Читать книгу Die Falkner vom Falkenhof. Zweiter Band. - von Adlersfeld-Ballestrem Eufemia - Страница 1

II. [Fortsetzung]

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Dolores hatte in der letzten Nacht schwere, seltsame Träume. Ihr träumte, sie müßte gegen dichte wogende Nebel ankämpfen in kalter Nacht auf einem unebnen, steinigen Wege, dessen scharfe Kanten ihre Füße verletzten. Endlich aber stand sie vor einer undurchdringlich grauen Wand – sie wußte nicht, war's Nebel, war's ein Felsen, der den Weg versperrte. Rechts und links gähnten tiefe Abgründe, die ins Unendliche zu führen schienen, und als sie sich wendete, um zurück zu gehen, da hatte ein rauschender Strom den Weg überschwemmt oder fortgerissen, so daß sie verloren schien. Und in der furchtbaren Angst, die sie befiel, klopfte sie an den Felsen wie an eine Thür. Und siehe da – die kahle graue Wand schien sich auseinander zu schieben, die Nebel schienen zu zerreißen, dünner und dünner zu werden, und endlich sah sie durch die Wand hindurch, und sah – sich in ihrem eignen Zimmer sitzen. Aber sie war nicht allein. Ihr gegenüber hatte Doktor Ruß Platz genommen. Der sprach eifrig in sie hinein – sie hörte den musikalischen Ton seiner Stimme, aber sie verstand seine Worte nicht. Und er schob ein auf großem, weißem Bogen entworfenes Schriftstück auf dem Tisch zu ihr hinüber und sie sah, wie sie selbst das Dokument ergriff, zerriß und in das Feuer warf, welches im Kamin brannte. Da erhob sich Doktor Ruß und drückte auf den Kopf der linken Kaminmantelfigur und der ganze Kamin drehte sich hinein in die Wand mitsamt dem Doktor Ruß wie ein Karussell, und als er wieder mit seiner Vorderseite erschien, war Doktor Ruß verschwunden. Da begannen wieder Nebel zu ziehen über das klare Bild – hastig, wie vom Sturm gejagt, und wieder zerrissen die grauen Wolken, und wieder sah Dolores sich selbst stehen im Dämmerlicht, im weißen Kleid, Hand in Hand mit Alfred Falkner. Und der Ort, an dem sie standen, war das Hexenloch unten im Park. Schwarz schimmerte das scheinbar regungslose Wasser, geheimnisvoll flüsterten die Tannen und Buchen über ihren Häuptern, es webte in der stillen Abendluft seltsam und geheimnisvoll, und wo im Westen der Park eine Lichtung hatte, schimmerte blutrot ein Streifen an der Stelle, wo die Sonne eben untergegangen war. Und Alfred Falkner ließ ihre Hände los und schritt durch die Lichtung dem Streifen entgegen. Da ward es ganz dunkel. Und es hob sie ein Etwas empor, und die Wasser des Hexenloches schlugen über ihr zusammen, und es ward dunkel und dunkler um sie –

Und als sie die Augen aufschlug, träumte ihr weiter, da sah sie sich langsam durch den Park schreiten, einen Brief in der Hand mit einem fremden Poststempel. Sie zerriß das Couvert und begann den Brief zu lesen, aber während sie dazu ihre Schritte anhielt, schlug etwas in das Briefblatt, sie wußte nicht was, doch sie sah, daß ein erbsengroßes, rundes Loch mit versengten Rändern in dem Papier entstanden war. Und wieder ward es licht, und sie sah sich abermals selbst auf die Terrasse des Falkenhofes hinaustreten, wo Frau Ruß und ihr Mann standen. Hinter ihr brachten Diener einen fertig besetzten Theetisch, und alle nahmen Platz und Dolores schenkte drei Tassen Thee ein. Da kam Engels hastigen Schrittes die Terrasse herauf, die Flinte über der Schulter, einen erlegten, mächtig großen Vogel in den Händen, und alles sprang auf, die Beute zu sehen, und während Engels die Flügel des Vogels auseinanderlegte, sah Dolores sich selbst die Spannweite der Flügel messen. Währenddessen schien es ihr, als thäte Doktor Ruß ein Stück Zucker in ihre Theetasse, und sie schrie auf: »Nicht so süß! Nicht so süß!« Aber sie trank den Thee dennoch, und er schmeckte nicht süß, aber fremdartig, ihr ekelte es vor dem Getränk. Während sie aber trank, sah sie die kalten, hellblauen Augen der Frau Ruß mit seltsam forschendem, grausamem Ausdruck auf sich gerichtet, und diese Augen bohrten ihren Blick bis tief hinein in ihr Herz, daß eine furchtbare Angst sie ergriff, und doch, der Schrei um Hilfe vor diesem schrecklichen Augenpaar kam nicht über ihre Lippen, Angstschweiß, wahrer Todesschweiß trat auf ihre Stirn –

Da legte sich eine sanfte, kühle Hand auf ihr Haupt – der Alp wich, und zitternd erwachte sie aus dem quälenden Traume –

Doch nur halb erwachte sie, um halb wachend sogleich wieder weiter zu träumen, denn ihr war's, als ruhe die kühle Hand immer noch auf ihrer Stirn, und als sie die Augen aufschlug, sah sie die Gestalt der Ahnfrau Maria Dolorosa im schwachen Schein der Nachtlampe neben ihrem Bette stehen, freundlich lächelnd, genau wie das Bild in der gefundenen Kapsel. Und die Gestalt beugte sich herab und küßte mit kalten Lippen die Wangen der Träumenden.

»Dolores, Erlöserin!« flüsterte es in ihr Ohr, »Gott hat dich gewürdigt, hinter den Schleier der Zukunft zu schauen. Du kennst nun die Gefahren, die sie für dich birgt – aber sei stark und mutig, eine echte Falkner. Und bleibst du hier, so bleib' auch ich dir zur Seite mit meinem Schutz, der die Warnung ist. Mehr darf ich dir nicht geben – o, daß du nicht unterliegen möchtest, Dolores, Blut von meinem Blute –«

Mehr hörte Dolores nicht, denn ruhig und fest schlief sie weiter, doch als Tereza sie am Morgen weckte, schmerzte sie der Kopf, und sie mußte über ihren Traum nachdenken, bis er wieder in jeder Einzelheit vor ihrem geistigen Auge stand.

»Solch' wirres, thörichtes Zeug,« schalt sie sich selbst. »Das macht der starke Thee von gestern Abend.«

Aber es fröstelte sie trotzdem, als sie des schrecklichen Blickes gedachte, von dem ihr geträumt, doch an den Kuß der toten Ahnfrau dachte sie ohne Grauen. Und je mehr sie nachdachte über die Träume der vergangenen Nacht, je mehr hätte sie darauf schwören können, daß sie die Erscheinung der Freifrau Dolorosa wirklich gesehen, daß kein Traum ihr dieselbe gezeigt, kein Zustand von halbem Wachen und halbem Schlafen, und es gewährte ihr eine Beruhigung, sich diese Unmöglichkeit vorzustellen und einzureden mit der klaren Begründung, daß es eben eine Unmöglichkeit war.

»Ich werde nervös,« dachte sie am Ende. »Luft und Arbeit – Arbeit, damit die Traumgestalten weichen.« –

Als Engels dann mit seinen Rapporten und Akten erschien – »als vortragender Rat vor Ihrer Majestät der regierenden Herrin von Falkenhof,« wie er sich gern scherzhaft selbst nannte – da sah er sie lange kopfschüttelnd an.

»Fräulein Dolores, Sie gefallen mir gar nicht,« sagte er endlich, als ihre nervös bebenden Hände die Feder fallen ließen, mit der sie ihre Unterschrift geben sollte.

»Aber lieber Engels, das wäre ja schrecklich,« versuchte sie zu scherzen.

»Blasse Wangen, blaue Ränder unter den Augen – es kleidet Sie ja, aber richtig ist es doch nicht,« sagte er kopfschüttelnd. »Und nun gar noch den Tadderich in den Händen – na! na!«

»Ich habe schlecht geschlafen – schreckliche Dinge geträumt – Gespenster gesehen,« erwiderte sie lachend.

»Weiter nichts?« fragte er. »Na, dagegen giebt's Mittel, gute Mittel. Erstens spazieren gehen bis Sie rechtschaffen müde sind; zweitens abends nicht zuviel essen oder starken Thee trinken –«

»Und gegen die Gespenster?« fragte sie, als er einhielt.

Da holte er seinen Stock, den er an der Thür stehen gelassen hatte, und machte eine sehr deutliche Bewegung damit.

»Lassen Sie mich mal aufpassen,« bat er, »und ich garantiere Ihnen, daß kein Gespenst mehr erscheint.«

»O, ich bin von dem Erfolge im voraus überzeugt,« rief Dolores lachend. »Aber seien Sie ruhig – die Sorte von Gespenstern beschwöre ich schon allein, und es hat sich auch noch keines an mich herangewagt.«

»Wäre auch höchst unvorsichtig,« brummte Engels und kehrte zu seinen Papieren zurück.

Dolores setzte ihren Namen unter das letzte Aktenstück und reichte es ihm hinüber.

»Das werden Sie nächstens allein besorgen müssen,« sagte sie leicht.

»Wieso allein?«

»Nun zum Winter mache ich mich aus dem Staube – das heißt aus dem nordischen Schnee nach dem Süden. Da sind Sie dann Alleinherrscher im Falkenhofe.«

»Dazu brauchte ich aber eine Vollmacht,« brummte Engels.

»Die sollen Sie auch haben,« erwiderte Dolores. »Sogar eine Generalvollmacht, wie sich's für den großen Besitz schickt. Apropos, Sie waren ja Jurist, lieber Engels, und können mir eine Frage beantworten, die in das Fach schlägt.«

»Gern. Aber ich fürchte, ich habe mein corpus juris längst vergessen und pfusche mit meinem Rat unserem Justizrat bloß ins Handwerk –«

»O bewahre – der müßte ja überdies noch gefragt werden. Also setzen wir einmal den Fall, daß ich den Falkenhof verschenken wollte – sagen wir, an den nächsten männlichen Agnaten –«

»Der ihn nicht genommen hat,« unterbrach Engels trocken.

»Nein. Nun aber nehmen wir weiter an, daß dieser Agnat sich verheiratet –«

»Mit Ihnen? Hurra!« schrie Engels, rot vor Freude.

»Nein, nicht mit mir,« unterbrach Dolores den Enthusiasmus des guten alten Menschen etwas scharf. Sie war blaß geworden.

»Nicht mit Ihnen?« meinte Engels kleinlaut. »Na, dann ist's ja egal – dann mag er wegen mir Teufels Großmutter heiraten.«

»Ich hoffe, er wird einen besseren Geschmack entwickeln,« sagte Dolores und lächelte etwas gezwungen. »Auf alle Fälle aber möchte ich der künftigen Frau von Falkner den Falkenhof als Morgengabe verschreiben. Geht das an, lieber Engels?«

»Nee, das geht gottlob nicht,« war die prompte Erwiderung. »Das hieße ja den Agnaten schädigen.«

»Schädigen, Engels? Schädigen, wenn ich seiner Frau verschreibe, was er bloß aus – aus eigenen Gründen nicht zurücknimmt, trotzdem es ihm doch besser zukommt als mir, der Frau, die doch nur ein dürrer Ast ist an dem Stammbaum?«

»Ich werde Ihnen mal was sagen, Fräulein Dolores,« meinte Engels gemütlich. »Wie Sie, hab' ich ja anfangs auch gedacht. Das wissen Sie. Aber schließlich habe ich doch noch Einsicht genug bewahrt, um mir zu sagen, daß das alles Unsinn ist, Unsinn, der in Ihren vom Falkenhof unabhängigen Mitteln seinen Ursprung hat. Sie sind reich – gut für Sie! Aber nehmen Sie an, Sie wären's nicht, da wäre der lebenslängliche Besitz des Lehens doch ein Segen für Sie, trotz der ideal-verrückten Ansicht, daß Reichtum nicht glücklich macht. Warum sollen Söhne alles, Töchter nichts haben? Nein, die Primogenitur im Falkenhof ist nur eine Gerechtigkeit. Aber davon wollten wir eigentlich nicht reden, sondern von der Verschreibung des Besitzes an die Frau des Agnaten. Deswegen brauchen Sie den Justizrat nicht erst zu belästigen, denn es liegt ja klar am Tage, daß diese Idee sich zwar bei jedem ixbeliebigen Privatbesitz, nicht aber beim Falkenhof realisieren läßt.«

»Ich sehe den Grund, der dagegen spricht, noch nicht ein.«

»Aber Fräulein Dolores, Sie haben doch sonst ein so helles Köpfchen,« meinte Engels sanft tadelnd. »Nehmen Sie also mal an, daß der Falkenhof wirklich der jungen Frau verschrieben wird. Nehmen Sie weiter an, daß das junge Paar sich trennt, sich scheiden läßt –«

»Unmöglich bei Katholiken,« unterbrach Dolores.

»Gott, man hat schon erlebt, daß Religionen aus diesen Gründen gewechselt wurden wie die Handschuhe,« entgegnete Engels achselzuckend. »Außerdem – wissen Sie's denn schon so genau, daß Baron Falkner auch eine Katholikin wählen wird?«

Dolores verneinte nur stumm, denn es war ihr eingefallen, daß Prinzeß Lolo Protestantin war.

»Na also!« fragte Engels. »Also lassen Sie die Sache mal schief gehen und die Ehe sich lösen, dann zieht die junge Frau ohne Schwierigkeit mit einem anderen Mann ein in den Falkenhof, und der der nächste dazu ist, hat das Nachsehen für immer. Auf diesen Eventualitäten basiert sich die Unmöglichkeit, ein Lehen zu verschenken.«

»Damit muß ich mich wohl bescheiden, Sie Unglück, Scheidung und andere schreckliche Dinge krächzender Rabe,« versetzte Dolores scherzend. »Wer denkt denn überhaupt an solche Dinge, wenn zwei sich heiraten sollen?«

»Natürlich nur der Jurist, wenn man von den bösen Zungen von Profession einmal absehen will,« gab Engels zurück, und da die Geschäfte für heut' erledigt waren, so empfahl er sich auch. In der Thür machte er noch einmal kehrt.

