Читать книгу Die Falkner vom Falkenhof. Erster Band. - von Adlersfeld-Ballestrem Eufemia - Страница 1
I
ОглавлениеIch sprach zur Taube: »Flieg' und bring im Schnabel
Das Kraut mir heim, das Liebesmacht verleiht,
Am Ganges blüht's, im alten Land der Fabel –« –
Die Taube sprach: »Es ist zu weit.«
E. Geibel nach François Coppée.
Bravo! Bravo! Da capo!
Ein wahrhaft frenetischer Applaus rauschte und brauste durch die weiten Räume des Opernhauses zu X. und übertäubte fast die wilden, diabolischen Klänge des Orchesters, das eine seltsame, originelle Weise spielte.
Es war die erste Aufführung der neuen Oper eines unbekannten und ungenannten Komponisten, eine phantastische Oper, »Satanella« genannt, deren Libretto dem Publikum eine jener rätselhaften »Teufelinnen« der alten Zeiten vor Augen führte, die aus ihrem unterirdischen Reich heraufgekommen war, um durch ihre Schönheit einen »minnigen Sänger« zu bestricken und in den Tod zu treiben. Von dem wütenden Volke aufgegriffen, wird sie als Hexe zum Scheiterhaufen geschleppt und an den Pfahl gebunden. Unter den Klängen eines prachtvollen Chores wird der Holzstoß entzündet, und Rauch und Flammen steigen empor, die Teufelin zu vertilgen von der Erde. Da plötzlich teilten sich die Flammen, Satanella schüttelt lachend die Fesseln von ihren Händen, das graue Büßer- und Sterbehemd fällt von ihren Schultern, und sie selbst steht in Höllenpracht gekleidet vor dem entsetzten Volk. In wilden Dithyramben singt sie ihr bestrickendes Zauberlied, und mit dem jauchzenden Schluß: »Lebt wohl, ich kehre zurück zu euch, so lang die Schönheit Siege feiern wird, so lange Männerherzen sich noch bethören und betrügen lassen –« sinkt Satanella hinab in die sie verschlingende Erde.
Diesem Schlusse jauchzte das Publikum zu und konnte sich nicht satt hören an der mächtigen, süßen und metallreichen Stimme der fremden Sängerin, welche eigens gekommen war, um die »Satanella« zu singen, und konnte sich nicht satt sehen an dem wunderbar malerischen Schlußtableau mit dem brennenden Scheiterhaufen, den mittelalterlichen Mauern der Stadt mit ihren Türmen und Erkern, dem entsetzt zusammengedrängten Volke und der Gestalt der Satanella auf dem Holzstoße.
Und sie war in der That wunderbar schön, diese fremde Primadonna, Señora Dolores Falconieros – eine schlanke, geschmeidige Gestalt mit dem leuchtenden Rothaar Tizians, das in üppigen Wellen herabfiel auf das scharlachrote, seidene Gewand, das sie umschloß. Und in dem blutlosen und doch lebensfrischen Antlitz brannten große, strahlende, sammetschwarze Augen, deren Glanz noch gehoben wurde durch die sich über der feinen römischen Nase schließenden dunklen Brauen, durch die langen, seidenartigen Wimpern.
Und wie sie dort stand auf der Bühne inmitten des rotglühenden Feuers, im roten Gewand und roten Haar, in dem ein zweigezacktes Brillantdiadem blitzte und funkelte, mit der wunderbar bestrickenden Stimme ihr in seltsamem Rhythmus sich bewegendes Teufelinnenlied singend und dazu ein flammensprühendes Scepter schwingend, dessen Feuerregen bis ins Parkett hinabflog, da bot sie ein Bild, das mit leichtbegreiflicher, dämonischer Macht das herbeigeströmte Auditorium zu jenem frenetischen Beifall entfachte, welches immer wieder und wieder die »Satanella« veranlaßte, aus den Tiefen der Hölle, den Versenkungen, hinaufzusteigen, und mit dankendem Lächeln grüßend ihr verkohlendes Scepter zu schwingen.
Das Schicksal der neuen Oper war entschieden. Der berühmte blonde Tenorist als »minniger Sängerheld« und die durch den Intendanten entdeckte und sofort berühmt gewordene Fremde hatten der herrlichen Musik den Odem des Lebens eingehaucht und die Weihe erteilt, hinauszuziehen in alle Welt.
Etwa eine Stunde später hatte sich ein kleiner, aber gewählter Kreis in dem künstlerisch ausgestatteten Salon des Direktors der Akademie der Künste, Professor Balthasar, zusammengefunden. Der Hausherr, ein über die Grenzen Europas hinaus bekannter geistvoller Maler in der Blüte seiner Jahre, liebte es, nach dem Theater einen Kreis um sich zu versammeln, in welchem er und seine liebenswürdige Gattin die Honneurs machten und für leibliche und geistige Unterhaltung ihrer Gäste aufs Trefflichste sorgten.
Um den runden Tisch, dessen silbernes Theegerät von Frau Balthasar lautlos und gewandt gehandhabt wurde, saßen etwa sechs bis acht Personen mit Einschluß des Hausherrn und der Hausfrau. Da war der hochberühmte, geniale Historienmaler Richard Keppler, der feinsinnige Dichter N., die berühmte Schauspielerin Luise R., der Legationsrat Freiherr von Falkner. Ein Platz war noch leer – er harrte eines verspäteten Gastes.
»Mir summt die Melodie des Teufelinnenliedes noch im Kopf – ich kann sie nicht loswerden,« meinte Professor Balthasar.
»Das macht der dämonische Einfluß dieser Musik – es ist ein rechtes, echtes Teufelswerk,« rief die Schauspielerin.
»Ja, aber das Werk eines genialen Teufels,« entgegnete Keppler.
»Das ist das rechte Wort dafür,« sagte der Legationsrat, eine hohe, gebietende Erscheinung mit dunklem Auge und Haar und gleichem vollen Bart, »die ›Satanella‹ ist ein Werk, das aus jedem Takte einen Born von Genialität sprudeln läßt, aber eine Genialität, die ich herzlos nennen möchte, weil sie nicht das Herz, sondern nur den Geist berührt und anregt. Der Komponist ist ein Genie, das ist über jeden Zweifel erhaben, aber er ist kein Genie von Gottes Gnaden, sondern von denen Lucifers.«
»Und versteht doch so warme Herzenstöne anzuschlagen,« nahm sich Frau Balthasar des unbekannten Meisters an, »ich erinnere Sie nur an das süße Liebeslied des Troubadours im zweiten Akt.«
»O ja, es schmeichelt sich dem Gehör ein, aber nicht dem Herzen,« erwiderte Falkner kühl, »es bezaubert, aber es ergreift nicht.«
»Nun, dann erkläre ich mich befriedigt mit dem Zauber, den das Liebeslied enthält,« rief Keppler, »warum sollen wir armen Sterblichen uns nicht einmal bezaubern lassen? Wir können nur von Glück sagen, wenn dabei unser Herz nicht Schaden leidet.«
»Sie mögen recht haben, Keppler,« sagte der Legationsrat ruhig, »die Individualität eines jeden ist ja so verschieden. Für mich ist die Musik keine Musik, wenn sie nur blendet und berauscht. So erkläre ich offen, auf die Gefahr hin, für einen Vandalen gehalten zu werden, daß für mich die Mehrzahl der antiken Statuen nichts sind, als alte Marmorblöcke, deren blöde Augen uns Epigonen recht dumm anstarren, und daß das schönste Antlitz, aus dem kein Herz spricht, mich entsetzlich gleichgültig läßt. So die Musik der ›Satanella‹. Ich bewundere den elektrischen Strom der Genialität, der durch ihre Takte pulsiert, aber ich liebe sie nicht, weil nicht ein warmer, menschlicher Herzschlag sie durchzittert.«
Während der Legationsrat sprach, hatte sich die eine der Portieren geteilt und in ihrem Faltenrahmen erschien, nur von Frau Balthasar bemerkt, eine dunkle Frauengestalt mit rotem Tizianhaar – Dolores Falconieros. Sie legte lächelnd den Finger auf die Lippen zum Zeichen, daß sie noch unbemerkt bleiben wollte, und so stand sie noch als Professor Balthasar entgegnete:
»Nun wohl, aber was der Musik fehlt, das gaben ihr die Darsteller!«
»Wie wunderbar schön sang unser Heldentenor den Minnesänger, wie seelenvoll,« rief die Schauspielerin.
»Und wie herrlich war die Falconieros in der Titelrolle,« setzte Keppler hinzu, »es war eine unvergleichliche Leistung.«
»Gewiß, unvergleichlich in der Darstellung der grausamsten Herzlosigkeit,« sagte Falkner spöttisch, »mir war's, als spielte diese Satanella ihr eigenstes Selbst – nicht einen warmen Herzenston vermag diese Fremde anzuschlagen, eben weil sie es nicht kann, weil auch sie nur ganz Genie ist. Ich mag diese herzlosen Frauen nicht.«
»Aber die Falconieros –« begann der bis dahin nur zuhörende Dichter –
»Die Falconieros, wie sie sich mit ihrem nom de guerre nennt, könnte die ›Satanella‹ komponiert und gedichtet haben,« vollendete Falkner kurz und kühl.
Frau Marianne Balthasar hatte dem Gespräch mit steigendem Unbehagen zugehört und schob jetzt rasch das Theegerät zur Seite.
»Ah – die Señora!« rief sie, die peinliche Scene endend und auf die noch in dem Thürrahmen stehende Sängerin zuschreitend. Die übrigen erhoben und verbeugten sich, als ihre Namen vorstellend genannt wurden, und Donna Dolores nahm auf dem leeren Sessel zwischen dem Professor und Keppler Platz – Falkner saß ihr gegenüber.
»Vor allem Pardon, daß ich so spät komme,« sagte sie mit einem reizenden Lächeln, das ihre wunderschönen Züge noch verschönte, »aber ich mußte ja erst die Garderobe wechseln –«
»Die Satanella aus- und das Gewand gewöhnlicher Sterblicher anziehen,« scherzte der Professor.
»Als ob ich diese Satansfarbe je ablegen könnte!« erwiderte sie und strich mit der schlanken weißen Hand über ihr jetzt hochaufgestecktes Haar. Dabei irrte ihr Blick über den Tisch und traf den des Legationsrates.
»Wie Sie nur so sprechen können, Señora,« sagte Keppler und betrachtete die Sängerin mit entzücktem Künstlerblick, »oder sollten Sie in der That nicht wissen, welch kostbaren Schmuck Sie auf dem Haupte tragen?«
»Mein Haar,« lachte sie. »Ach, das ist eine Künstlerlaune. Gewöhnliche Sterbliche nennen es Rot.«
»Ich wußte nicht, daß auch in Spanien unser germanisches Blond üblich ist,« bemerkte Frau Balthasar.
»O, ich bin ja zur Hälfte eine Deutsche,« erwiderte Donna Dolores mit ihrem reinen, aber doch fremdartigen Dialekt, »und ich betrachte Deutschland als meine Heimat, wenn auch die Sonne hier weniger sengend strahlt als in Brasilien.«
»O ja, bedeutend kühler,« sagte Professor Balthasar fröstelnd. »Wir Nordländer sind ein eignes Volk – uns ist nur wohl, wenn uns das Eis bis ans Herz steigt. Das südliche Feuer, das andere durchglüht, stößt uns ab, wenn es uns berührt.«
»Ja, wenn es Gift und Dolch, Vendetta und Lava sprüht,« warf Falkner ein.
Wieder traf ihn ein Blick aus den dunklen Augen der Sängerin, und wieder mußte er sich widerstrebend eingestehen, daß diese Augen außerhalb der Bühne einen ganz anderen Ausdruck hatten, einen freien, stolzen und dennoch weichen Ausdruck.
Der Thee war beendet, und der kleine Kreis erhob sich, um entweder an die bücherbeladenen Tische zu treten oder eine jener Mappen zu durchblättern, welche in großen Gestellen an der Wand standen und kostbare Skizzen und Stiche enthielten.
Donna Dolores setzte sich in ein Fauteuil und blätterte in einer dieser Mappen, indem sie lächelnd auf Keppler hörte, der sie um den Vorzug bat, sie als »Satanella« malen zu dürfen.
»Denn,« meinte er, »mir läßt's keine Ruhe, bis ich das Problem der Farbe gelöst, das Sie, Donna Falconieros, uns heut' Abend vorgezaubert haben. Diese wunderbare, köstliche Wirkung von Rot in Rot – ich hatte mir nie eine solche Kühnheit geträumt. Und, was die Hauptsache war – sie wirkte ästhetisch.«
»Meine Kühnheit ist durch Ihren Ausspruch absolviert,« entgegnete Donna Dolores, »denn offen gesagt, mir bangte fast, als ich heut' Abend in der Garderobe das scharlachrote Kleid anlegte und mein Haar auflöste. Und als dann gar die roten Flammen entzündet wurden und um mich lohten, da glaubte ich mich dem Urteil der Verdammung, der Ausschließung aus der Zunft der Künstler geliefert zu haben.«
»Es war ein herrlicher Anblick, diese letzte Scene der ›Satanella‹,« rief Keppler, »eine Scene, wie sie das Auge des Malers zu sehen sich ersehnt. Rot in Rot – Flammen und Gold – ich kann den Gedanken daran noch nicht loswerden und werde eher keine Ruhe finden, bis ich die Farben auf meiner Palette habe.«
Dolores sagte zu, dem Maler einige Sitzungen zu gewähren, und fuhr dabei fort, den Inhalt der Mappe zu durchmustern. Plötzlich stieß sie einen leisen Schrei aus und sah erblassend auf eine Farbenskizze, eine kleine Landschaft mit prächtigen, dunklen alten Eichen und Ulmen, zwischen denen ein altes im Karree gebautes Haus hervorsah mit Säulengängen rings herum, die vier Ecken flankiert von ebensoviel hohen, erkerbeklebten, epheuumwucherten Türmen. Auf einem derselben wehte eine grün-weiße, schachbrettartige Flagge und deutete an, daß dieses alte, graue Haus kein Kloster sei, wie es auf den ersten Blick den Anschein hatte.
Donna Dolores sah lange auf diese Skizze – ihre blassen Wangen waren noch blässer geworden und es schien, als scheute sie sich zu sprechen. Keppler sah über ihre Schulter hinweg auf das Blatt.
»Ah, das ist der Falkenhof,« sagte er. »Nicht wahr, ein malerischer Fleck Erde. Und Legationsrat von Falkner ist der glückliche Erbe desselben.«
»So –?« sagte Donna Dolores mit eigentümlichem Ausdruck, indem sie hinübersah zu dem Genannten, der mit dem Professor in eifrigem Gespräche stand. Seine rücksichtslosen Worte über sie und ihre Leistung auf der Bühne, die sie vorhin mit angehört, hatten sie nicht so tief getroffen, wie man vermuten mußte, aber sie hatten doch eine kleine Wunde hinterlassen. Von diesem Augenblicke aber, als sie hinübersah nach dem Erben des Falkenhofes, und sein Blick wiederum über sie hinwegflog, kalt, fast verächtlich, da wußte sie's, das dieser Mann dort ihr Feind sei, oder werden mußte.
