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Die Rose auf dem Butterbrot

oder

Die Bedingungslosigkeit der Liebe

Kapitel

- - Die Herkunft

- - Der traurige Wandel

- - Der gute Wandel

- - Der gewünschte Retter

- - Der Nachkomme von bedingungslosem Wunsch

- - Das Kind der Wahrheit

- - Das Leben der so Anderen

- - Die erste Liebe der so Anderen

- - Die Weichenstellung der Anderen

- - Der Ausstieg aus der Bedingungslosigkeit

- - Das Rad des Schicksals

- - Das Vertrauen

- - Der Weg zur Befreiung

- - Geöffneter Übergang ins eigene Paradies

- - Ende und Anfang zugleich

- - Intuition stärker als Angst


Vorwort

Bedingungslosigkeit macht nichts unmöglich....und aus diesem seelischen unangreifbaren Reichtum heraus saß Victoria eines Tages im Zug um sich auf neutralem Ort mit ihrer Mutter zu treffen. Sie hatte ja nie diese Nähe gespürt zu ihr. Diese Nähe, die aus dem Bauch gewachsen war und die unmissverständlich eben nur diesem einen Menschen galt. Dies hatte ihr, trotz ihrer gewonnen Reinheit ihrer Seele und ihrem geheilten Körper zeitlebens einen Schatten auf ihre Seele geklebt. Einen Schatten den man ihr zwar nie ansah, der aber in regelmäßigen Abständen Dunkelheit auf ihre Seele legte. Und der sie immer traurig stimmte. Und deshalb nahm sie all ihre Kraft und Mut zusammen und reiste ihr körperlich und seelisch entgegen. Auch die Mutter verspürte eine Bedingung aus sich heraus, dass die beiden sich wiedersehen sollten. Denn egal was geschehen war, eines ist und war nicht zu verleugnen, sie waren Mutter und Kind und nichts, nein, rein gar nichts auf diesem leb baren Universum konnte an diesem Zustand je etwas rütteln. Und obwohl Victoria all ihre Kräfte schon darauf verwendet hatte, um ihre Seele und ihren Körper zu schützen, wusste sie, sie musste sich dieser Dämonenflut aus Dornen und Schatten aussetzen. Sie war sogar so geheilt, dass ein früherer Versuch, sie zu treffen in ihrer gewohnten alten Umgebung – denn die Mutter lebte weiter in dieser Wohnung, die sie mit dem Vater zu Lebzeiten bewohnte – derart gewaltsam auf ihren Körper einwirkte, dass Victoria, sobald sie die heimischen Räumlichkeiten betrat, asthmatische Anfälle bekam. Sie bekam schlichtweg keine Luft mehr in den Zimmern. Sobald sie sich in den Zimmern aufhielt, schnürte es ihr im wahrsten Sinne die Kehle zu. Sie wusste erst nicht woher diese Krankheit so spontan kam, sie litt nicht unter Asthma und es konnte auch kein Heuschnupfen sein, es war bitterkalter Winter. Die Mutter machte den Weihnachtsbaum dafür verantwortlich, ihre Vielzahl von Blumenstöcken auf den Fensterbänken. Sie schleppte diese in den Keller für ihr Kind. Sie wollte am Feiertag ihren Hausarzt konsultieren, er sollte ihrer Tochter irgendein Präparat verschreiben, welches diese unliebsamen Luftröchelattacken beseitigen sollte. Doch Victoria wehrte ab. Sie fühlte, dass kein Christbaum und keine Blume der Welt daran Schuld trug, dass sie in ihrem Elternhaus keine Luft mehr zum Leben bekam. Es war das Nichterkennen ihrer Persönlichkeit. Nicht ein Gottesgewächs. Sie versuchte diese Symptome erst zu ignorieren. Sie blieb trotz dieser gesundheitlichen Störung über Nacht. Sogar zwei Nächte. Victoria war ja eine „Grenzüberschreiterin“. Sie gab einfach nicht auf. Doch die zweite schlaflose Nacht im Hause war derart schwächend für sie, dass sie rein zum Überleben, am nächsten Morgen einfach gehen musste. Ja gehen. Sie musste ihr Elternhaus verlassen, weil sie in jungen Jahren, seit Beginn ihrer Pubertät, nicht verstanden, nicht erkannt, wurde. Weil sie ein Schwan war. Ein Schwan unter Hühnern. Und sie wurde als Henne erzogen und behütet. Und sie wurde in ihrer ganzen künstlerischen Pracht einfach nicht gesehen. Es wurde ihr dafür noch unzählige Gesteinsbrocken in ihren Weg gerollt. Sie hatte es aber geschafft. Ganz alleine. Sie hatte es geschafft als Schwan ihr Dasein zu leben. Jahrzehnte lang hatte sie so gelitten unter den Dornen und Schatten und unter dem Hühnerdasein. Sie hatte sich Stück für Stück ihr reines Federgefieder wachsen lassen, bis es eben prachtvoll war. Und jetzt wollte sie ihrer Mutter zeigen, dass sie ihr verziehen hatte. Alles verziehen. Der Mutter hatte einfach die richtige Sichtweise gefehlt, um ein weißes Schwanenkostüm zu sehen. Und um ihr Kind nicht zu verliehen, ließ sich Ava, die Mutter, darauf ein. Auch sie litt unter dem Verlust ihres Kindes. Und so trafen sich die beiden wieder. Victoria angereichert und bestimmt durch das Band ihrer Bedingungslosigkeit und eine Mutter, die fast 80 Jahre alt war und die bereit war, in ihrem eigenen Spielraum und Rahmen, den sie zwar nicht verstand, den sie aber spürte, und dies war das Ausschlaggebende. Die Bedingungslosigkeit der Liebe hatte sie beide an einen neutralen Ort geführt. Die Mutter hatte an einer Reiseveranstaltung teilgenommen, weil ihr Arzt ihr Lebensfreude auf einem Rezept verschrieb. Diese Reise brachte die Mutter nur eine Stunde entfernt an ihr Kind. Und Victoria hatte genau zu diesem Zeitpunkt keine andere Verpflichtung und sie war dafür bereit, ihre Zuhause, Berlin, kurz zu verlassen. Berlin verstünde das. Die Liebe hatte diesen Schnittpunkt einer Wiedervereinigung erkannt. Victoria wusste sie konnte damit jeden Dorn und jeden Schatten aus ihrem Herzen die so aberviele Schmerzen verursacht hatten, befreien. Soweit ihre Füße sie tragen würden dorthin, soweit würde sie halt gehen, um diese Wunden zu heilen.... und so war es auch. Das was Victoria jetzt nach dieser Reise in ihrem Herzen und ihrem Gedächtnis an ihre Mutter blieb, war eine Parkbank auf der sie beide saßen. Victoria hatte ihrem Kopf auf die Schultern ihrer Mutter gelegt. Das hatte es in ihrem ganzen Leben bisher noch nie gegeben. Egal was in Victorias Leben je passieren würde, dies war jetzt das Bild, das ihr von ihrer Mutter blieb. Ihr Kopf angelehnt an der Schulter der Frau, die sie geboren hatte und sonst nichts. Keine Schatten und keine Dornen mehr.... das kann nur eine Macht auf Erden, die Liebe.... damit spielte es auch keine Rolle mehr, ob Victoria je noch einmal in ihr Elternhaus gehen würde, oder nicht, um dort auf der ersten Treppe der Haustüre zu sitzen, um auf die Rosenstöcke zu blicken, die ihr von diesem Blickwinkel ihr ganzes Leben, welches sie bei ihren Eltern verbracht hatte, in die Augen stachen. Die Rosen, die auch schon so viele Fröste überstanden hatten und trotzdem jedes Jahr mehr Knospen entstehen ließen. Auch wenn so viele ihrer Blüten zertrampelt wurden und je auf dem Komposthaufen landeten. Es würde keinen Sturm, keinen Eisregen mehr geben, der diese Rosenstöcke vernichten würde. Diese Rosenstöcke hielten einfach durch. Und sie hatten all die vielen Jahre nicht nur durchgehalten, sie hatten immer schönere, weit verzweigtere Knospen auf'´s Neue erblühen lassen. Die Blütenpracht wurde jedes Jahr glanzvoller. Einfach nur dadurch, dass sie durchhielten. Die Rosenstöcke. Und so fühlte sich Victoria von nun an auch. Sie hatte auch jahrzehntelang durchgehalten. Nur um irgendwann in neuem Ganze zu erscheinen und dies war hiermit geschehen.