»Hören Sie, Fräulein Dolores,« sagte er unsicher, »das war alles ganz gut und schön mit mir, als ich unter meines Freundes und Brotherrn stets wachsamen Augen dem Falkenhof als Verwalter vorstand. Aber ob ich zum Generalbevollmächtigten tauge, weiß niemand und Sie am allerletzten. Können Sie keinen Besseren finden?«

»Nein, keinen Besseren,« erwiderte Dolores mit solch' überzeugender Freundlichkeit, daß Engels mit leuchtenden Augen ihre kleine Hand ergriff und sie sogar küßte. Und er sagte dann auch weiter nichts als: »Bon! Mein Schaden ist's ja nicht!« – und verließ mit dieser originellen Danksagung »das Lokal,« wie er sich ausdrückte, das brave Herz innen aber geschwellt von Dankbarkeit und dem gerechten Stolze eines redlichen Mannes, der sein Brot lange in oft nicht gerade süßer Abhängigkeit gegessen und sich dafür endlich in einer Stellung sieht, die dem Schiffbrüchigen des Lebens als ersehntes Ziel stets vor Augen geschwebt.

Der Abend brachte dann die Gäste aus Monrepos und Arnsdorf, und Dolores empfing sie an der Seite des Rußschen Ehepaares, das sich dem kleinen Kreise vollkommen anpaßte, wenn ihm ja auch durch jahrelange Einsamkeit der leichtere Konversationston abhanden gekommen war. Zwar fand sich Doktor Ruß, der ganz ausgezeichnet gut und bedeutend aussah, ohne Übergang leicht in den Ton hinein, der ihm von Jugend an fremd gewesen, aber er gehörte eben zu den selten begabten Menschen, welche instinktiv gesellige Formen und Allüren finden, sobald sie deren bedürfen, im Gegensatz zu denen, welche neben mühsam errungener geistiger Bildung in ihrem Auftreten stets ungeschliffen und unbeholfen bleiben. Fräulein von Drusen, die Hofdame, welche stets sehr scharf gegen Mesalliancen eiferte und der früheren Freifrau von Falkner die ihrige nie vergeben und vergessen hatte, war nach einer halben Stunde entzückt von ihrem Tischnachbarn, dem »simplen« Doktor Ruß, der nicht nur wie ein Gentleman aussah und sprach, sondern es auch war. Und wie das Herz der alten Hofdame, so gewann er sich auch zweifellos nicht nur die Zustimmung, sondern auch die entschiedene Approbation der anderen. Frau Ruß sah sehr stattlich aus in der von Theresa verfertigten schwarzen Schleierhaube, sie sprach wenig und fühlte sich ausrangiert, trotzdem sie bei Tisch neben dem Herzog saß. Der Herzog suchte sich viel mit ihr zu unterhalten, sie blieb aber einsilbig, beobachtete dafür aber scharf und ihre kalten Augen schienen sich jedermann in die Seele bohren zu wollen.

Nach Tisch begann Lolo dann eine ziemlich ungenierte Inspektion der von Dolores bewohnten Räume, in welche man nach aufgehobener Tafel hinaufgestiegen war. Sie fand das Erkerzimmer »reizend,« den Rokokosalon »himmlisch,« erklärte den Ahnensaal für »bezaubernd aber gruselig, der vielen Augen wegen, die einen aus den Rahmen ansehen,« und meinte, den zwischen dem Saal und dem Schlafzimmer liegenden, getäfelten Raum, den Dolores sich als Bücherei und abendliches Arbeitszimmer eingerichtet, würde sie sicher nicht viel benutzen.

»Denn Sie wissen, ich sehe mir alles schon so genau an, weil es ja doch mein Hochzeitsgeschenk ist,« flüsterte sie Dolores übermütig zu, doch als letztere ihr erklärte, daß sie mehr versprochen, als sie halten könne und den Falkenhof nicht verschenken dürfe, that dies der guten Laune der Prinzessin keinen Eintrag.

»Er, der herrlichste von allen, ist ja doch der Erbe,« tröstete sie sich.

»Nach meinem Tode erst,« warf Dolores ein.

»So?« machte das Prinzeßchen mit großen Augen und setzte mit dem ihr eigenen Optimismus hinzu: »Schadet nichts! Sie können ja sterben oder früher abdanken, wie Papa es thun will – und wenn Sie keins von beiden thun, so bleiben Sie unsere Erbtante und verziehen unsere Kinder. Abgemacht?«

»Natürlich,« sagte Dolores, wider Willen zum Lachen gezwungen durch die starke Naivetät des Herzogstöchterleins, das bei seinem weiten Blick in die Zukunft noch nicht einmal wußte, ob »der herrlichste von allen« ihr sein Herz überhaupt geschenkt.

Im Ahnensaal standen indes der Erbprinz und Falkner vor dem schönen Bilde der unglücklichen Freifrau Dolorosa.

»Das ist ja eine stupende Ähnlichkeit mit unserer liebenswürdigen Wirtin,« meinte ersterer, der sich von dem Bilde nicht trennen konnte.

»Es ist in der That eine wunderbare Laune der Natur, der Enkelin die Züge der Ahne zu geben,« sagte Falkner. »Doch zum Glück fehlt meiner Cousine der Zug von Schmerz, der auf dem Antlitz der ›bösen Freifrau‹ liegt.«

»Finden Sie?« fragte der Erbprinz leise. »Ich meine, diesen Ausdruck schon in den Augen der Freiin Dolores gesehen zu haben.«

»Hoheit sind ein scharfer Beobachter,« erwiderte Falkner wider Willen gereizt. »Ich habe davon noch nichts bemerkt – wie käme auch Schmerz in den Blick der Satanella?« setzte er fragend hinzu, doch ohne die scharfe Bitterkeit von früher.

Der Erbprinz hörte den Unterschied aber nicht heraus.

»Die arme Satanella!« rief er spöttisch. »Falkner, Falkner, wie kann man sich nur so in ein Vorurteil verbeißen!«

Aber Falkner zuckte mit den Schultern. Er hatte seine Frage anders gemeint; daß sie anders aufgefaßt wurde, ließ ihn kalt. Die anderen traten nun auch hinzu, und auf die Erklärung, daß dies wunderbare Ebenbild der Schloßherrin auch des Schlosses Irrgeist sei, ruhte Prinzeß Lolo nicht eher, bis sie die Geschichte der »bösen Freifrau« erfahren hatte. Nun blühte Doktor Ruß' Weizen, denn Dolores mußte ihm den Band der Familienchronik jener Zeit reichen – man gruppierte sich um das Bild, und er trug mit seinem weichen, leisen, musikalischen Organ den still und erschüttert Lauschenden die todestraurige Geschichte vor, die wir schon kennen.

»Die Arme! Was muß sie gelitten haben,« sagte Prinzeß Alexandra leise, als die Tragödie voriger Tage verklungen war. Dies erste Wort war für Graf Schinga das Signal, sich zu schneuzen, daß es im Saal ein vielfaches Echo erweckte.

»Ich kann solch' trauriges Zeug gar nicht hören,« versicherte er mit übergehenden Augen, wie einer, der niesen will und nicht darf. »In ›Maria Stuart‹ habe ich mal so heulen müssen – wie ein Schloßhund, wahrhaftig, daß das andere Publikum schon Mitleid mit mir hatte und der Logenschließer mich hinausbugsieren wollte. Seitdem sehe ich mir nur noch Lustspiele an und höchstens mal eine Oper, denn wenn der Tenor schmettert:

Ja du bist meine Seligkeit,

Doch er – er sei dem Tod gewei–heit –


oder die Primadonna trillert:

Ich lächle unter Thrä–ää–äää–äääänen –


das ist ja kolossal rührend, aber doch nicht so steinerweichend.«

Nach dieser Erklärung kam Doktor Ruß wieder auf die Freifrau Dolorosa zurück, und er schilderte ihr traurig Ende.

»Sie soll aber noch einmal zu klarem Bewußtsein gelangt sein,« schloß er. »Denn es wird in der Chronik berichtet, daß Gott den Schleier des Wahnsinns kurz vor ihrem Tode von ihrer Seele nahm und ihr die Gabe des Hellsehens verliehen habe. In diesem Zustande, in welchem sie von allem wußte, nach allem fragte und Anordnungen traf für ihr letztes Stündlein, in diesem Zustande soll sie dem Geschlechte der Falkner eine Prophezeiung hinterlassen und sogar aufgezeichnet haben.«

»Eine Prophezeiung?« fragte man unwillkürlich, Falkner mit inbegriffen, der so gesessen hatte, daß er während der ganzen Geschichte der Freifrau Dolorosa fortwährend das Profil von Dolores sehen mußte, welches sich von dem rubinroten Plüsch ihres Sessels klar und bleich abhob wie eine antike Kamee.

»Und wie lautet diese Prophezeiung?« fragte Gräfin Schinga interessiert.

»Sie mag wohl verloren gegangen sein,« antwortete Doktor Ruß. »Ich habe sie wenigstens beim Ordnen des Archivs und der Bibliothek nicht finden können.«

»Oder sie ist überhaupt eine Fabel,« meinte der Herzog. »Und wenn sie's ist, so wär's das beste, denn meist erwecken solche Prophezeiungen, selbst wenn sie nachträglich gemacht werden, nur den Aberglauben und seine traurigsten Folgen. Ich halte nicht viel davon, denn etwas Humbug ist immer dabei im Spiel.«

»Da möchte ich zu widersprechen wagen, Hoheit,« entgegnete Doktor Ruß. »Was wir gemeinhin Hellseherei und als deren Produkt Prophezeiung nennen, ist ein hypnotischer Zustand, der für uns zwar heutzutage noch viel Unerklärtes in sich schließt, wissenschaftlich beleuchtet aber immer verständlicher wird. Und warum sollen die Leute dazumal dem Hypnotismus weniger zugänglich gewesen sein, als heut' die vielen ›Medien‹ von Profession? Die Prophezeiungen alter Tage sind in hypnotischem Zustand abgegebene Erklärungen – Reisefrüchte einer Seele in jenes ferne Land, das wir die Zukunft nennen.«

»Hm! Hm! Ich bin hierin etwas skeptisch, lieber Doktor,« erwiderte der Herzog, während der Erbprinz ausrief:

»Ah, also ein Bundesgenosse! Du siehst daraus, lieber Papa, daß ich nicht allein stehe mit dem, was du gemeinhin unter die Rubrik ›Blödsinn‹ rangierst.«

»Kinder, laßt mich in Ruhe,« meinte der Herzog mit behaglichem Lächeln. »Zu meiner Zeit, da wußte man nichts von Hypnotismus und solchem Zeug, womit die Leute nur verrückt gemacht werden. Da ließ man die Menschen wahrsagen und träumen, was sie Lust hatten, und man brauchte es nicht zu glauben, wenn man nicht wollte. Aber jetzt möchte man sich abends schon mit Angst ins Bett legen bei dem Gedanken, daß die Seele einen kleinen Abstecher macht, Gott weiß wohin, und am Ende das Wiederkommen gar vergißt. Denn nach meinem Herrn Sohn sind Träume auch hypnotische Produkte, zu welcher Ansicht ich mich leider so lange nicht bekennen kann, als ich noch jedesmal vor feierlichen Gelegenheiten träume, daß mir bei Staatsakten allemal die notwendigsten Kleidungsstücke fehlen. Prophetisch können die Angstträume nicht sein, denn so lange ich noch bei Verstande bin, werde ich voraussichtlich Landtage und Ausstellungen nicht in einem Kostüm eröffnen, das für meine afrikanischen Kollegen ganz praktisch, bei uns aber ganz ungewöhnlich ist.«

»Papa ist eben ganz unüberzeugbar,« sagte der Erbprinz, wider Willen einstimmend in das lustige Lachen, das die herzogliche Traumdeutung hervorrief durch die ruhige, trockene Art, wie der hohe Herr sie vortrug.

Falkner, der nicht lachte, weil er gar nichts von des Herzogs Rede gehört hatte, sah nur das feine bleiche Profil an der Stuhllehne ihm gegenüber sich wenden und den schönen Mund lachen – eigentlich nur lächeln, um sofort wieder ernst zu werden.

»Trotz der entschieden unprophetischen Träume Eurer Hoheit gehöre ich aber auch zu den Frondeuren gegen Ihre Ansicht,« sagte Dolores. »Darf ich meine Beweise vorbringen, daß Träume kein bedeutungsloser Unsinn sind, oder sein können?«

»Ich bitte darum, und bin ganz Ohr,« erwiderte der Herzog, und alles lauschte gespannt, als Dolores begann:

»O, ich werde kurz sein. Mir träumte also von der bösen Freifrau, und ich sah sie naturgemäß, genau in derselben Kleidung, wie hier vor uns auf dem Bilde!«

»Hu! Wie graulich,« machte Prinzeß Lolo mit kokettem Erschauern.

»Nein, mir war es nicht zum Fürchten,« fuhr Dolores fort, »denn sie sprach sehr freundlich und liebevoll mit mir. Und mir träumte weiter, daß sie mir ein Geheimfach zeigte, und ich sah deutlich, wie es zu öffnen war. Daran wäre nun nichts Wunderbares – Bedeutung erhält der Traum aber durch den Umstand, daß ich später das Geheimfach wirklich fand und es öffnen konnte durch den Mechanismus, welchen mir die Ahnfrau im Traume gezeigt.«

Ein allgemeines »Ah« des Staunens durchlief den kleinen Kreis bei dieser Erzählung, und der Herzog meinte schmunzelnd:

»Hoffentlich hat der allerdings ganz wunderbare Traum auch seine praktische Seite, denn ich vermute, daß Sie in dem Geheimfache einen Schatz gefunden haben.«

»Einen Schatz fand ich zwar nicht darin, wohl aber die Prophezeiung, deren Doktor Ruß vorhin erwähnte!«

Ein plötzliches, wunderbares Naturereignis hätte den kleinen Kreis nicht in stupenderes Staunen, in größere Aufregung versetzen können, als die einfachen, ruhig gesprochenen Worte Dolores Falkners es thaten. Namentlich der Erbprinz war ganz Feuer und Flamme geworden und wollte von der Erzählerin alle Details des Traumes wissen, was sie während desselben gefühlt, was nachher empfunden.

»O, wenn ich die Wahrheit bekennen soll, so muß ich eingestehen, daß ich heut' noch darauf schwören möchte, alles im wachenden Zustande erlebt, nicht geträumt zu haben,« erwiderte Dolores. »Doch das ist ja natürlich Unsinn – es war ein Traum, das beweist die Unfähigkeit, mich zu regen, welche ich während desselben empfand.«

»Hypnotismus!« rief der Erbprinz triumphierend. »Gnädiges Fräulein, Sie ahnen nicht, welchen Wert Ihr Zeugnis für meine Studien hat!« –

»Ach liebes, liebes Fräulein Dolores, bitte, geben Sie uns doch diese Prophezeiung zum besten,« schmeichelte Prinzeß Lolo und gespannt blickte Doktor Ruß nach der Angeredeten hinüber. Sie aber schüttelte nur mit dem Kopfe.