»Ein kleines Eden, dieser Falkenhof,« sagte Keppler, auf das Bild deutend, »und doch wiederum der Hintergrund für einen Kampf aus der Zeit der Bilderstürmer. Balthasar hat eines seiner berühmtesten Bilder nach dieser Skizze geschaffen, die er an Ort und Stelle mit Bewilligung der jetzigen Herren aufgenommen. Bei dieser Gelegenheit machte er die Bekanntschaft Falkners.«
»Des Erben vom Falkenhofe,« wiederholte Dolores leise wie für sich.
»Ein Mann von Geist und Wissen,« fügte Keppler ebenfalls leise hinzu, »aber mitunter absprechend und kalt bis zur Rücksichtslosigkeit. Balthasar ist so ziemlich der einzige Künstler, dessen Salon er besucht –«
»Also exklusiv und hochmütig ist er demnach,« fiel Dolores dem Maler ins Wort.
»Man ist versucht, es manchmal so zu nennen,« sagte dieser achselzuckend, »Falkner liebt wohl die Kunst und erkennt das Genie rückhaltlos an, aber er mag nichts oder wenig von den Künstlern wissen.«
»Also doch Hochmut,« warf Dolores ein.
»Vielleicht, Señora. Aber er geht den Künstlern wenigstens nicht aus dem Wege, während er eine ausgesprochene Abneigung gegen –«
Keppler stockte.
»Nun?« fragte die Sängerin ruhig, »warum vollenden Sie nicht: während er eine ausgesprochene Abneigung gegen die Künstlerinnen hat.«
»Señora –« sagte der Maler halb lachend, halb verlegen.
»Warum nicht aussprechen, was der Betreffende so zur Schau trägt?« sagte sie achselzuckend, leicht, indem sie die Skizze fortlegte. Aber dabei entstieg ein tiefer Atemzug fast wie ein Seufzer ihrer Brust.
Sie erhob sich und nahm ihre Handschuhe.
»Wie, Sie wollen schon gehen, Señora?« rief der Professor und eilte auf sie zu.
»Es ist spät, und ich bin müde,« erwiderte sie freundlich. »Die Partie der heutigen Oper war anstrengend. Es ist gar nicht so leicht, eine ›Teufelin‹ zu spielen,« setzte sie lächelnd, fast schalkhaft hinzu.
»O Señora, singen Sie uns noch ein Lied, ein kleines Lied nur,« bat Frau Balthasar und geleitete Dolores zu dem offenen Flügel.
Donna Dolores zögerte einen Augenblick, dann setzte sie sich an das Instrument und ließ die Hände präludierend über die Tasten gleiten. Und sie sang ein einfaches kleines Lied, kurz wie ein Intermezzo.
Es hat die Rose sich beklagt,
Daß gar zu schnell ihr Duft verwehe,
Den ihr der Lenz gegeben habe.
Da hab' ich ihr zum Trost gesagt,
Daß er durch meine Lieder wehe
Und dort ein ew'ges Leben habe.
Und wie sang sie es! War diese süße, zauberische weiche Stimme dieselbe, die vordem das Teufelinnenlied von der Bühne herabgejauchzt? Wie eine Verheißung zog Wort und Ton durch das lautlose Gemach.
Und atemlos lauschte der kleine Kreis, als Dolores geendet hatte und leise das Nachspiel erklingen ließ. Dabei schweifte ihr Blick dahin, wo die Skizze des Falkenhofes auf der Mappe lag, und es schimmerte feucht in ihren Augen. In weichen Mollaccorden löste sie die Melodie des Liedes des Mirza Schaffy auf und ging in eine andere über –
Aus der Jugendzeit, aus der Jugendzeit
Klingt ein Lied mir immerdar –
sang sie leise wie im Traum. Herzerschütternd schwollen die Töne des schlichten Volksliedes an, und durch die einfachen Worte klang es wie ein Schluchzen –
O du Heimatflur, o du Heimatflur,
Laß zu deinem heil'gen Raum
Mich noch einmal nur, mich noch einmal nur
Entfliehn im Traum.
Keine Schwalbe bringt, keine Schwalbe bringt
Dir zurück, wonach du weinst;
Und die Schwalbe singt, und die Schwalbe singt
Im Dorf wie einst.
Die süße Stimme verklang, und die Sängerin ließ die Hände herabsinken von den Tasten. Ihr gegenüber stand Alfred von Falkner, das Auge wie gebannt auf die Fremde gerichtet, die er vorhin so hart verurteilt hatte. Und das Lied –? Es stieg vor seinem geistigen Auge empor wie eine Erinnerung in verschwommenen Umrissen, als das Lied ertönte. War dieses Lied nicht einst in den Kreuzgängen des Falkenhofes erklungen von einer frischen, hellen Kinderstimme –? Er strich mit der Hand über die hohe Stirn und sann und sann – und es war ihm fast, als müsse er in den frohen Tagen seiner Jugendzeit, in den engen Grenzen der Knabenjahre die Gestalt eines Spielgefährten suchen – ja, da war's ihm, als höre er ein kurzes, helles, spöttisches Lachen –
Und die Schwalbe singt, und die Schwalbe singt
Im Dorf wie einst –
sang Donna Dolores dort am Flügel die Schlußworte ihres Liedes – und versunken waren mit einem Male die abgeblaßten, vergessenen Gestalten – zerronnen in ein Nichts, aus dem sie entstanden.
»Das nenne ich Musik,« rief Balthasar nach einer Pause und trat auf die Sängerin zu, »das bebte durch die geheimsten Fibern der Seele, denn es war mit dem Herzen gesungen!«
Donna Dolores fuhr empor und richtete sich aufatmend hochauf. Dann lachte sie kurz, hell und spöttisch, daß Falkner zusammenzuckte, denn ihm kam dieses Lachen so bekannt vor – und ein dunkler Blitz aus ihren wunderschönen Augen huschte auf ihr Gegenüber.
»Mit dem Herzen?« wiederholte sie laut und deutlich, »Sie irren, Professor Ich spielte heut' in der ›Satanella‹ mein eigenstes Selbst – nicht einen warmen Herzenston vermag ich anzuschlagen, eben weil ich kein Herz habe –«
Falkner zog die Stirn in Falten, als ihm die Sängerin seine eigenen Worte wie eine Spottdrossel wiederholte – dann zuckte er mit den Schultern, verächtlich, hochmütig.
Da sprühten ihm die schwarzen Augen einen wahren Teufelinnenblick zu – es schien fast, als ginge ein rotes Feuer aus diesem Blick hervor – wieder lachte der feine, blaßrote Mund jenes seltsame, sinnverwirrende Lachen.
»Sie sind ein guter Psycholog und Physiolog, Herr von Falkner,« rief ihm Donna Dolores zu – es waren die ersten Worte, die sie an ihn richtete, »Ihr feines Gefühl hat Sie nicht betrogen – ich selbst habe die ›Satanella‹ komponiert!«
Ein allgemeines »Ah« der Überraschung erscholl, und Falkner biß sich auf die Lippen – er ärgerte sich mit einem Male über sein Urteil, er ärgerte sich, daß er recht hatte. Donna Dolores aber ließ ihre Hände wieder über die Tasten des Flügels gleiten, wild, wirbelnd erschollen die rauschenden Accorde, mit denen das Volk in der ›Satanella‹ den Holzstoß entzündet, um die Hexe zu verbrennen, die sich nun mit einem Male in das nimmer zu vertilgende, ewig lebende böse Prinzip, in den Fluch verwandelt, der auf der Welt seit ihrem Beginne ruht. Mächtig schwollen die Accorde an, und mächtig setzte die Stimme der Sängerin ein:
Lebt wohl, so lang der Sonne Leuchten
Verklärt des Weibes ew'ge Macht,
So lang noch Leidenschaften glühen,
So lang noch Schönheit lockend lacht,
So lang noch Männerherzen brechen
Betrogen durch ein falsches Weib,
So lang, so oftmals kehr' ich wieder,
In eurer Mitte stets ich bleib'!
Entfacht der Flamme rote Gluten,
Ihr schafft mich nicht aus dieser Welt,
Denn wo sich Männerhochmut brüstet,
Mein Scepter reiche Ernte hält.
Ich wohn' in jedes Weibes Herzen,
Ich beuge jedes Mannes Macht,
Ich bin die Schlang' des Paradieses,
Ich stifte Unheil – drum habt acht!
Sie schloß mit einem rauschenden Accorde, durch den es wie das Knistern von Flammen klang, und sprang dann empor.
»'s ist Zeit zur Ruhe – gute Nacht!« rief sie und war verschwunden, ehe sich's die anderen versahen.
Drunten vor der Thür stand das leichte Coupé der Sängerin, die Pferde stampften schon lange vor Ungeduld, und als Dolores eingestiegen war, entführten sie ihre leichte Last in raschem Trabe dem Hotel zu, das die »Brasilianerin« bewohnte, und wo ihre schwarze Kammerfrau und Duenna in einer Person, die herkulische alte Negerin, schon alles zur Ruhe vorbereitet hatte.
»Tereza,« sagte Dolores spanisch, als ihr die Negerin die Haare zur Nacht einflocht, »Tereza, wen meinst du wohl, habe ich heut' gesehen? Den ›Erben vom Falkenhof‹.«
»Alle Heiligen – den Alfred? Hat er dich erkannt, Herrin?«
»O nein – und ich hab' ihm auch kein Wort darum gesagt. Er ist ein schöner, großer Mann geworden, hochmütig und zurückweisend ernst.«
»Wie die ganze Falkenbrut,« murrte die alte Tereza. »Nun, laß ihn laufen. Du brauchst ihn nicht und den Alten auch nicht mit seinen klappernden Krücken.«
»Nein, ich brauche ihn nicht,« sagte Donna Dolores, »aber,« setzte sie mit zuckenden Lippen hinzu, »aber sehen möcht' ich den Falkenhof doch wieder.«
»So kaufe ihnen das alte steinerne Nest ab, Herrin!« riet Tereza.
»Das geht nicht,« erwiderte Dolores sinnend, »es ist ein Lehen –«
»Was ist das?«
»Das ist – ach Tereza, ich bin müde und möchte schlafen.«
Sie sank in die weichen Kissen und schloß die Augen.
»Der Erbe vom Falkenhof!« murmelte sie im Einschlafen.
***
Bei Professor Balthasar trennte man sich bald, nachdem Donna Dolores sich entfernt hatte.
»Es freut mich,« hatte Keppler gesagt, nachdem sie gegangen, »es freut mich, daß sie gerade die ›Satanella‹ komponiert hat, und daß sie's bekannte trotz Ihrer scharfen Äußerungen, Baron Falkner, die sie gehört haben muß.«
»Das bestätigt nur meine Worte,« erwiderte der Legationsrat, seinen Hut ergreifend.
»Nun, ich will das doch nicht so ohne weiteres zugeben,« meinte Balthasar nachdenklich, »gerade, daß sie mit ihrem Bekenntnis das gehörte harte Urteil bestätigte, beweist, daß sie es nicht zu scheuen hat.«
Falkner zuckte die Achseln.
»Hier gehen unsere Ansichten auseinander, Professor. Die Kühnheit der Falconieros blendet Sie, wie ihr Genie die Menge. Mir ist dieses laute Bekenntnis der eigenen Herzlosigkeit mehr zuwider, als ich es ausdrücken kann.«
»Halt, rechnen Sie diese kleine Teufelei der Señora nicht zu hoch an,« sagte Keppler lachend, »Sie haben sie gereizt!«
»Wie konnte ich ahnen, daß sie lauschte?« erwiderte Falkner kalt. »Überdies – es konnte ihr nicht schaden, die Wahrheit zu hören.«
»Das heißt: Ihre Ansicht, Baron,« replizierte Keppler mit Betonung. »Oder wollen Sie an Ihrer Behauptung, Donna Dolores habe kein Herz, jetzt noch festhalten, jetzt, nachdem wir sie so wunderbar ergreifend singen gehört?«
Ein beinahe feindseliger Blick aus Falkners Augen streifte den Maler.
»Sie sind selbst Künstler, Herr Keppler,« sagte er kalt, »Sie sollten doch am Ende wissen, wie man Effekt macht. Ich bedaure, wenn mein Skepticismus nicht mit Ihren Ansichten harmoniert, aber es ist mir unmöglich, an die Wahrheit der so schön vorgetragenen Gefühle einer Sängerin von Profession zu glauben.«
»Das also ist Ihr Schlagwort?« Eine feine Röte flog über das geistreiche Gesicht des Malers. »Eine Sängerin von Profession! Sie denken sich natürlich darunter nur ein Wesen, das möglichst viel Kapital aus ihrer Stimme schlägt, und wie der Schuster seinen Pechdraht, allabendlich ihre Gesangspartie abarbeitet? Ich beneide Sie nicht um diese gewonnene Erkenntnis, Baron Falkner, und freue mich, daß ich naiv genug geblieben bin, an die Heiligkeit eines wahren Künstlertums zu glauben.«
»Chacun à son gout,« erwiderte Falkner leicht, »ich bekenne, daß mir ein so starker Glaube fehlt, wenn ich auch zugestehen will, daß es in früheren Zeiten solche um der Kunst willen wirkende Künstler gegeben hat.«
»In jedem Fall ist die Grundidee der ›Satanella‹ eine tief durchdachte,« mischte sich der Professor in das Gespräch.
»Meinem Geschmacke nach zu tief durchdacht für eine so junge Dame, wie diese deutsche Brasilianerin,« unterbrach ihn Falkner nicht ohne Hohn.
»Nun, nun – einmal hat sie nur die Musik gemacht und nicht die Worte, und dann abstrahiere ich von der Person und zolle gern dem Werke die gebührende Anerkennung,« rief Balthasar lebhafter werdend.
»Und ich vermag die Person von dem Werke nicht zu trennen, da sie mit demselben durch ihren Individualismus verbunden ist.«
»O Sie Barbar,« rief Frau Balthasar, lachend zwischen die Herren tretend, deren Dialog sie allzuscharf zugespitzt fand, »wie können Sie so hart sein? Aber wir wollen Ihnen verzeihen, wenn Sie das Zugeständnis machen wollen, daß Señora Falconieros eine ungewöhnlich begabte, hervorragende Frauengestalt ist.«
Falkner verbeugte sich.
»Ich gebe das gewiß zu,« sagte er, »aber mir fehlt das Verständnis und der Geschmack für dergleichen ›ungewöhnliche und hervorragende Frauen‹, die in unseren Kreisen, gottlob, nicht üblich sind.«
Abermals eine Verbeugung, und Falkner verließ den kleinen Kreis.
»Das sind empörende Ansichten,« brach nun Frau Balthasar los. »Ich begreife nicht, wie ein Mann von der geistigen Bedeutung des Barons so engherzig sein kann.«
»Liebe Marianne, es mag sehr schwer sein, sich aus den festgeschnürten Wickelkissen gewisser Vorurteile selbst herauszuarbeiten,« entgegnete der Professor kaltblütig. »Auch wir mögen unsere Vorurteile haben, ohne daß wir es wissen, und auch wir mögen bei der Verteidigung der von uns aufgestellten Ansichten aus Eigensinn und angeborener Rechthaberei weiter gehen, als wir vordem beabsichtigten. Überdies kann kein Mensch gegen seine Antipathien.«
»Die Äußerungen Falkners gegen Dolores deuten auf mehr als auf bloße Antipathie.«
»Das ist noch kein Grund, weshalb sich die beiden nicht noch einmal fabelhaft lieben sollten,« sagte Balthasar humoristisch.