Wilma Zingara

Die Rose auf dem Butterbrot

oder

die Bedingungslosigkeit der Liebe

Die Herkunft

Es gab einmal ein riesengroßes Gut, ein Stadtgut. Ein landwirtschaftliches Anwesen, mit einem Haupthaus und rechts und links davon mit Nebenhäusern. Im stattlichen Haupthaus wohnte Adalbert mit seiner Familie. Seiner Frau Greta und den Kindern, Ferdinand, Peter, Wilhelm, Ava und Joachim. Die Nebenhäuser wirkten ebenfalls sehr majestätisch, jedoch nicht ganz so imperial wie das Haupthaus. Das Gut war sehr großzügig angelegt. Breite Wege führten zu den Hauseingängen. Sie waren reichlich mit Blumen gesäumt, je nach Jahreszeit. Und es wurde stets sehr darauf geachtet, dass die Anlage sehr gepflegt wirkte. Jeder Besucher empfand sofort ein Gefühl der Großzügigkeit. Die Familie war sehr begütert. Sie hatten viele Angestellte. Diese wohnten in den Nebenhäusern. Weitere Nebenhäuser waren für die Stallungen der Tiere. Hauptsächlich Pferde und ein paar wenige Kühe für den Eigenbedarf. Die Pferde waren für den Ackerbetrieb, sowie als Zugpferde für die Wägen. Die es in drei verschiedensten Ausführungen, je nach Jahreszeit, gab. Ein Schlitten im Winter, ein Jagdwagen im Sommer und ein Planwagen für den Regen und eben die Kühe. Insgesamt hatte Adalbert ein richtiges Imperium. „Ich bin ein reicher Mann“, sagte Adalbert oft. Dabei grinste er liebenswürdig in seiner stattlichen Erscheinung und jeder, der mit ihm zu tun hatte, wusste, dass Adalbert dies nicht auf seinen finanziellen Reichtum bedingte. Er war durchaus auch wirtschaftlich gesehen reich. Sein persönlicher Reichtum erschloss sich bei seiner Person mehr auf den menschlichen Reichtum, den er ausstrahlte. Seine Familie, die bedingungslos hinter ihm stand. Sowohl als auch seine zahlreichen Angestellten, für die er immer ein offenes Ohr hatte und schlichtweg jeder, der beruflich, oder privat mit ihm zu tun hatte, bemerkte den inneren Reichtum seiner Seele. Somit wollte jeder gerne mit Adalbert zu tun haben. Er war eine Erscheinung. Jeder auf der Straße der nach dem Weg fragte, ging auf Adalbert zu, denn es konnte einem gewiss sein, dass er ein Lächeln für ihn übrig hatte. Dies war echter Reichtum. Bedingungslos für jeden. Er war ein gütiger Herrscher. Großzügig in Geld und Tat. „Ich will, dass ihr alle gut zu essen habt“, sagte er oft zu seinen Angestellten. So nahm sich seine Frau Greta täglich darin an, für alle Angestellten selbst zu kochen und sie aßen auch zusammen. Adalbert wusste, dass er so das Vertrauen der Menschen erhielt. Keine Extrawürste für die Herrschaften. Alle bekamen das gleiche und das war immer von bester Qualität. Waren die Angestellten auf dem Felde, gingen die Mägde in einer Selbstverständlichkeit dorthin, um den Arbeitern Brotzeit zu bringen. So sorgte Adalbert auch immer dafür, dass einmal im Jahr geschlachtet wurde. Da kam der Schlachter eigens ins Haus. Der pökelte das Fleisch ein. Auch da halfen alle zusammen und als die Arbeit gemeinsam verrichtet war, da gab Adalbert, Vaddl wie er liebevoll genannt wurde, ein Fest. Er hatte wahrlich einen unsagbaren Stil und menschliche Größe. Weit und breit gab es tatsächlich niemanden, der ihn nicht für seine reiche Persönlichkeit geschätzt hätte. Gleichwohl durch alle Gesellschaftsschichten. Viel, sehr viel später in seinem Leben, als seine Enkelin Victoria seine menschliche Wärme genießen durfte, blieb ihr immer ein Bild vor Augen, „Du bist für mich der Größte“, sagte sie, denn er ließ es sich nicht nehmen Kartoffeln fürs Mittagessen zu schälen, dabei trug er aber immer noch stets einen Anzug, meist einen Nadelstreifenanzug, weißes Hemd, silberne, aufgezogene Taschenuhr in der Anzugweste, geputzte Schuhe und gepflegte Hände. Nur die Anzugjacke blieb dann weg. „Du bist schlichtweg traumhaft, so wie du so sollte später mein Mann sein“, säuselte sie ihm liebevoll ins Ohr. So stellte er lebenslänglich eine Persönlichkeit dar, bis hin ins hohe Alter, auch als Ikone seiner Enkelin. Was ihn ebenfalls so auszeichnete, immer war er für die Belange seiner Umwelt zugegen. „Du solltest Dich nicht immer um alles kümmern“, sagte Greta, seine Frau oft zu ihm. „Warum“, war seine Antwort, „diese Menschen arbeiten für mich, sie machen ihre Sache voller Vertrauen, sie setzen auf mich, dafür können sie auch alles von mir erwarten“. „Aber dies sind doch nur deine Angestellten, du bezahlst sie reichlich dafür, da brauchst du doch nicht ständig für sie da zu sein“. „Doch“, widersprach Adalbert äußerst selten seiner Frau und ging noch in den Stall, denn dort sollte in dieser Nacht noch eine Kuh kalben und da wollte er fest mit zupacken. Nie verlor er die Fassung. Seine Stimmung war immer mittig. Er schnaufte einmal tief durch, wenn ein Problem vor ihm auftauchte, dann fand er besonnen eine Antwort aus seinem Inneren heraus und die passende Lösung dazu. Was er als natürlichen Glanz allzeit parat auf den Lippen trug, war ein passender humorvoller Satz. Einen Ausspruch voller satirischem Witz. Stilvoll, makaber. Das alles zeichnete ihn schon sehr besonders aus. Der Vaddl war auf alles stolz, seine Frau, seine Kinder, sein Erreichtes, in jeglicher Form. Er war glücklich mit seiner resoluten Frau, die alle Belange an Haus und Hof mit Weisheit und Disziplin zu handhaben wusste. Er wünschte sich, dass alles, was er erreicht hatte, nie vergehen sollte. So viel als möglich Menschen sollten an seinem Glück, so lange wie möglich teilhaben, er wollte niemanden verlieren, keinen Angestellten und niemanden aus seiner Familie. Seinen inneren Reichtum wollte er so weit als möglich verbreiten und seine Frau so glücklich machen wie es in seiner Macht stand. Er las ihr jeden Wunsch von den Augen ab. Er holte sogar für seine Frau eine Friseurin ins Haus, die ihr jeden Morgen die Haare richtete und ansonsten stand diese nach Bedarf Greta's Wünschen auf Abruf rund um die Uhr zur Verfügung. Sonst hatte diese Dame keinerlei Verpflichtungen. Es sollte seiner Frau einfach an nichts fehlen. Sie sollte bedingungslos glücklich sein. Oft flehte er sie an, sie solle etwas mehr für ihre Gesundheit tun. Greta stand für seine Verhältnisse zu viel auf den Beinen, an einem Fleck. Meist in der Küche. Oftmals trieb er sie an, sie soll am Abend noch ein wenig mit ihm spazieren gehen. „Beine vertreten, Greta komm“,… denn Greta hatte sehr dicke Beine. Gentechnisch. Viel Wasser in den Beinen. Das bekommt man nur in den Griff, wenn man täglich etwas dafür täte. Eben laufen, Kneipp - Kuren mit Wassertreten, Beine hoch legen. Doch Greta hörte nicht auf ihren Mann. Das mit dem spazieren gehen, dafür war sie am Abend einfach zu müde, nachdem sie für zwei Duzend Leute den ganzen Tag gekocht hatte und die Nahrungsmittel dafür besorgt hatte. Sie hatte Eimer weise Knödel in ihrem Leben an einem Tag gerollt, wenn es eben Knödel an diesem Tag zum Mittagessen gab. Sie hätte es nicht tun müssen, genauso wenig wie ihr Mann, der ja auch immer für alle da war. Doch sie war genauso stur auf ihre Art und Weise wie ihr Mann. Sie wollte nicht, dass eine Angestellte das Essen zubereitet hätte. Für die Qualität der Nahrungsmittel fühlte sie sich verantwortlich. Mit dem Abgeben an andere, das war nicht ihre Stärke. Da zog sie mit ihrem Mann an einem Strang. Dieser Stolz beeinträchtigte Greta, Muddl, wie sie liebevoll genannt wurde, gesundheitlich jedoch sehr. Ihre Beine wurden immer dicker und dicker. Später sagte er einmal: „Wenn doch meine Greta ein wenig mehr gelaufen wäre, dann hätte sie länger leben können.“ Sie hatte viele Ödeme an den Beinen, oftmals offene Beine, die nur mühsam wieder zu heilten, dickste Krampfadern und Unmengen von Besenreisern. „Du gehst jetzt zur Kur“, bettelte Vaddl seine Muddl. Wassertreten, nach Art des Sebastian Kneipp, doch laufen, spazieren gehen, das lag eben nicht in ihrer Art. „Ich habe meine Beine zugeschnürt und in dicke Gummistrümpfe gepackt, da will ich mich nicht auch noch so viel bewegen müssen“, lautete ihre Meinung. Doch es war wie es war. Als seine Greta nun das vierte Kind unter ihrem Herzen trug – drei Söhne hatte sie schon geboren und waren der volle Stolz des Vaddls – da war es Adalbert klar, Greta würde wieder einem Sohn das Leben schenken. Er war glücklich über die strammen Burschen, die schon frühzeitig an Haus und Hof ihre Freude fanden, doch wahrscheinlich konnte sich Adalbert kein anderes Kind vorstellen. Greta lag in den Wehen, im Hause verstand sich, in eine Klinik ging man damals noch nicht. Vor allem ja, das sollte hier einmal gesagt sein, waren sie eine sehr angesehene Familie, und bei einer Familie in dieser Gesellschaft, da kommt die Hebamme und alles was zur Geburt eines Kindes dazu kam, ins Haus. Das verstünde sich von selbst. Schließlich war auch genug Personal vorhanden, um für solche Gelegenheiten gerüstet zu sein. Vor allem bot das Anwesen ausreichend Platz für „Umstände“ dieser Art. So war nun Adalbert auf dem Felde mit seinen Arbeitern zu Gange – es war Mitte August und da galt es schließlich die Ernte einzubringen. „Wir müssen das gute Wetter ausnutzen“, sagte Adalbert zu seinen Arbeitern, „das Wetter bestimmt die Arbeit“, waren seine Worte. So war es auch zur damaligen Zeit vollkommen in Ordnung, dass der Gatte dem Geburtsvorgang ausblieb. Kein Mann wäre 1933 auf die Idee gekommen, der Frau bei der Geburt beizuwohnen. „Das ist Weiberkram“, hieß es damals. Weib an sich war eher ein Kompliment als eine Abwertung. „ Ein Weib war eine Frau, an der alles dran war“, sagte der Großvater schelmisch. „Keine Magermilchkuh, wo man Angst hat, sich beim Berühren Schmerzen zuzufügen.“So fügte es sich nun, dass die Arbeiter samt ihrem Herrn schweißtreibend auf dem Felde die Ernte einbrachten und Greta ihrer Niederkunft entgegensah.Das Kind wurde gesund, ohne Komplikationen geboren. Doch das Neugeborene war eine Überraschung.Es war ein Mädchen, ein strammes Mädchen. Die Nachricht war so überwältigend, dass Greta noch vollkommen geschwächt von der Akt der Geburt rief: „Geht, geht jemand schnell aufs Feld, Adalbert soll es sofort wissen, es ist diesmal ein Mädel!“„Allerwahrscheinlicher“ Weise, wäre es ein Junge geworden, hätte Adalbert erst am Abend nach der Feldarbeit von der Nachricht eines gesunden Kindes erfahren, denn er war ja gewohnt, Söhne zu bekommen. Doch dieses Mal war es etwas anderes. Also eilte eine Haushaltshilfe eiligst aufs Feld. Sie rannte. Emma ihr Name. Emma war erkoren, die frohe Botschaft an den Herrn des Hauses weiterzuleiten. Es war eine Ehre für sie. So rannte Emma buchstäblich für das Glück ihres Arbeitgebers. Sie war selbst von einem Stolz erfüllt, gleich die leuchtenden Augen ihres Herrn zu sehen. Da kam sie nun völlig entkräftet am Felde an. Dabei verlor sie noch einen Schuh, das bemerkte Emma aber erst später. „Egal, sagte sie zu sich selbst, …da vorn sind sie, was wird der sich freuen“, „japste“ sie vor sich hin. Nun denn, da stand sie aufgelöst vor ihrem Gutsherrn, der sah erst einmal hoch, er war zum Boden gebeugt, bemerkte nur die Erschütterung der Erde, als er dann seine gütige Emma in diesem aufgeregtem Zustand vor fand. „Um Gottes Willen, Emma geht es Dir nicht gut?“ fragte er besorgt. „Doch mein Herr“, antwortete Emma verwirrt, „doch sogar sehr gut“,…“ doch ich bin so schrecklich aufgeregt“, keuchte sie hervor. „Ich hab` eine Nachricht für sie, mein Herr!“….. „was schlimmes, du bist ja so durcheinander?“... „Ne, mein Herr, das Wundervollste, was sie sich vorstellen können, es ist ein Mädel, ja mein Herr, dieses mal ist es ein Mädel, ein gesundes strammes Mädel!“Die Arbeiter auf dem Felde hatten dies alles mitbekommen, sie liefen in Scharen zusammen. Adalbert kämpfte mit den Tränen, das hatte von seinen Arbeitern noch keiner gesehen. „Ich freu` mich so, das ist ein Gottes Geschenk“, jubelte er lauthals. Alle Arbeiter klatschten in die Hände. Sie unterbrachen ihr Tagwerk. Was es noch nie gegeben hatte, Adalbert ließ alles liegen und stehen, er klopfte Emma auf die Schultern, „wir müssen los, sofort, Emma,… beeile dich, meine Frauen erwarten mich,“ … Adalbert hatte seine Arbeit noch nie liegen gelassen, in seiner Pflicht und Ehre als Herr eines großen Gutes wollte er immer ein großes Vorbild sein. Dies war ihm stets gelungen. So rannten die beiden zum Hause zurück. Emma mit einem Schuh. Die Arbeiter widmeten sich weiter der Ernte. Dafür hatten sie Verständnis. Die Arbeit würde an diesem Tage auch ohne den stets fleißigen Herrn weitergehen. Als Adalbert im Hause war eilte er zum Bette seiner Frau. Dort legte man ihm das neugeborene Prachtstück in die Arme. Adalbert, dem Großen, liefen sturzbachartig die Tränen vom Gesicht. Als, er nach einer nimmer endenden Weile den kleinen Wonneproppen wieder in die Arme der wartenden Hebamme gab, sagte er zu seiner Frau: „Ich muss dringend weg“,… er bestellte eine Kutsche, die ihn in den Ort bringen sollte. Dort ging Adalbert zum ortsansässigen Juwelier und bestellte dort umgehend einen Ring. Einen silbernen Siegelring mit den Initialen seiner Tochter. Dieser Tag musste für ihn sehenswert in die Geschichte der Familie eingehen. So wuchs das „probbere“ Mädchen heran. Ava wurde sie unmittelbar nach der Geburt getauft. Sie wurde in ein wundervolles Leben eingeführt. Sie bekam sofort ein eigenes Korbzimmer. Als sie kaum laufen konnte und sich geradewegs, halbwegs artikulieren konnte, durfte sie sich schon alle Möbel nach ihren Wünschen aussuchen. Ein Kindermädchen wurde eigens für sie geordert. Damit stetig jemand da war, der ihr die persönlichen Wünsche von den Augen ablesen konnte. Am liebsten hätten es die Eltern gesehen, dass Ava zu einem Mädchen heran wuchs, das sich ausschließlich um die Belange eines Mädchens kümmern sollte. Puppe spielen, sich fein zurecht machen, die Haare immer hübsch frisiert. Doch Ava entwickelte sich zu einem etwas burschikoserem Typ. „Darf ich mit aufs Feld“, bat sie ihren Vater oftmals bettelnd, als sie gerade sprechen und laufen konnte. „Aber Kind,“ sagte der Vaddl, „die Arbeit auf dem Felde ist so schweißtreibend; wie könnte dies einem kleinen Mädel Freude bereiten, die harte Arbeit auf der Flur zu verrichten?