»Es steht nichts darin von Gift und Dolch, Mord und Totschlag – ist also gar nicht pikant,« sagte sie.

»Ja, aber irgend etwas muß doch darin stehen, wenn es eine Prophezeiung ist,« beharrte die Prinzeß auf ihrem Wunsche. »Ich meine, irgend etwas Interessantes für die Familie.«

»Es scheint so,« erwiderte Dolores kühl. »Durchlaucht werden mich aber trotzdem entschuldigen, wenn ich es als gegenwärtige Lehnsherrin ablehnen muß, ein Dokument zu zeigen, das ich als ›sekret‹ betrachte.«

»Wenn dies mit Grund geschieht, so kann ich Ihnen nur zustimmen, Cousine,« sagte Falkner fest.

»Nun hetzen Sie auch noch,« schmollte die Prinzeß, der wohl noch selten eine Bitte versagt worden war, doch Prinzeß Alexandra sagte verweisend:

»Unsere liebenswürdige Wirtin ist im Recht, Lolo, und wir haben keines, aus bloßer Neugier oder zum Spaß Familienangelegenheiten zu durchstöbern!«

»Meinetwegen kann die ganze, dumme Prophezeiung auch eingepökelt werden,« sagte die junge, fürstliche Dame schmollend mit dem ganzen Trotz eines ungezogenen Backfisches, der für gleichgültig erklärt, was ihm verboten worden ist, und als Prinzeß Alexandra ein leis ermahnendes »Aber Lolo« hören ließ, spannte der kleine reizende Übermut die niedlichen Hände mit den rosigen Fingern Tandem vor ihr Näschen als Antwort, d. h. sie machte der entthronten Autorität ihrer Schwester eine ganz unfürstliche, schusterjungenmäßige »lange Nase.«

Als sie diese Heldenthat vollbracht, sprang der stets bizarre Sprünge machende Geist Prinzeß Lolos sofort auf eine andere Idee über.

»Famos, solch' ein Familiengespenst,« rief sie und betrachtete das Bild der bösen Freifrau. »Wir haben ja natürlich auch unsere graue Dame, aber ich hab' sie leider noch nicht gesehen, auch nicht von ihr geträumt, wie Sie! Sie geht immer die Korridore im Schlosse lang bis in die Kapelle und steigt dann zur Ahnengruft hinab. Apropos, Baroneß, haben Sie auch eine Ahnengruft? Und ist die Freifrau Dolorosa dort beigesetzt?«

»Ich habe wirklich noch nicht danach gefragt,« sagte Dolores.

»Da kann ich Auskunft geben,« warf Doktor Ruß ein. »Der Sarg der Freifrau Dolorosa steht in dem verschlossenen Raum der Gruftkapelle zwischen den Särgen der beiden Brüder Falkner, welche ihre Gatten gewesen sind.«

»In der sogenannten Bleikammer,« ergänzte Falkner.

»Ach, gehen wir doch hinein – bei Fackellicht! Es ist schon ganz finster,« rief Prinzeß Lolo aufspringend.

»Unsinn, Lolo,« sagte der Erbprinz.

»Na, ich dächte, das wäre doch ein unschuldiges Vergnügen,« erwiderte sie empört.

»Unschuldig – ja! Vergnügen – nein!«

»Das ist Geschmacksache,« entgegnete das blonde Prinzeßchen weise. »Mir zum Beispiel macht es ein wonnevoll grausiges Vergnügen, nachts in eine Ahnengruft zu steigen, um den Sarg einer spukenden Ahnfrau zu sehen. Und die Baronin Dolores wohnt sogar in ihren Zimmern und schläft in ihrem Bett. Aber ihr gönnt mir nichts. Nicht wahr, Baronin, ich darf in die Ahnengruft?!«

»Natürlich,« lächelte Dolores ergötzt.

»Ach, da kommen wir gleich,« rief Prinzeß Lolo und sprang auf.

»Heut' noch, Durchlaucht? Ein andermal –« –

»Nein, nein, gleich!« beharrte die Prinzeß. »Sascha würde zu Haus bloß predigen und mir haarklein beweisen, daß einer Prinzeß von Nordland nicht Extrawürste, wie andere Sterbliche sie speisen, gebraten werden dürfen. Das kenne ich schon!«

»Nun denn, vorwärts, wenn Seine Hoheit nichts dagegen hat,« sagte Dolores resigniert und amüsiert zugleich, während Prinzeß Alexandra ihrem Bruder zuflüsterte:

»Wenn ich nur wüßte, wo Eleonore diese Ausdrücke her hat!« –

Der Herzog hatte natürlich gar nichts dagegen, und nachdem Dolores an Ramo die nötigen Befehle gegeben hatte, brach man auf zu der alten Gruftkapelle, welche, in einem fernen Parkwinkel gelegen, unter hohen, uralten Eichen ein engbegrenztes, aber sehr stimmungsvolles Bild gab. In einem früheren Stil als der Falkenhof erbaut, hatte die Gruftkapelle schon Geschlechtern zur letzten Ruhestätte gedient, welche dahingegangen und erloschen waren, und durch die Eichenallee, durch welche nun die kleine Tafelrunde der Lehnsherrin Dolores lachend und plaudernd dahinschritt, war manch' ein Falkner hinausgetragen worden zum letzten langen Schlafe.

Alfred Falkner mußte unwillkürlich an seinen letzten Gang durch diese Eichenallee denken – als er dem Sarge des Onkels folgte, ein entthronter Erbe, ein bloßer Agnat im Gefolge der »Theaterprinzeß«! Auch heut' schritt sie ihm voran, aber an der Seite eines regierenden Herzogs, und er konnte nicht anders, als hinblicken auf sie, auf diese leicht schreitende, schlanke Gestalt, in deren goldnem Haar sich mitunter ein Mondenstrahl fing, der durch eine Lichtung im Gezweig huschte. Und dann glänzte dies Haar auf und sprühte wie Feuer und leuchtete metallisch wie poliertes Kupfer – dies Haar, dessen »Satansfarbe« er so gehaßt hatte. Nun freilich wußte er, daß dieser Haß Selbstbetrug gewesen –

Da hing sich leicht ein Arm in den seinen, und ein reizendes Gesichtchen blickte auf zu ihm mit thränengefüllten Augen – Prinzeß Lolo.

»Sehen Sie nicht immer nur hin nach ihr,« flüsterte sie mit erstickter Stimme, »sie macht sich doch nichts aus Ihnen – gar nichts!«

»Das wußt' ich eher, wie Sie, Prinzeß,« erwiderte er in der Bitterkeit seines Herzens, und dann ärgerte ihn das rasche Wort. Was brauchte dies kleine Schoßkind des Glückes davon zu wissen?

»Das wissen Sie? Gott sei Dank!« flüsterte es an seinem Arme zurück.

»Wie meinten Durchlaucht?« fragte er steif.

»Ich sagte: Gott sei Dank, daß Sie es wissen,« kam es trotzig zurück, aber etwas lauter. »Ich will nicht so laut sprechen – was brauchen es die andern zu hören?«

»Was hören?«

»Daß Sie umsonst den Toggenburg spielen vor dem Falkenhof:

Ritter, treue Schwesterliebe

Widmet Euch dies Herz –

Fordert keine andre Liebe,

Denn es macht mir Schmerz –«


deklamierte die kleine Prinzeß.

»Durchlaucht belieben starke Ausdrücke,« gab er hochmütig zurück. »Denn wenn ich zu etwas nicht Anlage habe, so ist es zum Toggenburg.«

»Dazu wären Sie auch zu schade –« –

»O wirklich –?«

»Ja, denn Sie sollen siegen, aber nicht schmachten. Schmachten ist für einen Mann etwas Gräßliches – Jämmerliches. Wenn man Sie als Prometheus an einen Felsen schmiedete, und die Geier an Ihrem Herzen hackten –« –

»Es war die Leber, Durchlaucht!« – unterbrach er sie ironisch.

»Und die Geier an Ihrem Herzen hackten,« fuhr sie unbeirrt fort, »dann würde ich so viel glühende Thränen weinen auf Ihre Fesseln, bis sie schmölzen. Aber für einen Gefangenen im Bagno mit der Kugel am Fuß rühre ich keinen Finger!«

Die kleine, leidenschaftliche Rede verfehlte ihre Wirkung nicht. Falkner führte gerührt und geschmeichelt – vielleicht letzteres noch mehr, das reizende kleine Händchen, das auf seinem Arm lag, an die Lippen.

»O, Prinzeß Lolo!« murmelte er.

»Nennen Sie mich doch nicht auch mit diesem schrecklichen Namen,« bat sie leise mit schmeichelnder Stimme.

»Eleonore!« sagte er da, ohne Titel, ohne Prädikat.

»Alfred!« jauchzte es noch leiser zurück, aber mit solchem Herzensjubel, daß er davor erschrak. Was war geschehen? Was hatte er gethan? Doch zum Überlegen war keine Zeit – man war an Ort und Stelle.

Vor der Kapelle, die grau und verwittert unter dem dichten Blätterdach der sie umgebenden Eichen lag, standen zwei Diener mit Fackeln – sie hatten einen näheren Weg genommen, um die Herrschaften zu erwarten.

Der Herzog setzte sich sogleich auf eine Steinbank vor der Pforte. »So! Nun macht, was ihr wollt, ich bleibe hier,« erklärte er behaglich; die Lust in die Gruft hinabzusteigen, war übrigens auch bei den anderen nichts weniger als groß und man zögerte vor der nun geöffneten Pforte, bis Dolores zu Prinzeß Lolo sagte:

»Nun denn, so muß ich Ihnen allein die Honneurs dort unten machen, Durchlaucht!«

Aber der kleinen Durchlaucht war längst die Lust vergangen – sie hatte durchgesetzt, was sie sich eingebildet hatte, mehr wollte sie eigentlich nicht, und ihr Hasenherzchen fing merkwürdig an zu zittern und zu klopfen vor der Kapellenthür, auf welcher das Fackellicht unheimlich flackerte.

»Gehen Sie mit?« fragte sie zaghaft, zu Falkner emporsehend.

»Gewiß,« sagte dieser. »Dort unten habe ich sogar Repräsentationspflichten und größere Rechte, als meine Cousine, die Lehnsherrin!«

»Ein bitterer und grausiger Humor,« meinte Dolores ernst und gelassen.

»Ich schließe mich gleichfalls an,« erklärte Doktor Ruß sehr zum Mißfallen seiner Frau, und die Vier betraten die Kapelle, gefolgt von Ramo, der eine Stocklaterne entzündet hatte und mit derselben leuchtete.

Im Kapellenraum brannte hinter rotem Glase eine ewige Lampe, deren herrliche Form in schwerem Silber von der Decke herabhing. Der Altar, darin an bestimmten Tagen ein Priester Seelenmessen las für die ewige Ruhe der hier beigesetzten Falkner, war reich und prächtig bestellt – fromme Gaben Hinterbliebener, welche all diese gold- und silberstrotzenden Antependien, Leuchter, Vasen, Evangelien- und Episteltafeln als Opfer niedergelegt hatten für die dahingeschiedenen Geliebten.

Dolores, Falkner und Ramo neigten sich bekreuzend vor dem geschlossenen Tabernakel – dann öffneten sie ein Gitter, das eine steile aber breite Treppe abschloß und sie schritten, Ramo voran, dieselbe herab, hinter der Prinzeß, welche nur zaghaft den ihr zukommenden Vortritt nahm. Die Treppe mündete in einen hallenartigen Keller, in dessen gewölbten Nischen Särge standen von allen Größen, viele bedeckt mit verdorrten Kränzen.

»Hu, wie schrecklich!« flüsterte die Prinzeß halb weinend.

»Das sind neuere Generationen,« erklärte Falkner. »Die eigentliche Gruft liegt hinter jener Thür, und dieser Raum wurde ehedem als Kapelle benutzt, ehe es da drinnen zu enge wurde und man die Vorhalle droben als Kapelle einrichten mußte. Tempus fugit,« setzte er bedeutungsvoll hinzu.

»Tempus fugit,« wiederholte Doktor Ruß. »Künftige Geschlechter werden sich eine neue Stätte für ihren letzten Schlaf errichten müssen.«

»Es ist noch Platz hier für die beiden letzten Falkner,« erwiderte Dolores, seltsam bewegt. »Die Nischen sind gefüllt – hier aber, mitten im Raum, sind zwei aufgemauerte Postamente für die Särge, und hier trifft sie früh die Morgensonne durch das Gitterfenster, und frei kann die Waldluft sie umwehen. Es sind die besten Plätze, und niemand kann sie ›dem letzten Falkenpaare‹ wehren, denn wenn der letzte hinabgetragen ist, dann wird die Thür oben zugemauert, und die ewige Lampe erlischt –«

»Wer aber wird das letzte Falkenpaar sein?« fragte Prinzeß Lolo beklommen, und als niemand antwortete, stieß sie einen leisen Schrei aus. »Sie beiden?« flüsterte sie scheu, auf Alfred und Dolores deutend.

»Wer weiß es?« sagte ersterer und schritt der verschlossenen Thür zu, sie zu öffnen, während Dolores die prophetischen Worte der Ahnfrau einfielen:

Kann sich das Edelfalkenpaar nicht finden,

Dann wird der Stamm erlöschen und verschwinden.


»Verschwinden,« schien das Echo zu sagen, welches das gedachte Wort gar nicht erweckt hatte.

Der Raum, den sie jetzt betraten, war bedeutend kleiner, und die feuchte Grabesluft des großen Gruftgewölbes fehlte ihm, denn die Wände waren mit Blei bedeckt, von dessen blinden Flächen noch schwarze Tuchfetzen herabhingen, mit denen die Wände ehedem zum »pompe funèbre« behangen waren.