»Nonsens.«
»Was willst du? Wie sagte Julia, als sie sehr rasch die Bekanntschaft ihres Romeo gemacht?
So große Lieb' aus großem Haß entbrannt!
Ich sah zu früh, den ich zu spät erkannt.
O Wunderwerk! ich fühle mich getrieben,
Den ärgsten Feind aufs Zärtlichste zu lieben.«
Frau Marianne lachte.
»Du vergissest nur, lieber Mann, daß weder Baron Falkner das Zeug dazu hat, ein Romeo zu sein, noch Donna Dolores, unsere Satanella, sich in eine schmachtende Julia verwandeln wird.«
»Weshalb nicht?« meinte Keppler, dem Paare »Gute Nacht« bietend, »die Natur spielt wunderbar, und am Ende hat jede Frau soviel von einer Julia in sich, wie jeder Mann von einem Romeo.«
Inzwischen hatte Falkner seine Wohnung erreicht, aber er konnte noch keine Ruhe finden. Er trat ans Fenster, öffnete es und ließ die kalte Nachtluft in das Zimmer strömen, denn obwohl der Winter sich seinem Ende zuneigte, und man auf den Straßen schon die ersten Frühlingsboten in Gestalt winziger Veilchen- und Schneeglöckchensträuße verkaufte, so war des Winters Herrschaft doch noch nicht gebrochen, und noch zeigte er manchmal empfindlich seine Macht.
Falkner war erregt, und daß er's war, ärgerte ihn um der Ursache willen.
»Um eine Sängerin,« murmelte er verächtlich, und doch konnte er das Bild dieser Sängerin nicht loswerden – es gaukelte ihm vor den Augen und blendete ihn.
»Ich hasse rote Haare« – sagte er sich, indem seine Phantasie die goldenen Haarmassen der Satanella in jene fuchsige Farbe tauchte, die im Verein mit wässerigen Augen und fleckigem Teint so abstoßend wirkt.
»Sie werden bei Tageslicht so aussehen,« sagte er sich »und die dunklen Brauen und Wimpern werden die Spuren der Farbe zeigen –«
Aber die Augen! Nein, die zu färben war ja ein Ding der Unmöglichkeit.
»Hüte dich vor denen, deren Haarfarbe von der der Augen absticht,« sagte er vor sich hin und mußte gleichzeitig lächeln über die ausgekramte Kinderfrauenweisheit. Und am Ende, was ging ihn die »Brasilianerin« an, die vielleicht in ihrem Privatleben den seltenen Namen Jette Müller oder Gustel Schulze führte. Der Gedanke daran machte ihn lachen.
»Donna Dolores Falconieros,« sagte er mit pathetischem Spott, »ich werde Ihnen aus dem Wege gehen. Zum Glück habe ich gar nichts mit Ihnen zu schaffen und werde es auch voraussichtlich nicht. Unsere Wege führen sehr weit auseinander.«
Mit diesem Entschlusse glaubte Alfred von Falkner die Sache erledigt zu haben. Aber da fiel ihm das Lied ein:
Aus der Jugendzeit, aus der Jugendzeit
Tönt ein Lied mir immerdar –
Er kannte das Lied, aber wer hatte es gesungen, wann war es gesungen worden und von wem? Er sammelte seine Erinnerungen und dachte an die längstvergangenen Kinderjahre. Wen hatte damals der Falkenhof beherbergt? Er erinnerte sich nur eines prächtigen, grünen Papageien, der ihm den Mittelfinger der rechten Hand durch und durch gebissen hatte, daß man die Narbe heute noch sah. Damals hatte ihn jemand verlacht mit hellem, lustigem Lachen und ihm gesagt: »Es geschieht dir schon recht, denn wer hieß dich, den armen Rio zu reizen!«
Er hörte plötzlich ganz deutlich die Worte wieder. Ganz recht, Rio war der Name des gelehrten Vogels, der, wie er sich deutlich erinnerte, in drei Sprachen zu schimpfen verstand und dabei maliziös genug aussah. Rio! Nach jenem Biß und dem unbarmherzigen Lachen war er, Alfred Falkner, zu dem Oheim und Lehnsherrn des Falkenhofes gelaufen und hatte sich bitter beklagt, und seine Mutter, die damals noch Witwe seines Vaters war, hatte ihm tröstend den blutenden Finger verbunden und dazu finsteren Angesichts über das »herzlose fremde Ding« gemurrt, das seine Freude habe an den Schmerzen anderer.
Aber wer war die Gescholtene?
Der Lehnsherr vom Falkenhofe hatte zwei Brüder, eigenwillige, unbeugsame Naturen, wie sie das Falkengeschlecht nur jemals aufzuweisen hatte. Der jüngere der beiden, Alfreds Vater, hatte sein und seiner Gattin Vermögen während der Dauer, daß er des Königs Rock trug, total verschwendet und starb kurz vor dem drohenden Ruin. Der Freiherr von Falkner nahm nun die Witwe mit dem Knaben zu sich und hielt letzterem einen Gouverneur, der es verstand, seine Stellung derartig zu befestigen und sich unentbehrlich zu machen, daß ihm schließlich die immer noch stattliche Witwe die Hand reichte. Da sie nun auf dem Falkenhofe seit mehreren Jahren die Pflichten einer Hausfrau versah, weil der Lehnsherr unvermählt geblieben war, so wollte der Freiherr die Schwägerin, welche seine Interessen vortrefflich zu wahren verstand, nicht mehr missen und sich von ihr trennen, und so geschah es, daß sie mit ihrem Gatten einen Flügel des Falkenhofes zu dauerndem Aufenthalte bezog.
Der ältere Bruder des Lehnsherrn war ein unruhiger Kopf gewesen, dessen erinnerte sich Alfred Falkner genau. Aber da er ihm im fünfzehnten Jahre seines Lebens schon aus den Augen geschwunden war, und auch kein Mensch mehr seinen Namen genannt, so wußte er nichts mehr von ihm. Zwanzig Jahre sind eine Zeit, in der man vergessen kann, besonders wenn der Gegenstand des Vergessens totgeschwiegen wird. Je mehr indessen Alfred Falkner der entschwundenen Erinnerung nachsann, desto mehr fand er davon wieder, und nun trat auch die hohe, blonde Erscheinung des Oheims wieder vor sein geistiges Auge. Er erinnerte sich dunkel, daß der seltsamerweise niemals mehr Erwähnte gleich ihm der diplomatischen Carriere angehörte und jahrelang einer Gesandtschaft attachiert war, die er jedenfalls im Süden suchen mußte. Undeutlich zwar, aber doch mit Bestimmtheit besann er sich, ein Gespräch zwischen seiner Mutter und dem Lehnsherrn belauscht zu haben, in welchem letzterer sich bitter darüber beklagte, daß der Bruder in einer zornigen Aufwallung seinen Dienst quittiert und obendrein noch sein Vermögen beim Fall eines Bankhauses verloren hatte.
Der Fall eines Bankhauses! Diese Redefigur hatte damals auf Alfred einen tiefen Eindruck gemacht, denn er konnte sich gar nicht vorstellen, »wie ein Bankhaus fallen könnte,« und seine Phantasie spielte seitdem oft dieses Spiel.
Nun erinnerte er sich ganz deutlich, daß der Oheim mit Kind und Kegel, mit Sack und Pack auf dem Falkenhofe seinen Einzug hielt, dem er von einem Mansardenfenster aus mit atemloser Neugier zugesehen, denn er hatte gehört, daß der Herr des Hauses von einer Mulatten- und Negerwirtschaft gesprochen, die nun die altdeutschen Räume des Falkenhofes entweihen würde.
Das hatte in seiner jungen, unternehmungslustigen Knabenseele gezündet, und er hatte glühend vor Erregung die Mutter gefragt, ob denn der Oheim ein Fürst aus dem Morgenlande sei, daß er mit Mulatten und Negern komme. Frau von Falkner hatte ihm lachend geantwortet, daß der Onkel höchstens ein Bettlerfürst sei, aber seine Frau, die Tante, wäre wohl eine Mulattin oder etwas ähnliches, jedenfalls eine »Fremde.«
Und nun kam der Onkel Bettlerfürst an, aber es war nur eine einzige große Negerin mit ihm, vor der sich Alfred natürlich entsetzlich fürchtete wie vor dem leibhaftigen Teufel. Die Tante war jedenfalls nicht schwarz von Angesicht, das war schon ein Trost. Sie brachten auch ein kleines Mädchen mit, hell und licht wie eine Elfe, dem ein prächtiger Papagei, Rio genannt, auf der Schulter saß und den Hausherrn sofort mit einem kräftig schnarrenden ›Filou! Filou!‹ begrüßte, was jedenfalls im Lande der Mulatten eine Höflichkeitsphrase war, wie Alfred damals dachte, und sich sehr wunderte, daß der also Begrüßte blaß wurde vor Zorn und seine bissigsten Redeweisen gleich in der Stunde der Ankunft hervorkramte.
Damals hatte er jenes helle, seltsame Lachen, dessen er sich so genau zu erinnern wußte, zum erstenmal gehört, er hatte gesehen, wie das kleine Mädchen den vorlauten Vogel gestreichelt hatte, worauf er, ermuntert und angefeuert durch den gespendeten Beifall, seiner ersten Äußerung noch ein lebhaftes »Caracho« folgen ließ.
Nach dieser wichtigen Begebenheit wurden seine Erinnerungen wieder dunkler. Er entsann sich nur, daß das kleine Mädchen, das damals halb so alt als er selbst sein mochte, sein Spielkamerad wurde und unaufhörlich an seiner Seite blieb, bis jener Biß Rios in seinen Mittelfinger und das Lachen seiner kleinen Cousine der Freundschaft einen unheilbaren Riß beibrachte. Er kümmerte sich nach Knabenart nicht mehr um sie und um die fremden Bewohner des Falkenhofes, von denen er sich nicht besinnen konnte, sie überhaupt viel gesehen zu haben. Nur bisweilen hörte er die helle Stimme der Kleinen durch die Kreuzgänge hallen.
Mit seinem fünfzehnten Jahre, als sein Präceptor seine Mutter heiratete, kam er auf ein Gymnasium, um dort sein Abiturientenexamen zu machen. Zwei Jahre lang, während deren er den Falkenhof nicht wiedersah, dauerte sein Studium, dann legte er sein Examen ab und trat sofort seine Reise nach der Universität an. Nach den ersten zwei Semestern seines Studentenlebens besuchte er zum erstenmal die Heimat wieder. Er fand dort alles in hastender Thätigkeit vor – die »Fremden« sollten den Falkenhof verlassen. Es war ein entsetzlicher Streit unter den beiden Brüdern ausgebrochen, welcher das Verhältnis sofort trennte – was vorgefallen war, darüber erfuhr er keine Silbe. Man war nicht sehr mitteilsam auf dem Falkenhofe.
Der Oheim hatte schon einige Tage früher das Haus seines Bruders verlassen, seine Familie folgte ihm jetzt nach, und Alfred entsann sich genau der hoch aufgepackten Wagen, die bei seiner Ankunft vorläufig noch unbespannt vor dem großen Thore ihrer Insassen harrten.
Als Alfred am nämlichen Abend noch allein durch die Kreuzgänge des inneren Hofes schritt, die Cigarre im Munde, und das Mondlicht beobachtete, wie es durch die doppelten Säulenreihen der mit Epheu und Kletterrosen umsponnenen gotischen Bogen huschte und sich in breiten, fahlgrünlichen, glänzenden Streifen auf die Steinfliesen legte, da hörte er plötzlich eine wunderschöne, wenn auch noch kindlich klingende Stimme ein einfaches Volkslied singen:
Aus der Jugendzeit, aus der Jugendzeit
Tönt ein Lied mir immerdar –
Er hatte das Lied hundertmal gehört und wohl auch selbst gesummt, dennoch aber veranlaßte es ihn diesmal, still zu stehen und den süßen Tönen zu lauschen. Der nächste Gedanke galt der Sängerin – wer und wo war sie? Er brauchte nicht lange zu suchen. Die Gebäude umschlossen ein viereckiges Stück Land, auf dem von jeher ein herrlicher Blumenflor grünte und blühte. Inmitten des Gartens befand sich das Bassin eines großen Brunnens, und vier kräftige, krystallhelle Wasserstrahlen schossen aus ebensoviel dräuenden Delphinenköpfen in das graue, steinerne Becken, das außen mit grünen Farnen und Huflattich üppig umsäumt war. Die vier mächtigen Schweife der Delphine vereinigten sich in der Mitte des Brunnens zu einem säulenartigen Gewinde, das sich nach oben vasenförmig öffnete und eine ehemals vergoldet gewesene, mächtige, siebenzackige Freiherrenkrone trug.
Auf dem Rande des Bassins saß, oder schwebte die Sängerin des ergreifenden Liedes – eine weißgekleidete Mädchengestalt, ein Kind, mit lang herabwallenden Haaren, die im Mondlicht glänzten wie flüssiges, mit Kupfer gemischtes Gold.
Alfred meinte an jenem Abend eine jener Lichtelfen zu sehen, wie das Märchen sie beschreibt, so duftig und zart wie aus Mondschein gewoben. Er wagte es nicht, sich zu rühren, aus Furcht, die Elfengestalt am Brunnenrand könnte in Nebel zerfließen, wie es die Art und Weise dieser holden Geister ist.
Und die Schwalbe singt, und die Schwalbe singt
Im Dorf wie einst –
verklang das Lied. Die Sängerin aber erhob sich und stand im nächsten Augenblick auf dem Rande des Bassins, einen Kranz von Rosen und dunklem Blattwerk in den Händen – sie hatte ihn während des Liedes gewunden.
Mit sicheren schnellen Schritten lief sie rings um den schmalen Rand des Bassins herum, als sei sie an solche handbreite Pfade gewöhnt.
Da tönte eine erschreckte Stimme aus dem im Schatten liegenden Flügel des Falkenhofes hervor:
»Bei allen Heiligen, Kind, halt ein, du fällst!«
Und nun lachte die Elfe als Antwort. Ein lustiges, helles Lachen, das einen Anflug von Spott hatte.
»Laß mich nur machen,« rief sie zurück, »ich habe hier einen schönen Kranz gewunden, meinen Abschiedsgruß dem Falkenhof! Den will ich der Steinkrone da droben überwerfen, damit sie auch einmal etwas spürt von Rosenduft –«
»Kindereien – komm ins Haus, es ist spät!« tönte die strenge Stimme zurück.
»Ich komme schon – aber erst den Kranz,« antwortete die Elfe im Mondlicht, »er kann der alten, verwitterten Krone dort nicht schaden, der frische Schmuck, wenn er auch morgen früh schon welk ist. Vielleicht blüht er noch einmal auf!«
Sie hob den Arm und warf den Kranz, und warf ihn so sicher, daß er richtig über die Krone fiel und ihre sieben, perlengezierten Zacken wie mit Purpur umsäumte.
»Wie schön,« – rief die Elfe triumphierend, aber in dem nämlichen Moment glitt ihr Fuß auf dem schlüpfrigen Gestein aus – ein Schrei aus dem Dunkel des Hauses, und die weiße Gestalt verschwand in dem hochaufspritzenden Wasser des Bassins.