“ Aber Ava ließ sich von diesem Wunsch nie abbringen. Sie hatte auch eine feste Freundin bekommen, Gerda, die mit ihrer Mutter täglich zum frische Milch holen kam, die Mütter hatten sich auch angefreundet, sie saßen dann beim täglichen Ritual in der Küche, bei einer frisch aufgegossenen Tasse Tee, während die Mädchen sich heimlich in den Stall zu den Pferden schlichen, um bei der Fütterung der Tiere beizuwohnen und vor allem mit zu helfen. Das war Avas Welt. Ihre Brüder, die ja schon einige Jahre älter waren als sie, gingen immer mit den Knechten zur rauschenden Oder, einem mächtigen Fluss, um die Tiere darin schwimmen zu lassen. Dieser Vorgang diente zur Bewegung der Tiere und zum Reinigen. Die Pferde hatten übergroße Freude an dieser Tätigkeit; doch es war von der Gefährlichkeit nicht ganz ohne. Die Tiere, wenn sie diese Wohltat einmal spürten, empfanden eine Art Wollust bei diesem Ritual. „Im wahrsten Sinne der Worte, mit denen geht der Gaul durch“, sagte Avas Bruder Wilhelm häufig, bei der Freude der Tiere. Sie wurden ziemlich haltlos und es erwies sich oftmals als ziemlich gefährlich, die Kalt- und Warmblüter an der langen Leine, an der sie geführt wurden, unter Kontrolle zu bekommen. Enorme Manneskraft war von Nöten, diese Wildheit zu kontrollieren. Aber genau das machte ja so viel Spaß daran, vor allem war es ja eine Herausforderung, vor allem für ein kleines Mädchen, diesem Wildsein zu begegnen. Ava bekam immer Schelte, wenn sie später von ihren Eltern hören musste, wie riskant dieses Baden wieder einmal gewesen war. Aber Ava hatte auch andere Wünsche. So blieb es nicht aus, dass sie sich nach einem ständigen Begleiter sehnte, der unter ihrer Regie heran wuchs. Ava wollte einen Hund haben. Sie bekam ihn auch. Sie bekam eben alles was sie sich wünschte. Einen schwarzen Kurzhaardackel. Mohrle wurde er getauft. Eine Familie aus dem Nachbarort hatte ihn als Welpe. Ava war sehr stolz, ihr Bruder Wilhelm ging heimlich los und besorgte für Mohrle ein wunderschönes Glitzerhalsband mit passender Leine. Ava strotzte vor Stolz. „Das hat außer mir niemand“, sagte sie zu Wilhelm und ging so oft sie konnte erhobenen Hauptes mit ihm spazieren. Eines Tages jedoch war Mohrle auf einmal verschwunden. Keiner wusste, wo er war. Einen Suchtrupp hatte der Vaddl organisiert. Doch weit und breit kein kleiner schwarzer Dackel zu finden. Mit ihrer Freundin Gerda zusammen saßen sie im Korbzimmer, Arm in Arm und weinten hemmungslos. Da kam ein Angestellter eines Abends vom Nachbarort nach Hause, er hatte Verwandte besucht, und sah am Straßenrand einen toten Dackel liegen. Er hatte sofort erkannt, es war Mohrle. Es wurde ein Tierarzt bestellt, der den Dackel abholte und in seiner Praxis untersuchte. Der hatte festgestellt, Mohrle hatte Rattengift gefressen. Er war wohl zu seiner Hundemama ausgebüchst und auf dem Weg dorthin hatte er von dem Rattengift gefressen. Ein schrecklicher Schmerz für Ava. Ihr erster Schmerz im Leben. Doch Ava hatte bald daraufhin einen neuen „Spielkameraden“ zu erwarten. Muddl trug wieder ein Kind unter ihrem Herzen. Obwohl sie es gar nicht wusste. Ihre Regelblutungen waren normal jeden Monat gekommen, wie als wenn nichts sei, doch Muddl fühlte sich immer elender. Sie war, trotz ihrer von Natur vorgesehenen, festeren Gestalt, eine blasse, sehr erschöpfte Frau geworden. Die viele Arbeit während der langen Jahre, ohne Pause? War es die innerste Angst, dass ein Krieg käme? Vaddl bemerkte ihren Zustand ebenfalls und erflehte, dass sie zum Arzt ginge. Nach langem Zögern willigte sie ein. Der Arzt untersuchte Muddl lange und als er die Vorsorge abgeschlossen hatte, lächelte er Muddl freundlich zu. „Tja, liebe Frau“, sagte er, beileibe könne er keine schlimme Krankheit finden, dass was ihren Zustand beeinträchtige, sei das Kind, das unter ihrem Herzen sich Platz geschaffen hatte. Muddl war sprachlos. Sie war schwanger, obwohl sie ihre Tage bekommen hatte. Da fiel ihr ein Stein vom Herzen. Der Arzt verordnete ihr aufbauende Präparate, damit sie wieder zu Kräften käme. Diese Mittel machten Muddl schnell wieder fit, jedoch gewann sie auch unmittelbar an Gewicht und das nicht nur weil sie schwanger war, sondern sie merkte, überall legte ihr Körper zu, die Beine quollen an. Ava freute sich sehr auf das Geschwisterchen. Endlich jemand, der kleiner war als sie. „Das behandle ich wie mein Püppchen“, sagte Ava zu ihrer Freundin Gerda. „Weißt du“, sagte Ava, endlich mal jemand der macht, was ich möchte!“ Gerda lachte laut auf und meinte: „Das tun doch alle anderen Menschen, jeder möchte dir die Wünsche von den Augen ablesen, ich kenne niemanden der nicht dazu bereit wäre, dir alles zu erfüllen!“ Dann lagen die beiden besten Freundinnen sich innig in den Armen und lachten. Der Bruder wurde geboren.... Später wusste man, dass schon neun Tage zuvor der Krieg ausgebrochen war. Der kleine Bub, der wiederum im Hause, bzw. im Schlafzimmer der Eltern, das Licht der Welt erblickte, kam mit einem Karacho zur Welt. Mit anderen Worten, just als der kleine Bruder das Licht der Welt betrat, krachte im Hauruck die Gardinenstange von der Wand. Die Stores fielen zu Boden. Halleluja! Willkommen auf Erden. Nach einer Schreckensfassung, als die Ansässigen, sprich die Hebamme und eine Hausangestellte, die der Hebamme zur Hand ging, die Gardinen zur Seite über einen Sessel warfen, konnte erst der Neuankömmling begrüßt und umsorgt werden. Er wurde gewaschen und gemessen. Dann durften alle ins Schlafzimmer und den Neuankömmling begutachten. Dieser wurde in ein Steckkissen gestopft und in die Wiege gelegt, wie die anderen Geschwister vor ihm auch. Die Muddl hatte in Auftrag gegeben, dass für jedes ihrer Kinder zur Feier des Ereignisses eine Tafel Schokolade in die Wiege gelegt werden sollte. Das war eine Freude. Das Geschwisterchen war schnell ein Riesenkind geworden und mächtig schwer. Ein fester, gigantischer Geselle, namens Joachim. Ava kümmerte sich rührend um ihn. Sie ging ihrer Mutter hilfreich zur Hand und sie wusste bereits da, „ich will auch Kinder haben, das ist ja toll, so einen kleinen Menschen zu umsorgen“, vertraute sie sich ihrer Mutter an, während sie eng gekuschelt bei ihrer Mama am Bettrand saß. Es sollte auch so geschehen. Als ihr Brüderchen größer wurde und schon laufen konnte, da führte sie ihn immer heimlich in ihr Zimmer, packte ihn mit aller Kraft zusammen und legte ihn in ihr Puppenbettchen zum Schlafen. Joachim blieb auch liegen; er schlief sogar ein und Ava setzte sich zufrieden neben ihn auf einen Kinderstuhl und beobachtete ihn dabei. Sie holte sich ein Strickzeug dazu; Handarbeiten war eines ihrer Lieblingsbeschäftigungen geworden. Darin war sie dann später in der Schule auch Klassenbeste. Nichts und niemand konnte sie in diesem Moment glücklicher machen, als solche Augenblicke.Ava hatte sich das Handarbeiten schon früh von den Angestellten im Hause abgekuckt. Ihre Eltern hatten ja auch mehrere Näherinnen eigens nur für ihr Gut angeheuert. Davon eine Näherin fürs Feine. Tischdekorationen und die vornehmen Kleider der Muddl, sowie Festtagsbekleidung für Ava fertigte diese an und nicht zu vergessen, die Maßanzüge des Vaddls und die der Brüder für edle Gesellschaften. Das war deren Aufgabe. Die anderen beiden Näherinnen waren ausschließlich damit beschäftigt, Säcke zu nähen, die Kleidung der Angestellten anzufertigen, sowie die täglich anfallenden Flickarbeiten für die gesamte Wäsche in Ordnung zu bringen. Man würde sagen: „Sie waren alle vollauf beschäftigt.“Als Joachim dann einmal nicht schlafend im Puppenbettchen lag, gab er Ava pausenlos das Zeichen: „Ich sehne mich nach Liebe! Kannst du mich küssen? Knuddeln? Bringst du mir etwas zu spielen? Bringst du mir etwas zu trinken?“ und das bestätigte Ava immerfort, „Kinder, ja, Kinder“, das ist Meins, das ist etwas für mich. Das gibt mir das große Glück und es bestätigte ihr Vorhaben nochmals für spätere Eigene. Das Gefühl „gebraucht“ zu werden. Das war es. Schon bei ihrem kleinen Joachim dachte sie somit heimlich: „Das ist mein Kind“. Er fand das nur toll. Sie war ja für ihn die Große, Wissende, Kümmernde. Ava konnte Joachim ja auch ihre geheimsten Wünsche anvertrauen. „Ich will auch, wenn ich groß bin, einmal Gutssekretärin werden! Dann kann ich das Ganze einmal verwalten, was in einem so großen Betrieb vor sich geht, ich habe den Überblick des Unternehmens, nichts passiert ohne mein Wissen!“ schmunzelte sie ihrem Joachim zu. „Ich bin dann eine richtig wichtige Person, nicht nur für „Vaddl“ und „Muddl“, sondern vielleicht sogar für andere Höfe auch, juhu!“ sang sie vor sich hin und war sich ihrer Sache völlig sicher. Ava lernte sehr schnell die umfassenden Aufgabenbereiche eines so komplexem Ansehens kennen. Sie wuchs ja sozusagen hinein. Dies war ja nicht nur die Verwaltung der Angestellten, sondern dem eigenen Unternehmen war auch noch ein Fuhrunternehmen angeschlossen. Hier gab es Arbeiter, die mit den Kutschen Kohle und Sand transportierten. Auch Eisschollen wurden für die Kühlschränke der Brauereien und Gastronomie ausgefahren. „Merk` dir das, sagte Ava voller Stolz zu ihrem kleinen Joachim. „Das Bier dürfen wir nicht vergessen“, argumentierte Ava vor sich hin, nein, eher zu Joachim, sie war ja die schlaue Lehrerin, die das alles weitergeben konnte. „Wir fahren auch das Bier, für die Gasthöfe, die Menschen brauchen uns, die haben ja Durst und wenn es unsere Eltern nicht gäbe, wer würde dann verantworten, dass die Postsäcke aufs Land gebracht würden?“ Zusätzlich bestellt unser Vaddl noch die Äcker, die im Eigentum der Stadt sind! Wenn man so angesehen ist, dann übernimmt man auch gerne die Aufgaben Hochzeiten zu fahren, oder Taufen, Konfirmationen und Kommunionen. Unsere Eltern lassen die Kutschen, je nach Anlass fein heraus schmücken. Auch für die Trauerfeierlichkeiten des Ortes übernimmt unsere Familie die Verantwortung, das Geleit passend zu kreieren.“Einer der tollsten Sachen, lieber kleiner Joachim, darfst du nicht vergessen, im Winter wird die Jagd auf unseren Feldern abgehalten, das ist eine Ehre. Für unsere Pferde ist das eine riesige Freude, die wollen sich in der kalten Jahreszeit auch viel bewegen.“So wurde der Familien jüngste allmählich in die Geschäfte und die Wichtigkeit seiner großen Herkunft eingewiesen.„Ist unsere Kindheit nicht wunderbar und bedingungslos schön“, fragte Ava oft ihre vier Brüder, als es wieder einmal darum ging, ob zum Spazierfahren im Sommer der Jagdwagen eingespannt werden sollte, oder doch lieber der Planwagen fürs Regenwetter, weil sich einige Wolken am Himmel auf taten und die Entscheidung, ob zu oder offen zu fahren, einer der größten Entscheidungen in so einem gesegneten Kinderleben, waren. Sowie im Winter, ob nun ihre Kinderrodel an das Schlittengespann der Pferde gehängt werden sollten, oder eben doch nicht. Schließlich gab es ab und zu abschüssige Feldwege, um dort voller Freude die Abhänge herunter rasen zu können. Wenn keine Ausflüge, dann konnte Ava immer nachfragen, ob ihre Klavierlehrerin nicht bereit wäre, ihr Stunden zu geben. Damit sie bei gesellschaftlichen Anlässen, wie Geburtstage, Weihnachten, oder Ostern, der Familie etwas vorspielen konnte. Selbst das Helfen am Hof war für die Kinder der reinste Traum. Es war ja ihres und für alle immer eine Ehre am Gemeinsamen teilzuhaben. Ob es das Ernteeinbringen war, beispielsweise der Zuckerrüben, oder anderer Getreidesorten. Oder ob das Getreide gedroschen werden musste, alle waren dabei. Es war ja auch immer etwas anderes. Jeden Tag eine andere Überraschung des Lebens. Sogar Sirup wurde am Hause eingekocht, das war speziell etwas für Ava, „ich kann dann besonders viel naschen“, scherzte sie zu ihrer Freundin Gerda, die wenn sie im Hause war, einfach immer mit half. Das ganze Jahr ein bunter Reigen an Vielfalt. Einer der lustigsten Arbeiten war das Federn schleißen. „Da sieht`s aus wie bei Frau Holle“, lachte Ava und steckte sich Federn hinter die Ohren. Sollte es wirklich einmal geben, dass nicht so viele Hände benötigt wurden, dann klemmte sich Ava eine ihrer Handarbeiten unter dem Arm, am liebsten Stricken, und machte es sich wieder in ihrem hübschen Korbzimmer bequem. Und einer der tollsten Sachen, wo die Kinder das ganze Jahr darauf warteten, war, die Muddl fuhr jedes Jahr mit ihren Kindern und den Angestellten, die sie einlud, zur Belohnung mit mehreren Pferdegespannen in die Großstadt Breslau, um den Zirkus zu besuchen. So hätte alles wunderbar weiter gehen können…………