»Der Luxus unserer Vorväter hatte dieselben mehr konserviert als es jede Einbalsamierung thun konnte,« sagte Doktor Ruß, indem er auf die Bleiwände deutete. »Deshalb können wir auch heute noch beurteilen, ob der Maler der ›bösen Freifrau‹ geschmeichelt hat oder nicht.«

Er winkte Ramo, und dieser beleuchtete drei nebeneinander stehende reichbeschlagene, mit Samt bekleidete Prachtsärge, auf deren mittelsten eine Tafel angebracht war zu Füßen des Kruzifixes, auf welcher man deutlich den Namen: »Dolorosa, Freifrau von Falknerin« lesen konnte. Doktor Ruß und Falkner faßten den Deckel bei den Handhaben, hoben ihn herab und enthüllten einen zweiten Bleisarg, der in dem Prunksarg eingelassen war. Auch dessen Deckel wich und Dolores sah mit einem Ausruf höchster Überraschung eine Gestalt in dem Sarge liegen, von deren Haupt das Haar zwar glanzlos, aber genau so kupferrot leuchtete, wie auf dem ihren, und näher tretend konnte sie die von der Zeit zwar vergilbten, aber wunderbar erhaltenen Züge der »bösen Freifrau« erkennen, wie sie hier so friedlich zu schlafen schien im silbergestickten, weißen Damastkleide, das sich über einem goldgestickten, mattgrünen Unterkleide von Atlas öffnete. Die schmalen, schlanken Hände, welche aus den übergeschlagenen Spitzenmanschetten der hochgepufften Ärmel hervorragten und nun wie vergilbtes Elfenbein aussahen, waren über der Brust gefaltet, welche ein tiefer Ausschnitt des Kleides halb entblößte, der feingestickte, spitzenbesetzte mächtige Kragen aber leicht bedeckte. Um den Hals lag ein dünnes Goldkettlein, die rotgoldenen Haare waren dicht gekräuselt und in den leichten Federlöckchen lag im seltsamen Gegensatze zu dem grünen Unterkleide, eine spitze, lange, schwarze Witwenschneppe.

Mächtig erschüttert sah Dolores auf die Ahne herab, deren Züge sie trug, diese Züge, auf denen die Bleibekleidung der Wände und der bleierne Sarg dies Wunder der Erhaltung ihrer irdischen Reste bewirkt – sie hatte unwillkürlich die Hände gefaltet, und ihre Augen wurden feucht, als sie den Körper der Unglücklichen vor sich sah, die im Leben so heiß geliebt, so schwer gelitten hatte –

Da tönte ein gellender Schrei durch die stille Gruft –

»Die Augen – sie hat die Augen aufgemacht –« kam es in Tönen des Entsetzens von Prinzeß Lolos Lippen, und die Arme wild emporgereckt, die Augen stier und die Lippen blaß, flog sie auf Falkner zu und brach zu seinen Füßen zusammen.

»Das ist die Folge, wenn Backfische das Gruseln lernen wollen,« murmelte Doktor Ruß vor sich hin, während Dolores sagte:

»Schnell – schaffen Sie sie hinauf, Alfred! Das arme Kind kann Krämpfe davon tragen von ihrer Angst –«

Falkner hatte sich schon gebückt und hob die Prinzeß empor, welche krampfhaft schluchzend die Arme um seinen Hals schlang und das blonde Köpfchen an seine Wange drückte wie ein kleines Kind, das man mit dem schwarzen Mann in Schrecken gejagt. Der gellende Schrei hatte auch die vor der Kapelle Zurückgebliebenen aufgeschreckt.

»Das war Lolo –! O, ich dachte es wohl!« rief Prinzeß Alexandra und trat in die Kapelle. Doch da erschien schon Falkner oben an der Treppe mit seiner Bürde, die sich schluchzend fest an seinen Hals klammerte.

»Sie wird sich in der frischen Luft bald erholen,« sagte er auf den fragenden Blick der älteren Schwester.

Aber Prinzeß Lolo erholte sich nicht so schnell. Sie war von Falkners Halse nicht loszureißen und weinte Ströme von Thränen.

»Sie hat die Augen aufgemacht und mir gewinkt,« schluchzte sie, »aber ich will nicht sterben, Alfred, ich lasse dich nicht – laß du mich auch nicht – du bist mir gut – nicht wahr? Laß mich nicht sterben – nicht sterben – nicht sterben!«

Jetzt riß dem Erbprinzen die Geduld.

»Eleonore!« sagte er streng und scharf, daß das Schluchzen sofort nachließ, wie oft bei grundlos weinenden Kindern. »Eleonore, was soll das? Schäme dich!«

Langsam lösten sich die runden, weichen Arme von Falkners Hals, aber das verweinte Gesichtchen blieb an seine Brust gelehnt, bis der Herzog hinzutrat und, seine Tochter an der Hand fassend, diese hinwegzog.

»Fräulein von Drusen,« sagte er, »haben Sie die Güte, die Prinzeß nach Hause zu begleiten und dort zu Bett bringen zu lassen!«

»Papa!« schrie sie empört auf.

»Du weißt, ich liebe Scenen nicht,« entgegnete der Herzog ärgerlich. »Außerdem wünsche ich nicht, mir den schönen Abend weiter zu verderben. – Sie werden uns nämlich noch nicht los,« wandte er sich an Dolores, »denn Sie haben uns ein Lied versprochen.«

»Und ich hoffe, meine Schuld mit Zinsen einlösen zu können, Hoheit,« erwiderte Dolores liebenswürdig, und nur ein feiner Kenner hätte in ihrer Stimme ein leises Schwanken wahrnehmen können. Und so ging es die Allee zurück nach dem Falkenhof – fast in der alten Ordnung – Dolores voran mit dem Herzog, Ruß mit Fräulein von Drusen, der Kammerherr mit Frau Ruß, welche leichenblaß war und vor Aufregung zitterte infolge der Scene vor der Kapelle. Dem ersten Paare hatte sich Gräfin Schinga, dem zweiten ihr Gatte zugesellt, Prinzeß Alexandra folgte, den Arm um ihre Schwester geschlungen und leise mit dieser flüsternd, zuletzt, etwas weiter zurück, folgten der Erbprinz und Falkner.

Nach einer Pause ergriff ersterer das Wort.

»Baron Falkner,« sagte er, »wie soll ich mir diese Scene mit meiner Schwester deuten?«

»Genau wie Hoheit sie sahen. Es liegt nichts dahinter,« erwiderte Falkner ruhig. Daß man eine Erklärung fordern würde, dessen hatte er von Anbeginn sicher sein können, und er sah ihr gefaßt entgegen mit dem Gefühl eines Mannes, dem das hingebende Anschmiegen, das rückhaltlose Hervorbrechen der Zuneigung eines reizenden Weibes wohlgethan hatte, nachdem die Zärtlichkeit einer Mutter für ihn unter Kontrolle stand, und er verscherzt glaubte, was niemals sein gewesen.

»Es liegt nichts dahinter?« wiederholte der Erbprinz. »Meinen Sie damit, daß die Reden meiner Schwester spontane Eingebungen waren, welche Sie selbst überraschten?«

»Zum Teil thaten sie dies allerdings, Hoheit,« war die ebenso ruhige und sichere Antwort.

»Zum Teil! Und zum anderen Teil?« war die heftigere Frage.

»Zum anderen Teil bekenne ich mich schuldig, auf dem Wege zur Kapelle durch ein unvorsichtiges Wort Hoffnungen in dem jungen Herzen erweckt zu haben, welche, so fürcht' ich, nur auf Sand gebaut sind.«

»Wie soll ich das verstehen?«

»Fürstentöchter sind schon zu Vasallen herabgestiegen – doch diese hatten dann mehr zu bieten als Äquivalent, als ich.«

»Darauf kommt es nicht an, Falkner,« erwiderte der Erbprinz ruhiger. »Es handelt sich für mich nur darum, zu wissen, wessen Neigung stärker ist – die meiner Schwester für Sie, oder die Ihrige für meine Schwester!«

»Dann fragen Hoheit die Prinzessin Eleonore selbst – ihre Antwort ist die meinige,« entgegnete Falkner.

Der Erbprinz seufzte, aber schwieg. Er konnte sich's ungefähr erklären, wie alles gekommen war, er kannte seine »kleine Schwester,« und im Grunde seines Herzens lebte die feste Überzeugung, daß Prinzeß Lolo bei ihrer Neigung »zum Durchgehen« besser aus der Sphäre herausgedrängt wurde, in welcher sie geboren war, und an der Seite eines Mannes wie Falkner die Festigkeit erlangte und die Stütze fände, deren sie so sehr bedurfte, als daß sie in einer Konvenienzehe, sich selbst überlassen, dem Abgrunde zutrieb, von dem vielleicht nichts mehr sie retten konnte.

Im Falkenhof wieder angelangt, blieb man, Prinzeß Lolo inbegriffen, noch versammelt, aber die Konversation blieb gezwungen und die Gemütlichkeit war entflohen, und während Gräfin Schinga eine der wundervollen ungarischen Rhapsodien von Liszt spielte, beobachtete Doktor Ruß, scheinbar in den Kunstgenuß versunken, wie es in den Zügen des kleinen Kreises nacharbeitete von der Scene an der Grabkapelle. Denn der sonst stets gutgelaunte Herzog suchte ersichtlich Herr seiner Mißstimmung zu werden, und mitunter flog ein Blick aus seinen gutmütigen Augen hinüber nach seiner zweiten Tochter, der so ernst und mißbilligend war, als er's überhaupt zuwege bringen konnte. Der reizenden Delinquentin sah man's an, daß Zorn und Thränen in ihr kämpften. Prinzeß Alexandra sah bekümmert aus, Frau Ruß rang nach Atem, und Falkner stand da wie einer, der den drohenden Sturm gefaßt erwartet. Die Unbefangenen waren Keppler und Graf Schinga – unbefangener und ganz gelassen schien Dolores, als ginge der Sturm im Wasserglase sie gar nichts an. Und wirklich hatte die Scene draußen sie nicht in dem Maße überrascht, als die anderen – sie war ja die Vertraute der kleinen Prinzeß –

»Sie wird weinen, er wird sich in Stolz hüllen, und dann wächst Gras über die ganze alberne Sache,« dachte sie, nicht ohne Bitterkeit.

Und dabei ahnte sie nicht einmal, was diese Selbstbeherrschung ihr wert war. Denn Doktor Ruß beobachtete scharf, und hätte er ein Zucken in ihren schönen Zügen entdeckt, einen verräterischen Blick erhascht – was alles hängt nicht im Leben oft an einem »wenn!« Und als Gräfin Schinga ihre leidenschaftliche Rhapsodie geschlossen, da sang Dolores einige Lieder mit fester, klarer Stimme, und als ihre Gäste dann die Heimkehr antraten, nahm sie Abschied von ihnen, als sei niemals etwas geschehen, was die Harmonie des heutigen Abends stören konnte.

»Das war ein interessanter Abend,« sagte Doktor Ruß, als er Dolores gute Nacht wünschte.

»Ach ja – die Herrschaften sind wirklich sehr angenehme Nachbarn,« erwiderte sie, ohne den doppelten Sinn verstehen zu wollen.

»Schade nur, daß das blonde Prinzeßchen ihre romantische Idee, nachts die Gruft zu besuchen, so schwer büßen mußte,« setzte er lächelnd hinzu. »Aber wer weiß, wozu es gut war, daß sie ihr Herzensgeheimnis dabei verriet,« meinte er sinnend. »Es wird wohl einen Sturm geben, drüben in Monrepos, aber nach Stürmen pflegt die Sonne gemeiniglich viel heller zu scheinen.«

»Man muß es hoffen,« entgegnete Dolores.

***

Zu einem richtigen Sturm kam es aber in Monrepos doch nicht, kaum daß ein Donnerwetter die nötige Luftreinigung besorgte. Der Herzog hatte am selben Abend noch eine längere Unterredung mit seinen beiden ältesten Kindern und darauf eine bedeutend kürzere mit Falkner, der abermals hier alle Schuld auf sich selbst lud und die Neigung der Prinzeß für sich selbst also in ein ideales Licht stellte.

Und die dem Idealen stets so geistig nahe Prinzeß Alexandra brachte ihrer Überzeugung und ihrer an das Erhabene streifenden Schwesterliebe ihre hohen Ideen vom Fürstenberuf zum Opfer und ward die Fürsprecherin einer Verbindung, welche der Erbprinz aus Prinzip, der Herzog aber in dem vagen Gefühl bekämpfte, daß es seine Pflicht sei, eine Mesalliance zu verhindern. Daß Falkner keinen Reichtum zu bieten hatte, machte ihm nicht die größten Sorgen.

»Seine Kinder sind versorgt, die erben den Falkenhof,« meinte er. »Und Gott sei Dank, ich hab's ja, um meine Tochter ihr Leben lang ganz passabel glänzend zu stellen.«

Prinzeß Alexandra aber siegte mit ihren Argumenten. Sie zeichnete dem Vater rückhaltlos den Charakter ihrer Schwester mit all' seinen Schwächen, sie stellte ihm all' die Gefahren vor, welchen ein solcher Charakter ausgesetzt ist, Gefahren, die eine Konvenienzehe geradezu beschwört, und die nur eine Herzensneigung abwenden kann. Und als der Herzog immer noch ablehnend sich verhielt, da wagte sie das letzte, das stärkste.

»Papa, denke an unsere Mutter, und wie sehr Lolo ihr in allem und jedem gleicht,« sagte sie leise und mit glühenden Wangen.

Da senkte der alte Herzog traurig sein graues Haupt, und die vergangene schwere Zeit, da die hochselige Herzogin ohne Liebe seine Gemahlin wurde, und ihr heißes Herz erwacht war, diese Zeit kam mit Gewalt zu ihm zurück. Aber er wußte auch, was es seiner Tochter kosten mußte, um ein Bild herauf zu beschwören, das er und seine Kinder mit dem Schleier der Vergebung und der Pietät verhüllt hatten, und er begriff jetzt ihre Herzensangst um das Wesen, dem sie mehr als eine Schwester, dem sie eine Mutter gewesen war. Sie hatte die wilden Triebe in der jungen Seele nicht ganz ausrotten können, sie wußte, daß sie eines Tages emporschießen würden, und hoffte, daß die Liebe allein mit starker Hand und ohne Schmerz zurückhalten würde, was ohne ihren Sonnenglanz nicht zu gedeihen vermag.

Und so kam es, daß Falkner nach Mitternacht sich zur Ruhe begab als verlobter Bräutigam und als anerkannter künftiger Schwiegersohn des Herzogs von Nordland. Der Wahrheit die Ehre zu geben, er fühlte sich in beiden Eigenschaften gehoben, denn einmal that ihm die rückhaltlos offenbarte Liebe des reizenden Fürstenkindes wohl, und dann schmeichelte ihm der Gedanke, einem regierenden Hause so nahe zu treten.

Drüben im Falkenhof war alles still und umfangen vom nächtlichen Frieden, und wirklich schlief die junge Lehnsherrin einen erquickenden Schlaf, unbehelligt durch schwere Träume, während Doktor Ruß seinerseits sich leise erhoben hatte, als seine furchtbar von den Ereignissen des Abends aufgeregte Gattin endlich zur Ruhe gekommen war, ahnungslos über das, was sich drüben »bei Hofe« indes vollzog. Rastlos und leise, als schritte er auf Gummisohlen, ging er im Wohnzimmer auf und nieder und dachte, dachte, dachte, bis das erste Flimmern des jungen Tages durch die Ritzen der geschlossenen Vorhänge drang – da erst legte er sich nieder und stand ein paar Stunden später mit der Miene eines Mannes auf, der die ganze Nacht wie ein Heiliger geschlafen, und als er, nach seinem kalten Bade frisch und bis zum Tüpfelchen auf dem i jeder Zoll ein gutgekleideter Gentleman, seine Gattin am Frühstückstisch fand, da hätte diese sicher am letzten geahnt, daß er die ganze, liebe, lange Nacht hindurch nicht nur nicht geschlafen, sondern anstrengend gedacht hatte.