Mit einem Sprunge war Alfred in dem Hofe und am Brunnen – sein kräftiger Arm zog die leichte Gestalt des Mädchens aus dem Wasser und setzte sie vorsichtig auf den Boden. Sie war nicht bewußtlos, kaum erschrocken, und ihre Augen, die ihm im Mondlicht seltsam dunkel erschienen, sahen ihn fragend an.
»Bist du – sind Sie verletzt?« fragte er stockend.
Da lachte sie schon wieder.
»O nein,« sagte sie, »der Oheim drinnen hat mir's hundertmal gesagt, ich sei eine herzlose Person – und denen geschieht nichts, wenn sie ins Wasser fallen, sie können nicht untergehen. Nur Menschen, die ein Herz haben, zieht's hinunter in den Grund.«
»So? Und was klopft denn da bei dir an der Stelle, wo bei anderen Menschen das Herz sitzt?« fragte Alfred amüsiert.
»Da?« sie legte die Hand auf die Stelle. »O, da liegt bei mir ein hohler Muskel!«
»Wirklich? Und fühlt der Muskel nicht?«
Sie sah ihn groß an.
»Nein –« sagte sie langsam, »es muß wohl nicht sein, denn der Oheim sagt, ich sei herz- und fühllos – ein Satanskind!«
Und nun lachte sie wieder auf, daß es wie der Ruf der Spottdrossel durch den Garten und die Kreuzgänge klang, raffte ihr triefend nasses Kleid zusammen und floh in das Haus.
Am nächsten Morgen, als er hinaustrat ins Freie, waren die Wagen verschwunden. Die »Fremden« waren abgereist und »es krähte kein Hahn nach ihnen,« wie Mamsell Köhler, die Beschließerin, sagte, als sie an das Inordnungbringen des verlassenen Flügels schritt.
Nein, es krähte kein Hahn nach ihnen, denn nicht mit einer Silbe wurden sie erwähnt von dem Oheim, der Mutter und deren Gatten.
Nur einer vermißte das »Satanskind« – das war der Verwalter des Gutes, ein mittelalterlicher Hagestolz, dem es tausend und abertausend lustige, kleine Streiche gespielt, wie allen im Hause, nur daß drinnen es mit Empörung und sittlicher Entrüstung über den »schlechten Charakter« des Mädchens erfüllte, während er darüber lachte. Dafür sang sie ihm abends, auf dem Fensterbrett seines Häuschens hockend, eine Auswahl von Liedern zur Mandoline vor. –
Alfred von Falkner seufzte tief auf – er war mit seinen Erinnerungen fertig. Es war nicht viel und nur sehr Unklares, da man ja auf dem Falkenhofe das niederdrückende System des »Totschweigens« praktizierte und unliebsamen Personen keine Silbe gönnte, aber er war dennoch zufrieden, denn er wußte nun, wo er das Lied gehört hatte, das die »Komödiantin« heut' Abend gesungen.
Bei dieser Erkenntnis fuhr ihm ein jäher Schreck wie ein glühender Strom durch das Herz – ihm war, als gliche die »Satanella« des heutigen Abends der kleinen zarten Elfe von damals, als sie ihn im Mondlicht am Brunnen ihrer Herzlosigkeit ernsthaft versicherte.
Im nächsten Moment aber mußte er sein Erschrecken belächeln.
»Unsinn,« sagte er vor sich hin, »meine Nerven sind erregt von der Satansmusik dieser im Grunde geschmacklosen Oper. Es war das Lied, das mir den hirnverbrannten Gedanken eingab – denn das kleine Mädchen, das es vor vierzehn Jahren sang, war am Ende doch eine Freiin von Falkner.«
Mit diesem beruhigenden Gedanken suchte er sein Lager auf, aber die schlichte Weise spukte noch in seinen Träumen fort:
Aus der Jugendzeit, aus der Jugendzeit
Tönt ein Lied mir immerdar.
***
Die Zeit verging. Abend für Abend wurde die »Satanella« aufgeführt, und Abend für Abend zog die Oper eine unabsehbare Schar von Schau- und Hörlustigen in die strahlenden Räume des Opernhauses.
Natürlich ward das Geheimnis der Autorschaft bald ein öffentliches, und so geschah es, daß diejenigen, die sich eigentlich nur für die Sängerin interessiert hatten, dieses Interesse nun auch der Oper zuwendeten, und umgekehrt.
Donna Dolores konnte selbstverständlich nicht jeden Abend die anstrengende Partie der »Satanella« singen und alternierte in dieser Rolle mit der Primadonna der Oper, deren Gast sie war. Sie war eine geheimnisvolle Persönlichkeit, über die viel gesprochen wurde, man befragte den Intendanten, in dessen Hause sie wie eine Tochter verkehrte, aber er verriet ihre Herkunft nicht. Niemand hatte gehört, daß sie vorher anderswo aufgetreten war, sie war gekommen und hatte gesiegt – ein Mädchen aus der Fremde im Reiche der Kunst. Man brannte überhaupt darauf, mehr von ihr zu wissen, mehr über sie zu erfahren – vergebens. Denn die schwarze Tereza, ihre Kammerfrau, war unbestechlich, und ihr Kammerdiener und Sekretär in einer Person, Señor Ramo Granza, ein kleiner, nußbrauner und geschmeidiger Brasilianer, war noch unzugänglicher, sowohl Geld als guten Worten, und zugeknöpft von seiner weißen Krawatte bis herab zu den glänzenden Lackstiefeln.
An den Abenden, an welchen Donna Dolores die »Satanella« sang, war auch regelmäßig Alfred von Falkner in seiner Loge zu finden. Er wollte die Musik studieren, fand aber keinen Blick für die Bühne, wenn Donna Dolores auf derselben stand.
»Man sollte meinen, Sie fürchteten sich vor den fascinierenden Augen der ›Satanella‹,« sagte Richard Keppler eines Abends zu ihm. Denn auch der Maler fand sich regelmäßig ein und war immer wieder aufs neue entzückt von der plastischen Darstellungsweise der Fremden.
Alfred zuckte die Achseln.
»Sie hat eine wunderbar schöne Stimme, und ich komme, sie zu hören,« erwiderte er kühl, »aber das verpflichtet mich nicht, die Sängerin anzusehen, deren Erscheinung mir unsympathisch ist.«
Dagegen ließ sich natürlich nichts einwenden.
Es war etwa einen Monat nach jenem Abend beim Professor Balthasar, als Donna Dolores bei dem Atelier Richard Kepplers vorfuhr.
Señor Ramo sprang vom Bock und öffnete seiner Dame die Wagenthür. Die Sängerin, wie gewöhnlich in Schwarz gekleidet, verließ das Coupé und betrat das Vorzimmer des Ateliers, das sich Keppler hier, inmitten des grünen Stadtparks, selbst erbaut hatte, und zu dem die reisende Welt, vulgo Ateliermarder, strömte, um sogar die Frühstücksreste des Meisters zu bewundern und vor dem halbvollendeten Bilde eines Schülers in Entzückungsrhapsodien auszubrechen, in der Meinung, vor einer Schöpfung des Genialen zu stehen.
Donna Dolores durchschritt die wohldurchwärmte, komfortabel und künstlerisch ausgestattete Vorhalle und öffnete die Thür, ohne anzuklopfen. In dem mit Oberlicht versehenen Raume stand Keppler, Pinsel und Palette in der Hand. – Aber das gewaltige Historienbild, an welchem er bisher arbeitete, hatte er zurückschieben lassen – eine andere Staffelei war herbeigerollt und darauf stand im prächtigen goldenen Renaissancerahmen das halbvollendete, lebensgroße Porträt der Satanella.
Der Meister war so versenkt in den Anblick des Bildes, in das Studium desselben, daß er's nicht einmal hörte, wie das Original hinter ihm erschien, und so bot Dolores ihm auch keinen guten Tag, sondern huschte lautlos durch die purpursamtne Portiere in das Nebenzimmer, dem buen retiro des Meisters, wo in einem Korbe verpackt das Satanellenkostüm lag.
Lautlos und schnell warf sie ihr schwarzes Kleid von sich und das andere über, dann löste sie die Haare und trat mit einem Male neben das Bild. Keppler erschrak beinahe, dann irrte sein Auge von der Leinwand auf die Sängerin, er verglich die Wirklichkeit mit der Kunst. Fast ängstlich prüfte er die Wirkung des farbensatten Bildes – dies feuerfarbene Kleid von starrer Seide im Schnitt der Renaissance, gerafft über einem Rocke von Goldbrokat. Und über die rauschenden, roten Falten wogte das goldrote Haar in üppigen Massen in jenen wunderbaren Reflexen, wie sie eben nur dieses Haar hat. Das zweizackige Brillantdiadem raffte die schweren Wellen zurück nach dem Nacken und funkelte über der weißen Stirn mit diabolischem Leuchten, denn die zwei rückwärts gebogenen Zacken flammten wie kleine Hörner, das Wahrzeichen Satanellas.
Mit einem Seufzer der Enttäuschung warf Keppler die Palette zur Seite. »Ich bin ein Stümper,« sagte er traurig, »denn ich stehe ratlos vor der Natur. Mir fehlen die Farbentöne, die rechten Tinten für Ihr farbensattes Bild, Madonna Diavolina!«
»Zinnober, Meister, viel Zinnober, Karmin und Ocker,« scherzte die Sängerin.
»Und Sie damit rot anzutünchen wie den Hans Styx im Orpheus von Offenbach! Ja, wenn ich allein vor dem Bilde stehe, dann sieht mein Auge diese Übergänge vor sich, dann weiß ich's, wie Ihr weißer Nacken, Ihr Antlitz sich hervorheben muß aus dieser Flut von Rot und Gold – stehen Sie selbst aber neben dem Bilde, da möcht' ich schier verzweifeln, dann verwirren sich meine Begriffe – ich werde farbenblind!«
»Das macht, weil Sie mit dem Kopfe begonnen haben –!«
»Nein, das machen Ihre Augen,« rief er heftig. »Ich war ein Thor, Ihre Stellung so anzuordnen, daß Sie mich ansehen müssen – mit diesem Ausdruck ansehen müssen!«
Sie lächelte gezwungen.
»Ich werde an eine weidende Gänseherde denken,« sagte sie, »vielleicht daß dieses Bild den Ausdruck meiner Augen verändert.«
»Sie spotten und haben recht,« entgegnete Keppler finster, indem er die Palette wieder aufnahm. »Die Satanella muß diesen Ausdruck im Auge haben – wie wäre sonst die Rolle denkbar, die sie im Leben spielt?«
Er beugte sich nach seinem Farbenkasten, und Donna Dolores stieg auf das Empor, um ihre Stellung einzunehmen: ein halbes Abwenden der Figur, das die volle Pracht des goldigen Haarmantels zeigte, aber das Haupt zurückgeworfen mit dem Lächeln der Siegerin auf den Lippen.
»Ich bin bereit, Apelles,« sagte sie.
Keppler warf einen flüchtigen Blick auf sie und begann dann zu arbeiten, stumm, die Lippen aufeinander gepreßt. Endlich richtete er den Blick auf sie.
»Ein schlechter Maler, der sein Modell langweilt!« sagte er.
»Sie sind verstimmt,« erwiderte Dolores, »ich kenne das. Es giebt schwarze, trübe Momente in unserem Künstlerleben, wo uns das eigene Schaffen nicht genügt, wo wir uns gestehen müssen, daß wir noch nicht dem Ideal nahe sind, das in unserer Brust lebt.«
Keppler erwiderte nichts. Er mischte seine Farben und setzte dem Bilde einen neuen Ton auf. Prüfend trat er einen Schritt zurück und stieß dann einen leisen Schrei aus.
»Ich hab's –!« rief er erfreut. »Ich habe den rechten Ton gefunden, der das Goldhaar mit dem roten Kleide harmonisch verbindet, habe ihn gefunden, ohne daß ich ihn gerade jetzt gesucht –«
»Auch in die dunkelste Stunde dringt der siegende Lichtstrahl der Kunst,« sagte Donna Dolores nicht ohne Vorwurf in der Stimme, »sie verläßt ihre Jünger nicht, und wenn sie verzweifeln wollen, so sendet sie ihnen das Gelingen.«
»Und hier habe ich auch den goldig-roten Reflex des Haares,« sagte Keppler froh. Dann trat er vor die Sängerin hin.
»Sie haben ein gutes Wort gesprochen, madonna mia, das Wort von der Kunst, der treuen Kunst. Ich hatte nicht gedacht, daß Satanella sie so tief erfaßt!«
Es flog ein spöttisches Lächeln um ihren feinen Mund.
»Auch du, Brutus?« sagte sie. »Meister, Sie sind ein feiner Menschenkenner, Sie senken Ihr klares, unbeirrtes Auge so tief in des Menschen Seele, und dennoch halten Sie mich für eine jener Künstlerinnen, denen die Kunst nur eine Goldquelle, nur ein Mittel ist zum Zweck?«
»Sie sind für mich ein Diamant, der in hundert verschiedenen Facetten strahlt, Donna Dolores, jeden Tag in einer anderen! Sie sind mir ein Rätsel, das ich noch nicht erraten habe, das verschleierte Bild von Saïs, das ich so gern entschleiern möchte, und mich doch davor scheue, weil ich die entsetzliche Wahrheit fürchte, die es vielleicht bergen könnte!«
»Den Pferdefuß,« schloß sie spöttisch.
»Ja, wenn Sie diesen Ton anschlagen, dann könnte man daran glauben,« erwiderte Keppler, weiter malend, »das ist der rechte Satanellenton. Und mir ist's lieber, Sie schlagen den an, denn gegen ihn finde ich immer noch eine Waffe, die des Zweifels an Ihnen.«
»Daran thun Sie recht,« erwiderte sie kaltblütig.
Er sah voll zu ihr empor.
»Sie nennen mich einen guten Menschenkenner – Sie haben unrecht, Madonna. Denn so oft ich meinte, das Rechte in Ihnen gefunden zu haben, so oft fühle ich mich betrogen. Ich weiß nicht, ob Sie sehr edel sind oder sehr böse!«
»Sehr böse,« sagte sie lächelnd und sah zu ihm herab, eine Welt voll Mutwillen in den leuchtenden Augen.
Keppler warf die Palette aufs neue hin und trat mit gekreuzten Armen vor Dolores. In seinem charakteristischen, scharfgeschnittenen, bartlosen Antlitz arbeitete eine mächtige Bewegung, sein sonst so klares Auge blickte düster.
»Pausieren Sie,« sagte er, »ruhen Sie aus – inzwischen will ich Ihnen ein tolles Märchen erzählen.«
»Ein Märchen?« Sie sah ihn befremdet an.
»Ja, ein Märchen. Oder meinen Sie, es geschähen keine Dinge mehr auf Erden, die von anderen Leuten Märchen genannt werden? Nur giebt es Märchen für kleine und große Kinder.«
»Wohlan, ich höre!«
Donna Dolores trat von dem Empor herab und setzte sich in einen der altertümlichen Sessel, wie sie in allen Arten in dem Atelier standen. Keppler lehnte sich gegen einen Pfeiler, Dolores gegenüber.