Der traurige Wandel

Nie hätte einer der Familienangehörigen daran gedacht, dass sich an ihrer Lebenssituation je etwas ändern würde. Doch abends wenn alle zusammen saßen, in der großen „Kuchl“, die Familie und die Angestellten, durfte jeder etwas sagen, dass er für wichtig hielt und da wurde dann darüber gesprochen. Je nachdem, ob es ein Problem bei jemandem persönlich gab, oder frohe Botschaften zu tage gebracht wurden, alles wurde erhört und wenn es jemand wollte, dann durften die anderen ihr Beiwerk dazu bringen, einen Lösungsvorschlag für die Situation vorzuschlagen. Immer häufiger jedoch war es nicht ein einziges Problem, das eine einzelne Person erzählte und belastete, nein, es war eine Lage ausgebrochen, die alle betraf.„Die Russen sind im Anmarsch“, hörte man immer öfter; es war ein bedrohliches Gespräch in der Runde. Am Anfang, selten, dann immer regelmäßiger und von mehreren Personen, beobachtet, sowie von Verwandten weiter getragen.„Das macht Angst“, sagte Adalbert, als Herrscher und Regierender über sein Völkchen. Nie hätte man von ihm je so eine Aussage gehört. Doch der Einbruch und Vormarsch der Russen bedeutete Krieg. Krieg unter dem Regime von Hitler. Krieg heißt Tote und Verlust von Existenz, das wusste jeder. Das ging an niemandem einfach nur vorbei. So traf es jeden einzelnen bis aufs Mark, als zum ersten Mal ein Fliegeralarm einberufen wurde und alle Menschen in den Keller mussten. Morgens gegen 9.30h war der Fliegeralarm angesetzt. Schon einige Zeit vorher musste ein Kellerraum dafür vorgesehen werden. Das Radio hatte darüber berichtet. Diese Vorgänge gingen ganz schnell. Da Breslau die Großstadt in der Nähe war, 25 km entfernt vom Heimatort und der Flughafen noch näher, es waren nur 16 km, war die Wahrscheinlichkeit erheblich erhöht, baldmöglichst hautnah mit dem Krieg konfrontiert zu sein. Und so war es dann auch. Es ging ganz schnell und hatte zur Folge, dass es mittlerweile so war, dass die Tiefflieger bei Tage oftmals über die Köpfe der Menschen, der Kinder hinweg flogen. „Ich habe Gefühle in mir, die ich nicht beschreiben kann, es sind Krämpfe, die machen alles kaputt in mir“, sagte Ava zu ihrer Freundin Gerda. Nein, nicht sagte, Ava schrie es Gerda zu, während die Mädchen zusammen um ihr Leben rannten, um den nächsten Luftschutzbunker zu erreichen. Was war geschehen?... der Krieg war ausgebrochen und alles was sie je hatten stand in Frage. Sie hatten Angst vor der Ausweisung. Angst, dass ihr wundervolles Leben ein Ende finden könnte. So war es dann auch. Der Luftschutzkeller musste täglich gegen 9.30h benutzt werden. Es traf auch die Kinder in der Schule, die dort einen eigenen Bunkerraum hatten. Dann wiederholte sich der Fliegeralarm bis zu dreimal in der Nacht. Die Kinder wurden mit Gasmasken ausgebildet. Sie bekamen regelrecht Angst vor schönem Wetter, denn wenn die Sicht hervorragend war, war auch gleichzeitig die Wahrscheinlichkeit gegeben, dass die Flugzeuge kamen. Flugzeuge bedeuteten Angst und Angriff. Ava blieb, seither die Angst zurück, die Angst vorm Fliegen und der damit verbundene Schock, von oben, ja da oben könnte schlimmste Gefahr lauern. Sie hatte über ein halbes Jahrhundert benötigt, um endlich darüber reden zu können geschweige denn, dass sie jemals ein Flugzeug betrat. Nie hatte später Victoria, ihre Tochter, verstanden, warum sie Flugzeuge in jeglicher Form ablehnte. Nein, Ablehnung reichte in diesem Falle wohl nicht aus, sie verabscheute Flieger, egal ob groß oder klein, sie flog nie. Keine Einladung, die sie bekam, wurde angenommen. Ob es nun später ihr eigener Mann war, der ihr einen Rundflug schenkte, oder einer ihrer früheren Arbeitgeber ihr eine Flugreise zukommen lassen wollte, ihre Antwort war immer „nein“. „Bitte“, flehte Victoria sie oftmals an, warum bist du so negativ eingestellt, wenn es ums Fliegen geht? … Ava musste erst 75 Jahre alt werden und das sicherlich noch mit einem Berg innerer Qualen, bis sie endlich ihrer Tochter einmal zugestand: “Der fast unaufhörliche Fliegeralarm, hat mich in Angst und Schrecken versetzt, dass ich bis zum heutigen Tage keine Freude verspüre, egal welcher Art, wenn es um ein Flugzeug geht!“Der Krieg setzte sich in den Gliedern der Menschen fest. Ava war gerade mal elf Jahre alt, als der Krieg ihr Leben „grundwegs“ veränderte. Ihre zwei großen Brüder wurden in den Krieg einberufen. Ihre geliebten Brüder mussten Kriegsdienst leisten. Nur, ihr kleiner Bruder Joachim, gerade mal fünf Jahre alt, durfte bei der Familie bleiben und Wilhelm, der kränkelte sehr und war noch sehr jung, dreizehn Jahre alt, der durfte auch bleiben. Die Russen standen vor den Toren der Stadt. Jetzt galt, entweder sie belagern die Familie und das Anwesen, oder die Familie musste, wie die anderen Familien auch, fliehen. Fliehen aus dem eigenen Gut. „Was bedeutet das?“ fragte Ava sich selbst und ihre Familie. Verschwinden aus dem eigenen Leben, gehen aus deinem Dasein, ohne das du je etwas verbrochen hättest, ohne Schuld, nur Fliehen, weil Krieg ausgebrochen war.“ Wie soll ich das jemals verstehen“, fragte Ava ihre übrig gebliebene Familie? „Was wird aus meinen geliebten Brüdern? Werde ich die jemals wiedersehen? Wie kann ich jemals wieder glücklich werden? Werde ich diesen scheußlichen Krieg überleben? Und wenn ja, was passiert mir dann alles? Sterbe ich vielleicht am seelischen Schmerz? Verliere ich meine Eltern auch noch?“Das war eine sehr wichtige Frage. Der Adalbert sollte, genau wie seine großen Söhne in den Krieg einberufen werden. Diese Frage duldete keinen Aufschub. Die Muddl hatte schreckliche Angst um ihren Vaddl. Allein schon die Sorge, dass sie die drei nie wieder sehen könnte, zerriss ihr förmlich das Herz. „Vaddl geht nicht“, beschloss Muddl, die schon immer eine ungeheuerlich starke Frau gewesen war und jetzt mit Vehemenz diesem Wunsch Nachdruck verlieh. Zuerst versteckten sie Adalbert. Überall, wo es nur ging. Er konnte nicht mehr auf die Straße. „Aber wer geht schon freiwillig auf die Straße, wenn der Krieg vor der Haustüre steht?“Die Tatsache war unabdingbar. Die Flucht musste geschehen und zwar bald. Alle Angestellten gingen selbst. Ein Treck wurde bei Nacht und Nebel hergerichtet, ein Minimum zum Mitnehmen. Nur das was man auf dem Leibe trug, ein paar wenige Lebensmittel und Teppiche und Betten, da es bitterkalter Winter war. Die Schneeflocken rieselten vom Himmel, aber die Flucht bot keinen Aufschub. So wurde Vaddl in Teppiche gewickelt auf den Treck gelegt und das Leben hinter sich gelassen. Keiner konnte sich später so genau erinnern, was wirklich in den Herzen der Menschen in diesem Moment geschehen war, es passierte wie im Schock. Greta übernahm sozusagen das Zepter. Ihr Sohn Wilhelm, Ava, der kleine Joachim waren offiziell zusammen und der eben versteckte Vaddl. Alle hatten riesige Angst, dass er entdeckt werden konnte, dann war er verloren. Adalbert war damit Fahnenflüchter. Darauf stand Todesstrafe. Hätte Greta ihren Gatten freigegeben, dann wäre Adalbert ganz sicher ein Opfer des Krieges geworden. Das wussten alle. Adalbert hatte den 1. Weltkrieg körperlich unbeschadet überlebt. Adalbert hatte schon unter Bismarck gedient. Wer hätte dieses Mal schon mit Bestimmtheit sagen können, dass ihm nichts passiert. Es war schon das Gut und alles was dazu gehörte, samt Ansehen, erst Mal komplett verloren. „Die Angst und die Ausnahmesituation lässt uns alle über die Verhältnisse hinauswachsen. Ich tue Dinge, die ich noch nie getan habe“, sagte Greta zu Ava oftmals. Sie wollte Ava und den Brüdern zeigen, dass sie dem Stand der Dinge trotz hält. Ihre oftmals zitternden Hände vor Kälte, vor Hunger und vor der Ungewissheit, versuchte sie zu verstecken. Sie versuchte es. Sie war jetzt der alleinige Kapitän. Alle Ruder des Überlebens hatte sie an sich gerissen. Vaddl harrte in seinem Versteck nur aus. Immer in Gedanken, dass dieses Desaster irgendwann endete. Er hatte schon soviel erlebt. Er hatte eine schöne Kindheit, er hatte ein so herrliches Leben, … bis dieser Krieg kam. Er war selbst als dritter Sohn eines Bauern geboren. Daher sein Wissen über die landwirtschaftliche Kunst. Von klein auf gelernt und geliebt. Sein ältester Bruder Heinrich wurde Postinspektor. Daher kam auch seine spätere innere Verantwortung, in seinem eigenen Schaffen, sich der Postverteilung anzunehmen. Sein zweitältester Bruder Arthur hatte das Gut vom Vater übernommen. Auch seine Schwester Maria und seine Schwester Frida wurden Bäuerinnen. Adalbert hätte sich nie etwas anderes vorstellen können, als an Haus und Hof diese Dienste zu übernehmen. Das war er und das strahlte er von ganzem Herzen bedingungslos aus. Dieses Majestätische, Große in sich. Ständig verbunden mit der Natur und dem Wachstum, das aus seinen Händen geschaffen wurde. Die Verbindung zu Wind und Wetter. Kein Regen, kein Hagel, kein Blitz und Donner, noch große Hitze oder Sturm hätten ihm trotzen können. Das war Natur. Diesem allem fühlte Adalbert sich über alle Maßen verbunden. Dem Sein. Täglich die Witterung auf der Haut spüren zu dürfen. Das Wetter je nach Jahreszeit anzunehmen. Sich eins zu fühlen mit dem was der liebe Gott für einen vorgesehen hatte. Er haderte nie; weder mit den Wetterprognosen, noch mit dem Schicksal. „Ich kann es sowieso nicht ändern“, lächelte er besonnen und zog sich eben eine Jacke mehr oder weniger an, je nach Lage. In seinem Gesicht konnte man sein ganzes Leben fühlen, es war rein in sich. Im Sommer von der Sonne gezeichnet, gebräunt, ohne Sonnenschutzcreme, im Winter blass, jedoch unempfindlich gegenüber dem dicksten Schnee. Adalbert sah immer aus, als wenn sich das Wetter nach ihm ein Leben lang gerichtet hätte, weil er es annahm. Nie trotzte er dem von Gott gegebenen Weg. Nicht mal jetzt wo er versteckt unter den Teppichen nach Luft raffte in seiner fast aussichtslosen Position. Adalbert nahm das Leben als lebensbejahend an. Woran andere sich die Köpfe zerbarsten und jammerten, dies konnte Adalbert nie verstehen. “Mein Gott, das Wetter ist schon so lange so schlecht, ich finde es fürchterlich!“ sagten viele seiner Kumpels aus guten Zeiten, das konnte Adalbert nie verstehen. „Was soll ich denn daran ändern, an einer von Gott gegebenen Sache? Und vor allem warum sollte ich das ändern wollen?“ Sein Instinkt war fast animalisch, ein wunderbarer Zustand. Kleine Kinder und Tiere zeigten ihm stetig diesen Jetzt - Zustand und damit versuchte Adalbert in jeder seiner Situationen klar zu kommen. Wie ein Lebenspaket. Rundumversorgung des Annahmezustandes. „Was nutzt jammern? Es verbreitet schlechte Laune, sonst gar nichts“, sagte er und er hatte damit Recht. Nur so konnte er dem Schicksal eine überlebende Form schenken. Eben jetzt nicht mehr der reiche angesehene Gutsherr zu sein, sondern er war durch höhere Kräfte in eine schier aussichtslose Gefahr geraten. Bedingungsloses Annehmen des Lebens. Später, sehr viel später, als er schon kurz vor seinem 90. Geburtstag stand, da hatte Adalbert sogar sein Austreten aus dieser Welt als bejahend angenommen. Er bereitete sogar sein Ableben vor. Nicht voller Angst, oder Sorge, sondern aus bestehendem Zustand, dass wir alle einmal gehen müssen und deshalb hatte er in einer Neutralität und Vorsorge seine Beerdigung aufgeschrieben, wie die auszusehen hatte. Das war überhaupt nicht traurig, ganz im Gegenteil vollkommen realistisch und einfach für alle die da zurück geblieben waren. Er hatte sogar den Sargträgern zu Lebzeiten Trinkgeld gegeben, damit sie ihre Sache ordentlich machten und alles seinen von ihm gewünschten Rahmen erhielt. Alle Rechnungen, die seine Beerdigung betrafen, hatte er im voraus bezahlt. Er bestimmte die Lokalität seines Leichenschmauses und machte dazu trockene Witze. „Du trägst meinen Sarg“, sagte er zu einem der kräftigsten Totengräbern. „Dein Kumpel nicht, der hat zu schwache Arme. Ich hab' keine Lust, von Euch durchgeschüttelt zu werden.