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"Mädel, du brauchst mal mehr Abwechslung." Der fröhliche Spruch von Oma Rosi schwebte Selma immer noch im Hinterkopf. Sie hatte ein hartes Jahr hinter sich. In München zu arbeiten, das war stets ihr Traum gewesen, doch niemand hatte ihr im Vorfeld erzählt, wie schwer es in der Großstadt war, Kontakt zu finden. Zudem ging fast ihr gesamtes Gehalt für die Miete ihres winzigen Zimmerchens drauf, das sie nicht als Wohnung bezeichnen wollte. Ein Wohnklo traf es eher. Außer dem kleinen Balkon hatte ihre Unterkunft nichts Schönes. Wenn Oma Rosi bei den Wochenendbesuchen ihrer geliebten Enkelin versuchte, etwas über die neue Heimat herauszufinden, wich Selma mit einem Themenwechsel aus. Was hätte sie auch berichten sollen über ihre eintönigen Abende, die aus etwas TV und Aufräumen bestanden? Die Kollegen in der renommierten Kanzlei waren alle nett, natürlich. Doch mehr als oberflächliche Worte hatte sie nicht bekommen im letzten halben Jahr. Sie freute sich immer noch wie ein kleines Kind auf den Freitagmittag, wenn sie mit ihrer abgenutzten Reisetasche, die noch ein Geschenk ihrer Eltern gewesen war, gleich direkt von der Arbeitsstelle zum Ostbahnhof aufbrechen konnte, um bis zum Sonntagabend in die schöne Voralpenwelt fahren zu können. Als ob ein schwerer Eisenring von ihrer Brust genommen würde. Ihre Oma stand stets zuverlässig zur vereinbarten Ankunftszeit des Zuges am Bahnsteig und sah sie fröhlich aus ihren mittlerweile trüben Augen an. Zu Fuß ging das ungleiche Paar dann zum kleinen, aber peinlich sauberen Haus mit den blauen Fensterläden, das Selma immer noch ein warmes Zuhause war. "Du bist mir Abwechslung genug", sagte sie dann stets und tätschelte ihrer Großmutter, die sie die letzten Jahre so liebevoll großgezogen hatte, die faltigen Hände. Mit zwölf Jahren hatte Selma der schwerste Schlag getroffen, den ein Kind ereilen kann. Ihre geliebten Eltern waren bei einer fürchterlichen Naturkatastrophe ums Leben gekommen. Es war dies der erste Urlaub gewesen, den sich die fleißigen Leute geleistet hatten, und dieser endete so tragisch, wie es nur in schlechten Romanen oder im echten Leben passieren kann. Über die Weihnachtstage war es zu einer enormen Springflut des Meeres gekommen, die das gesamte Leben in der kleinen Küstenstadt ausgelöscht hatte. Aus der Ferne zurück kamen nur zwei Särge, die von einer minderjährigen Waise und ihrer Oma Rosi entgegen genommen und auf dem heimatlichen Friedhof bestattet wurden.