»Es war einmal ein armer Bauernjunge,« begann er, nachdem er seine Bewegung etwas bemeistert, »der mußte die Ziegen und Gänse des Dorfschulzen hüten, von früh bis Abend. Und während sich seine Schützlinge an den frischen, grünen Halmen und Kräutern labten mit lautem Schnattern und Meckern, da lag der arme Junge in seinen zerrissenen und dürftigen Kleidern im hohen Riedgras und träumte mit offenen Augen von einer fremden, neuen, schönen Welt, die seine Seele ahnte, aber nicht begriff. Eines Tages mußte er hineinlaufen in die Stadt mit einer Botschaft – sie betraf kuhwarme Milch für die brustkranke Frau eines großen Malers, und der Junge drang mit seiner Botschaft direkt hinein in das Atelier des Meisters. Da stand der Gänsehirt mit weitoffenen Augen vor der Herrlichkeit, die im Goldrahmen auf einer Staffelei vor ihm lehnte, und er vergaß Ziegen, Gänse und Milch.
»Acht Tage später lief der arme Junge seinem Brotherrn davon und zu dem großen Maler, den er um Gottes willen bat, ihn bei sich aufzunehmen und zu seinem Schüler zu machen. Zum Glück für ihn war der Maler ein liebevoller Menschenfreund mit tiefem Blick, der es gleich gewahrte, was tief unter den rohen Schlacken dieser Seele schlummerte. Er läuterte sie und lehrte den Knaben selbst – und ehe er starb, legte er den ersten Lorbeerkranz um des Schülers Schläfe. Und der schritt weiter auf seiner Ruhmesbahn, unaufhaltsam, aber einsam. Da trat plötzlich eine Fee aus dem Dunkel hervor – das heißt, er hielt sie für eine solche, und sogleich spann sie ein Netz von goldroten Haarfäden um sein Herz – ein Netz, das er nicht zerreißen konnte, so dünn war es –«
Keppler brach ab und schlug beide Hände vor sein Antlitz – er stöhnte laut.
Dolores war blaß geworden.
»Es war nur ein Irrlicht, was Ihnen eine Fee deuchte,« sagte sie, sich erhebend.
Da trat er ihr entgegen und faßte ihr Handgelenk, um sie am Gehen zu hindern.
»Es ist eine Fee,« rief er fast flehend, »o nehmen Sie mir nicht den Wahn! Dolores, ich bin nicht mehr jung – mehr als vierzig Jahre bin ich durchs Leben gepilgert. Und wenn ein Mann in diesen Jahren liebt, dann liebt er zu gewaltig, zu mächtig, um diese Liebe ersticken zu können im Keime. Woran ich jahrelang nicht gedacht, jetzt will mir's nimmer aus dem Sinn – jetzt sehe ich durch die Räume meines Hauses eine Künstlerfrau schweben, eine Künstlerfrau wie zu Tizians Zeiten mit goldrotem Haar und dunklen Augen – Dolores, glauben Sie an solche Träume?«
»Nein,« sagte sie tonlos.
»Dolores –!«
»Ich glaube nicht daran –« fuhr sie fort, »denn es giebt kein solches Glück! Ich hab' mir's gelobt, nur dann mich zu vermählen, wenn's hier in meinem Herzen anfängt zu sprechen. Aber es spricht nimmer – hat noch nicht gesprochen – weil ich kein Herz habe. Wo es bei anderen pocht und glüht und pulsiert, da bleibt's bei mir kalt und still – eine Künstlerfrau ohne Herz, das wäre ein Unglück für Ihr Haus, mein Freund!«
Keppler ließ ihr Handgelenk los und wandte sich ab. Er war sehr blaß geworden.
»Dolores, Dolores, was haben Sie mir gethan?«
»Ich habe Ihnen Schmerz bereitet – aber besser zu frühen, als zu späten Schmerz,« erwiderte sie leise und fest. »Sie haben mir viel geboten, ein Herz, eine Hand, ein Heim, und Sie wissen nicht einmal, wer ich bin, ob ich nicht einen erborgten Namen führe, woher ich stamme –«
»Ich weiß nur, daß in dem Namen Dolores das Glück meiner Zukunft ruhte.«
»Und Dolores heißt der ›Schmerz‹. Wär' ich die Teufelin, die ich auf der Bühne darstelle, dann hätte ich vorgegeben, an die Realisierung Ihrer Träume zu glauben – dann würde Ihr Heim binnen kurzem eine Hausfrau haben. Aber es könnte sein, daß doch einstens noch ein zündender Funke in meine Brust fiele und mein Herz erwachte – was dann? Nein, mein Freund, nicht im ›Schmerze‹ suchen Sie Ihr Lebensglück – es liegt anderswo.«
»Und meinen Sie, es sei kein Schmerz, entsagen zu müssen?« fuhr Keppler auf.
»Er ist geringer als der Schmerz, sich betrogen zu wissen. Und ich hätte Sie betrogen, wenn ich Ihnen von Liebe gesagt hätte, von der meine Seele nichts weiß.«
»Wie Sie grausam sind – Sie reichen mir in dem Korbe nicht einmal den bittersüßen Bissen von ›ewiger Freundschaft‹ – ›Achtung‹, und wie diese Korbtrabanten sonst noch heißen mögen –« rief Keppler finster.
Es zuckte wie ein Lächeln um ihre Lippen.
»O, wenn Sie sich danach sehnen –« sagte sie halb weich, halb spöttisch.
»Gut, gut, verlachen Sie mich noch!« rief er heftig. »Das ist ja dein Gewerbe, Satanella!«
»Richard Keppler – hüten Sie sich –!«
Zornsprühend, flammend vor Entrüstung stand sie vor ihm, hochaufgerichtet, schön wie noch niemals. Da beugte er sein Knie vor ihr und verbarg sein Haupt in den rauschenden Falten ihres Kleides.
»Nicht so, Dolores, nicht so,« sagte er mit gebrochener Stimme. »Wissen Sie nicht, daß das Herz im Übermaße seines Schmerzes selbst das schmäht, was es liebt? Wohlan – gehen Sie Ihren Pfad weiter – ich will Sie nicht auf den meinigen lenken. Ich will Ihnen entsagen – aber vergessen kann ich nicht –«
»Sie werden ein Weib finden, das besser ist, als ich –«
»Wer sagt Ihnen, daß ich ein solches will? Dolores, Sie haben heut' die Blüten von dem Baume meines Lebens gebrochen zum – Verwelken!«
»Ein neuer Lenz wird neue Blüten treiben – unverwelkliche,« sagte sie leise und beugte sich zu ihm herab. »Gott segne Ihr edles Herz und – denken Sie meiner ohne Groll. Ich konnte, ich durfte ja nicht anders handeln.«
Sie reichte ihm die Hand und er drückte seine Lippen darauf – zum Lebewohl am Scheidewege.
»Pardon – ich glaubte nicht zu stören.«
Keppler fuhr empor bei dem Klange dieser tiefen, klangvollen Stimme und Donna Dolores trat erblassend zurück – denn dort, in der Thür stand Alfred von Falkner.
»Man sagte mir nicht, daß Sie Sitzung hatten –« fuhr er fort und die Ironie in dem Worte »Sitzung« klang doppelt schneidend in seinem Munde, »sonst wäre ich nicht hier eingedrungen.«
»Sie stören nicht mehr,« erwiderte Keppler gefaßt, »der Satanellentraum ist für heut' ausgeträumt – und für immer,« setzte er leise hinzu.
Falkner trat vor das Bild hin und musterte es lange.
»Das wird wieder ein Meisterwerk,« sagte er endlich, »ich sah selten ein solch flammendes Farbenmeer in so wunderbare Harmonie vereint.«
»Mein Verdienst dabei ist nur das des Farbenmischens,« erwiderte Keppler einfach, »das Bild gab mir der künstlerische Geschmack der Donna Dolores Falconieros.«
Falkner wendete sich halb um zu der Genannten, die noch bleich und wortlos an dem Sessel lehnte, umwogt und umrauscht von Farbe, Licht und Glanz.
»Es wird schwer, beim Anblick Ihres lichten Haares an Ihre südliche Abkunft zu glauben, Señora,« sagte er leicht.
»Ich habe kein Interesse daran, irgend jemandes Glauben in dieser Beziehung beeinflussen zu wollen,« erwiderte sie kühl.
»Ach, das klingt sehr stolz, wie –«
»Komödiantenstolz« – vollendete sie ruhig.
»Wenn Sie es selbst so bezeichnen wollen –« erwiderte er achselzuckend, »so muß ich natürlich mit meinem Vergleiche schweigen.«
Nun zuckte sie die Achseln, und zwar so unendlich gleichgültig, daß Falkner die Augenbrauen zusammenzog und sich auf die Lippen biß.
»Ich gehe, um mich umzukleiden,« sagte Dolores zu Keppler gewendet und war im nächsten Moment hinter der roten Portiere verschwunden.
»Ich komme mit einer Bitte, Maëstro,« begann Falkner nach einer Weile, während welcher der Maler regungslos vor der Staffelei stand, »aber ich werde sie heut' nicht aussprechen, denn Sie scheinen verstimmt zu sein. Mein unberufenes Kommen vorhin –«
»Ich sagte Ihnen schon, daß Sie nicht störten – man kann nicht stören, wo nichts zu stören ist,« fiel ihm Keppler ungeduldig ins Wort.
»Gut, ich beuge mich,« erwiderte Falkner sarkastisch, »Sie übten mit Donna – wie heißt sie doch – ein lebendes Bild, eine Scene aus der ›Satanella‹.«
»Was soll das, Herr von Falkner? Sie würden mich verbinden, wenn Sie meinen Namen mit dem der Donna Dolores ganz außer allem Konnex ließen.«
»Ihr Wunsch genügt,« entgegnete Falkner.
»Wenn Sie sich indessen wundern sollten –« begann Keppler wieder.
»O nein,« fiel ihm der andere ins Wort, »das ›Wundern‹ muß man sich abgewöhnen, wenn man Künstlerkreise, besonders aber Ateliers besucht.«
Keppler biß sich auf die Lippen und schwieg.
»Und Ihre Bitte?« sagte er endlich, »doch ich errate sie – irgend eine Zeichnung meiner Hand für einen Wohlthätigkeitsbazar – nicht wahr?«
»Nein, das nicht,« entgegnete Falkner belustigt, »man vertraut mir solche Brandschatzungsgänge nicht mehr an, seitdem ich diese Ehre einmal, aber sehr bestimmt abgelehnt habe. Natürlich ist es aber auf Ihre Kunst abgesehen. Unser Nachbar vom Falkenhof, der Herzog von Nordland, der allsommerlich sein Waldschloß auf ein paar Monate bezieht, wünscht sich und seine Töchter von Ihrer Meisterhand gemalt zu sehen und ladet Sie zu diesem Zweck feierlichst durch mich ins Waldschloß ein.«
»Ich habe andere Pläne für diesen Sommer –« entgegnete Keppler – »kann man gegen diesen fürstlichen Wunsch, vulgo Befehl nicht ankämpfen?«
»Schwerlich,« erwiderte Falkner, »eine Ablehnung wäre hier eine – Unart.«
»Und deshalb muß man eine langgeplante Reise aufgeben?« seufzte der Maler unmutig. »Den leichten Kittel an den Nagel hängen, um im Frack vor der Staffelei zu stehen? Und dazu der Zwang des Hoflebens!«
»Dieser Zwang wird im Waldschlosse ganz abgelegt, der Herzog und seine Töchter bewegen sich so frei und ungezwungen, wie Landedelleute. Und überdies – die Motive lohnen sich Ihres unsterblich machenden Pinsels.«
»Die Prinzessinnen sollen reizend sein, ich hörte davon, indes –«
»So überlegen Sie,« schloß Falkner. »Ich reise in einigen Tagen nach der Hauptstadt von Nordland ab und bringe dann dem Herzog Ihre Antwort. Man erwartet Sie übrigens keinesfalls vor dem Mai im Waldschloß, und da wir jetzt im März leben, so haben Sie noch Zeit, Ihre Satanella zu vollenden.«
Hier trat Donna Dolores wieder umgekleidet ein. Sie hatte den Hut schon aufgesetzt und hielt eine juchtenüberzogene Kassette in der Hand.
»Ich fahre jetzt ein wenig spazieren und kann deshalb meine Garderobe nicht mitnehmen,« sagte sie zu Keppler gewendet, »draußen wartet mein Coupé – addio Maïstro!«
Sie reichte dem Maler die Hand und neigte ihr Haupt eine Linie tief vor dem Freiherrn, indem sie der Thür zuschritt. Doch indem sie den letzten Knopf ihres Handschuhes zuzuknöpfen versuchte, entglitt die Kassette ihren Händen und fiel zu Boden. Der Deckel sprang auf, und heraus rollte nebst verschiedenen juwelenblitzenden Nadeln, Ringen und Spangen das seltsam geformte Diadem der Satanella. Es fiel hart an die Kante eines Sessels und eine der hornartigen Zacken brach ab dabei. Die Herren eilten herzu und lasen die schimmernden Dinge vom Boden auf.
»Das sind echte Diamanten –« sagte Falkner unwillkürlich, indem er den Reifen an die zerbrochene Zacke zu hängen suchte, »Diamanten von wunderbarem Feuer!«
»Glaubten Sie, daß ich unechte Steine tragen würde?« – Der Ton, in dem Donna Dolores es sagte, klang fast beleidigt.
»Sie sind wenigstens üblich für Theaterschmuck, Señora!« erwiderte Falkner, »aber ich begreife Ihre Caprice. Nur ist sie sehr kostspielig –«
»O, mein Vorrat reicht hin, um mich als ›Selica‹ in Feuergarben zu hüllen,« meinte sie mit natürlicher Freude, ohne eine Spur von Prahlerei.
»Dann erlauben Sie mir, Señora, Ihnen zu Ihrer ungewöhnlich guten Ernte zu gratulieren,« sagte der Freiherr mit verletzendem Spotte in dem Tonfall.
Dolores richtete sich hoch auf und sah ihm fest ins Auge.
»Ich bedaure, Ihre Gratulation nicht annehmen zu können, denn ich singe weder um Geld noch um Diamanten!«
Falkner verbeugte sich leicht und reichte ihr den Diamantreifen.
»Pardon, Señora! Aber mein Irrtum ist wohl ein verzeihlicher gewesen –«
»Ein sehr verzeihlicher,« nickte sie, »denn Sie kennen mich ja nicht anders, als im Nebelschleier Ihrer Vorurteile.«
Noch ein leichtes Nicken und Donna Dolores war verschwunden.
»Sesam, öffne dich,« rief Falkner, als das Coupé davonrollte und er selbst an der Schwelle des Ateliers zum Fortgehen bereit stand, »diese Theaterprinzessin giebt schwere Rätsel auf zum Raten und – verlangt einen starken Glauben. Klappern gehört zum Handwerk, Donna Rothaar, so viel wissen wir Laien auch!«
In seiner Wohnung angelangt, fand Falkner ein Telegramm vor, in welchem seine Mutter ihn unverzüglich wegen des nahen Todes des Lehnsherrn, seines Oheims, nach dem Falkenhof berief.
***
Wo der rauschende Laubwald des deutschen Nordens kühlen, wonnigen Schatten giebt, wo noch keine Axt sich gerührt, die Eichen und Buchen zu fällen, um an ihrer Stelle rasselnde, qualmende Fabriken zu errichten, wo weit und breit nichts zu sehen ist, als Himmel, Wald und lauschige, glitzernde kleine Seen, da liegt der Falkenhof.