Als der Morgen dann zu einer decenten Stunde vorgeschritten war, stieg er hinauf zu Dolores und ließ sich bei ihr melden. Er fand sie in dem Turmzimmer am Schreibtische vor, Bücher und Belege vor sich.

»Immer thätig, immer bei der Arbeit,« sagte er, und küßte ihre Hand.

»Was hilft's? Engels zwingt mich ja zu diesem reizlosen Geschäft,« lächelte Dolores und seufzte dazu resigniert. »Er giebt keine Ruhe, ehe ich nicht selbst die Bücher vergleiche und die Belege revidiere. Und dabei hasse ich nichts mehr, wie Rechnen und Zahlen. Aber ›ich bin des trocknen Tons nun satt,‹« setzte sie mit dem übermütigen Blick früherer Tage hinzu, indem sie das Buch zuklappte und ihre Hand darauf legte.

»Ich wundre mich nur, daß Sie den ›trocknen Ton‹ so lange ertragen haben,« gab Doktor Ruß zurück.

»Nun, was Mephisto konnte, wird doch von Satanella nachzuahmen sein?« sagte sie leicht.

»Wer weiß,« erwiderte er und setzte dann hinzu: »Wissen Sie, Dolores, daß Sie mich damit unbewußt auf das Thema gebracht haben, wegen dessen ich eben zu Ihnen heraufkam? Ich habe, offen gesagt, nicht recht gewußt, wie beginnen, denn ich möchte Ihr Mißtrauen nicht erwecken und nicht selber die Rolle einer mißgünstigen Rothaut in Ihren Augen spielen –« –

»Das ist ja eine schreckliche Vorrede,« lachte Dolores, sichtlich sympathisch berührt von dem Tone des Biedermanns, den Doktor Ruß so meisterhaft beherrschte.

»Eine schreckliche Vorrede, nicht wahr?« gab er mit komisch-kläglichem Tone zu, fügte aber gleich wieder ernst hinzu: »Aber sie ist noch nicht zu Ende, meine Vorrede. Denn sehen Sie, Dolores, Sie müssen mich nicht mißverstehen, nicht glauben wollen, daß ich Ihnen einen Rat aufdränge, dessen Sie nicht bedürfen und den Sie nicht wünschen, oder gar, daß ich mich von irgend welchem Übelwollen leiten lasse – von einem Übelwollen gegen Engels, der mich nicht leiden mag. Denn um Engels handelt es sich.«

»Ach bitte, sagen Sie nichts gegen ihn,« bat Dolores so treuherzig, daß ein anderer, als Doktor Ruß, sicher still gewesen wäre.

»Nein, o nein,« beeilte er sich zu versichern. »Sie müssen nicht denken, daß ich ihn verdächtigen will, denn die Offenheit, mit welcher er seine Abneigung gegen mich zur Schau trägt, gemahnt an das klassische Vorbild der Nibelungenzeiten und hat mich immer mehr ergötzt als beleidigt. Denn gegen seine Antipathie kann kein Mensch, nur daß sie in diesem Falle wirklich nicht auf Gegenseitigkeit beruhte –« –

»Jetzt fang' ich aber wirklich an, neugierig zu werden, um was es sich handelt,« sagte Dolores amüsiert.

»Ich komme schon zur Sache, aber diese Einleitung hielt ich eben für nötig, denn meine Angelegenheit ist zu ernst, um mit der Thür ins Haus zu fallen,« erwiderte Doktor Ruß. »Es handelt sich also um den guten Engels, oder, wenn Sie wollen, um den Falkenhof. Sie wissen ja, wie der verstorbene Freiherr, Ihr Onkel, stets in die Verwaltungsgeschäfte selbst mit eingegriffen hat und Engels in allem und jedem dareinredete, als wäre derselbe nichts gewesen, als ein subalterner Beamter und nicht der selbständige Verwalter eines solch' enormen Güterkomplexes wie der Falkenhof. Das aber lähmt die Thatkraft, schwächt das Selbstvertrauen, und Engels, dessen landwirtschaftliche Kenntnisse und Ansichten noch von Anno Tobak datieren, hat nichts dazu gelernt, wie ich gern zugebe, aus dem obengenannten Grunde. Und in der That ist er nichts weiter, als ein guter, tüchtiger Inspektor, dem seine Buchführung nachgerade sauer genug wird und sie, wie figura zeigt, gern teilweise auf Sie abholzen möchte.«

»Und der langen Rede kurzer Sinn ist, daß ich Engels pensionieren soll,« warf Dolores kühl und scharf ein.

»Da – hatt' ich unrecht, wenn meine ›schreckliche Vorrede‹ Ihrem Mißtrauen vorbeugen sollte?« fragte Doktor Ruß lächelnd und in ganz harmlosem Tone. »Also für's erste und letzte – nein, tausendmal nein, ich will nicht, daß Sie Engels pensionieren sollen, denn das hieße den Besitz schädigen. Was ich meine, betrifft nur die rentamtliche Verwaltung. Die hat Ihr Onkel stets besorgt, wie Sie aus den Büchern ersehen werden, und wenn Engels dazu jetzt nicht taugt, so ist's nicht seine Schuld, denn woher soll ihm plötzlich eine Wissenschaft kommen, die er nie gepflegt hat. Nun aber sind Sie, liebe Dolores, gleichfalls unerfahren in der Verwaltung eines solchen Besitzes, Sie halten Engels für Ihre beste, zuverlässigste Stütze und haben darin auch nicht unrecht. Aber Sie vergessen, daß die Kopfarbeit ihm auch über den Kopf wachsen muß, und daher halte ich es für meine Pflicht, mögen Sie es so oder so deuten, Sie darauf aufmerksam zu machen, daß der Falkenhof nicht vorwärts kommen kann, wenn, bei aller Sorgfalt und Pflichttreue des Verwalters, das geistige Oberhaupt mangelt. Verstehen Sie, was ich meine?«

Dolores hatte sehr aufmerksam zugehört und antwortete nicht sogleich.

»Ich verstehe all' das vollkommen, mehr noch, ich sehe ein, daß die ganze Last für Engels zu groß ist,« sagte sie dann. »Aber nichtsdestoweniger danke ich Ihnen herzlich für den guten Rat, der mir Ihre freundschaftliche Gesinnung so warm dokumentiert.«

»Sie wälzen einen Stein von meinem Herzen, wenngleich Sie mir deshalb nicht zu danken brauchen,« erwiderte Ruß lebhaft – eine seltene Kundgebung bei ihm.

»Doch, doch,« rief Dolores. »Hat doch der König seine Räte! Aber, aber, die ganze Vorrede hat mir doch gezeigt, daß die kleine Scene drüben im Ahnensaal Sie verletzt hat, daß Sie meinen Abweis jeglicher Einmischung in persönliche Angelegenheiten falsch oder doch zu scharf aufgefaßt haben. Denn wirklich, es galt nur dem Persönlichen, galt einer delikaten Frage, welche ich abgethan und begraben wähnte –« –

»Ihre Entschuldigung beschämt mich nur noch mehr,« fiel Ruß ein und reichte ihr seine Hand herüber, in die sie flüchtig die ihre legte. »Und um nun auf unser früheres Thema zurückzukommen –« –

»O, in diesem Falle bin ich sehr stolz, daß mein Instinkt mit Ihrer Fachkenntnis und Ihrer tiefen Einsicht im Einklange steht,« unterbrach ihn Dolores freundlich, »denn ich selbst habe längst gefunden, daß die Regierungsmaschine des Falkenhofes geordnet und einer Autorität unterstellt werden muß –« –

»Ah, sehen Sie wohl –!« rief Doktor Ruß mit einem Blick des Triumphes.

»Und gewissermaßen ist diese Angelegenheit schon geordnet,« fuhr Dolores fort, nicht ohne eine gewisse, sie sehr gut kleidende Wichtigkeit in Ton und Miene zu legen. »Ich habe Engels zum Generalbevollmächtigten ernannt und werde ihm einen Inspektor speciell für den Falkenhof unterstellen und damit den Stab seiner Inspektoren um einen leitenden technischen Beamten vermehren. Die nötigen Gehilfen für Engels auf dem Rentamte wird Justizrat Müller auf meinen Wunsch anwerben und mir verpflichten.«

Sie hatte all' das mit Eifer und, wie gesagt, mit einer sehr reizenden Wichtigthuerei berichtet, und, obgleich sie sich damit direkt an Doktor Ruß wendete, nicht bemerkt, daß er um einen Schatten blässer wurde und seine, den Bart drehende, weiße und wohlgepflegte Hand plötzlich so unsicher ward, daß er sie herabnehmen mußte und, um ihr Zittern zu verbergen, tief in seine Rocktasche vergrub.

»Und nun, was sagen Sie zu diesem excellenten Plan, auf den ich sehr stolz bin?« schloß Dolores heiter.

»Ich auch,« erwiderte Ruß mit seltsam schwerer Zunge, so daß sie ihn verwundert anschaute. »Und ist alles schon legal und perfekt?« fragte er dann in seiner gewöhnlichen, gewinnenden Weise.

»Ja. Ich erwarte den Justizrat heut' oder morgen. Aber,« fuhr sie liebenswürdig fort, sichtlich bemüht, für den anscheinend so uneigennützig und bieder gegebenen Rat Dankbarkeit zu zeigen, »aber ich rechne beim Einrichten der neuen Verwaltung auf Ihren Rat. Da Sie mir die Freude machen wollen, bis zum Herbst mein Gast zu sein, so hoffe ich noch viel von Ihrem praktischen, sowie auch nicht minder von Ihrem theoretischen Wissen zu profitieren.«

Doktor Ruß verbeugte sich.

»Es macht mich stolz, mein geringes Können von Ihnen so hoch gestellt zu sehen,« sagte er mit seinem musikalischen Tonfall. »Aber,« setzte er lebhafter hinzu: »Aber ich fürchte, fürchte, daß Engels meinen Rat nicht begehren, mehr noch, nicht dulden wird –«

»Nein, da thun Sie ihm unrecht. Er ist so einsichtsvoll und weiß sehr genau, wo es ihm fehlt. Er wird sich freuen, bezüglich der Verwaltung wertvolle Winke von Ihnen zu erhalten.«

Doktor Ruß wiegte lächelnd den Kopf.

»Ich zweifle dennoch,« meinte er.

»Aber ich bitte Sie, wenn ich es wünsche!« rief Dolores, deren Widerspruch und Machtgefühl eine kleine Reizung erhielt. Doch Doktor Ruß wehrte ihr mit leisem Lachen mit beiden Händen ab.

»Ich den guten Engels unterrichten, der Vorurteile hat wie ein Italiener und eigensinnig ist wie gewisse graue Tiere – nein, liebe Dolores, so weit reicht Ihre Macht nicht. Das müßten Sie mir schriftlich geben, wenn Sie mich wünschen.«

»Nun, wenn Sie meinen, daß mein geschriebenes Wort Engels mit größerer Ehrfurcht erfüllt, so sollen Sie's haben,« lachte Dolores, auf den Scherz, für den sie das Ganze hielt, eingehend. Dabei ergriff sie einen großen Bogen Papier, warf hastig ein paar Zeilen daraus und reichte sie lächelnd Ruß herüber.

»Ich ernenne hiermit den Herrn Doktor Ruß zum Bureauvorsteher meines Rentamtes,« las er unterhalb des Datums. »Sehr gut. Sie haben nur die Unterschrift vergessen.« Und damit legte Ruß das Papierblatt wieder vor Dolores auf den Schreibtisch, welche sich höchlich über den »Spaß« amüsierte.

»Und die zwei Zeugen!« meinte sie, die Feder über den leeren Platz gleiten lassend. »Dolores Freiin von Falkner,« schrieb sie mit ihren großen, kräftigen Zügen, die so viel Charakter verrieten.

Doch als Doktor Ruß wieder nach dem Blatte griff, nahm sie es schnell fort und zerriß es noch rascher in mehrere Stücke.

»Nehmen Sie den Unsinn mit dem ›Bureauvorsteher‹ nicht übel,« sagte sie und warf die Fragmente in den Kamin.

Wieder lachte Doktor Ruß, aber diesmal ging Dolores der Ton durch und durch, daß sie zusammenzuckte.

»Was sich liebt, neckt sich,« sagte er und mußte sich räuspern, weil seine Stimme heiser geworden war. »Doch verzeihen Sie, daß ich Sie so lange belästigt habe, ja?« –

»Nein, es war ja so sehr freundlich von Ihnen,« erwiderte sie ganz überzeugt, worauf Doktor Ruß wieder ihre schlanke, feine Hand küßte und sich empfahl.

Draußen im Korridor aber kam es ein-, zweimal röchelnd aus seiner Brust, daß er den Knopf seines Leinenkragens lösen mußte, weil er ihm zu eng wurde.

»Es war der letzte Versuch,« stöhnte er. »Vom Hoffen zum Fehlschlagen, von der dann erreichten ersten Staffel in den Abgrund zurückgeschleudert – das macht die Nerven kaput. O Dolores!«

Und wieder schloß er den Knopf, denn die Selbstbeherrschung war sein oberstes Lebensprinzip.

»Ich hab's ehrlich gemeint – was kann ich dafür, wenn es nicht angenommen wurde?« sagte er im Weiterschreiten zu sich selbst.

»Ehrlich, wirklich ehrlich, denn ich bin kein Zulukafferhäuptling und kein Schusterle, dem's nur um das Abschlachten zu thun ist. Also jetzt Geduld, Geduld! Damit hat Napoleon die Welt unterjocht, und mit ihm sage ich: Tout le monde vient à celui qui sait attendre.«

O du stolze Frau Ruß, der das bloße Brot der Duldung in diesem Hause stets so hart und bitter war, dich hätte der Schlag getroffen, wenn du geahnt hättest, daß nach dem fehlgeschlagenen Versuch deines Gatten, sich zum Generaldirektor des Falkenhofs zu machen, dieser den »Scherz« der Lehnsherrin mit dem Bureauvorsteherposten für bitteren Ernst genommen hatte! »Denn,« so hatte er gerechnet, »wer das Kleine nicht ehrt, ist des Großen nicht wert,« und einmal im Nest, wäre der unbequeme Engels schon herauszudrücken, und der lockende Posten, der das Einkommen jeder Professur weit überschritt, dann dennoch sein gewesen. Denn darin machen's die Menschen nicht besser als die Tiere – es drückt einer den anderen fort, wenn er dessen Nest für das wärmere und bessere hält. »Nur die Lumpe sind bescheiden,« sagte Altmeister Goethe, und der hat das Leben doch sicher verstanden.