“ Und zog seinen Flachmann aus der fein genähten Weste und stieß mit den Totengräbern auf eine glückliche Zukunft an. Herrlich. Er hatte einfach diesen positiven verbundenen Zustand mit dem Sein. Auch als er später wirklich kurz vor seinem Tode war, er spürte es, als es soweit war, erzählte er seiner Lieblingsenkelin Victoria, dass es bald soweit wäre und das sie nicht traurig sein sollte, sondern es als normal und gegeben ansehen sollte, schließlich hätte er ein wunderbares Leben gelebt, seine geliebte Frau war damals ja nicht mehr da, seine Kinder weiß Gott groß, seine Kumpels nicht mehr belastbar. „Mit euch kann man nicht einmal mehr richtig Schnaps trinken“, „schalkte“ er zu seiner Enkelin, „ansonsten gäbe es auch keine tollen Mädels mehr, in die man sich verlieben könnte, er hätte alles gesehen, was er hätte sehen wollen, alles erlebt, was er erlebt haben wollte, keinen guten Sex mehr, also, liebes Kind, ich gehe und du brauchst nicht zu weinen, es ist alles gut so, ich werde immer bei dir bleiben in Gedanken.“ So hatte Victoria später nie sein Sterben beweint. Manchmal dachte Adalbert an die Zeit zurück, als er frierend im Treck versteckt war, wie früher im Winter auf seinem Gut die Schweine geschlachtet wurden und jedes mal ein großes Fest deshalb veranstaltet wurde. Viele Leute kamen da und es wurde gelacht, getrunken und gegessen bis die Sonne aufging. Aber er dachte nicht daran, weil er es bejammert hätte, nein. Zum einen hatte er enorm viel Zeit, als er so versteckt lag und sich nicht rühren durfte. Es konnte ja immer ein Trupp mit russischen Soldaten nach ihm fahnden und so malte er sich Geschichten in Gedanken aus und an ein geschlachtetes Schwein zu denken, war in dieser absurden Situation weiß Gott nicht das Schlechteste. Vor allem noch, es machte in Gedanken satt. Das brutzelnde Ferkel auf dem Spieß zu sehen, wie es sich langsam unter der Glut des Feuers räkelte und Runde um Runde knuspriger wurde, ließ ihm das Wasser im Munde zusammenlaufen. Er roch es förmlich. Er sah den Schweiß des Schlachters an seiner Stirn, als er langsam und bedächtig am Rad des aufgespickten Schweines drehte. Er spürte die Hitze des ausgehenden Feuers dort und sah die langen Hälse der erwartungsfreudigen Kinder, die den Schlachter permanent piesackten, wann das gute Stück denn endlich fertig wäre. „Wann gibt es denn die Würste?“ fragte der Stallknecht den Fleischer. Denn dieser war dafür der wichtigste Mann. Er trug ja die Verantwortung über die guten Stückchen. Nicht nur lecker Schwein auf Spieß und knackige Würste, auch in Büchsen wurde Schweinefleisch haltbar gemacht. Dies war alles das Resort des Fleischers. Dies alles stellte sich Adalbert immer wieder vor und er freute sich. Man glaubte es kaum. Oftmals schweiften seine Gedanken auch zurück an den 1. Weltkrieg. Er war dort Feldwebel gewesen. Und er hatte das Eiserne Kreuz 2. Klasse erhalten. Voller Stolz. Die blinkende Uniform seiner dienenden Zeit bei der Garde in Potsdam und Berlin leuchtete in seinen Gedanken hell. Was war ich doch für ein schmucker, fescher Mann gewesen. Jung, aufblühend voller Träume und Visionen. Vor allem die Zeit in Berlin hatte er später seiner Lieblingsenkelin voller Vertrauen und Glück vererbt. Nun sein Vater war während des 1. Weltkrieges gefallen. Aber was hatte das mit ihm zu tun? Warum sollte er jetzt, als der 2. Weltkrieg ausgebrochen war, von Sorge getragen sein? Keine Warumfragen. Brächte nichts. Sorge half ihm nicht aus den Teppichen des Versteckes. Zuversicht, Vertrauen und Mut waren angesagt und das wollte er sich und seiner Familie beweisen. Nicht nur beweisen, das war er. Ein mutiger, vertrauenserweckender Mann voller Stolz und Selbstbewusstsein. Das sollte auch so bleiben, egal was geschah. Er wusste, dass sein Stadtgut nach seiner Flucht in russische Hände geraten war. Kurz vor diesem Ereignis hatten sich ja schon fremde Menschen in seinem Haus angesiedelt. Wie in jedem anderen Hause auch. Avas Zimmer wurde vom Veterinär in Anspruch genommen und sogar die Ställe mussten geteilt werden. Zwei davon wurden als Lazarett umgestaltet, bzw. notdürftig dafür eingerichtet. Sogar Avas Schule war als Lazarett umgebaut worden. Ganz allmählich und doch ganz schnell waren ja in der Stadt Gefangene von den Russen gehalten worden. Nicht offiziell, sondern unter vor gehaltener Hand. Auch Avas Schulzeit, die mit fünf Jahren begonnen hatte, ganz harmonisch und in liebevoller Eintracht mit dem Glauben und Vorsatz an eine schöne ruhige Zukunft, hatte sich im Vorfeld, ganz langsam zu einer unruhigen, nicht geradlinigen Einrichtung entwickelt. Mit anderen Worten: Ava wusste nach einiger Zeit, eben als der Krieg schon ausgebrochen war, morgens einfach nicht mehr, in welchen Räumlichkeiten überhaupt Unterricht stattfand. War ihr Klassenzimmer jetzt auch ein Lazarett, oder war heute einmal Schule darin? Wenn die Schulstunden im Klassenraum nicht eingenommen werden konnten, dann wichen die Lehrer oftmals ins Gemeindehaus aus, das an der Kirche lag, oder sie gingen ins Gymnasium, wenn es nicht auch sporadisch als „Krankenversorgeunterkunft“ umgestaltet worden war, oder in die hiesige Schlossschule, die den selben Zwecken diente. Mit all diesen Hindernissen, einschließlich den Ausbildungen an den Gasmasken, war eben der gesunde Alltag Schritt für Schritt einem Angstszenarium gewichen worden, so dass jedem, vom Kleinkind, bis hin zum Greise klar wurde, dass das herkömmliche Leben sich verabschiedet hatte und nur noch Flucht ein Ausweg war, ohne Heimat, ohne Ziel, ohne Gewissheit des Überlebens. Keiner wusste, wie es weiter gehen würde. Flucht – doch Flucht wohin? Doch wer wüsste schon, wie es im Leben weiter gehen würde? Was blieb, war die Hoffnung. Hoffnung, dass dies alles nur ein schlechter Traum war. Irgendwann, bald, vorbei. Die Gegenwart zählte. Die Gegenwart des Überlebens und die Gegenwart der Hoffnung. Die Hoffnung, dass die zwei Söhne, die in den Krieg einberufen wurden, wieder zurück kommen würden. Dass sie in den Leiden des Krieges von Gott gesegnet waren, überlebten, satt zu essen hätten, keine Verwundungen davontragen würden und bald in die Arme der Familie zurückkehren könnten. Wo immer es sein würde, wann immer es sein würde. „Ich fühle es“, sagte Greta zu ihrer kleinen Ava, nahm sie fest ihre starken Arme und drückte sie an ihre Mutterbrust. „Ich fühle, dass die beiden zurück kommen, ich fühle, dass sie unbeschadet aus dem Krieg heimkommen, ich weiß, dass wir alle wieder vereint sein werden.“ Dabei lief ihr eine dicke Träne über ihr raues Gesicht, vom grimmigen Winter und der mangelnden Pflege, gezeichnet. Doch wo zogen sie in ihrem Treck überhaupt hin? Was war ihr Ziel? Sie hatten sich einfach nur den anderen, die alle auch flüchteten, angeschlossen. Das war ein Riesen-Treck. Er war kilometerlang. Das Vorne war nicht zu sehen, das Hinten auch nicht. Sie waren mittendrin. Sie flüchteten einfach nur vor den Russen. Von denen sie wussten, wenn sie ihnen begegneten, nur schlimme Dinge folgen würden. Doch so ganz waren sie von den Russen nicht befreit. Diese beobachteten natürlich das Weggehen der Einheimischen. Teils von der Ferne, teils von Nah. Es eilte immer zu unbestimmten Zeiten ein Kurier mit schnellem Pferd, an ihnen vorbei, um ja sicher zu stellen, dass sie alle verschwanden und sie vollständig von deren Land Besitz nehmen konnten. Immer in Reichweite. Wachposten mit geladenen Gewehren begleiteten den Trupp, jedes Fehlverhalten ihrerseits konnte tödlich enden. Permanent wurden alle Flüchtenden ermahnt, besser gesagt angeschrien, wenn sie nur geringfügig vom Wege abkamen. Immer wieder versuchte Ava mit ihrem kleiner Joachim an der Hand, während des Trecks betteln zu gehen, denn ihr Essen war rationalisiert. Besser gesagt, es gab nur trocken Brot. Nichts anderes als trockenes Brot. Als der Trupp, der fast ununterbrochen, Tag und Nacht vorangetrieben wurde, einmal in einer alten Schule eingesperrt wurde, in einer sehr alten Schule, deren Keller von Minen unterlegt war, wurde ihnen sofort gedroht: „Wenn du Fehler machst, spreng‘ ich dich in die Luft, du Schwein!“ Das war der Wortlaut und die Umgangsweise mit Menschen, die sich keiner Schuld bewusst waren. Die ständige unbarmherzige Angst vor den Russen.An manchen Tagen wurden sie zu Fuß bis zu 50 km getrieben. Irgendwann kamen sie an einem Auffanglager an. Eine ehemalige Flugzeughalle. Vaddl blieb weiterhin versteckt auf dem Wagen. Wie hätte man ihn auch befreien können. Muddl hatte ihm immer wieder ihr letztes rationalisiertes Brot zugeschoben. Klamm heimlich mit der Bitte: „So Gott lass ihn niemanden finden, lass dieses Schicksal so schnell wie möglich an uns unbeschadet vorbei gehen.“Die Wägen blieben vor diesem Auffanglager stehen. Reihum so lange das Auge sah. Sporadisch wurden natürlich die Trecks von den Russen mit langen Stangen angestochen. Sie wollten kontrollieren, ob sich darin etwas bewegte. Sie untersuchten auch die Wägen nach Wertgegenständen, die sie den Flüchtlingen klauten. Doch so recht anfassen wollten sie die Sachen der Flüchtlinge nicht. Für die Russen waren die Flüchtlinge der Abschaum. Der Ekel. Das war Vaddls Glück. Niemand fasste ihn an. Keine Stange traf ihn. Er traute sich kaum zu atmen. Immer wenn es Nacht war schlich sich einer der Familie zum Wagen und versorgte die Pferde mit Wasser. Das auch rationalisiert wurde. Bei der Gelegenheit, meistens waren sie zu zweit, meist Muddl und eines ihrer Kinder, versuchte einer ein Stück altes Brot unter die Teppiche zu schieben. Vaddls Überleben. Im Auffanglager wurden ca. 3000 Menschen ca. drei Wochen lang zusammen gepfercht. 3000 wildfremde Menschen mit nichts, ohne „Privatsphäre“. Manche Menschen verstarben dabei, vor den Augen aller, manche wurden geboren, auch vor den Augen aller. Für ihren Kleinsten, Joachim, hatte Muddl eine Decke organisiert, er war gerade fünf Jahre alt. Muddl und der Rest der Familie deckten sich mit alten Zeitungen zu. Sie lebten, nein sie vegetierten, ohne Toilette, ohne Waschen. Dies war kein Leben mehr. Sechszehn Menschen bekamen ein altes Brot für den ganzen Tag. Wenn man Glück hatte, wurde es eine Schnitte, die brockenweise heimlich noch für Vaddl reichen musste. Eine Wassersuppe mit ein paar Erbsen darin gab es ab und an. Jeder bekam einen kaputten Magen, Durchfall und Mangelerscheinungen. Kraftlosigkeit, Müdigkeit, Wundheit und einen aufgeblähtes Inneres vom Nichts. Dazu kamen noch die menschlichen Diskriminierungen, die Fußtritte und die seelischen dauerhaften Demütigungen, das Anschreien und die Angst, es würde nie mehr enden. Manchmal dem Tode näher dem Leben. Auch die älteren Brüder, Ferdinand und Peter, waren in Kriegsgefangenschaft oftmals dem Tode näher, als dem Leben, aber davon wussten die anderen „Gott sei Dank“ nichts. Schon in Zeiten der russischen Aufkeimung, als die sich ganz allmählich auf dem schlesischen Hoheitsgebiet breit gemacht hatten, wurden die beiden Brüder aus Altersgründen aus dem heimischen Hof weg entsandt und wurden ja unfreiwillig zur militärischen Ausbildung gezwungen. Als sie dann durch die Flucht in Kriegsgefangenschaft gerieten, keiner wusste wohin, wurden sie einfach mit dem Gewehr auf der Brust überfallen und abtransportiert. Niemand hatte mehr etwas von ihnen gehört. Später, viel später, erzählte Peter seiner Familie: „Hätte es kein Schweinefutter gegeben, wir hätten nicht überlebt.“ Sie hatten den Schweinen im Stall ihr Futter geklaut, sonst wären sie verhungert. Wilhelm, der noch zu jung war, um militärisch zu dienen, wich seiner Mutter auf der Flucht kaum von der Seite. Er war ein sehr sensibler Junge, ohne seine Familie hätte er nicht nur durch die äußerlich schlimmen Folgen kaum überlebt, nein, seine Seele verkraftete die Zustände nicht. Bald wurde er sehr krank. Er bekam eine Blinddarmreizung. Hätte er sie zu einem Zeitpunkt bekommen, als kein Krieg herrschte, hätte man diese Reizung durch einen operativen Eingriff, Medikamente und liebevolle Zuwendung schnell in den Griff bekommen, doch unter diesen katastrophalen Zuständen ging es Wilhelm bald sehr, sehr schlecht. Vaddl erzählte später, „ich glaube, er suchte etwas um diesem grauenhaften Martyrium zu entfliehen.“ Er wollte nicht mehr. Er wünschte sich den Tod als sehnende Erlösung. So geschah es auch. Wilhelm starb, viel zu früh, an dem seelischen Leid und den Folgen einer Blinddarmreizung.