Der große vierflügelige, graue Steinbau mit seinen vier runden, epheubewachsenen, hoch und steil bedachten Türmen lehnt sich dicht an den grünen Wald an, der hier zum Park umgeschaffen ist, während vor seiner Front sich ein mächtiger Rasenplatz, umsäumt mit Monatsrosen und mit Gruppen der edelsten Rosen bepflanzt, ausdehnt. Die Wirtschaftsgebäude verbergen sich hinter dichtem Strauchwerk und Baumgruppen, so daß der Falkenhof einsam zu liegen scheint im grünen Wald – ein grauer, steingewordener Traum aus längst vergangenen Tagen.
Der Bau selbst entstammte dem sechzehnten Jahrhundert und war ursprünglich für ein adeliges Damenstift bestimmt gewesen, das daselbst nur eine kurze Existenz gefristet und sich dann aufgelöst hatte. Da die Stifterin und Erbauerin eine Falkner gewesen, so fiel die Besitzung an die Falkners zurück als Lehen, und ein Zweig dieser Familie ließ sich dauernd daselbst nieder. Im Laufe des nämlichen Jahrhunderts starben die anderen Linien des alten Geschlechts aus, und die des Falkenhofes führte den Namen weiter bis heute.
Es waren viele junge Falken flügge geworden seitdem, – viele hatten ein friedliches Nest gefunden; andere hatten sich zu hoch gewagt im Fluge und ihr Leben mit versengten Flügeln und gebrochenem Sinn beschlossen; wieder andere waren verschollen, verdorben und gestorben – während einzelne kühn emporflogen zu sonnigen Höhen – wie es das Leben so giebt und fügt in großen Familien im Laufe der Jahre und Jahrhunderte.
Jetzt war das stolze Falkennest nur schwach besetzt – der alte Freiherr und sein Neffe, der Legationsrat, das waren die letzten männlichen Glieder des alten Stammes, und da ersterer mit einem Fuße im Grabe stand und letzterer noch unvermählt war, so stand die Existenz der Falkner auf schwachen Füßen.
Daran dachte der Freiherr Alfred, als er von der Bahnstation der Heimat seiner Kindheit entgegenfuhr. Er hatte schon oft daran gedacht und dennoch vermochte er sich nicht zu entschließen, sich zu vermählen, einfach aus dem Grunde, weil die jungen Damen, welche er kannte, sein Herz noch nicht erweckt hatten. Wenigstens fesselte keine der Damen ihn so, daß er sie zu seiner Gemahlin hätte wählen mögen. Nicht, daß er blasiert gewesen wäre, denn vor dieser Krankheit des gepriesenen neunzehnten Jahrhunderts bewahrte ihn – sein Verstand; aber die Hohlheit des Hauptes und des Herzens, die ihn aus all' diesen hübschen und schönen Gesichtern, die ihm zulächelten, aus eben diesem Lächeln angrinste, hatte ihn immer wieder zurückgeschreckt.
»Der Wahn ist kurz, die Reu' ist lang,«
hatte ihm eine warnende Stimme oft zugeflüstert, wenn er gemeint hatte, das Rechte getroffen zu haben, dann hatte der furchtbare Gedanke, das ganze Leben neben einer unsympathischen Gefährtin dahinwandeln zu müssen, ihn wieder befreit von der drohenden Fessel. Darüber war er achtunddreißig Jahre alt geworden und Legationsrat obendrein, denn daß nur sein Geist ihn so schnell befördert, konnte niemand dem »schönen Falkner« ableugnen, der die Wonne und Sehnsucht aller Mütter mit reifen und überreifen Töchtern war.
Er hatte ernste, fast strenge Ansichten vom Leben und von seinen Pflichten, und die diplomatische Laufbahn, in welche der Oheim, seine Mutter und sein Stiefvater ihn gedrängt, war nicht nach seinem Geschmack – ihn lockte die Wissenschaft mehr zu sich heran, und er war auch gewillt, sich ganz zu ihr zu wenden, sobald er frei sein würde. –
Jetzt fuhr er dieser Freiheit vielleicht entgegen, durch sonnige Felder, schattige Waldwege und duftende Wiesen, aber er konnte die winkende Freiheit nicht froh begrüßen, denn erstens mußte sie dem Oheim, der ihn an unzerreißbaren Fesseln hielt, den Tod bringen, und dann –
Den zweiten Gedanken dachte er nicht aus, vielleicht weil es nicht gut ist, jeden Gedanken auszudenken, oder auch, weil der Wagen eben in den breiten Kiesweg einbog, der von beiden Seiten von hohen Buchen beschattet, dem südlichen Seitenportal des Falkenhofes zuführte.
Als der Wagen unter der gedeckten Einfahrt hielt, trat Alfred Falkner sein Stiefvater entgegen – eine hochgewachsene Männergestalt mit klugen, ausdrucksvollen Zügen, das schlichte, halbergraute Haar glatt nach rückwärts gekämmt, so daß die eigentümliche runde, katzenkopfartige Bildung des Hauptes vortrat. Seine Augen bedeckte eine Brille, der starke Bart auf der Oberlippe war tief dunkel, wie die dichten Brauen, welche die Augen beschatteten. Das war der Herr Doktor Ruß, der »Magister,« wie ihn die Leute vom Falkenhof heut' noch nannten, eine unleugbar bedeutende Erscheinung, deren peinlichste Ordnungsliebe wie in allen Dingen, so auch in seiner Kleidung angenehm hervortrat – er schien zu jeder Stunde bereit das Parkett eines Hofes zu betreten, so sorgfältig und tadellos war seine Toilette.
»Willkommen, geliebter Sohn,« rief er mit leiser, sympathischer Stimme und streckte dem Freiherrn beide Hände entgegen, »wir haben deiner lieben Gegenwart mit Ungeduld entgegengesehen!«
Falkner legte seine Rechte flüchtig in eine der ihm entgegengehaltenen Hände – er hatte den Mann vor sich nicht leiden gemocht, als dieser noch sein Lehrer war. Als Doktor Ruß sich mit seiner Mutter vermählte, wurde das Gefühl gegen ihn noch bitterer, denn halberwachsene Söhne tragen Stiefvätern meist Mißtrauen entgegen, und weder er noch Doktor Ruß vielleicht selbst hatten die leidenschaftlichen Ausbrüche vergessen, mit denen der damalige Jüngling die Nachricht begrüßte, seine Mutter habe seinen Lehrer zum Gatten gewählt, der obendrein jünger war als sie selbst. Das damalige feindliche Verhältnis hatte im Laufe der Zeit einem ruhigen Begegnen Platz gemacht, was die Welt freundschaftlich nannte, aber Falkners Abneigung gegen den Mann seiner Mutter war nicht ganz gewichen, und in seinem Inneren bäumte sich jedesmal ein unbezähmbares Gefühl empor, wenn Doktor Ruß ihn Sohn nannte.
»Steht es schon so schlimm mit dem Oheim?« fragte er als Antwort auf die Begrüßung seines Stiefvaters.
»Es war gestern schlimmer,« entgegnete der Doktor und lud den Freiherrn ein, mit ihm die Treppe hinaufzusteigen. »Der alte Herr hatte einen bösen, asthmatischen Anfall, wonach er deine Gegenwart hier begehrte und die des Justizrats Müller aus B. Am Abend verlor er das Bewußtsein, das jedoch zum Teil heut' wiederkehrte. Aber ich fürchte, ich fürchte« –
Und Doktor Ruß schüttelte bezeichnend mit dem Kopfe.
Oben an der Treppe ward der Ankömmling von seiner Mutter begrüßt, einer stattlichen Frau, der man das Plus ihrer Jahre über denen ihres Gatten kaum ansah. Sie mußte einst schön gewesen sein, aber ihre Züge waren hart, ihre kalten blauen Augen ohne Güte, und ein erkältender Zug von Hochmut lag in den herabgezogenen Mundwinkeln. Im Gegensatz zu ihrem Gatten trug sie sich einfach, unmodisch und fast nachlässig, wie man es oft bei älteren Damen findet, welche einsam leben und mit der Jugend auch jene Nettigkeit ablegen zu dürfen glauben, welche ein weibliches Wesen bis ins höchste Alter niemals entbehren kann.
»Guten Tag, Alfred,« sagte sie kurz, denn sie haßte Gefühlsäußerungen wie Euphemismen, aber ein weicherer Strahl aus ihren kalten, durchdringenden Augen bewies, daß die Ankunft des Sohnes sie freute vermittelst jenes Naturinstinktes, der auch bei der Wölfin Mutterliebe genannt wird. »Du siehst angegriffen aus,« setzte sie ebenso kühl, in demselben Tonfall hinzu, indem sie in das düstere Zimmer voranschritt, das sie für gewöhnlich bewohnte, und auf dessen großen Mitteltisch sie eine Erfrischung hatte stellen lassen.
Alfred Falkner wußte, daß die Gefühlstemperatur im Falkenhof stets auf dem Gefrierpunkt stand, deshalb konnte ein derartiger Empfang ihn nicht mehr enttäuschen, und doch gehörte er zu den warmherzigen, warmfühlenden Menschen, wenn er auch zu jener Species zählte, die ihr Fühlen und Empfinden hinter der eisernen Maske des Stolzes verbergen. Und daß diese Maske nicht gefallen war, konnte nicht ihm zur Last gelegt werden – er hatte eben das Hochfeuer noch nicht passiert und nicht in jener thauwindartigen, lösenden Temperatur gestanden, welche warmfühlende Menschen um sich verbreiten, denn die sanftklingenden, milden Worte des Doktor Ruß hatten nie ein Echo in ihm wachgerufen.
Während er sich an den Tisch setzte und die gebotene Erfrischung annahm, umfaßte sein Stiefvater zärtlich seine Frau und küßte liebevoll ihre große, weiße Hand.
»Mein geliebtes, gutes Weib,« sagte er salbungsvoll, »es ziemt sich zu betrachten, wie der Herr die Geschicke lenkt. Dein Kind steht vor einem großen Wendepunkt seines Lebens.«
»Und ich nicht minder,« sagte sie leise, und mit fast erschreckender Leidenschaftlichkeit im Ton, die man unter dieser eisigen Hülle nicht gesucht, fügte sie hinzu: »Nach Jahren, Jahren, Jahren der Abhängigkeit, der Demütigung und des Gnadenbrotes!«
»Das letztere war dein Wille, geliebtes Weib,« erwiderte Ruß mit gleicher Sanftmut. »Hättest du nicht so heftig opponiert, ich hätte eine Professur gesucht und gefunden, die uns unabhängig gemacht hätte – aber die Rücksicht und der Hinblick auf deine Zukunft, Alfred, hieß uns hier bleiben und ausharren.«
»Deine Professur hätte meine Zukunft wohl kaum beeinflußt,« sagte Falkner ruhig.
»Doch – unsere Liebe zu dir gebot uns zu bleiben und dein Erbe für dich zu verwalten und zusammenzuhalten.«
Jetzt erhob sich Falkner.
»Das wäre geschehen auch ohne Erbschleicherei,« sagte er unbewegt.
Doktor Ruß hustete – dabei aber schoß ein böser Blick unter den Brillengläsern hervor auf die Reckengestalt seines Stiefsohnes, dem mit süßen Reden absolut nicht zu nahen war.
»Du bedienst dich starker Ausdrücke,« sagte er indes mit gewöhnlicher Milde, etwa wie man einem unbezähmbaren Kinde gegenüber thut.
Auf der Stirne Falkners schwoll die Ader bedenklich an, aber er beherrschte sich wie immer.
»Wann kann ich den Onkel sehen?« fragte er nur.
»O, du magst gleich hineingehen,« entgegnete Frau Ruß. Und ohne ein weiteres Wort verließ der Sohn das Zimmer.
»Das wird ein strenger Herr auf dem Falkenhof werden,« meinte der Doktor, indem er sein rundes Haupt sinnend wiegte.
»Eigensinnig und hartköpfig ist er, wie alle Falkners,« erwiderte sie achselzuckend. »Mir fiel nur der Ernst auf, den er diesmal in erhöhtem Maße mitgebracht – das sieht fast aus wie Schwermut.«
»Daran denkt nur dein Mutterherz, Liebe. Ihr Mütter nehmt oft für Schwermut, was vielleicht nur – Schulden sind,« sagte der Doktor mit leisem Lachen.
»Möglich,« entgegnete sie kühl.
Indes schritt Alfred Falkner den Korridor des Südflügels entlang und bog nach dem östlichen Teil des Hauses ein, in welchem der jetzige Herr des Falkenhofes wohnte. Und wie er dem entgegenschritt, sah er durch die von schlanken Säulen getragenen Spitzbogen, welche die kreuzgangartigen Korridore nach innen begrenzten, während die Wohnräume nach außen lagen, hinab in den geräumigen Hof, dessen graue Mauern bis zu den steilen Giebeldächern hinauf mit Klematis, Kletterrosen und Epheu umsponnen waren. Da blühten die Rosen wie ehemals auf dem smaragdgrünen Rasen, und aus dem Brunnen mit den Delphinen, deren zusammengewundene, sich nach oben bäumende Leiber die Freiherrnkrone trugen, rauschten die krystallhellen, kühlen Wasserstrahlen wie damals, als in der Nacht die Feengestalt mit dem goldenen Haare an dem Rande des Bassins schwebte, einen Kranz flocht und dazu sang.
Warum er nur immer dieses Mädchen mit der Gestalt der Sängerin der Satanella zusammenschmolz? Er blieb einen Augenblick stehen und sah hinab in den Hof, der jetzt ganz von Sonnenschein erfüllt war, und es kam ihm der Gedanke, ob der Rosenkranz, den sie damals nach der Krone geworfen und der in ihren Zacken hängen geblieben war, schon ganz zu Staub geworden? Ärgerlich wandte er sich ab und schritt weiter – zu welch' absurden Gedanken läßt sich doch der Mensch mitunter hinreißen!
Er betrat den östlichen Frontflügel, der, parallel mit dem westlichen laufend, die anderen Flügel an Länge bedeutend überragte, so daß das ganze Gebäude ein längliches Viereck bildete. Hier wohnte der Schloßherr, und hier in der sogenannten Bibliothek, die aber mehr Familienarchiv war, brachte er den größten Teil seines Lebens mit heraldischen und genealogischen Forschungen zu. Aber der lange, weite Raum, dessen Büchereien die Familienpapiere bargen, so daß eigentlich nichts in ihm an eine Bibliothek mahnte, war leer. Die schweren dunkelblauen Plüschvorhänge der drei Bogenfenster waren herabgelassen. Den Schritt dämpfend, durchmaß Falkner den weiten Raum, und öffnete leise die Thür, die nach dem Wohnzimmer des Onkels führte – und dort, vor seinem offenen Sekretär saß er, die wohlbekannte, verkrüppelte Gestalt mit dem Höcker, tief in den grünen Saffiansessel vergraben, rechts und links die Krücken, mit denen er sich so schnell und gewandt fortzubewegen verstand, zum sofortigen Gebrauch an den Sessel gelehnt. Aber das gelbe, vertrocknete, häßliche und bartlose Gesicht mit den langgezogenen Zügen, dem spitzen Kinn und den boshaften Augen, wie sah es dem Eintretenden jetzt verändert entgegen! Uralt und wie aus Pergament gepreßt hatte dieses Antlitz ja immer ausgesehen, selbst in den Tagen der Jugend seines Besitzers, aber heut' war doch ein ganz besonderes Etwas darin zu finden – die Runen des Todes.