Daß dem Doktor Ruß nichts daran lag, den Falkenhof und mithin die Fleischtöpfe Ägyptens zu verlassen, um in einer Welt, der er fremd geworden, ein Brot zu suchen, dessen Sicherheit und Güte er durchaus nicht gewiß war, war ihm am Ende nicht zu verargen. Es schreibt sich am täglich kostenlos gedeckten Tisch, der unter dem Regimente der neuen Lehnsherrin bedeutend besser geworden war, leichter hin und wieder ein geistreich-ästhetisches Essay, als beim ängstlich eingeteilten Brot ums liebe Leben, und wenn Doktor Ruß auch zu denen gehörte, welche selbst in der Einsamkeit nicht rückwärts schreiten, weil sie den Drang zur Fortbildung in sich tragen, so wußte er doch sehr genau, daß die Zeit manche Lücken in seinem Wissen verursacht hatte, und daß es ihm blutsauer werden würde, in der Welt einigermaßen anständig fortzukommen. Andererseits aber hatte Dolores auch keinen Grund, die Familie Ruß dauernd als notwendiges Übel unter ihrem Dach zu behalten, denn wenn sein Wissen sie auch anregte und seine Person ihr nicht gerade unsympathisch war, so konnte sie an Frau Ruß doch keine Spur von Sympathie verschwenden, und im Gegenteil war ihr deren Gegenwart so antipathisch, daß sie ihr, wo nur thunlich, gern auswich. Die kalten, hellen, harten Fischaugen dieser Frau schafften ihr ein Unbehagen, das sie nicht überwinden konnte, und wenn sie sich auch gelobt hatte, späterhin wieder eine Einladung an das Ehepaar aus verwandtschaftlichen Rücksichten ergehen zu lassen, so hatte sie sich doch darauf gefreut, der Frau nicht mehr zu begegnen. Und nun wollten sie noch bis zum Herbst bleiben – mehr als ein Vierteljahr vielleicht? Dolores hatte zwar über diese gezwungene Gastfreundschaft geseufzt, sich aber fest vorgenommen, sich zu bezwingen und beiden den Aufenthalt im Falkenhof, so lange sie ihre Gäste waren, so angenehm als möglich zu gestalten und ihnen zu beweisen, daß sie hierin nicht in die Fußstapfen ihres seligen Onkels trat, der dem geduldeten Paare das Gnadenbrot gab. Sie nahm also mit ihnen ein gemeinschaftliches, spätes Mittagbrot und oft das zweite, das Gabelfrühstück ein, ohne sich gegebenenfalls in dieser Hinsicht Zwang aufzulegen. Im übrigen wurde die Bedienung des Paares bedeutend besser. – Dolores hatte, als Doktor Ruß sie droben in ihrem Turmboudoir verlassen hatte, mechanisch eine Streichholzbüchse ergriffen und die Fragmente der im Scherz ausgestellten Urkunde im Kamin entzündet. Sie wußte selbst nicht, weshalb sie es that, aber es kommt ja oftmals vor, daß die Hände etwas vornehmen, wovon der mit anderem beschäftigte Geist keine Ahnung hat. Und wie sie sich so vor den Kamin kauerte und zusah, wie die Flamme die einzelnen Papierstücke zu verzehren begann, da fiel ihr mit einem Mal der erste Teil des seltsamen Traumes ein, daß ihr neulich nachts geträumt, wie Doktor Ruß ihr das große Blatt Papier gereicht, wie sie es zerrissen und dann verbrannt. »Das ist seltsam,« dachte sie, und dann erinnerte sie sich daran, wie ihr weiter geträumt, daß Doktor Ruß durch den Kamin verschwunden sei. »Und das ist der Unsinn dabei,« sagte sie vor sich hin, doch stand sie trotzdem auf und begann den Mantel des Kamins genau zu untersuchen, hier drückend, dort zu schieben versuchend, aber ohne Erfolg. Nun überlegte sie, welcher Raum wohl an den Turm stoßen mochte, und da sie den nördlichen Flügel noch nicht betreten, so beschloß sie sofort, eine Expedition in denselben zu unternehmen – vielleicht, daß sich die seit geraumen Zeiten unbewohnten Räume irgendwie ausstatten und als Fortsetzung ihrer eigenen Zimmerflucht mit derselben verbinden ließen. Da einmal gefaßte Entschlüsse bei Dolores stets zur raschen Ausführung kamen, so läutete sie Ramo, dem sie alsbald ihren Wunsch mitteilte, und der wiederum seinerseits mit dem notwendigen Schlüsselbunde erschien, eigentlich mit nur zwei notwendigen Schlüsseln, indem er Dolores respektvoll mitteilte, Mamsell Köhler sei sehr froh, die Expedition nicht mitmachen zu müssen, da es im nördlichen Flügel umgehe, denn sie habe, auch in letzter Zeit, deutlich bei später Arbeit in den zur ebenen Erde liegenden Vorratsräumen eben dieses Flügels gehört, wie leise Schritte durch die unbewohnten Räume gegangen waren.

»Ratten,« schloß Ramo bedeutungsvoll.

»Natürlich,« nickte Dolores, »der guten Mamsell Köhler ist's ja gar nicht wohl, wenn sie sich nicht vor irgend einem Gespenst fürchten kann.«

Ramo öffnete, voranschreitend, die eiserne Thür, welche dicht neben dem Turmzimmerausgange den nördlichen Flügel beinahe hermetisch von der übrigen Außenwelt abschloß. Es bot sich ihren Augen nun vor allem ein eichengetäfelter Korridor, dessen Fenster nach dem Hofe herausgingen, wie die der anderen Korridore des Falkenhofs. Die Thüren, welche in die Zimmer selbst führten, waren aber alle fest verschlossen und widerstanden jedem Öffnungsversuche. Am Ende des Korridors endlich schloß der zweite der von Mamsell Köhler bezeichneten Schlüssel eine schmale, einfache Thür auf, und diese, in den nördlichen Turm führend, gestattete den Eintritt in den verlassenen Flügel, dessen weite und hohe Räume es sicher nicht verdient hatten, von den Herren vom Falkenhof so stiefmütterlich behandelt zu werden. Daran aber war die Überfülle an Raum schuld, welche dies feudale Schloß barg, und –

»Aber Ramo, sind das nicht die Zimmer, in denen meine Eltern wohnten?« fragte Dolores erstaunt beim Weiterdringen, während Ramo vorausging, die meist ganz verschlossenen Fensterläden zu öffnen.

»Ja, Herrin,« erwiderte der alte Diener mit einem Seufzer, in welchen Dolores einstimmte. Denn wohl waren diese Zimmer groß und teilweise sogar mit wertvollen alten Möbeln ausgestattet, aber sie entbehrten des Sonnenlichts, und eine beklemmende Moderluft lag in den Räumen, in denen die Stille des Todes herrschte.

»Arme Mutter,« dachte Dolores wehmütig, »und sie hatten keinen anderen Raum hier für dich, als diese gruftartige Zimmerflucht, in der du, des Südens sonnengewohnte Tochter, jahrelang dahinsiechen und welken mußtest –«

Sie waren jetzt in einem Gemach angelangt, das, vollkommen eingerichtet mit schweren, geschnitzten, schwarzen Eichenmöbeln, nur diesen einen Eingang zu haben schien, und durch dessen letztes Fenster ein schräger Sonnenstreifen hineinfiel, direkt auf einen tiefen gepolsterten Sessel, welcher in der Fensternische stand.

»Hier hat die Herrin immer gesessen und auf die Sonne gewartet, und die Sonne dann solange auf ihr Gesicht scheinen lassen, bis sie wieder fortging,« erklärte Ramo bewegt und deutete auf den Sessel am Fenster.

Da wurde es Dolores recht schwer ums Herz, und auch sie setzte sich an den Platz, auf dem ihre Mutter die vielgeliebte Sonne erwartet hatte, welche ihr nur einen so kurzen und spärlichen Besuch machte zur Sommerszeit, während sie im Winter diese verlorene Ecke gar nicht erreichte.

»Stößt dies Zimmer nicht an meinen Turm?« fragte Dolores nach einer Pause, und als Ramo bejahte, sprach sie die Absicht aus, die Verbindungswand durchbrechen zu lassen, um wenigstens diesen Raum mit dem von ihr bewohnten Flügel zu verbinden. Doch statt aller Antwort sagte Ramo mit einem Mal:

»Mamsell Köhler hat doch Schritte gehört, keine Ratten. Und hier sind die Fußspuren!«

Er deutete nach dem Fußboden, auf dessen Parkett, wie in den anderen Zimmern auch, dichter Staub lag; Staub, der so alt war, als die Falkners damals nach dem Streite der Brüder den Falkenhof verlassen hatten. Und in dieser dicken, grauen Decke waren in der That Fußspuren zu sehen, augenscheinlich von dem Fuße eines Mannes, der in absatzlosen Schuhen durch das Zimmer gegangen war, und zwar führten diese Spuren aus der linken Ecke der nördlichen Schmalseite des Zimmers erst planlos und vielfach durchkreuzt durch das Zimmer, dann aber nach dem Kamin zu, der, wie Dolores sich's berechnete, genau mit dem ihres Turmzimmers zusammenstoßen, und dessen Feuerstätte in denselben Schornstein münden mußte.

»Ramo, wie alt sind diese Fußstapfen?« fragte sie nach einer Weile, nicht sehr erbaut über diese ungebetene und unheimliche Nachbarschaft.

»Die sind ganz frisch,« erklärte Ramo kopfschüttelnd. »Hier sind noch mehr Spuren, aber sie sind schon wieder halb verstaubt.«

Mit diesen Worten ging er den direkt zum Kamin führenden Schritten nach und entdeckte, daß die Fußspuren sich jenseits des vergoldeten Gitters in dem weiten Feuerschlunde fortsetzten, und ein schnell entzündetes Streichholz zeigte ihm nun auch Fingerabdrücke an der verräucherten eisernen Rückwand des Feuerplatzes.

Diesen Spuren folgend, tastete er ohne Rücksicht auf seine tadellos weißen Manschetten an der Wand entlang, bis er unten einen Knopf fand, welcher, seinem kräftigen Drucke nachgebend, leise, wie frisch geölt, sich bewegte, worauf die Wand leicht und lautlos sich nach oben bewegte und, einen Raum lassend, daß ein Mensch tiefgebückt durchschreiten konnte, die Aussicht freigab auf einen zweiten Feuerplatz, der in demselben Rauchfang mündete, und von diesem in – das Turmzimmer, welches Dolores als ihre ureigenste Domäne betrachtete.

»Höre, Ramo, das ist ja eine recht unangenehme Entdeckung,« rief sie nach der ersten Pause des Erstaunens. »Wer weiß, wer mir da schon manch' ungebetenen Besuch und zu Gott weiß welchem Zweck abgestattet hat.«

Ramo betrachtete seine rußigen Hände und schüttelte den Kopf.

»Herrin,« sagte er dann, »vor allen Dingen werde ich selbst den Schlosser aus dem Dorfe holen und so hereinbringen, daß er nicht gesehen wird. Der mag die Feder hier zusammenschweißen mit der Thür, und niemand kann mehr durch – oder er mag die Thür im Zimmer der Herrin mit dem Boden zusammennieten. Dann aber will ich suchen, wo die Fußspuren hereingekommen sind.«

Dolores war damit zufrieden und dankte innerlich ihrem Schöpfer, daß sie in Ramo solch' treuen und intelligenten Wächter besaß, doch das hatte er ihr freilich nicht gesagt, daß er eines Fuchseisens Aufstellung in dem diesseitigen Kaminschlunde plante, »denn wenn man soviel entdeckt, will man den Lump doch auch haben,« meinte er voll gerechter Entrüstung.

Dolores aber dachte an ihren Traum von dem sich drehenden Kamin, und es überlief sie ein leiser Schauer, als sie die Wirklichkeit mit demselben verglich. Und da sie allzeit ein guter Denker gewesen, so trat die Figur des Doktor Ruß vor ihr geistig Auge.

Sollte ihr dadurch zur Warnung dienen, daß Doktor Ruß –?

Aber mit großer Willenskraft wies sie diesen unwürdigen Gedanken von sich, und sie schämte sich dieses momentanen Verdachtes gegen einen Menschen, der gut erzogen und gebildet wie sie selbst, ihr noch keine Beweise gegeben hatte, daß er ein feindlicher Eindringling sei, der nächtlicherweile kam, um ihre Papiere zu durchstöbern. Denn was anders hätte er wollen können? Nein, dem diese Fußspuren im Staube gehörten, er war gekommen oder wollte kommen, um zu stehlen – ein niedriger Mensch, ein Dieb, denn wenn er auch vielleicht noch nicht vollführt, was er geplant – schon der Gedanke, schon die Absicht, nicht die That allein macht zu dem, was man werden will.

Fröstelnd wendete sie sich ab, den nördlichen Flügel zu verlassen, aus dessen düsteren Räumen aller Ecken Schatten zu kriechen schienen wie Gespenster, und so stark wurde dies Gefühl des Unheimlichen in ihr, daß sie schnellen Schrittes hinauseilte und erst aufatmete, als im Korridor das helle Licht sie umwogte, und sie in die sonnengebadete Landschaft hinausblickte.

Und dennoch – sie fühlte es über sich hängen, wie die Wolke kommenden Unheils, und wenn die Sonne auch jenes eben gespürte Unbehagen fortscheuchte aus ihrem Herzen, die Wolke blieb, die hatte sie mitgebracht aus den verlassenen Räumen, in denen das Verbrechen einherschritt und sein lichtscheues Wesen trieb.

Aber sie schalt sich selbst ernsthaft wegen dieser Ahnung nahenden Unheils, sie nannte sich hysterisch, unvernünftig, thöricht. Freilich, der Wille thut's auch nicht immer, und die Wolke blieb, und sie sah nach ihr aus, wie der Landmann, der einen vernichtenden Hagelschlag fürchtet und die drohende Angst nicht los werden kann.