Der gute Wandel

Nach schier endlosen Monaten des Flüchtens erreichte der gesamte Treck irgendwann ein Territorium, welches außerhalb der Grenze der russischen politischen Interessenlagen lag.Sie kamen in ein bayrisches Einzugsgebiet, die Oberpfalz. Dorthin löste sich der russische Begleitzug auf und die Menschen waren sozusagen wieder sich selbst überlassen. Verwahrlost, ohne Geld und Gut, ohne Ziel, ohne Arbeit, ohne Dach über dem Kopf. Ohne zu wissen, was sie mit sich anfangen sollten. Aber sie hatten sich selbst wieder. Da galt es in erster Hinsicht ihre Grundbedürfnisse zu decken. Vaddl, der das Desaster vollkommen versteckt überlebte und vor allem unbemerkt von allen; das glich einem Wunder. Er konnte nach Auflösung der russischen Kontrolle, wieder aus seinem Teppichlager frei entsteigen. Er selbst hatte es nach eigener Auffassung, dem bedingungslosen Glauben ans Gute zu verdanken, dass er jetzt hier stand und einfach nur lebte. Er wusste es mit einer inneren Bestimmtheit, dass dies der einzige Grund war. Er nahm seine Muddl fest in seine Arme und sagte: „Mein Schatz, jetzt fangen wir halt wieder von vorne an, was macht das schon.“ Alle weinten. Sie hatten ihre beiden jüngsten Kinder bei sich, Ava und Joachim. Was, wie erwähnt, mit den anderen beiden Söhnen war, wusste niemand. Die Sorge, die sie jetzt trug, wie kommen wir zu einer Unterkunft und wie bekommen wir Arbeit und Nahrung. Da sie ja nichts hatten, nur die Dinge auf ihrem Leib, konnten sie nicht für ihre Kinder sorgen. Welch grausames Gefühl in Eltern. Ava war mittlerweile dreizehn Jahre alt, kurz vor Vollendung ihres vierzehnten Geburtstages. Sie beschlossen zusammen, dass Ava in einen Haushalt gehen sollte, wo sie sich ihr Brot alleine verdienen konnte. Das konnte Ava am besten, sich in einem Haushalt nützlich machen. Vor allem wäre sie versorgt, hätte Essen und Trinken, ein Bett und Arbeit. Einen Beruf, ja gar fortführende Schulausbildung, hatte Ava ja nicht erlernen können, sie war ja noch ein Schulkind gewesen. So geschah es nun. Sie gingen zusammen zu einer Bäckerei und boten ihr Kind für Dienste an. Die Bäckerei wählten sie bewusst, Bäckerei hieß immer Essen können. Sie hatten trotz allem Glück, die Bäckerei-Familie suchte eine Gehilfin. Sie boten Ava eine Dachkammer zum Schlafen und drei Mahlzeiten an. Sie gaben ihr Kind viel zu früh aus ihrer elterlichen Obhut. Voller Schmerzen taten sie es. Aber was hätten sie anderes tun können, um ihrer Tochter das Überleben zu ermöglichen?So wahr es war – sie konnten sich nicht um Ava kümmern. Ava sollte ja leben. Vaddl und Muddl hatten keine Bleibe und kein Geld. Sie hatten jetzt noch den kleinen Joachim, eben gerade mal fünf Jahre alt. Joachim war auch der Einzige gewesen, der während der Flucht von den Russen seine Decke behalten konnte. Joachim war ja noch ein Kleinkind. Die anderen mussten während ihrer Flucht, gerade im Auffanglager, sich ausschließlich mit alten Zeitungen begnügen. Sie wussten gar nicht mehr, wie sich eine Wolldecke anfühlte. Ava wurde da schon als „Erwachsene“ behandelt, trotz ihrer dreizehn Jahre. So auch nun. Sie musste arbeiten gehen, wie eine Erwachsene, obwohl sie weiß Gott ein Kind war. Noch nicht einmal in der Pubertät. Sie hatte gar keine Ahnung davon, im Prinzip, soviel Selbstverantwortung zu übernehmen. Doch durch den Einbruch des Krieges und die Flucht aus der Heimat war sie eine Überlebenskämpferin geworden. Vom reichen, wohlbehüteten, „allzeitversorgtem“, prädestiniertem Kind, in ein bettelarmes Flüchtlingswesen, welches nicht nur die Wandelung zum Erwachsenen hätte leben sollen, sondern auch sie musste wie unter Schock die Unbarmherzigkeit des Lebens erspüren durch den Krieg. So landete sie nun bei dieser Bäckerei, wo es zu essen gab, Arbeit und ein Bett für sie. Aber keine elterliche Fürsorge, keine Warmherzigkeit, oder Geborgenheit. Ava hatte diesen Zustand nie verarbeitet. Erst im hohen Alter, als sie über siebzig Jahre alt gewesen war, begann sie ja davon zu erzählen und gab gleichzeitig zu, dass ihr durch diese schrecklichen Erlebnisse nicht nur die Jugend abhanden kam, sondern auch später jegliches Verständnis bei ihrem eigenen Kind hierfür. Ava blieb diesbezüglich lebenslänglich eine Glucke. Doch ganz spät, erst durch das Erzählen dieser Erfahrungen konnte ihre eigenes Kind, als dieses schon erwachsen war, dieses „Nicht-loslassen-Verhalten“ von Ava nachvollziehen. Vaddl und Muddl wanderten nach Abgabe ihres Kindes umher und suchten sich Bauern, bei denen sie am Hofe arbeiten konnten. Das hatten sie gelernt. Sie waren Landwirte. Mit Joachim an der Hand auf der Suche nach einem Schlafplatz, wohl im Heu, hätte ihnen schon gereicht und schwere Arbeit, die sie in Kauf nahmen, nur um einen Unterschlupfplatz zu finden; von einer neuen Heimat war da gar keine Rede. Auch sie fanden bei einem Bauern eine Bleibe. Nicht im Heu, sondern ein karges Zimmer neben dem Stall, wo sie mit Joachim notdürftig leben konnten. Dafür mussten beide aber den ganzen Tag hart am Felde arbeiten, von morgens früh, sehr früh 4.30h im Stall, bis es abends dunkel wurde. Für das kleine Zimmer mit einem alten Bett für alle drei, einem alten Tisch, ohne Strom. Dafür bekamen sie auch zu essen, kein drei Gänge Menü, doch zumindest Kartoffel, Brot und ab und an eine Suppe. Ava durfte dort nur ab und zu auf Besuch kommen, aber schlafen konnte sie bei ihren Eltern nicht – es gab einfach kein Platz für sie. Vaddl nahm seine Ava, also sie am Sonntagnachmittag, ihre einzige arbeitsfreie Zeit, wo sie Ausgang bekam, fest in den Arm und sagte zu ihr: „Ava, mein Kind, ich glaube bedingungslos daran, dass wir alle wieder sehr glücklich werden. Doch glücklich bin ich jetzt schon, wenn ich Dich in meine Arme schließen darf und wir alle überlebt haben.“ Ava weinte. Trotzdem konnte sie wieder, wenn auch schweren Herzens, zu ihrer Arbeitsstelle zurückkehren und wurde in Gedanken von Mut bestärkt. Ava hatte von dieser Zeit in ihrem Leben lebenslängliche Süchte zurückbehalten. Zum einen Teil, wie erwähnt, das nicht loslassen können ihrer späteren Familie, sowie das fast krampfhafte Hinterherrennen nach Essen. Ava bot zeitlebens jedem immer und überall Essen an. Dabei ging es nicht um Hunger, oder um Spezialitäten, sondern immer nur ums permanente Essen schlechthin. Ihr eigenes Kind hatte es später nie verstanden, warum ihre Mutter ihr fast pausenlos Nahrungsmittel zukommen lassen wollte. Selbst als Victoria später sagte, sie sei satt, überhörte Ava dies grundsätzlich. Sie häufte ihrem Kind nochmals einen Schöpfer drauf. Da gab es sehr viel Streit in der Familie diesbezüglich. Auch war Ava später im Besitz zweier Kühlschränke und einer riesigen Tiefkühltruhe, die zeitlebens drohte, an Überfüllung zu platzen, denn sie war immer voll. Zu jeder Jahreszeit. Erst als Ava, wie erwähnt, in die Jahre gekommen war, rückte sie mit dieser Wahrheit der Kriegserlebnisse heraus und ihr eigenes Kind konnte somit im Erwachsenenalter zumindest ihre Verhaltensformen verstehen. Auch hatte Ava, als sie von der Bäckerfamilie aufgenommen wurde, vom gleichen Zeitpunkt an, Heißhunger auf die vielen Köstlichkeiten, die durch das gesamte Haus zogen. Überall war dieser intensive Geruch von Backwaren. Nach dieser enthaltsamen Zeit, der Entbehrungen sämtlicher Genüsse, nur des Überlebens gedacht, überkamen Ava dauerhafte Gelüste, diese Köstlichkeiten zu probieren. Und sie tat es auch. Alle Anschnitte, alle Reste drum herum, alle Krümel in den Backschüsseln, fielen Ava zum Opfer. Mit einer Begierde überkam sie dieser Appetit. Die Bäckerleute ließen Ava gewähren. Sie hatten von ihr erfahren, welches Schicksal sie und ihre Eltern im Kriege erlangt hatten und vor allem, sie sahen es Ava an, welches Leid ihr widerfahren war. Ava war ausgemergelt, blass, unterernährt, mit Mangelerscheinungen. Da war es für die Bäckerleute eher eine Wohltat, Ava bei diesen Heißhungerattacken zu beobachten. Jedoch gebot es ab und zu der Einhalt; Avas Magen war an solches Essen nicht mehr gewohnt, nur all zu oft musste sie sich übergeben. Diese Mengen und diese Art von Lebensmitteln waren ihr leider fremd geworden. Ava, das dreizehnjährige Mädchen, war sehr tapfer. Sie arbeitete sich schnell in ihre neue Umgebung ein. Die Bäckerfamilie war sehr nett zu ihr. Sie musste zwar früh aufstehen, gegen 3.00h, sehr beschwerlich für ein junges Mädchen, keine Schule mehr, kein Elternhaus mehr, aber sie packte fest zu und versuchte, ihren Alltag zu meistern. „Ich schaffe das schon, sagte sie sich immer wieder selbst“, wenn sie den Tränen nahe stand, weil der Lebensabriss, den sie durchlitt, ein schlimmer war. Sie war kaum ein Woche dort beschäftigt, war gerade dabei, ihre Kemenate zu betreten, weil sie todmüde in den Schlaf sinken wollte, da rief sie die Bäckerfrau eiligst mit aufgeregter Stimme wieder in den Bäckerladen zurück. Die Stimme klang sehr energisch, geradezu beängstigend mit Nachdruck, so dass Ava auf dem Absatz kehrt machte und eiligst die Treppe hinunter rannte. Was sie da zu sehen bekam – war unglaublich für sie. Ein verwahrloster junger Mann stand inmitten des Bäckerladens – es war ihr Bruder Peter. Sie erkannte ihn nicht sofort, er war knochendünn, mit Lumpen am Leib, konnte vor Kraftlosigkeit kaum stehen. Ava fiel fast in Ohnmacht, als sie ihn sah. Peter war vom Krieg zurück gekehrt. Er hatte sie gefunden. Gott hatte ihm den Weg gezeigt, wo sie war. Peter hatte nämlich keine Ahnung, wo seine Familie abgeblieben war. Er war geflohen, ins Nichts, als der Krieg zu Ende war. Er irrte von einer Stadt in die Nächste. Zu Fuß und nichts zu essen. Hatte keine Ahnung, wo sich irgendwer seiner Familie befand, oder ob überhaupt noch jemand lebte. Einfach immer nur weiter laufen und laufen und laufen. Als er eben zufällig in dieses Städtchen kam und auf der Straße Jemanden um ein altes Brot anbettelte. Dieser Jemand, ein alter Mann, sagte, er hätte nichts für ihn zu essen, aber dort vorne sei eine Bäckerei, dort könnte er ja mal nach Brot fragen, dort gäbe es eher welches. Es geschah. Peter ging zur Bäckerei. Im Laden bettelte er um ein Stück altes Brot. Die Bäckereisfrau ging hinter den Ladentisch und suchte nach Brot vom Vortag. Währenddessen befragte sie den schäbig aussehenden Mann, wer er sei und wonach er suche. Peter gab bereitwillig Auskunft. Erzählte von seiner verlorenen Familie und unter anderem von seiner kleinen Schwester Ava. Der Bäckersfrau blieb fast das Herz stehen, als sie zu diesem Mann sagte: „Die Ava arbeitet bei uns!“ Peter konnte sich nicht mehr rühren, vor Glück. Inzwischen war Ava die Treppe herunter gesprungen gekommen und stand nun vor ihm. Sie zerquetschten sich fast vor Freude. Die Bäckersfrau hatte auch Tränen in den Augen. Die Bedingungslosigkeit des Glücks. Dank sei Gott. Alle weinten. Ava, Peter, die Bäckerleute und alle Menschen, die gerade in den Bäckerladen eintraten, um etwas zu kaufen. Als sich alle Beteiligten wieder etwas gefangen hatten, reichte die Bäckersfrau dem Ausgemergelten, Wiedergefundenen sein Brot. Er bekam eine dicke Stulle. Niemand sprach groß etwas. Ava zog ihren Bruder mit die Stufen in ihre Kemenate hinauf und reichte ihm Seife und ein Handtuch. Damit nach und nach das Würdige wieder in sein Leben eintreten konnte. Mein Gott war sie froh, dass er noch lebte. Ava half ihm bei der Körperpflege und der Bäcker klopfte an die Kemenatentüre, weil er Peter ein frisches Hemd reichen wollte, welches er aus seinem Schrank geholt hatte, in weiser Voraussicht und in Anbetracht der Tatsache, weil er dermaßen zerlumpt aussah. Er reichte ihm ein Hemd aus dem er sowieso entwachsen war. Der Bäcker war ein festerer Mann, schon aus Hinsicht seines Berufes wegen – die guten Sachen galt es einfach ständig zu probieren, die er schließlich im Laden anbot, somit wuchs sein Bauch halt auch so mit. Also konnte er ein gute Tat anbringen, dem ausgenörgelten Peter eines dieser Hemden zu überreichen. Und die Bäckersfrau suchte währenddessen weiterhin im Kleiderschrank ihres Mannes nach einer ausrangierten Hose ihres Mannes, denn auch da musste sich etwas finden lassen, denn ihr Gatte war auch untenrum dicker geworden. So lag vor Avas Stube dann auch die neue Hose für Peter. Der konnte sein Glück kaum fassen. Niemand sagte den Eltern bis dahin etwas davon, dass Peter von Gott geleitet, wieder zur Familie fand. Ava wollte abends mit ihm frisch gerichtet zu den Eltern gehen und diese mit der frohen Botschaft überraschen. Jedoch langsam, denn es konnte sein, dass die Eltern vor lauter Freude dieses Glück nicht überstünden. Sie befürchtete einen Herzschlag, gerade bei ihrer Mutter und wollte die Eltern langsam und vorsichtig an ihr Glück herantragen. So geschah es dann auch. Peter wurde, so gut es eben ging in dieser kurzen Zeit, „restauriert“. Mit neuem Hemd, neuer Hose, gewaschen, den Bauch gefüllt und einem klopfendem Herzen. Die Zeichen der Zeit, die Zeichen des Krieges konnte man natürlich mit diesen Kleinigkeiten nicht kaschieren. Das ausgemergelte Gesicht, die Angst und die Zeichen des Krieges darin, der erschöpfte Körper, der nur noch aus Haut und Knochen bestand, das alles konnte in diesen wenigen Stunden natürlich nicht ausgelöscht werden. Aber es war das wichtigste überhaupt – Peter lebte und hatte zu seiner Familie zurückgefunden, wie durch ein Wunder. Ava und Peter waren sehr aufgeregt. Nach dem Erneuerungsprozess des Bruders machten die beiden sich auf den Weg zu den Eltern. Ihr beider Herz klopfte bis an den Hals. Sie nahmen sich an die Hand, wie Hänsel und Gretel und wanderten zielstrebig zum Hause, wo die Eltern untergebracht waren. Je näher sie kamen, desto aufgeregter wurden beide. Wie erwähnt, sie hatten ja keine Ahnung, wie die Eltern auf diese wundervolle Nachricht reagierten. Auch großes Glück wollte verarbeitet werden. An der Unterkunft der Eltern angekommen, so hatten die beiden vereinbart, sollte Peter erst einmal draußen bleiben. Ava wollte alleine eintreten, um die Eltern langsam an die Botschaft zu gewöhnen. Ein Gespräch mit ihnen zu führen, dass den Ausgang des Wiedergefundenen zur Folge hatte. Ava klopfte und trat bei den Eltern ein. Sie waren überrascht, dass Ava einfach so frei bekam und unter der Woche abends bei ihnen erschien. Schließlich war sie ja sonst bis zum späten Abend in Arbeit und danach ging Ava immer erschöpft sogleich zu Bett. Der kurze Schlaf war die einzige Freiheit, die ihr blieb. So staunten sie nicht schlecht, als Ava da unangemeldet, völlig überraschend an ihrer Behausung sich bemerkbar machte. Die Eltern spürten sofort, an Avas Nervosität, dass irgendetwas geschehen war. Ihr spontanes Auftauchen zu außergewöhnlicher Zeit hatte etwas zu bedeuten. Auch wenn Ava erst einmal ihr Erscheinen als normalen Besuch anbot. Ava versuchte, von ihrer Arbeit zu erzählen. Ihre Stimme jedoch flackerte, ihre Atmung war schnell. Der Vaddl hatte das Wort übernommen und sagte sehr eindeutig zu Ava: „So, meine Liebe, ich freue mich sehr, dass du uns einfach so besuchen kommst, während deiner Arbeitszeit, aber den einfachen Besuch schlechthin nehm' ich dir nicht ab! Ich bin dein Vater, ich spüre doch an deiner aufgeregten Stimmung, dass irgendetwas passiert war!“Da begann Ava haltlos zu weinen und sagte es einfach so heraus: „Peter steht draußen vor der Türe und wartet um Einlass.“Ein großer Moment des Schweigens entstand.Vaddl war der Erste, der sich wieder fing. „Worauf warten wir?