»Ah, der Musjö Alfred,« schnarrte der alte Herr trotz dieser drohenden Zeichen in seinem Antlitz mit dem gewohnten spöttischen Tone dem Neffen entgegen. »Was verschafft mir die hohe Ehre deines Besuches!«
»Meine Mutter schrieb mir, du seiest krank, Onkel – da wollte ich doch einmal selbst nach dir sehen,« erwiderte Falkner herzlich und reichte dem armen reichen Krüppel die Hand.
Kichernd wie ein Kobold kitzelte der alte Freiherr mit der Fahne der Gänsefeder, welche er in der spindeldürren, großen gelben Rechten hielt, die Fläche der ihm gebotenen Hand.
»Das Opfer liegt – die Raben steigen nieder,«
citierte er mit blinzelnden Augen.
Sofort zog Falkner seine Hand zurück und schickte sich an, das Zimmer zu verlassen.
»Hoho, wohin?« rief ihm der Kranke nach.
»Zurück nach B.,« entgegnete der Legationsrat lakonisch, ohne sich umzuwenden.
»Hier geblieben,« kreischte der Freiherr, und als sein Neffe zögerte, setzte er bissig hinzu: »Ist das eine Art, mit einem umzugehen? Ist das die Manier, sich einem Erbonkel angenehm zu machen?«
Falkner ergriff einen Stuhl und setzte sich dem Kranken gegenüber.
»Ich bin gekommen, nach dir zu sehen, weil Pietät und Pflicht mir dies gebieten,« sagte er abweisend. »Das ›Angenehmmachen‹ überlasse ich – anderen Leuten!«
Der Schloßherr vom Falkenhof lachte, daß ihm die Augen übergingen.
»Anderen Leuten!« wiederholte er ganz außer Atem. »Gut, sehr gut! Anderen Leuten! Warum machst du eine Pause vor dieser kostbaren Umgehung des Namens Theobald Ruß, Dr. phil. etc., he?«
»Lassen wir den Doktor Ruß aus dem Spiele, Onkel,« erwiderte Falkner unmutig über die Äußerung, zu welcher ihn die Art des Kranken hingerissen hatte. »Sage mir lieber, wie du dich fühlst seit dem gestrigen, bösen Anfall?«
Der alte Herr überhörte diese Frage vollständig. Mit ganz gleichgültiger Miene ergriff er ein Federmesser und begann an seiner Feder herumzuschnitzeln.
»Nun, mein Junge, erzähle mir, was man in B. thut und treibt,« sagte er dabei jovial. »Ist es wahr, daß man eine Weltausstellung daselbst plant? Schöner Gedanke, aber wo nimmt man das Geld her? Ich gebe keinen Deut dazu!«
So wenig ihm der Onkel sympathisch war, hier überkam es Alfred Falkner doch wie ein Weh bei dem forcierten leichten Ton des armen Krüppels, um dessen Mund und Augen sich schon solch schreckliche Linien zogen. Was war das Leben dieses Mannes gewesen? Ein schneckenartiges Fortbewegen an Krücken, ein reicher Besitz und ein Zusehen an den Lebensfreuden anderer – ein Dasein voll Entsagung, Verbitterung und der Freude, seine Umgebung mit seinen Bosheiten zu peinigen. Warum muß es solche Menschen geben?
Die zitternden gelben, krallenartigen Hände sanken müde mit ihrem Spielwerk in den Schoß, und die stechenden Augen des Kranken richteten sich forschend auf die ernsten Züge seines Gegenüber.
»Was haben sie dir drüben über mich gesagt?« flüsterte er plötzlich leise, schnell.
»Nur die Thatsachen, Oheim,« erwiderte Falkner, aber der Unwille über das von den Seinen Gehörte stieg dabei wieder in ihm auf.
Eine Weile war es still in dem Krankenzimmer, so still, daß man nur die Fliegen an den geschlossenen Fenstern summen hörte.
»Höre, Alfred,« nahm endlich der Schloßherr wieder das Wort, und es war merkwürdig, wie unsicher die scharfe Stimme plötzlich klang, »ich glaube, ich habe ein Unrecht an dir gethan!«
Erstaunt sah der also Angeredete empor. – Lauerte hinter diesen sonderbaren Worten eine neue Bosheit, wie er sie unter der euphemistischen Bezeichnung eines »Scherzes« so gern auszuteilen beliebte?
»Es ist nämlich – das heißt,« fuhr der Kranke noch unsicherer fort, »na, als ich gestern die kleine Mahnung bekam, daß gegen den Tod kein Kraut gewachsen ist, da kamen mir plötzlich tugendhafte Gedanken – na, schließlich bist du ja alt genug, hast deinen Verstand und wirst dich darüber hinwegsetzen, nicht wahr, mein Junge?«
Falkner sah forschend nach seinem Onkel hinüber – verlor sich die Besinnung des alten Herrn wieder?
»Nun, zum Kuckuck, begreifst du denn heut' gar nicht?« platzte der Alte mit gewohnter Ungeduld heraus und setzte höhnisch hinzu: »Thue nur nicht so, als hätten die drüben dir nicht, seitdem du laufen kannst, in den Kopf gesetzt, daß du mein Erbe, der Erbe vom Falkenhof bist! Kannst du das leugnen?«
»Nein!« sagte Falkner fest.
»Nun, siehst du,« quiekte der Kranke. »Und du hast's natürlich geglaubt?«
»Ja,« bestätigte der Gefragte.
»Natürlich, solche Dinge glaubt man gern,« höhnte der Freiherr, »aber,« fügte er spöttisch hinzu, »mein Gewissen hat mir gestern deshalb geschlagen – ich hätte dir den frommen Glauben nehmen sollen, nehmen müssen, wenn du willst, Alfred. Aber es hat mir zu viel Freude gemacht, den hochgelahrten, superklugen, christlichmilden Herrn Doktor Ruß und seine holde Ehehälfte –«
»Meine Mutter,« fiel Falkner stark ein.
»Nun ja, deine Mutter, die auf meinen Tod lauert, seitdem sie unter meinem Dache lebt, kurz, die ganze Gesellschaft am Narrenseile herumzuführen. Aber schließlich kann ich ja doch die langen Gesichter nicht mehr sehen, wenn sie erfahren, daß sie die Rechnung ohne den Wirt, d. h. ohne die Lehensbestimmungen gemacht haben, aber es ist dir doch nicht sehr unangenehm, Alfred, daß dir der Falkenhof so vor der Nase fortgeschnappt wird?«
»Ich verstehe dich noch nicht, Onkel,« entgegnete Falkner etwas beklommen.
Der Kranke bewegte sich unruhig in seinem Sessel hin und her.
»Du bist doch sonst nicht so schwer von Begriffen,« sagte er verdrießlich, »aber freilich, dir hat ja keine Seele etwas von den Erbfolgebestimmungen des Falkenhofes gesagt – mich wundert's nur, daß der weise Herr Doktor Ruß sie noch nicht herausgedüftelt hat – der muß doch seine Nase sonst in allem haben. Aber die Erbschaft schien ihm wohl zu sicher –«
»Onkel –!« fiel Falkner etwas ungeduldig ein.
»Ja, ja, ich komme schon zur Sache,« fuhr der Freiherr auf und kramte etwas nervös unter den Papieren herum, welche seinen Schreibtisch bedeckten. »Da ist es,« sagte er und zog ein Dokument hervor, »das heißt, dies sind die Lehensbestimmungen vom Jahre 1563, bestätigt durch die Unterschrift und das Insiegel Sr. Majestät Maximilian II., des heiligen römischen und deutschen Reiches Imperator et Rex. Anerkannt sind sie ferner unter meinem Großvater selig durch den damaligen Landesfürsten und dessen Regierung, so daß selbst der Herr Doktor Ruß, falls er sie umstoßen wollte, kein Glück damit haben dürfte. Nun also, hier steht es schwarz auf weiß:
»Die Erbfolge auf gedachtem Lehen, der Falkenhof genannt, ist also geregelt, daß dem jemaligen Inhaber desselben, wenn er mit dem Tode abgegangen oder gerichtlich auf den Besitz Verzicht geleistet hat, sein ältestes Kind, gleichviel ob es ein Sohn ist oder eine Tochter, folgt. In letzterem Falle bleibt aber das Lehen nur so lange in ihrem Besitz, bis sie stirbt, und fällt dann an das älteste Glied männlicher Descendenz aus dem Freiherrlichen Hause Derer von Falkner zurück. Bei Mangel an Leibeserben des jemaligen Besitzers fällt das Lehen an den Ältesten des Hauses oder dessen ältestes Kind, gleichviel ob Sohn oder Tochter. In letzterem Falle gelten immer die oben angeführten Bestimmungen, daß eine Lehnsherrin des Falkenhofes ihn niemals auf ihre Kinder, falls sie sich vermählt, nach ihrem Tode übertragen kann, sondern dem ältesten männlichen Agnaten oder dessen Descendenz überlassen muß. Vermählt die Lehnsherrin sich aber mit dem ersten Agnaten oder dessen Erben selbst, so fällt das Lehen natürlich an die Kinder aus dieser Ehe und die anderen Agnaten treten vor diesen zurück.«
»Nun, was sagst du dazu?« fragte der Freiherr triumphierend, als er die Lesung des Artikels beendet.
Falkner hatte sich erhoben und war ans Fenster getreten – es kann ein Mensch sehr groß denken und erhaben sein über die Schwäche, den Besitz zu seinem Götzen zu machen, aber die plötzliche Nachricht, er sei nicht reich, sondern arm, wird ihn doch bewegen. Alfred Falkner war nicht habsüchtig, aber er war auch an ein Leben der Einschränkung nicht gewöhnt; er war aufgewachsen mit dem Bewußtsein, daß er der Erbe des Falkenhofes, des reichsten Lehens der Monarchie sei, es war ihm nie gesagt worden und er hatte nie daran gedacht, daß an diesem Bewußtsein getastet werden könnte, und nun – dem alten Herrn wurde die Pause doch zu lang und die Stille zu drückend.
»Alfred!« rief er, und in seinem Ton lag ein sonderbares Gemisch von Scheu, Trotz, Spott und Reue. »Alfred, nimm dir's nicht zu Herzen – 's ist mir leid, daß es dir weh thut – ich habe ja aber bloß den alten Schleicher, den Ruß, ärgern wollen, nicht dich, denn im Grunde bist du mir doch der Liebste von allen. Als ich von Bruder Friedrich damals im Zorn schied, drohte ich ihm, die Lehensbestimmungen zu deinen Gunsten umstoßen zu wollen, und ich hab's auch wirklich versucht, aber es läßt sich an dem Dokument da nicht rütteln, Alfred!«
Jetzt wandte Falkner sich um und trat neben den Stuhl, in dem das boshafte, hinfällige Schattenbild eines Menschen sich krümmte unter dem geraden, vorwurfsvollen Blick seines Neffen, der so hoch und gebietend neben ihm stand.
»Kein Wort weiter, Onkel!« sagte er fest. »Gott soll mich behüten, daß je der Gedanke in mir keimte, andere um ihr gutes Recht betrügen zu wollen. Sind diese Bestimmungen rechtskräftig, so soll mit meiner Bewilligung niemand wagen, daran zu rütteln, damit ich bereichert werde. Daß du mich aber in Unwissenheit darüber gelassen, mich als reichen Erben erziehen ließest, nur in der boshaften Freude, meine Mutter zu enttäuschen und den Mann zu ärgern, den du nicht leiden magst – das sind Dinge, die du vor deinem Gewissen zu verantworten hast, nicht vor mir!«
»Alfred!« wimmerte der alte Mann, »Alfred, scheide nicht im Zorn von mir – daß ist doch ein häßliches Scheiden –«
Falkner beugte seine hohe Gestalt über den elenden Krüppel.
»Es mag schwerere Enttäuschungen geben, als diese,« sagte er, mitleidig geworden im Angesicht des Todes, der sein Opfer schon gezeichnet hatte. »Und zum Beweis, daß ich nicht grolle, findest du mich bereit, dir Beistand zu leisten, falls du ihn zur Ordnung deiner Angelegenheiten neben dem eines Juristen bedarfst!«
Der kranke Mann heftete seine stechenden, klugen Augen fest auf das männlich-schöne Antlitz seines Neffen, und dabei bekamen diese sonst vor Bosheit funkelnden Augen einen eigentümlich verschwommenen Ausdruck.
»Du bist ein guter Junge,« sagte er matt, und nach einer Pause fügte er hinzu: »Mich hat die Sache doch angegriffen und alteriert – ich hatte geglaubt, du würdest außer dir geraten – das hätte mir nicht so geschadet! Geh' jetzt und schicke mir ein Glas Wein oder sonst etwas zur Stärkung, hörst du? Bleib' aber auf dem Falkenhof, bis der Justizrat kommt –!«
Er lehnte sich erschöpft zurück, und Falkner verließ das Zimmer. In der Bibliothek aber mußte er stehen bleiben zu einem Augenblick der Sammlung an diesem Wendepunkte seiner Zukunft. Die Enttäuschung, die ihn getroffen, war groß und die Entsagung größer, denn ohne habsüchtig zu sein, läßt sich der plötzliche Verlust eines großen Besitzes, dieses nervus rerum der Welt, immerhin schwer genug tragen, selbst da, wo Jugend, Kraft und Fähigkeit sich finden, den Verlust, wenn auch nicht zu ersetzen, so doch zu mildern. Leute, welche nichts wissen von dem Luxus des Lebens, welche die vielen Dinge als Liebhabereien für Sammlungen, Bücher etc. nicht kennen, verschmerzen Verluste von Vermögen oder geträumten Erbschaften viel eher und leichter, als solche, welche sich ein mehr innerliches und einsames Dasein durch das zu verschönern suchen, was ihrem Geschmack entspricht, aber eben nur mit großen Mitteln zu erkaufen ist. Alfred Falkner gehörte nicht zu den Menschen, welche das Geld im Wahn des Leichtsinns mit vollen Händen unwürdigen Zwecken opfern, er spielte auch nicht, aber er genoß sein Leben, indem er reiste und sein Heim durch kostbare Gemälde und Kunstgegenstände verschönte. Er konnte diesen Liebhabereien frönen, denn er erhielt die Mittel dazu, und wenn er auch keine Schulden im Hinblick auf das zu erwartende große Erbe machte, so ward ihm doch manches, selbst Geld daraufhin angeboten.
Und jetzt sollte alles anders werden, jetzt sollte er den Kampf um das Dasein selbst aufnehmen und zusehen, daß er ein standesgemäßes Leben mit dem Gehalt, das er verdiente, führte. Und seine Mutter –!
Die ganze eigene Enttäuschung, die er soeben erlebt, schrumpfte mit einem Mal in ein Nichts zusammen in dem Gedanken an seine Mutter, denn wie würde sie's tragen? Für sie war's ja hundertmal schwerer, sich eine eigene Existenz zu gründen, als für ihn, der Jugend, Kraft und Fähigkeit hatte, dem Dasein goldene Früchte abzuringen. Freilich, sie hatte ja ihren zweiten Gatten! Falkner lächelte bitter vor sich hin, als ihm der Mann einfiel, der seine Mutter so beherrschte, daß er selbst ihren mütterlichen Gefühlen Zügel anlegte und sie nach seinem Gutbefinden regelte. Jetzt konnte er's beweisen, ob seine Liebe groß genug war, um für sie und sich zu arbeiten!