Und wie sie am Fenster ihres Schlafgemaches stand, in welchem ihr die früher ganz ungekannte Gewohnheit des Träumens gekommen war, da sah sie Alfred Falkner von Monrepos herüberkommen, mit festem Schritt, hoch, stolz, jeder Zoll der Sproß eines edlen Hauses. Und es kam ihr die Frage an das Schicksal: »Warum hat er mich hassen gemußt, daß ich den Panzer des Stolzes wider ihn anlegen mußte? Er, der einzige Mensch, an dessen Liebe mir gelegen gewesen wäre? Warum? Warum?«

Und sie versank in ein Grübeln und dachte darüber nach, was sie gethan haben mußte, das zu verscherzen, was sie ihr Glück genannt hätte –

Nach einer halben Stunde wurde der Freiherr von Falkner ihr gemeldet, und sie empfing ihn im Ahnensaal. Ihm fiel auf, daß sie ungewöhnlich blaß war.

»Ich komme wegen zweierlei Dingen,« sagte er, als sie ihn unbefangen, aber ein wenig hochmütig begrüßte, jede Vertraulichkeit von vornherein ausschließend, denn sie hatte eine stolze Seele, die zwar bereitwillig vergab, aber so schnell nicht vergessen konnte und – wollte.

»Sie machen mich neugierig,« antwortete sie Platz nehmend.

»Ja, das erste ist eine Mitteilung, das zweite eine Bitte.«

»Eine Bitte?« wiederholte sie erstaunt und setzte mit dem alten Spott, der ihn stets so sehr verletzt hatte, hinzu: »Also eine natürliche, von vornherein sichere Angelegenheit, die von meinem Gewähren oder Versagen unabhängig ist, nicht wahr?«

»Vielleicht doch nicht,« erwiderte er ruhig. »Eine ganz richtige Bitte,« fügte er mit leisem Lächeln hinzu.

»Das ist ja fast, als ob ein Eskimo seinen Antipoden um einen Trunk aus der Feldflasche bitten wollte,« gab sie ebenso zurück. »Oder sollte das Ende der Welt nahe sein?«

Einen Moment gab er keine Antwort, denn es stieg eine tiefe Röte in seinen braunen Wangen auf, welche erst herabgekämpft werden mußte.

»Ich denke, wir haben Frieden geschlossen?« fragte er dann ruhig und nicht ohne Humor.

»Ach ja, richtig!« rief sie lachend. »Schieben Sie das Vergessen auf das Ungewohnte. Also zur Sache!«

»Zur Sache,« erwiderte er. »Zuerst nun meine Mitteilung. Ich habe mich, unter Zustimmung des Herzogs, mit der Prinzessin Eleonore von Nordland verlobt.«

Also doch! Aber Dolores kämpfte tapfer ein seltsames Gefühl von Hoffnungslosigkeit nieder, das ihr ans Herz griff, und sie reichte Falkner lächelnd die Hand. Nur so weit reichte ihre Beherrschung nicht, daß sie dieser kalten Hand ihre natürliche Wärme hätte wiedergeben können.

»Ich gratuliere,« sagte sie und setzte, scheinbar heiter, hinzu: »Aber Sie überraschen mich nicht –«

»O, nach dem, was gestern Abend vorgefallen ist –« warf er ein.

»Ich hatte daran gar nicht gedacht,« meinte sie. »Doch da Ihre Prinzeß Braut mich schon vorher zur Vertrauten zu machen geruhte, so war mir das Neue in der That nicht mehr ganz neu. Ich freue mich aber sehr, daß die Zustimmung des Herzogs zu diesem glücklichen Ausgange geführt hat.«

»Es ist sehr großmütig von Ihnen, sich überhaupt mit mir zu freuen,« erwiderte Falkner in einem Ton, von dem Dolores nicht genau wußte, wie sie ihn deuten sollte, ob ironisch, ob einfach konversationsmäßig, oder ob beziehungsvoll.

»Gehört wirklich Großmut dazu, anderer Leute Freude zu begreifen?« fragte sie mit einem matten Lächeln. »Mir scheint, Ihr Glaube an meine vielgerühmte Herzlosigkeit hat seinen Umsturzprozeß doch noch nicht ganz vollzogen.«

Ein bitteres Gefühl hatte ihn seine Worte nicht ohne Ironie meinen lassen, jetzt aber bereute er dieselbe sofort.

»Mea culpa,« sagte er bittend. »Aber,« setzte er lächelnd hinzu, »Sie selbst sind auch nicht ganz ohne Schuld, denn wenn man meint, Ihr wahres Ich zu erblicken, so setzen Sie flugs die berühmten zwei Satanellahörnchen auf, die einen so schadenfroh anfunkeln, daß man ein kaltes Sturzbad zu erhalten meint.«

»Nun gestehen Sie selbst Ihr Unrecht,« entgegnete sie. »Kalt Wasser ist allzeit wohlthuend – ich dachte aber, daß es in der Hölle – heiß sei.«

»O, allzu heiß und allzu kalt – das sind Gegensätze, die entschieden in der Hölle erfunden worden sind,« sagte er mit einem Seufzer und fügte warm hinzu, wie sie ihn nie sprechen gehört: »Nein, wirklich, Dolores, auch Sie müssen an meine schwer errungene, bessere Überzeugung glauben!«

»Soll das ein Kompliment sein?« fragte sie neckend.

»Nein,« erwiderte er ehrlich. »Aber warum auch nicht das? Eine schwer errungene Sache zeugt von einem Siege gegen manche menschliche Schwachheit, und da ich die gewonnene Überzeugung eine bessere nannte, so kann dies auch ein Kompliment sein, nur ums Himmels willen nicht im gewöhnlichen Sinne gedankenlosen Salongeschwätzes.«

Da sah Dolores ihn ernst an und freundlich dazu.

»Sie haben recht,« sagte sie mit gänzlich verändertem Ton. »Ich will mich bemühen, stets dieser Auffassung eingedenk zu sein nach dem Wahlspruch unseres Hauses: ›Alle Falken ehrlich.‹ Und mehr noch – heut', da Sie mir die Nachricht bringen, daß die Freifrau von Falkner gewählt worden ist von Ihnen, heut' verspreche ich, Vergangenes vergangen, vergessen und begraben sein zu lassen!«

»Dolores!« rief er und ergriff ihre Hand und küßte sie, die willig aber ohne Druck in der seinen lag, und dann sah er sie an, lange, mit seltsam verschleiertem Blick: »Das also war der Preis, die Bedingung unseres Friedens?« fragte er langsam.

»Ja,« sagte sie mit fester, aber freundlicher, beinahe freudiger Stimme.

Da ließ er ihre Hand los. »Ich fange an, Sie zu verstehen, Dolores!«

Nun reichte sie ihm die Hand von selbst.

»Das freut mich von Herzen,« sagte sie so warm, so schlicht und voll wirklicher Anmut, wie er nie geahnt hatte, daß sie sich geben konnte. Und all' das war nicht für ihn, zu hoch, zu unerreichbar, und wie das Auge von ferne nur glorreiche, wunderbare Berggipfel anzustaunen vermag, die unzugänglich sind für Menschenwitz, Menschenneugierde und Menschenfuß, so auch wurde ihm gezeigt, was er ohne die goldene Fessel, die ihn gefesselt hatte, nicht schauen gedurft.

»Und nun zu Ihrer Bitte, Vetter Alfred,« rief sie heiter nach einer langen Pause, die ihr das innere Gleichgewicht wiedergeben mußte. »Ich bin furchtbar stolz darauf, die Erfüllung eines Ihrer Wünsche in meiner Macht zu haben!«

»Ich bin nur nicht ganz sicher, ob Sie meine Bitte nicht für Neugierde sans phrase halten,« erwiderte Falkner, mühsam auf ihren Ton eingehend.

»Jetzt machen Sie mich aber unverhältnismäßig neugierig!«

»Ich möchte gern die Prophezeiung der Ahnfrau hören,« erwiderte er bittend. »Ist das eine große Schwäche?«

Da wechselte die Blässe ihres Gesichtes mit jäher Röte.

»Nein, nein,« sagte sie erschreckt, aber sie erhob sich im Moment. »Einen Augenblick Geduld,« fügte sie hinzu, »ich hole meinen Fund sogleich.«

Im Nebenzimmer aber stand sie einen Moment still und preßte die Hände gegen die Schläfen.

»Das also war's,« dachte sie mit Bezug auf das Gefühl nahenden Unheils, das sie vorhin beschlichen.

Dann holte sie das Missale der Ahnfrau aus seinem Versteck.

»Vorwärts!« sagte sie sich. »Auch das muß noch überwunden werden.«

Und wieder trat sie in den Saal, wo Falkner vor dem Bilde der Freifrau Dolorosa stand.

»Es war doch ihr Ernst mit dem Bericht von dem wunderbaren Funde der Prophezeiung?« fragte er, als sie vor ihm stand.

»Ja gewiß,« und nochmals erzählte sie ihm ausführlich von ihrem Traume und versprach, ihm das dadurch entdeckte Geheimfach zu zeigen.

Und nun nahm er mit einem gewissen Gefühl von Ehrfurcht und Rührung das Buch mit den verblichenen, vielfarbigen Bändern aus ihrer Hand und schlug den Deckel auf, und las laut und langsam die steilen, krausen Schriftzüge:

Wenn sich die Bas' dem Vetter soll vermählen,

Wird sich der Falk' ein dauernd Nestlein wählen.

Die letzte Falkin muß in Schmerzen büßen,

Die Grabesruh' der Ahne zu versüßen.

Wenn neu sie auflebt in der Huldgestalt,

Die einst im Brautgewande ward gemalt,

Kann diese Falkin siegen ob dem Bösen.

Wird meine arme Seele sie erlösen,

Kann sie des Falken Herz zu sich bekehren,

Werd' ich der Engel Alleluja hören.

Dann ist ein tausendjährig Blühn beschieden

Dem Stamm der Falkner auf der Erd' hienieden.

Kann sich das Edelfalkenpaar nicht finden,

So wird ihr Stamm erlöschen und verschwinden.


***

Und dieses Edelfalkenpaar, die letzten Falken aus dem alten Nest, für die drei Jahrhunderte früher die Hand einer Unglücklichen diese Zeilen niedergeschrieben zu haben schien – sie standen sich jetzt gegenüber unter dem Bilde der unseligen Prophetin – Falkner wunderbar erregt, Dolores blaß zwar, aber scheinbar unbewegt und kühl.

»Ein seltsames Elaborat,« unterbrach er dann die herrschende Stille. »Es fällt, angesichts dieser verworrenen, gereimten Andeutungen schwer, an den klaren Geisteszustand der Schreiberin zu glauben, den sie selbst so feierlich betont, doch das Geheimnisvolle, Unklare ist ja das Zeichen aller Sybillen.«

Dolores nickte.

»Wollen Sie das Geheimfach sehen?« fragte sie etwas unvermittelt. Er schien die Frage gar nicht gehört zu haben.

»Dolores, Sie und ich, wir sind die letzten Falkner,« sagte er, sie voll anblickend.

Sie versuchte zu lächeln.

»Uns hat sie aber nicht gemeint,« rief sie, auf das Bild deutend.

»Abergläubische würden das trotzdem glauben,« entgegnete er, »denn drei Zeilen dieses wunderbaren Ergusses zeigen ja geradezu mit Fingern auf uns. Die erste ist auch der Beginn der Prophezeiung, wenn man's überhaupt eine solche nennen will – die andern beiden Zeilen:

Wenn neu sie auflebt in der Huldgestalt,

Die einst im Brautgewande ward gemalt, –


diese Zeilen werden ja lebendig, wenn Sie neben dies Bild treten!«

»Das ist Zufall,« sagte sie lächelnd. »Denn wenn auch diese Zeilen anwendbar sind auf Sie und mich, so wissen wir's doch nicht, ob wir die letzten Falken sind, weil eine Freifrau von Falkner in spe alle Lust bezeugt, die dritte im Bunde zu werden.«

»Ah, das ist freilich ein schlagender Beweis,« erwiderte Falkner, indem er das Buch in ihre Hände zurücklegte.

»Ich hebe es als Familienreliquie auf für –« für Ihre Kinder, wollte sie sagen, brach aber ab und fügte hinzu: »Für Sie.«

Und dann zeigte sie ihm das Geheimfach hinter dem Madonnenbilde des Beato Angelico, und nachdem sie davon noch harmlos eine Viertelstunde verplaudert, empfahl er sich, und sie gab ihm das Geleit bis zur Thür.

»Sie haben Ihrer Mutter von Ihrer Verlobung natürlich schon Mitteilung gemacht?« fragte sie während des kurzen Ganges.

»Gewiß. Ich war zuerst bei ihr.«

»Und sie freute sich natürlich sehr?«

»Soweit sie Gefühle äußern kann und darf, glaube ich es annehmen zu dürfen,« erwiderte Falkner bitter, fügte aber gleich in anderem Tone hinzu: »Und werden Sie kommen, in Monrepos zu gratulieren?«

»Ich komme heut' noch,« versprach sie, und als sie ihm dann die Hand reichte, sagte er:

»Also unser Bündnis gilt von heut' an? Denn ich habe Ihr Versprechen des Vergebens und – des Vergessens.«

»Ja,« antwortete sie, ihm frei ins Auge sehend: »Alle Falken ehrlich!«

Und Falkner ging, aber nicht so leichten Herzens, wie er gedacht hatte. Er wußte, sie würde ihr Versprechen halten; das war ihm ein wahrhaft freudiges Gefühl, als hätte er dadurch etwas Dunkles, Schweres abgestreift, das ihn befleckt hatte, und er fühlte sich frei und erfrischt. Aber das Weh im tiefsten Herzen – das Weh war zurückgeblieben, und am liebsten wäre er umgekehrt auf der Treppe und wäre wieder vor sie hingetreten und hätte gesagt: »Dolores, wir sind das Edelfalkenpaar, das letzte! Wann werden wir uns finden?« – Aber er durfte nicht mehr, seine Ehre war verpflichtet, sein Wort gegeben. »Arme Lolo!« dachte er. »Aber du sollst nicht leiden darunter, denn nun, da sie vergeben und vergessen hat, werd' ich dir leichteren Herzens so viel Glück geben, wie mir übrig geblieben ist.« – Und während er nicht ohne Rührung der rückhaltlosen Liebe des Fürstenkindes für ihn gedachte, war es sein heißer Wunsch, das kleine, elfengleiche Wesen wirklich glücklich zu machen.

Am Fuß der Treppe begegnete ihm »zufällig« sein Stiefvater.

»Ei der Tausend! Das war ja ein langer Besuch – wenn das durchlauchtige Bräutchen dadurch nur nicht eifersüchtig gemacht wird,« sagte Doktor Ruß scherzend.

»Das könnte passieren, wenn du es ihr in geschickter Weise plausibel machst,« gab Falkner gereizt zurück, denn der zweite Gatte seiner Mutter machte ihn nervös. Er ärgerte sich selbst stets darüber, aber immer wieder brach die unsägliche Antipathie durch.