“ schrie er auf und rannte zeitgleich zur Türe, um der frohen Botschaft entgegen zu eilen. Da stand er nun. Der verlorene Sohn. Hinter einer Tanne hatte sich Peter verschanzt und blickte verängstigt zur Eingangstüre und dem flackernden Kerzenlicht, dass er hinter dem kleinen Fenster erkannt hatte, wo sich die Umrisse seiner Eltern und seiner Schwester abzeichneten. Er beobachtete die Situation und erkannte, dass sich einer von Ihnen entfernt hatte und weg sprang, es war sein geliebter Vater, der soeben die Türe öffnete und mit offenen Armen und Tränen im Gesicht dem Verlorenen entgegeneilte. Peter kam hinter seiner Tanne hervor, die ihm Schutz gebar. Er hatte es kaum geglaubt, nach all dem Zurückliegenden, den vielen Strapazen und der fast nimmer endenden Angst, seine Eltern jemals wieder in die Arme schließen zu dürfen. Aber es sollte geschehen. Erst zaghaft, dann mit stürmischem Entgegenkommen, liefen die beiden aufeinander zu. Peter rannte in die Arme seines Vaters. Die beiden klafften aufeinander. Eine schier nicht mehr endende Umklammerung, sie hielten sich aneinander fest, während die Tränen des Glücks gegenseitig in sturzbachähnlichem Rinnsal herunterliefen. Die Muddl rannte hinterher. Sie kettete sich an die Klammernden dazu und auch Ava, die der Mutter eiligst nach gelaufen war, dockte sich an die drei Verschmelzenden an, einschließlich Joachim, der sich an die Beine seiner Mutter heftete. Welch ein existierendes Glück – ein Glück, das dem bedingungslosem Glauben an Gott zu verdanken war.Ava stützte ihre Mutter. Ihre Mutter die während der Kriegszeit so eisern stark gewesen war. Diejenige, die Herrschaft über alles übernommen hatte, die jedoch seit den Kriegswehen etwas in Mitleidenschaft geraten war. Erst nicht wirklich sichtbar. Jedoch Ava fiel auf, bei den Kleinigkeiten des Alltags, z.B. wenn sie des Sonntags auf Besuch gekommen war und die Muddl ihr eine Tasse Tee zu trinken brachte, dass die sonst so feste Hand der Mutter immer mehr zitterte. Ihr Griff war nicht mehr so stabil, so selbstsicher und resolut, wie er einst gewesen war. Aller Wahrscheinlichkeit nach war die Verantwortung über die Kriegswirren hinweg, einfach zu viel für sie gewesen. Und jetzt wo ganz allmählich, ganz langsam, etwas Normalität einkehrte und die Alltagsüberlebensangst ein wenig von ihr gewichen war, da stellte Ava fest, dass der Krieg hinterbliebenen Schaden an ihr genommen hatte. Nie mehr hätte sie der Mutter einen Vorwurf gemacht, nach einer weiteren Schwester, die sie sich so sehr gewünscht hatte. Ava liebte ihre Brüder von ganzem Herzen. Jedoch eine Schwester, mit der sie alles teilen konnte, das war ihr Lebenswunsch gewesen. Ava war ihr ganzes Leben nahe daran es ihrer Mutter mitzuteilen, dass sie sich so sehr eine Schwester wünschte, doch als sie jetzt so ihr Muddl sah, da wusste sie, dass sie mit ihrem Schweigen ihrer Mama gegenüber Recht behalten hatte. Das hätte sie nicht mehr geschafft, ein weiteres Kind. Die Freude mussten die drei erst einmal verkraften. Sie hielten sich noch lange in den Armen. Ganz spät in der Nacht brachte Peter seine kleine Schwester Ava nach Hause. Peter lief zurück zu den Eltern und konnte vorübergehend bei Ihnen auf dem Fußboden übernachten. Das war jedoch keine Dauerlösung. Aber zumindest war er der Familie nahe und dem Gefühl der Hoffnung nach einer vielversprechenderen Zukunft. In den nächsten Tagen lief er mit seinem Vaddl los, um nach einer Bleibe und einer Arbeit Ausschau zu halten. Der Bauer, bei dem die Eltern Unterschlupf gefunden hatten, hatte sich auch über den verlorenen Sohn gefreut und hatte Vaddl und Peter eine Empfehlung mit auf den Weg gegeben, bei einem befreundeten Bauern um Asyl zu bitten, von dem er wusste, dass eine Hand zum Helfen von Nöten war. So geschah es denn auch. Der befreundete Bauer gebot Kost und Bettstatt frei für zwei junge Hände, die bereit waren, voller Optimismus mit anzupacken. Ein weiterer Schritt in eine hoffnungsvolle Zukunft war getan. Peter gewann schnell wieder an Kraft. Ava ging weiterhin ihrer Tätigkeit im Bäckerhaus nach. Einen Tages bekam Ava wieder Besuch in ihrer Arbeitsstelle. Dieses Mal jedoch war es vorher bekannt, wer kam. Ihr ältester Bruder hatte nach Kriegsschluss erfahren, wo sich die Eltern und die Geschwister aufhielten. Ferdinand, der auch überlebt hatte, was bis zu diesem Zeitpunkt jedoch niemand wusste, war ebenfalls auf der Suche nach seiner Familie. Im Gegenzug zu seinem Bruder Peter hatte der herausgefunden, wo sie verblieben waren. Ferdinand war zum Familiengut zurückgekehrt und hatte dort seine alte Tante Gretl getroffen. Sie war als Einzige dort zurückgeblieben, weil ein polnischer Polizist sich in sie verliebt hatte. Dieser war stationiert, das russisch eroberte Gebiet zu beaufsichtigen. Er hatte die wesentlich ältere Gretl angetroffen, die sich versteckt hatte und da sie sich schon sehr alt fühlte, fühlte sie sich sicher. Sicherer als all die anderen Frauen, die allesamt ansonsten als Vergewaltigte den Russen zum Opfer fielen. Der Polizist war schon recht bald zum Familiengut versetzt worden, da waren die anderen noch da. Die heimliche Liebschaft zwischen den ungleich Alten, immerhin war Gretl sechzig Jahre alt und der Polizist wohl nur die Hälfte, hatte Gretl bestätigt und beschützt, dort zu bleiben. Der Polizist wurde der offizielle Lebensgefährte und war allzeit für Gretl da. Er heiratete sie. Somit war Gretl so gut es eben ging, den Gefahren der Russen entkommen und sie war geblieben. Als Ferdinand nun nach Kriegsschluss am Heimathof angekommen war, fand er Gretl und ihren Mann vor. Diese hatte mittlerweile mit dem Rest der Familie Briefkontakt aufgenommen und sie konnte Ferdinand erzählen, wo sie alle waren. Nach ein paar Tagen Begrüßungsaufenthalt, den er auch dazu nutzte, der Familie einen Brief vorauseilen zu lassen, machte sich Ferdinand auf den Weg zu den Wartenden. Wie gerne hätte er gesehen, dass die Familie am Hofe geblieben wäre, oder zumindest zurück gekommen wäre. Jedoch konnte er gut verstehen, dass es nicht so war. Denn von dem alten Glanz, Reichtum und Herrschaft war nichts mehr übrig geblieben. Ausgeplündert, zerstört, zertrampelt, niedergerissen war alles Gut. Da konnte auch die arme Gretl und ihr Polizist nichts dagegen halten. Sie hatten eine kleine Bleibe im Dorfe, die sich der Polizist mit seinem Lohne erhalten konnte. Wer hätte denn das ganze Besitztum wieder zu Glanze führen können? Alle waren ja fort. Keine Magd, kein Knecht, keine Schneiderin,.. es waren keine Menschen von früher mehr da, die das Ganze hätten wiederherstellen können. Es sah aus wie ein zerbombtes Dorf. Diesen Anblick wollte auch Ferdinand nicht länger ertragen. Er wollte auch seiner Familie nichts von alldem erstmal erzählen. Es galt nunmehr die Familie wieder in die Arme schließen zu dürfen. Und das geschah wieder im Bäckerladen. Ava wusste den Tag an dem Ferdinand eintreffen würde. Dieses Mal hatte sie sich versucht emotional darauf einzustellen. „Aber wie soll ich mich auf meinen Bruder einstellen?“ fragte Ava ihre Bäckersfrau, die Ava mittlerweile sehr lieb gewonnen hatte und ihr den Einstieg in ihr Berufsleben, so einfach wie möglich gemacht hatte, sie war ihr eine zweite Mutter geworden und das war für Ava ein nicht unbedeutende Lebenssituation. „Freu' Dich einfach!“ sagte sie zu ihr und Ava nahm es wörtlich. Als Ferdinand dann am gleichen Tage im Bäckerladen stand, war sie den ganzen Tag über schon ganz „hummelig“ gewesen, Ava zischte wie ein Insekt von Fenster zu Fenster, wann ihr heiß ersehnter Bruder endlich eintreffen würde. Als dann am späten Nachmittag des Tages ein ebenfalls zerlumpter junger Mann die Ladentüre öffnete, rannte Ava wortlos auf ihn zu. Sie zerquetschten sich fast vor Freude. Ein weiterer Schritt zum bedingungslosen Glück war getan. Die Bäckerleute standen im Hintergrund und weinten wieder. Mittlerweile waren sie dieses Ritual schon gewohnt. Doch Ava und Ferdinand hielten sich nicht lange auf. Die Bäckerleute hatten Ava frei gegeben und dieses Mal eilten sie ohne Umkleiden und frisch machen sogleich zu den Eltern. Die durch den Briefwechsel ja schon unruhig auf ihren Heimkehrer warteten. Überraschender Weise stand Peter dort auch bei den Eltern. Auch sein Gutsherr hatte ihm bezüglich seines Bruders frei gegeben. Das war ein Wiedersehen. Nicht zu vergessen, der kleine Joachim, der schweigend wieder an Mutters Rockzipfel hing. Er war bei den Wiedersehensfreuden seiner beiden großen Brüder natürlich nicht zu kurz gekommen. All die Wochen hatte er wenig gesprochen – er hatte Jahre später seiner Familie anvertraut, dass er immer gewusst hatte, dass alle irgendwie wieder zusammen kommen. So sei es denn. Bedingungsloses Hoffen. Auch Ferdinand wurde nach einer Zeit der Regeneration bei den Eltern, wo er unter dem Tisch schlief, auf Vorsprechen bei dem Herrn seines Bruders in Lohn und Brot genommen. Dort hatte ein Knecht zur gleichen Zeit den Hof verlassen, der geheiratet hatte und auf dem Gut seiner Braut arbeiten konnte. Somit war ein Platz frei geworden und es war fast alles wieder gut. Glaube versetzt Berge. In der Hoffnung lebend, dass die Beschimpfungen durch die Russen, oder überhaupt Beschimpfungen aus dem Leben für alle verbannt sein würden. Doch immer wieder hatte Ava Alpträume in ihrem Leben, bis in hohe Alter hin; immer wiederkehrend die Gleichen. „Ihr deutschen Schweine“, oder ähnliche Varianten, ließen sie mitten in der Nacht hoch schrecken. Schweißgebadet saß sie dann im Bett. Sie brauchte dann jedes mal ziemlich lange, bis sie sich wieder gefangen hatte und ihr klar war, dieser Alptraum war für immer vorbei, wo sie mit Joachim an der Hand als kleines Mädchen fremde Menschen auf der Straße ansprechen musste, um etwas zu essen zu bekommen. Das war alles Bestandteil des Kriegsverlaufes und nicht mehr real. Für den Moment. Dem Bauern, der Peter und Ferdinand untergebracht hatte, starb überraschend die Frau weg. Das war nicht nur ein menschlicher, seelischer Verlust für diesen Bauern, sondern eine sehr wichtige Arbeitskraft im Hause viel weg. Ein Schock für den Bauern. Da er Vaddl und Muddl einen großen Gefallen tat, indem er ihre beiden Söhne aufnahm, kam dem Bauern diesbezüglich spontan der Einfall, Muddl sollte beim ihm in Lohn und Brot gehen. Der Bauer suchte den Gutsherrn von Vaddl und Muddl auf, ohne vorher mit den beiden gesprochen zu haben und machte sein Vorhaben vorab perfekt. Seiner Meinung nach, da waren sich die beiden Bauern einig, konnte eine Frau als Arbeitskraft eher entbehrt werden, da in dem Haushalt schon eine Bauersfrau vorhanden war. An den seelischen Aspekt von Vaddl und Muddl und die menschliche Trennung eines liebenden Ehepaares, welches durch einen Krieg durch dick und dünn gehen musste, wurde dabei nicht gedacht. Die Würde der Menschen blieb unberücksichtigt. Nach diesem Handel kam der Bauer nur kurz zu den Eltern und stellte sie vor vollendete Tatsachen. Der einzige Trost war, die Muddl war in der Nähe der Söhne, auch wenn diese unwürdige Behandlung die Familie erneut bis ins Mark traf. Sie hatten sich geschworen, dass das eine letzte unmenschliche Endwürdigung in ihrem Leben war. Doch die Rechnung wurde ohne den Wirt gemacht. Was die beiden Bauern da so rüpelhaft untereinander per Handschlag bestimmten, war wohl nicht die beste Lösung, wie sie beide feststellten. Denn Muddl fehlte hinten und vorne. Nicht nur Vaddl, sondern vor allem als Arbeitskraft. Da hatte sich der Bauer weitaus überschätzt. Die Landwirtschaft verlangte doch nach dieser helfenden Hand. Sonst hätte der Bauer wohl zu Beginn Vaddl und Muddl nicht gemeinsam aufgenommen. Da gab es große Wannen mit Wasser fürs Vieh, die geschleppt werden mussten, Säcke getragen, das Vieh versorgt. Der Bauer merkte seinen eigenen Kuhhandel schnell und forderte sogleich von Vaddl ein, er solle Ava bringen, die sollte die Arbeit von Muddl übernehmen. Vaddl war erst von einer inneren Schadenfreude überwältigt, als er die Fehlentscheidung des Bauern mitbekam, doch als er hörte, dass seine Ava jetzt schleppen sollte, das gefiel ihm so gar nicht recht. Ava war ja noch ein kleines Mädl, das sollte jetzt schleppen? Doch Vaddl wusste, dass er dagegen nichts auszurichten hatte. Er fügte sich in sein Schicksal. Der Bauer sprach mit dem Bäcker. Ava musste vor Arbeitsbeginn in der Backstube auf den Hof zum Bauern und nachdem sie das Vieh abends versorgt hatte, musste sie zurück zum Bäcker, Backstube putzen. Ava war restlos überfordert als Mädl. Nicht nur durch die Menge der Arbeiten, die sie als Kind zu verrichten hatte, sondern auch die Schwere ihrer Tätigkeit war zu viel. Solche körperliche Arbeiten, wie Wannen schleppen waren für so ein Wesen nicht bestimmt. Doch Ava musste sich fügen. Ava bekam als lebenslängliche Erinnerung an diese Schlepparbeiten eine immense Wirbelsäulenverkrümmung, in der Form eines „S“, die jeden Arzt später erschauern ließ. Zudem war gesagt, das kärgliche Essen von Kartoffelsuppe und ausschließlich trocken Brot beim Bauern, nagte zusätzlich an ihren Kräften. Doch all diese Strapazen hatten auch ihr Gutes. Mittlerweile waren die Amerikaner im Lande, um der Bevölkerung zur Seite zu stehen. Sie boten Schutz, Kleidung, Nahrung und sämtliche Hilfsmaßnahmen an. So manch einer steckte Ava und ihrer Familie, sowie alle anderen Menschen auch, mal ein paar Schuhe zu, oder etwas zum Anziehen. Die Amerikaner verhielten sich sehr diskret und trotzdem aufmerksam. „Hey girl“, sprachen sie Ava vorsichtig an, als sie von den Eltern abends zu den Bäckerleuten ging. „Your shoes are not suitable to your pretty face!“ sagte ein Amerikaner höflich zu Ava. “Tomorrow I will look for a new one” und so geschah es dann auch. Am nächsten Tag fuhren die Amerikaner wieder Patrouille und trafen Ava wieder auf dem gleichen Wege an. Ohne wenn und aber und ohne Bedingungen reichte der freundliche Amerikaner Ava die Schuhe, er hatte grob abgeschätzt welche Größe sie trug und er hatte Recht behalten. Ava nahm lächelnd das Paar entgegen und siehe da, sie passten. Ava trug sie sofort. Die abgewetzten Paar nahm der aufmerksame Amerikaner gleich mit und versprach ihr, sie für sie zu entsorgen. Das waren reiche Geschenke. Ansonsten hatte Muddl immer eine ebenso reiche Idee, für sich und die Familie Ausstattungen zu treffen. Ob es ebenfalls neue Schuhe waren, oder eine Tasche die benötigt wurde, Muddl war grundsätzlich mit neuen Einfällen gerüstet. Daran waren auch die Amerikaner beteiligt. Unter anderem verteilten sie Zeltplanen an die verschiedensten Haushalte. Aus diesen Planen nähte Muddl den anderen Schuhe daraus, Rucksäcke und für spätere Zeitpunkte Schulranzen. Die Sohlen für die Schuhe hatte Muddl aus zerschlissenen Fahrradmänteln angefertigt. „Aus der Not, eine Tugend machen“, frohlockte Vaddl bei solchen Herstellungsmaßnahmen zu sagen und hatte dabei ein warmherziges Grinsen auf den ausgegerbten Lippen. Ava übernachtete jetzt des öfteren bei Ihren Eltern. Nicht dass es ihr im Bäckerhaushalt nicht gefallen hätte, aber der Familienbann zog sie magisch an. Lieber schlief sie des Nächtens auf dem Fußboden unter dem wackeligen Tisch, als sich spät abends noch einmal nach Hause zu den Bäckerleuten zu begeben. Dort war ihre Schlafgelegenheit denn auch kein wohl warmes Nestchen, sondern anstatt weicher Matratze, gab es nur ein karges Holzbrett als Liegeunterlage. Das war für Avas Rücken, der durch das Schleppen schon vollständig überbelastet war, kein Honigschlecken. Da war es vollkommen wurscht, wenn sie „vollenst“ auf dem harten Fußboden schlafen musste, eine Heilquelle war daher eher die liebevolle Anmut der elterlichen Fürsorge. Ein Heimweg, der sich jedes mal über vier km zu Fuß vollzog, war für Ava an manchen Tagen auch körperlich nicht mehr tragbar.Ava gewöhnte sich so recht und schlecht an die Gewohnheiten im Bäckerhaushalt. Sie hätte gerne mehr vom Handwerk gelernt, aber sie hatte ja keinen Beruf und als Lehrling wollte der Bäckermeister sie nicht einstellen. Das einzige was Ava lernen durfte, war Eis herzustellen. Dazu durfte sie dann auch das hauseigene Fahrrad benutzen, um von den Bauern die Milch mit der Kanne abzuholen. Ava hatte mal als kleines Mädchen das Fahrrad das im Familienbesitz der Eltern stand, benutzt, mit Hilfe ihrer Brüder, die ihr versucht hatten, das Radeln beizubringen. Aber so richtig hatte das nicht funktioniert. Das Rad war zu groß, dazu ein Herrenrad und Ava trug nur Kleider oder Röcke. Das klappte nicht so richtig. Die Brüder machten sich auch sehr lustig über sie, denn es war ein Bild der Götter zu sehen, die kleine Ava, das große Rad, die bunten Kleider, die sich irgendwie im Felgengespann des Rades einzwängten. Alleine das Aufsteigen war unter normalen Umständen schwer möglich. Ein Hocker musste her. Also das Thema Fahrrad zählte bei Ava nicht zu den überschwänglichen Momenten. Immer wenn sie daran dachte, sah sie auch die frechen Brüder, die sich überaus einen Spaß daraus machten ihr beim Besteigen des kleinen Ungeheuers zu zusehen. Meist liefen die Brüder dann davon, hielten sich die Bäuche vor Lachen, als ihr klein Schwesterlein wieder einmal vor dem Zweigespann kapitulierte. So nun bekam sie das Bäckervehikel in die Hand gedrückt mit der Voraussetzung, dass Ava das Fahrzeug auch bedienen könnte. Sie erschrak erst einmal. Aber kneifen gab es nicht. Also ran an den Feind und „ruff“ auf’ s Rad. Auch ein Herrenrad. Lieber Gott! Die Kleidersorgen blieben die gleichen; jedoch war das Rad ein wenig niedriger, was daher kam, dass der Bäcker einfach ein kleinerer Mann von Gestalt war. „Na, zumindest etwas!“ sagte Ava laut vor sich hin, doch diesen Gegner gab es auch zu beherrschen. Zuerst schob sie das Rad, dann als sie außer Reichweite der Bäckerei war, probierte sie das Fahren noch und „nöcher“. „Ich mach‘ mich doch nicht zum Kasper, vor den Bäckerleuten,“ sagte Ava ebenfalls lautstark vor sich hin. „Ich schaff‘ das, mit dem Fahren.