein im Taunus
An der Ostfront
Das Aus der 340. Grenadierdivision
II. Kriegsgefangenschaft
Das Geheimnis im Heu
Tabaksdosenherstellung
Wiedertreffen des Regiments
Stille Nacht im Ural
Ein Hund heilt die Lunge
Das Kamel, das nicht eggen wollte
Den Heimkehrertransport verpasst
Die Gesinnungswandlung durch einen Blitz
Einer stirbt statt meiner
Panzerlager aus Kirchenglocken
Der spendable Parteifunktionär
Die dritte Weihnacht hinter Stacheldraht
Der Katzenschlachter
Mit sieben Mann in einer Drei-Mann-Zelle
Unter der roten Fahne verurteilt
Barfuß 7 km bei -15ºC durch Tschkalow
Inoperabel, da zu schwach
Koch für 2000 Lagerinsassen
23 Tage im Güterwagen nach Sibirien
Ankunft in Bratsk
Bis Weihnachten im Zelt bei -55ºC
Die Ärztin war meine Rettung
Der Tataren-Arzt
Die Bahnfahrt unter Banditen
Das aufgeplatzte Bein
Nur der Friseur passte hindurch
Zu viel des „Guten“
Schischkin: „Kak Noga?“
Der Jude Arkadin, mein väterlicher Freund
Tag der Rache
Der neue Name
Leiharbeiten
Das erhoffte Zuckerbrot
Morgen kommen Sie zu den Ihrigen
Der stellvertretende Bürgermeister von Wien
III. Entlassung
IV. Gefangenenlagerliste
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Ulrich W. Slawinski
Weit war der Weg zurück ins Heimatland
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In meiner Neugier ging ich nochmals zurück und stellte fest: An der Stelle, die ich zuerst ausgesucht hatte, war ein anderer für mich gefallen; der zweite, seinetwegen musste ich ja noch weiter laufen, hatte einen Arm ganz verloren, der andere Arm baumelte nur noch unterhalb der Schulter. Wir konnten ihm mit meinen Marschriemen den Arm abbinden, etwa zehn Zentimeter Knochen unter dem Schultergelenk waren noch vorhanden! „Helft mir, helft mir!“, waren seine Worte. Am Horizont sah man ganze Fahrzeugkolonnen wild durcheinander gegen Westen ziehen. Wir halfen ihm auf und sagten ihm, in welche Richtung er laufen müsse, um ein Fahrzeug zu erreichen, das ihn mitnehme. Auch wir flohen, weil wir nicht wussten, was der Iwan weiter vorhatte und landeten bei der 216. Division, die dort wohl ausgerüstet in Reserve lag, wie im tiefsten Frieden! Wir suchten eine Sanitätsstelle wegen meines Arms auf. Zum Glück war es nur eine Fleischwunde am linken Ellenbogen. Ich wurde verbunden, aber die Verwundung wurde im Soldbuch nicht bestätigt: „Das kann ich nicht anerkennen, ich brauche einen Sanitäter, der das gesehen hat.“ Ich dachte armes Deutschland, mit solch einer Bürokratie kann man nicht viel anfangen! Später, als ich wieder bei meiner Einheit war, habe ich unter Zeugenaussage von Werner Hinrichs den Vorfall dort gemeldet, und er wurde akzeptiert.
Wir waren nun versprengt und von unserer Einheit getrennt. Richtung Westen landeten wir schließlich beim Armeekorps, als der Herr General sich gerade davon machte! Keiner wusste etwas von den Geschehnissen des Vortages! Man dokumentierte im Soldbuch, dass wir uns vorschriftsmäßig bei der nächst höheren Befehlsstelle gemeldet hatten, denn hätten wir das nicht getan, hätte man uns wegen Fahnenflucht sofort erschießen können! Man wies uns an, nach Borodyanka zu gehen. Dort könne man uns eher Auskunft geben. Von da nach Radomyshl', wo sich eine große Verpflegungsstelle befand. Aber der Oberzahlmeister in seiner Gewissenhaftigkeit war nicht bereit, uns, die nun schon den fünften Tag nichts zu essen bekommen hatten, auch nur die geringste Kleinigkeit zu geben. Lediglich eine große Packung Zigaretten bekamen wir aus seinem persönlichen Vorrat, da er Nichtraucher war. Was er uns anbot, war ein Duschbad in einem riesigen Baderaum. Da es gerade Samstag war, passte das ganz gut. Wir waren von den langen Märschen hundemüde und schliefen im Nachbargebäude so fest, dass wir nichts davon mitbekamen, als in der Nacht Partisanen alles ausraubten und das Verpflegungsgebäude in Schutt und Asche legten. Der Zahlmeister und seine nächsten Untergebenen mussten dabei ihr Leben lassen.