Doktor Ruß lachte leise vor sich hin, wie er's gleichfalls unabwendlich gewohnt war, wenn sein Stiefsohn unter seinen Worten wie ein gestochenes Roß sich emporbäumte. Was aber die Worte nicht thaten, vollendete dann dieses Lachen – wütend ließ Falkner den Doktor stehen und ging zu seiner Mutter, um ihr Lebewohl zu sagen.

»Meine Braut wird zu dir kommen mit Fräulein von Drusen,« sagte er ihr, und über die blassen, käsigen Züge der Frau Ruß flog ein Rot des Stolzes, und die kalten Augen blitzten triumphierend und fast zärtlich zu dem Sohne hinüber.

»Ich freue mich so sehr,« sagte sie im heftigsten Stricken, »besonders aber, weil du den Rotkopf nicht hast zu heiraten brauchen.«

»Ist Dolores dir so unsympathisch?« fragte er erstaunt.

»Ich kann sie nicht leiden,« stieß Frau Ruß hervor. »Ich habe sie schon als Kind nicht gemocht, den wilden, ungezogenen Balg. Und daß Ruß wieder versprochen hat, bis zum Herbst hier zu bleiben, ist mir gar nicht recht. Aber was ist da zu machen – er will eben!«

Falkner konnte sich's schon denken, warum »er« wollte, denn er wußte es so gut wie jener, daß sich hier besser und bequemer die gesuchte Professur erwarten ließe. Aber er überging dies Thema wohlweislich, denn einmal hatte seiner Mutter langer Aufenthalt das Peinliche für ihn verloren, und dann war es sein Grundsatz, die Wege des Doktor Ruß so wenig wie möglich zu kreuzen.

»Dolores ist aber eigentlich sehr nett dir gegenüber,« sagte er deshalb nur. »Ich begreife deine Abneigung nicht.«

Frau Ruß ließ den Strickstrumpf sinken, sah sich um, ob niemand Unberufenes in der Nähe war, überzeugte sich auch, daß ihr Gatte draußen immer noch vor einer seltenen Zierpflanze stand, und sagte dann flüsternd:

»Ich bin eifersüchtig auf sie, Alfred!«

»Aber Mutter –«

»Eifersüchtig, sage ich dir,« fuhr sie leidenschaftlich fort. »Freilich, noch weiß ich's nicht gewiß, ob sie ihn verführen will, oder ob er Feuer gefangen hat an den roten Satanshaaren. Aber so oder so – sie stört meinen Frieden!«

»Da kannst du ruhig sein, Mutter – sie wird deinen Frieden nicht antasten,« entgegnete Falkner, warm für Dolores eintretend und zugleich voll Mitleid für die arme Frau, die sich das elende Leben, das sie führte, selbst noch zu verbittern versuchte in der schlimmsten Weise.

Hinten herum, um Doktor Ruß nicht noch einmal zu begegnen, ging er nach Monrepos zurück, und Ekel erfaßte ihn bei dem Gedanken, daß das Herz seines Stiefvaters wirklich schneller schlagen könnte für seine Gastfreundin. Und dann mußte er lachen, als er der anderen Version seiner Mutter gedachte. Vor einem Monat hätte er vielleicht noch daran geglaubt und die Achseln dazu gezuckt, aber heute konnte er darüber lachen, gottlob.

Wohin aber mit seiner Mutter, wenn der Aufenthalt im Falkenhofe endlich einmal zu Ende ging? Sie zu sich nehmen? Gern, obwohl er und sie sich nicht verstanden, nie verstanden hatten. Aber das hätte ihn nicht zum Gegenteil bestimmt. Doch mit ihrem Gatten sie aufnehmen – nun und nimmermehr! Und Falkner überlegte, wo er darauf wirken konnte, daß Ruß eine unabhängige Stellung irgendwo erhielt, die ihm eine anständige Subsistenz für seine Frau ermöglichte und deren Lebensstellung nicht herabdrückte zur Unerträglichkeit für die stolze Frau.

Als er nach Monrepos kam, sah er den Herzog im Gartenkostüm, mit einer Riesenschere bewaffnet, den Hut im Genick, vor seiner jüngsten Tochter stehen, welche auf einem niedrigen Gartenstuhle mehr lag als saß, das Gesicht mit beiden Händen verhüllt hatte, anscheinend weinend, und von Zeit zu Zeit den Fußboden mit den niedlich bekleideten Füßchen stampfte und schlug. Erstaunt blieb er einen Augenblick an der Pforte stehen – was war da vorgegangen?

»Höre, Lolo,« hörte er den Herzog sagen, »das ist eine Unvernunft!«

Die Antwort schien nur erneutes Schluchzen zu sein.

Anscheinend ratlos schnappte der hohe Herr ein paarmal mit der Gartenschere in die leere Luft.

»Und außerdem blamierst du dich vor den anderen und machst dich vor den Dienstboten lächerlich,« fuhr er fort, und als ihm darauf ein leiser Schrei, etwa wie ungezogene Kinder zu schreien pflegen, antwortete, da sagte er ganz ärgerlich: »Wo hat denn nur der Kuckuck diesen Falkner?«

»Hier, Hoheit,« antwortete der vom Gitter her, das er nun hinter sich schloß und der Gruppe zuschritt. Seine Stimme aber gab nur das Signal zu einem Schrei- und Weinkonzert, welches nun bei Prinzeß Lolo unaufhaltsam losbrach und zwar mit einer Vehemenz, daß der Herzog sich die Stirn zu trocknen begann und Falkner nicht wußte, ob er stehen bleiben oder vorwärts gehen sollte. Als er letzterem denn doch den Vorzug gab, neben die Prinzeß trat, den Arm um ihre Schultern legte und leise sagte: »Lolo! Ich bin hier,« da sprang sie empor, ballte die niedlichen Fäustchen und stampfte wütend den Boden.

»Du kannst bleiben, wo du warst! Wohl bei ihr, der rotköpfigen Komödiantin! Mich so warten zu lassen – und am ersten Tage unserer Verlobung – geh'. Ich mag dich nicht mehr sehen!«

Ganz erstaunt hatte Falkner diesen Ausbruch über sich ergehen lassen – jetzt zog er ruhig die Uhr hervor.

»Als ich heut' früh nach dem Falkenhofe fortging, sagte mir Lolos Kammerfrau, daß Durchlaucht vor zwölf Uhr mittags niemals draußen erschienen und zu sprechen sei. Es ist jetzt zehn Minuten vor zwölf Uhr,« sagte er.

»Das ist nicht wahr! Es ist mindestens zwei Uhr! Ihr habt die Uhren zurückgestellt, um mich zu täuschen!« tobte das Prinzeßchen weiter, aber nicht mehr so heftig als vorher.

»Kommen Sie, Falkner,« rief der Herzog, dessen Geduld entschieden zu Ende zu gehen schien. »Gegen die Unvernunft giebt's kein Mittel!«

Falkner zögerte einen Moment.

»Lolo! Aber Lolo!« sagte er leise.

Da flog sie an seine Brust und in seine offenen Arme, und vergnügt schmunzelnd ging der Herzog seiner Wege.

»Ja, ja, Sascha hat recht,« dachte er, »für dieses Köpfchen brauchten wir einen Petrucchio. Und fürstliche Petrucchios giebt's nicht. Habe wenigstens nie etwas davon gehört. Wird ja Grund zum Gerede geben, diese Heirat – billiges Vergnügen das – kann man sich gefallen lassen.«

Indes hielt Falkner seine kleine, blonde Braut in den Armen und streichelte ihr weiches, lichtes Haar.

»Ich hatte mich heut' schon so auf dich gefreut,« gestand sie ihm, »ich war schon um halb elf Uhr draußen – da warst du fort, und nun habe ich gewartet, gewartet, gewartet – o, so schrecklich lange!«

»Eine halbe Ewigkeit,« ergänzte Falkner lächelnd und küßte das reizende Gesichtchen, das sich so innig an seine Brust schmiegte, aus dessen Augen er las, daß er wirklich geliebt sei, geliebt, wie kein anderer Mensch auf der weiten Welt ihn liebte. Was also nützte es, nach einer anderen Liebe zu verlangen, die für ihn nicht erreichbar war? Und während er auf das leidenschaftliche Geschöpfchen an seiner Brust herabsah, gelobte er sich, es zu führen und zu leiten und dessen nicht mehr zu gedenken, was hätte sein können.

Auf Monrepos war nun mit der Verlobung des jüngsten Prinzeßchens ein neues Leben eingezogen. Der Herzog hatte die Vermählung seiner Tochter für den Herbst fixiert, ehe man den Landbesitz, fern von der großen Straße, verließ, um in die Residenz zurückzukehren. Dann sollte das junge Paar eine Hochzeitsreise machen, und bis dahin gedachte der Herzog seinem Schwiegersohn einen Gesandtschaftsposten zu erwirken, oder besser gesagt, einen Posten als Gesandter. Außerdem war Monrepos als Morgengabe der fürstlichen Braut zugedacht und diese Schenkung schon verbrieft, und der Herzog dachte nicht daran, an diesen längst getroffenen Bestimmungen zu ändern oder zu rütteln.

Daneben gestaltete sich der Verkehr zwischen Monrepos und dem Falkenhofe immer nachbarlicher und freundschaftlicher, denn der Umstand, daß Prinzeß Sascha sich mehr und mehr zu Dolores hingezogen fühlte und auch der Erbprinz sich sehr wohl in ihrer Gesellschaft befand und dieselbe häufig auch suchte, ließ viel von den Schranken fallen, welche die Etikette sonst aufrichten mußte. Aber die fürstliche Familie kannte in der Sommerfrische keinen Etikettenzwang, von dem sie im Winter noch genug verspürte, denn gewöhnlich werden die starren Gesetze aus dem Codex der Etikette an kleinen Höfen viel strenger und verschärfter befolgt, als an großen Hoflagern – wahrscheinlich ist der Grund dafür der, daß man fürchtet, der heilsame »Zug,« der das eintönige Leben zusammenhält, möchte bei milderer Anwendung nach und nach einschlafen und der »Hof« zu einem einfachen adeligen Haushalt herabsinken. Aber zu Monrepos war man, wie gesagt, nur Gutsnachbar, nicht regierender Herr, um so mehr und um so lieber, als Schloß und Gut auf fremdem Boden lagen. Im Bunde die Dritten waren oft Graf und Gräfin Schinga, und wenn ersterem auch, wie er daheim unverblümt versicherte, die Leute in Monrepos und Falkenhof zu »gebildet waren,« »ihm zu viel auf dem Flügel droschen, grölten und sogenanntes ästhetisches Blech quasselten,« so fühlte er sich doch, wie er sich allein gestand, »kolossal gekratzt,« in ihrem exklusiven Kreise, der sich über ihn amüsierte, ein ständiges Glied zu sein. Dabei versicherte er seiner Frau unverblümt und mit naivster Offenheit, daß er in das »prachtvolle Weib,« Dolores Falkner, bis über die Ohren »verschossen« sei und ihr »riesig die Cour schneiden« müsse. Die Gräfin rührte dies Bekenntnis nicht weiter, geschweige denn, daß es sie eifersüchtig machte, denn da ihr Gehirn entschieden ausgebildeter war, als das ihres Gatten, Eifersucht außerdem ein Luxus war, den ihre Ehe nicht kannte, und Dolores ihr sympathisch war, so nahm sie des Grafen in Hyperbeln sich bewegenden Enthusiasmus so kühl hin, wie alles andere von ihm. Dolores hingegen bat recht oft um den Besuch der Arnsdorfer Herrschaften, erklärte der Gräfin aber die positive Unmöglichkeit, zu ihr kommen zu können wegen der Schlangen. Gleichmütig wie alles und absolut erhaben über die Kleinlichkeiten eines Kerbholzes über abgestattete und abzustattende Besuche nahm Gräfin Schinga auch diese Erklärung auf, versprach recht oft von selbst zu kommen und nahm Dolores den angegebenen Grund gar nicht übel.

»Ich begreife nur nicht, wie Sie mit dieser Aversion gegen Schlangen in Brasilien existieren können,« meinte sie, und Dolores gestand, daß ihr diese exotische Landplage den Aufenthalt im Heimatlande ihrer Mutter allerdings unerträglich machen würde.

Das freundnachbarliche Verhältnis zwischen Falkenhof und Arnsdorf wurde aber noch durch den Umstand besiegelt, daß Dolores den berühmten Pony des Grafen Schinga kaufte und einen Preis dafür zahlte, für welchen sie ein Vollblutpferd erster Klasse erhalten hätte.

»Dreitausend Mark für diesen Ziegenbock, welcher rohrt, Gallen hat und am Hahnentritt leidet!« schrie Engels, als er die Anweisung zur Auszahlung erhielt. »Nicht dreihundert ist dieses Biest wert! Und außerdem alt wie Methusalem. Das ist ja niederträchtiger Betrug!«

Aber Dolores lachte.

»Das weiß ich ja alles, lieber Engels,« sagte sie sehr heiter. »Aber Sie wissen, das Pferd ist Graf Schingas Tollpunkt und für gute Beziehungen mit den lieben Nachbarn kann man schon 'mal etwas ausgeben.«

»Ja, wenn Sie sich noch in den Reichstag, oder ins Abgeordnetenhaus wählen lassen wollten, aber so –!« Und Engels zuckte mit den Achseln und erklärte Dolores innerlich für »meschugge.«

Und doch wußte sie, was sie mit diesem lächerlichen Kaufe that, denn auch sie war, wie alle Welt, von den derangierten Verhältnissen des Grafen unterrichtet, sowie von seiner dadurch bedingten, krampfhaft und chronisch gewordenen Eigentümlichkeit, alle Welt anzuborgen (pumpen nannte er selbst diesen Vorgang). Um diesen unvermeidlichen Akt in eine andere Form zu kleiden und ihm zuvorzukommen, proponierte Dolores dem Grafen den Kauf der Schindmähre und bat ihn, den Preis selbst zu fixieren. Da nun Graf Schinga überzeugt war, daß Dolores versuchen würde, von der genannten Summe nach dem Grundsatze: »Sagt er zwölfe, meint er zehne, will er acht haben – sechs ist's wert, vier möcht' ich geben, biet' ich zwei« – einen beträchtlichen Teil abzuhandeln, so nahm er den Mund gleich ordentlich voll und forderte den exorbitanten Preis, der Engels in helle Wut versetzt hatte. Aber Graf Schinga blieb einfach der Mund offen stehen, als Dolores sich, ohne zu zucken, mit der Summe einverstanden erklärte – er fuchtelte mit den langen Armen umher, schlug sich auf die Kniee, daß es knallte und – schämte sich eigentlich »kolossal.«

Die Falkner vom Falkenhof. Zweiter Band.

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