Doch die Zeit verrann, und der Kranke drinnen bedurfte einer Stärkung. Falkner atmete tief auf, als wolle er neues Leben mit diesem Atemzuge einsaugen, und verließ die Bibliothek. Draußen im Korridor kam ihm Mamsell Köhler entgegen, die Beschließerin, die in ihrem ewigen grauen Kleide von Mix-Lüster, der schwarzseidenen Schürze und dem schwarzen Spitzentüchelchen über den eisgrauen Löckchen, die ihr altes, verschrumpftes Gesicht einrahmten, jahraus, jahrein als ein unermüdlich thätiges Hausgeistchen durch die Korridore, Gemächer und Treppen des Falkenhofes huschte. Seit er selbst das Herrenhaus zuerst betreten, kannte Alfred Falkner die kleine Mamsell Köhler, und sie war sich immer gleich geblieben, nur daß ihre Löckchen mit der Zeit gebleicht waren. Sie trug ihre Kleider immer noch nach dem Schnitt, der in ihrer Jugend maßgebend gewesen, stets war sie in peinlichster Ordnung zu sehen, und ihr Leinenkragen, ihre Manschetten und die Strümpfe, die unter den Kreuzbändern ihrer Halbschuhe hervorleuchteten, waren stets von blendender Weiße.
Falkner hielt sie an, als sie schnell an ihm vorüberknicksen wollte, und bat sie, dem Onkel die gewünschte Stärkung zu bringen.
»Ei du mein Gott ja,« rief sie eifrig, »ein Gläschen Sherry oder Madeira werden dem gnädigen Herrn Baron gut thun. Ach,« setzte sie traurig hinzu, »er macht keine Scherze mehr mit mir, wenn ich hinein zu ihm gehe, und was schlimmer ist, er verhöhnt mich nicht mehr – da wird es wohl Matthäi am letzten sein mit ihm!«
Sie huschte die Treppe herab, und Falkner stand wieder an den säulengetragenen Bogen und sah in den Hof hinab – vielleicht zum letztenmal in diesem Leben, wie er dachte. Und dann schritt er langsam, sehr langsam nach dem düsteren Zimmer, das seine Mutter bewohnte, und in dem die Möbel so gerade und steif standen und kein Zierat Kaminsims und Tischchen schmückte.
In der tiefen mittleren Fensternische auf dem hohen Tritt saß Frau Doktor Ruß und strickte; ihr Gatte saß an dem feuerlosen Kamin, ein Buch in der Hand. Sein Blick glitt schnell und forschend über den eintretenden Stiefsohn, als suche er dessen Gedanken zu entziffern.
»Nun, wie fandest du den armen Onkel?« fragte er mit liebevollem Tone.
»Sehr verändert,« entgegnete Falkner kurz.
»Ja, es geht zu Ende mit ihm,« bemerkte Frau Ruß kühl, indem sie eine neue Nadel abzustricken begann.
Es giebt weibliche Wesen, welche immer stricken, in jeder Stimmung, nur mit dem Unterschied, daß sie es in erregter Stimmung schneller thun als sonst; Wesen, welche jede Stimmung hinweg stricken und in langen Strümpfen verarbeiten, die in Freud und Leid, in Sommerhitze und Winterkühle mit den Nadeln klappern und, wo andere Vergessen suchen, Trost oder Mitteilung, die gefallenen Maschen auflesen und Patentfersen stricken – sie gemahnen an jene grauenvollen Strickerinnen, welche zur Schreckenszeit in Frankreich um die arbeitende Guillotine saßen und zu den fallenden Köpfen gleichmütig für ihren Lebensunterhalt Strümpfe förderten.
Alfred Falkner ließ sich müde in einen der hochlehnigen Sessel am Sofatisch gleiten – noch wußte er nicht, wie er's einleiten sollte, seine Mutter in Kenntnis von dem zu setzen, was er eben droben beim Oheim erfahren.
»Du warst lange bei ihm,« bemerkte Doktor Ruß, »fandest du ihn bei vollem Bewußtsein?«
»Er war vollkommen klar,« entgegnete Falkner, »und setzte mir die Bestimmungen über die Erbfolge im Lehen auseinander –«
»Ah!« machte Doktor Ruß und legte sein Buch beiseite. Die Sache begann ihn zu interessieren.
»Nun, was ist da lange auseinanderzusetzen?« fragte Frau Ruß gleichgültig. »Du bist der Erbe, damit basta!«
»Nein, liebe Mutter, der bin ich nicht,« erwiderte Falkner, entschlossen, die Sache zur Sprache zu bringen.
Frau Ruß sah ihren Sohn einen Moment an, aber sie hörte nicht auf zu stricken.
»Ich finde solche Scherze unpassend,« sagte sie ruhig, aber scharf.
»Nun, der Onkel könnte sich höchstens einen solchen erlaubt haben, daran erkenne ich ihn,« meinte Doktor Ruß, seinen Stiefsohn scharf beobachtend. »Vielleicht teilte er dir auch mit, wer größere Ansprüche auf den Falkenhof hätte, als du.«
»Gewiß that er das,« entgegnete Falkner gereizt wie immer, wenn der Mann mit den stets vermittelnden Honigworten dort sprach. »Erben des Falkenhofes sind rechtskräftig Onkel Friedrich von Falkner und seine Descendenten!«
»Ah –!« Frau Ruß hatte sich erhoben und das Strickzeug mitten in die Stube geschleudert – ihre kalten Augen blitzten, ihre Hände ballten sich – im Nu war aber ihr Gatte an ihrer Seite.
»Ruhig, Adelheid, ruhig mein Weib,« mahnte er sanft, ihre Hände streichelnd. »Siehst du nicht, daß dein guter Schwager sich einen Scherz mit Alfred erlaubt hat? Denn so viel ich gehört, soll Baron Friedrich in Brasilien gestorben sein, und dann besaß er nur eine Tochter –«
»Diese Tochter aber erbt den Falkenhof, und erst nach ihrem Tode fällt das Lehen, welches ein sogenanntes Kunkellehen ist, an mich oder meine Descendenz zurück,« erklärte Falkner ruhig.
Einen Moment war es still, ganz still in dem Zimmer. Das vordem so erregte Antlitz der Frau Ruß war ruhig geworden, unheimlich ruhig und steinern, die Augen leblos, als seien sie blind. Ihres Gatten Züge waren aschfahl geworden – er mußte sich sichtlich beherrschen, ehe er in seinen gewöhnlichen, leisen und milden Ton zurückfallen konnte.
»Ei, das sind überraschende Nachrichten,« sagte er langsam. »Nun, wir werden ja sehen, ob sie auch rechtskräftig sind. Ein Kunkellehen also! Und warum hat man das nie erfahren? Adelheid, geliebtes Weib, fasse dich! Ich stehe mutig dir zur Seite, dein und Alfreds gutes Recht zu wahren und zu verteidigen, falls es dessen bedarf –«
»Das heißt, falls ich dessen bedarf,« rief Falkner, sich hoch aufrichtend. »Aber ich zweifle, daß ich deines Beistandes je bedürfen werde!«
»Ah, schön – die stolze Falkennatur regt sich in deinem Sproß, Adelheid,« erwiderte Doktor Ruß gemäßigt. »Und darf man fragen,« setzte er hohnvoll hinzu, »darf man fragen, was mit uns geschehen soll, wenn der brasilianische Onkel mit seinem Neger- und Papageiengefolge wieder hier einzieht?«
»Wir würden in diesem Fall das Haus, auf das wir kein Anrecht haben, verlassen, nicht wahr, liebe Mutter?«
»Als Bettler!« sagte sie mit unbeschreiblichem Ausdruck in dem halb gezischten, halb geflüsterten Tone.
»Vis-à-vis de rien,« ergänzte Doktor Ruß.
»Ich für meinen Teil habe meinen Beruf,« erwiderte Falkner. »Ich kann mich ins Ministerium versetzen lassen und werde jedenfalls dafür sorgen, daß du, liebe Mutter, deinem Stande gemäß leben kannst!«
»Himmel, wie heroisch!« rief Doktor Ruß mit leisem Lachen, das so provozierend wie möglich klang.
Falkner maß ihn mit blitzenden Augen.
»O,« sagte er schneidend, »jetzt bietet sich dir die Gelegenheit, deine vielgerühmte Professur anzutreten und auch das deinige für die Frau zu thun, welche ihr Schicksal vertrauensvoll an dich gekettet hat – mit einem Wort, zu beweisen, daß du auch verdienen und nicht nur verzehren kannst!«
»Alfred –!« fuhr Frau Ruß auf, angestachelt durch einen innigen Handkuß ihres Gatten.
»Ich gehe auf mein Zimmer, liebe Mutter,« erwiderte Falkner ruhig. »Besprich du alles mit deinem Mann – es thut nicht gut, wenn ich dabei bin, ich weiß es, besonders jetzt, wo ich von meinem Piedestal als Erbe des Falkenhofes herabgestiegen bin!«
***
Der Zustand des alten Freiherrn von Falkner verschlechterte sich im Laufe der Stunden sichtlich; zwar verlor er das Bewußtsein nicht, aber die körperliche Schwäche nahm rapide überhand, und die Unruhe des nahen Todes kam über ihn und ließ ihn nicht rasten. Im Krankenzimmer neben dem Sessel des Sterbenden saß Alfred Falkner und hörte den Flügen zu, welche die Phantasie desselben machte und sich in bizarren und grotesken Bildern erging. Außer ihm war noch der langjährige Verwalter des Falkenhofes zugegen, Herr Engels, dessen kraftvolle, starke Hünengestalt mit dem mächtig langen, nunmehr ergrauten Vollbarte wohlbekannt war in Feld und Wald ringsum, zum Wohle der weitausgedehnten Besitzung. Die subalterne Stellung, welche er einnahm, war ihm nicht an der Wiege gesungen worden, denn als Sohn eines hohen Staatsbeamten hatte er eine gediegene akademische Bildung genossen. Da aber kam das Jahr 1848, und Karl Engels ließ sich von dem losbrechenden Sturm mitreißen, auf den Barrikaden mitzufechten, und in Gefangenschaft geraten, konnte er von Glück sagen, daß nur langjährige Festungshaft seine Strafe war. Als er dann sein Gefängnis verließ, hatte er schwer mit dem Dasein ums tägliche Brot zu kämpfen gehabt, bis endlich sein guter Stern ihn seinem alten Freunde und Studiengenossen, dem »buckligen Falkner« zuführte, der ihn zuerst als Schreiber bei sich beschäftigte, und den Schiffbrüchigen des Lebens dann zu seinem Verwalter machte, was beiden Teilen zum Segen gereichte.
Es war ein eigenes Verhältnis gewesen zwischen den beiden. Das trauliche »Du« der Jugendzeit hatten sie beibehalten, aber in Geschäftssachen hatten sie sich stets steif, als Herr und Diener gegenüber gestanden, hatten trotz aller Harmonie nie dieselbe Meinung gehabt und sich mindestens zweimal wöchentlich tödlich verfeindet. Das gehörte zur Gesundheit des sonderbaren Paares und schadete beiden nicht, noch weniger aber dem Falkenhofe, der dabei trefflich gedieh, und schließlich war's ihnen so zur Gewohnheit geworden, daß sie's für ein böses Zeichen genommen hätten, wenn sie einmal derselben Meinung gewesen wären.
»Karl, wer wird dich nur ärgern, wenn ich nicht mehr lebe?« hatte der Kranke vorhin gefragt, als Engels bei ihm eintrat.
»Na, das laß dich nicht grämen,« hatte der Freund beruhigend erwidert.
»Es grämt mich aber doch,« sagte der Freiherr, der immer widersprach. »Meine Hoffnung beruht dabei aber auf dem Satansmädel, Friedrichs Tochter – die wird dir schon geigen, daß du die Engel im Himmel singen hörst, Karl!«
»Na, das ist ja schön,« erwiderte Engels, der glaubte, sein Freund rede im Delirium, denn er wußte so wenig von der Lehenserbfolge wie Alfred Falkner wenige Stunden zuvor.
Erst als letzterer ihn im Nebenzimmer aufklärte, begriff er die Äußerung des Freiherrn.
»Thut mir leid für Sie,« sagte er und reichte Alfred die derbe Rechte, »das war nicht recht von dem da drin, Sie so lange zu täuschen! Na, überlebt er den Anfall, so will ich's ihm schon sagen, unverblümt, darauf können Sie sich verlassen. Aber freuen thut's mich doch, das Mädchen, Freiherrn Friedrichs Tochter wiederzusehen! Da war Leben drin, sage ich Ihnen, alle Wetter! Das schäumte und brauste wie in einer Sektflasche, aber die rechten Zügel fehlten, daran lag's, und der Übermut wußte nicht, wohin zuerst. Hatte sie lieb, sehr lieb, die kleine rothaarige Wetterhexe!«
Alfred Falkner nickte – er sah sie jetzt wieder deutlich vor sich im Mondschein am Brunnen, den Rosenkranz flechtend und das süße Lied von der Jugendzeit singend; denn es giebt Momente der Erinnerung aus früheren Jahren, die nie verblassen. Sie prägen sich dem Gedächtnis so fest ein, daß ihre Farben frisch bleiben, bis unser Leben selbst dahingeht – ein Augenblick im Stundenglas der Ewigkeit.
Schwächer und schwächer wurden die Kräfte des Schloßherrn vom Falkenhof mit dem scheidenden Tage; unaufhörlich fragte er nach dem Justizrat Müller, seinem Sachwalter, den er nach dem Falkenhof beordert hatte, und schon fürchteten sein Neffe und Engels, der Ersehnte könnte zu spät kommen, als er endlich nach Sonnenuntergang eintraf.
Doktor Ruß, der sich mit seiner Frau dem Krankenzimmer bisher ferngehalten hatte, trat dem kleinen, lebhaften Herrn schon im Vestibül entgegen und unterrichtete ihn von dem Zustande seines Klienten. Seine Frage, ob er in etwas sich nützlich erweisen könne, verneinte der Justizrat für den Augenblick, trotzdem aber geleitete Ruß ihn zu den Zimmern des Freiherrn und trat mit ihm bei dem Kranken ein.
»Was will Der hier?« raunte Engels vor sich hin, denn er und Doktor Ruß waren einander gar nicht grün, trotz der unversiegbaren Quelle von Liebenswürdigkeiten, welche letzterer auf den Verwalter herabströmen ließ.
»Nun, Justizrat, was bringen Sie mir für Nachrichten?« fragte der Freiherr eifrig, und sein halberloschenes Auge begann noch einmal aufzuflammen.
Der kleine Jurist entfaltete Papiere, die er in einer Mappe mitgebracht.
»Soll ich in Gegenwart dieser Herren sprechen?« fragte er.
Der Kranke sah Engels, Alfred Falkner und Doktor Ruß der Reihe nach an.
»Warum nicht, lieber Müller? Nur beeilen Sie sich!«
Der Justizrat putzte sein Pincenez, klemmte es auf seine Nase und räusperte sich.
»Nun denn,« begann er, »so erlaube ich mir, Ihnen vor allem mitzuteilen, daß der Freiherr Friedrich von Falkner, Ihr ältester Bruder, lieber Baron, vor drei Jahren schon in Rio de Janeiro an einer akuten Krankheit verstorben ist. Hier sind die betreffenden Papiere darüber!«
»Tot also!« sagte der Kranke leise. »Tot, gestorben vielleicht im Zorn gegen mich. Weiter!«