“ Und siehe da, eines Tages klappte das Treten auch schon ziemlich gut. Jedoch hatte Ava eines nicht so richtig gelernt, mit der leeren Milchkanne fahren, na, ja, das ging dann schon irgendwie, vor allem wenn zwei Kannen, eine rechts und eine links hingen, aber auf dem Heimweg vom Bauern, mit den vollen Kannen, das glich einem Albtraum. Vor allem mit einer, denn da gab es ja kaum Gleichgewicht. Und jedes mal wenn ein Auto, oder ein Fuhrwerk kamen, da sprang Ava freiwillig von ihrem wackeligen Zweirad; das überforderte dann doch ihre menschliche Zuversicht und das Vertrauen an ein Fahrzeug. Musste ja auch niemand mitbekommen, so lange sie im zeitlichen Rahmen wieder an der Bäckerei auftauchte und die Milch noch in den Kannen war, so lange war es ihr egal gewesen. Bis auf’s Milch holen, war das Eisherstellen eine freudige Abwechslung in Avas Leben. Zum einen, das ewige Naschen, zum anderen hatte es den Vorteil für sie, sie wusste jetzt wie Eis machen ginge. Die Zubereitung hatte sie sich in ein kleines Büchlein ganz im Stillen geschrieben. „Man weiß ja nie, wann man das einmal gebrauchen kann,“ sprach sie mit sich selbst und hatte dabei heimlich den Finger in der frisch angerührten Milchmasse. Ansonsten war das Bäckerleben trotz der entgegenkommenden Freundlichkeiten ein eher tristes Dasein. Ihre zukünftige Schwägerin, das wusste Ava bis zu diesem Zeitpunkt zwar noch nicht, dass sie das einmal werden sollte, arbeitete auch für die „Bäckerleut'“. Die war zwar eine nette Person, jedoch lenkte dies nicht von der Tatsache ab, dass Ava trotz der Doppelbelastung, mit der Landwirtschaftstätigkeit, täglich noch für neun Personen im Bäckerhaushalt zu kochen hatte. Und das sollte denn täglich etwas anderes sein, sollte nichts kosten, wunderbar schmecken und auf den Punkt gegart sein. Purer Druck. Doch was sollte sie machen? Iri, so hieß die zukünftige Schwägerin, war für ganz andere Dinge in der Bäckerei zuständig, eine Hilfe war sie für Ava nicht. Nur eine Zimmergenossin. Und die nahm Ava auch recht heftig unter die Lupe. Auch stellte Ava fest, dass das Familienfundament im Bäckerhaushalt ein wackeliges war. Der Meister schwellte nur allzu gerne die Brust, nicht nur weil er zusätzlich den Posten des ortsansässigen Bürgermeisters inne hatte, sondern vor allem wenn es darum ging, von seinen vielen weiblichen Eroberungen zu prahlen. „Ich hatte schon mindestens 70 Frauen und die hab‘ ich alle glücklich gemacht,“ protzte er nicht heimlich, sondern lautstark in der Backstube herum. Die Anwesenheit seiner Gattin sollte ihm dabei nicht im Wege stehen. So ergab es sich, dass die Bäckerleute sich restlos zerstritten. „Dass die, die Schnauze voll hat, das kann ich verstehen,“ sagte Ava abends zur Iri und dabei lief Ava ein kleiner, aber festsitzender Schauer den Rücken hinunter, denn dies bedeutete, dass ihr Arbeitsplatz gefährdet war. So war es dann auch. Nach einigen Monaten war Avas Arbeit im Bäckerhaushalt abrupt beendet. Meister und Meisterin trennten sich. Ava bekam auf Bitten hin, ein wunderbares Zeugnis, dass für sie einen guten neuen Lebensweg öffnen sollte. Doch was jetzt damit anfangen? Ein Zeugnis? War es das gewesen mit der Ausbildung? Ihr fielen die Worte ihres früheren Lehrers in der Schule wieder ein. Der da eindringlichst zu ihr sagte: „Liebe Ava, du bist so ein kluges Mädchen, ich möchte, dass du auf eine weiterführende Schule gehst und anschließend eine sehr gute Ausbildung machst.“ Was war daraus geworden? Diese Worte begleiteten Ava pausenlos. Sollte das alles gewesen sein, was sie mit ihrem Leben, bis dahin gemacht hatte? Hatte der Krieg so einen Besitz von ihrem Leben ergriffen, dass jegliches Weiterkommen von Grund auf zunichte gemacht wurde? Nein, nein und nochmals nein. Keine Warumfragen. „Das kann es nicht alleine gewesen sein. Ich mache weiter, egal was noch kommt, ich will irgendetwas erreichen, worauf ich stolz sein kann. Ich weiß zwar nicht wie, aber ich kämpfe weiter“, beschloss sie, als sie des abends wieder einmal ihr Schlaflager unter dem Küchentisch bei den Eltern für die Nachtruhe fertig machte. „Ich gehe wieder zur Schule. Irgendwie wird das schon klappen“, sagte sie sich zur Beruhigung und drehte sich auf dem kalten, harten Holzboden noch einmal um, bevor sie in tiefen Schlaf versank. Am nächsten Morgen wachte Ava trotz der unbequemen Einrichtung voller Hoffnungen auf. Sie marschierte schnurstracks zum Bauern, bei dem sie sowieso täglich das Morgen - und das Abendprogramm absolvierte, Melken helfen, Stall ausmisten, Milchkannen schleppen und was eben sonst immer so an Hilfsarbeiten anfiel. Doch an diesem Morgen lief sie ein wenig optimistischer, als sonst. Sie wollte den Bauern überzeugen, ob sie noch ein halbes Stündchen mehr schuften konnte, damit sie etwas mehr Geld verdienen konnte, um sich die Schule leisten zu können. Dass sie ihre Eltern erst gar nicht zu fragen bräuchte, das verstand sich von selbst. Vaddl und Muddl hätten beschämt verneinen müssen, weil sie einfach nichts übrig hatten, diese Demütigungen wollte sie den Eltern einfach nicht antun. Deshalb stellte sie sich auf die eigenen Hinterbeine und versuchte alleine ihr Glück. Der Bauer willigte nach Bitten Avas ein, dass sie mehr arbeiten konnte, schon wohl deshalb weil der Bauer sich verschätzt hatte, mit dem Ableben sein Frau. Da sah er erstmals was die alles geleistet hatte und so kam es ihm ganz recht, dass Ava von nun an bereit war, noch mehr zu schuften. Zwei mal am Tage. Ava freute sich sehr. Sie erledigte sogleich die erste Ration mehr Arbeit, wohl gemerkt, ab fünf Uhr morgens und dann machte sie sich eiligst wieder zu den Eltern, um den kleinen Joachim abzuholen, der von nun an auch in die Schule gehen sollte, mit ihr. Die Eltern freuten sich auch über Avas Plan, jedoch weniger der kleine Joachim. Der war, im Gegenzug zu seiner vollkommen überzeugten Schwester, geradezu abgeneigt, von einem Schulbesuch. Was sollte der schon bringen? Was sollte er in einer Schule? Joachim war fest davon überzeugt, alles was er zum Leben bräuchte, könnte er ausschließlich von seinen Eltern lernen, eine Schule war für ihn Zeitverschwendung. Woher sollten fremde Menschen, Lehrer wissen, was er vom Leben wollte? Ausgerechnet fremde Lehrer sollten ihn auf seinen richtigen Weg bringen? Für Joachim unvorstellbar. Die Eltern, die Avas Entscheidung wahrlich respektierten, hatten geradezu ihre Not, den Kleinsten davon zu überzeugen, dass der Schulgang ein wichtiger und vor allem notwendiger war. Mit anderen Worten, Ava musste Joachim allerhand Versprechungen machen, z.B. dass sie mit ihm spielen würde, dass sie, wenn sie mal von den Amerikanern ein Leckerli zugesteckt bekam, es ihm augenblicklich aus händigen musste. „Du bist ein harter Kandidat“, lächelte Ava ihren heiß geliebten Bruder an und zog ihn an der Hand Richtung Schule. Dort waren acht Klassen in einem Klassenraum untergebracht, dass bedeutete, die kleinsten Winzlinge waren mit heranreifenden Pubertierenden in einem Klassenzimmer zum Unterricht. Da war es schon nachvollziehbar, dass der kleine Joachim meuterte. Denn wie wollte ein Lehrer so eine zusammengeraufte Schar in die richtige Lehrbahn leiten? Joachim brachte es sogar soweit, dass er dem Lehrer ins Gesicht sagte: „Was du da machst, ist nichts gescheites! Ich will nicht mehr zu dir kommen, du kannst mir nichts beibringen!“ Der kleine Knopf bauschte sich auf wie ein wild gewordenes Pferd. „Und morgen, das sage, ich dir gleich, du Lehrer, komme ich nicht wieder, da kann meine Ava machen, was sie will!“ Ava errötete bei dem Ausbruch ihres Geschwisterchen, sie schämte sich gar fürchterlich für dessen Gebaren und entschuldigte sich sogleich beim Lehrer. Doch was gesagt war, war gesagt und der „Stöpkes“, der Dreikäsehoch, war selbstbewusst und stark zugleich bei seinem Feststellung. Ava zerrte ihn bei Seiten, schimpfte ihn gar fürchterlich, doch der wusste nicht, was er verbrochen haben sollte und machte, sich, obwohl die Schule noch nicht beendet war, alleine auf den Heimweg. Dieser ging dann recht zügig von statten. So absolvierte der Kleine täglich dieses Prozedere. Ava zerrte ihn tatsächlich jedes Mal, wenn es zur Schule ging wie einen bockigen Esel hinter sich her. Sie gab nicht auf. Jedoch war der Schulalltag aus den Gründen des Sammelsuriums kein effektiver. Für Ava, die zu den Ältesten gehörte, war denn wirklich nichts Großartiges mehr zu lernen da. Acht Klassen, in acht Altersstufen, in einem Raum, dass war kaum effizient. Das wurde Ava schnell klar. Ihr Traum vom Lernen zerplatzte wie eine Seifenblase. An eine fortführende Schule war nicht zu denken, dazu fehlte ihr der Schulabschluss und eine weiterführende Schule gab es außerdem in unmittelbarer Nähe nicht. Das war eine Tatsache und die war für Ava nicht nur schmerzlich, sondern real. Ihr Lebenstraum wurde hiermit erloschen und damit ihre persönliche Entwicklungsfreiheit. Damit blieben für sie nur noch die Wünsche nach einer Familie umsetzbar. Doch was wollte sie stattdessen tun? Wo waren ihre Zukunftsperspektiven geblieben? Ava fiel in ein schweres Loch. Das gefiel den Eltern gar nicht. Nicht nur weil der bockige, kleine Bruder nun alleine zur Schule gehen musste und das war keine Sicherheit, dass er dort ankam, sondern Ava hatte nur noch den Wunsch nach einer eigenen Familie offen. Also brachte sie den widerspenstigen Joachim täglich zur Schule und mittags holte sie ihn wieder ab. Sie tröstete sich, dass sie doch ein schönes Zeugnis vom Bäcker ausgestellt bekommen hatte, das war doch zumindest mal etwas. Sagten auch ihre Eltern und die versuchten die Initiative zu übernehmen, was Avas Zukunft betraf. Denn so destruktiv ging es nicht weiter. Muddl wusste von den alten Bekannten, die sich allmählich nach und nach wiedergefunden hatten, dass es einen Haushalt gäbe, zwar ca. 50 km von den Eltern entfernt, jedoch suchten diese ein Mädchen, dass sich um den Haushalt und um die neun Kinder kümmerte. Muddl erzählte es ihrer Ava und die willigte ein, unverbindlich nachzufragen, ob sie für die Stellung geeignet wäre. Wenn schon nichts aus ihrer Ausbildung werden würde, dann zumindest mit Kindern etwas zu tun haben, dann könnte sie ja schon mal üben, wie es denn wäre, wenn sie mal eigene Kinder hätte. Zumindest wurde ihr bedingungslos sicher bewusst, eigene Kinder die wollte sie auf jeden Fall haben. „Das hält mich an der Hoffnung für ein besseres Leben“, sprach sie zu sich selbst. Warum nicht schon mal mit fremden Kindern üben, wie so ein großer Haushalt funktionierte. Ihren kleinen Joachim hatte sie ja auch schon von Anfang an im Griff und sie hatte ihn ja auch seit Geburt mit versorgt. Das hatte ihr soviel Freude bereitet, da wusste sie doch schon, dass Familie und Kinder ihr wirkliches und einziges Lebensziel waren. Also kein Trübsal blasen, keine Zukunftsängste, sondern üben für die wunderschöne Zeit mit eigenen Kindern, das sollte jetzt doch der richtige Weg sein. Und schon fühlte sie sich ein bisschen besser und gab ihrer Mutter das Jawort, für diese Familie tätig sein zu wollen.Ava bereitete sich wiederum auf ihren neuen Weg vor. Da galt es erst einmal dem Bauern Bescheid zu sagen, dass sie wegging. „Der wird mich schimpfen“, säuselte sie zu ihren Eltern. „Mach' dir keine Sorgen, er wird dich verstehen, er wird eine andere finden, die ihm bei den Arbeiten am Hof hilft“, ermutigte Vaddl Ava, „der sieht doch selbst, dass du noch so ein junges Mädel bist, dass du nicht den Rest deines Lebens auf dem Hof des alten Bauern schuften kannst! Du musst hinaus in die Welt, wenn du schon nicht auf eine weiterführende Schule gehen kannst, dann eben Familie und Kinder. Vor allem hast du jetzt schon einen krummen Buckel bekommen, auch wenn du uns nichts davon erzählst, wir haben doch Augen im Kopf, welche harten Arbeiten du jeden Tag verrichtest, deine Wirbelsäule ist verkrümmt, wer weiß, wie lange du dich dort noch plagen kannst, bevor du umkippst!“ das saß. Vaddl hatte so Recht. „Die paar Pfennige werden dich noch umbringen und wenn der Alte sich komplett quer stellt, dann rede ich mit ihm“, so Vaddls letzte Worte zu diesem Thema. Ava fasste endlich wieder ein wenig Mut. Sie ging zum Alten und der stellte sich gar nicht so sehr quer. Er hatte Einsicht mit dem jungen Mädel und sah selbst, dass sie auf Dauer für die Schleppdienste nicht geeignet war. „Er würde sich einen Mann mit einem breiten Kreuz suchen, der zupacken konnte,“ versprach er Ava. „Sie könne beruhigt gehen“, seine Worte. Im Innersten hatte er denn tatsächlich Angst davor, dass das Mädel an den Lasten zerbrechen könnte, dafür wollte er sich nicht verantwortlich fühlen. So gab er Ava die Hand und wünschte ihr bei der Familie, die ihr neues Zu Hause werden sollte, viel Glück. Ava wichen jetzt die letzten Zweifel von den Schultern. Sie ließ sich keine Zeit zum Trübsalblasen. Sogleich schrieb die Muddl einen Brief; darin stand: „Ava trete die Stelle an und würde so bald es ginge den Zug besteigen.“ Es waren immerhin ca. 50 km zu diesem Ort und Ava wusste somit, ein permanentes Heimkehren zu den Eltern, das ginge nicht. Eine weitere Ablösung. Sie war dann auch komplett unabhängig von Vaddl und Muddl. Finanziell und menschlich unabhängig. Ein monatliches Gehalt wurde im Antwort-Brief festgelegt, d.h. Muddl hatte bestimmt, dass Ava mindestens 30 Mark im Monat verdienen müsste, um die Arbeitsstelle antreten zu können. Harte innere Verhandlungen, die Muddl da traf. Aber sie hatte ausgerechnet, was Ava so jeden Monat zum Überleben bräuchte; zum einen dass sie sich selbst „krankenversichern“ konnte und es sich mindestens einmal im Monat leisten könnte, zu den Eltern mit der Bahn zu fahren und zurück und es müsste reichen für ab und an mal ein paar neue Schuhe. Gesagt, nein geschrieben, getan. Es war genau ausgerichtet, damit Ava vollkommen alleine zurecht kam, auch von den Amerikanern unabhängig. Und natürlich unter der Voraussetzung, dass sie Kost und Logis bei ihrem neuen Arbeitgeber frei hätte. Diese Bedingungen setzte sie in dem Brief voraus. „Sie hätte ein politisches Amt einnehmen können“, sagte Vaddl schelmisch zu Ava, als er den Brief vorgelegt bekam, bevor Ava ihn zur Post brachte. Ein sehr geschäftliches Gebaren und unter der Bitte, bis innerhalb der nächsten Woche mit der Post Bescheid zu geben, ob Ava nun in Stellung ging. So geschah es dann auch. Innerhalb der nächsten Woche traf der Rückbrief von der Großfamilie ein. Ein Kleingeld für die Bahnfahrt war zugelegt. Aller Wahrscheinlichkeit war es ihnen ein Eiliges und Wichtiges, dass die Stellung so bald als möglich angetreten werden konnte, sie hatten wohl auch niemanden gefunden, der die vielen Kinder betreuen konnte. Sie sollte schon am nächsten Tage anreisen. Also packte Ava ihren Rucksack. Einen Koffer besaß sie ohnehin nicht und den Rucksack hatte Muddl noch aus den Zeltplanen genäht. Ihr wenig Kleinod legte sie hinein mit samt ihren Wünschen, dass sie dass Versorgen von Kindern mit bedingungsloser Liebe lernen würde. Ava reiste dorthin. Sie wurde an der Bahn von einem Hausangestellten mit der Kutsche abgeholt. Das war schon nicht schlecht. Sie wollte den Bediensteten fragen, wie es denn so um die Familie gestellt war, die sie dort erwartete. Doch der schwieg beharrlich. Sie wurde ein wenig unruhig. „Hatte das was zu bedeuten, dass der keinen Ton heraus brachte?“ fragte sie sich im Selbstgespräch leise vor sich hin, damit der dort vorne auf dem Bock nichts mitkriegen würde. „Nein, nein, bloß nicht verrückt machen. Der ist halt ein ruhiger Mensch und wollte sie sicherlich auch nicht beirren, was da auf sie zu käme“, beruhigte sie sich selbst. „Nur nicht verrückt machen“, schluckte sie einmal tief runter. „Jetzt hab' ich den Schritt schon mal in die Wege geleitet, jetzt gehe ich ihn auch, so! Das einzige, was ich zu bieten habe, ist ja sowieso nur der Glaube an mich!“ dachte sie sich und das war das Größte, was es überhaupt zu bieten gab. Ihre eigene Selbst-Ermunterung zu diesem Kapitel. Sie versuchte sich zu beruhigen, dass sie für ihre jungen Jahre doch schon so viel erlebt hatte, da wäre der Antritt bei einer Familie geradezu ein Honigschlecken und ließ sich dabei erwartungsfroh den Fahrtwind um die Ohren wehen. Irgendwann hielt der Kutscher vor einem recht stattlichen Haus. Mit Veranda, einem von vorne ersichtlich großen Garten. Sehr großzügig im Bau und in der Anlage. Die Pferde wurden sogleich ausgespannt und ums Haus geführt, anscheinend zu den Stallungen. Aber das würde sie sich sicher noch ansehen. Der Fahrer half ihr freundlicherweise aus dem Wagen zu steigen und schon ertönte von weitem ein illusteres Kindergeschrei. Fast wie von einer Schulklasse, kombiniert mit einem Kleinkindschreien. Der Angestellte brachte Ava in die Aula des großzügigen Hauses, ließ ihre Utensilien von einer Hausdame entgegen nehmen und geleitete sie in den Salon. Dort saß hinter einem großen schweren Schreibtisch eine etwas müde aussehende Dame, die jedoch sehr vornehm wirkte. Sie trug ein beigefarbenes seidenes Kleid mit einer Schleife und blickte langsam hoch, als der Bedienstete höflich den Neuzugang anmeldete. Die blickte Ava tief in die Augen und fragte sie im selben Augenblick, ob sie denn sofort anfangen könnte. Ava war geradezu überrascht von diesem kleinen Überfall. Es sah so aus, als ob sie wohl dringend gebraucht würde. „Ja, ja“, erwiderte Ava höflich. Sie dachte, dass sie erst einmal etwas von den Gewohnheiten des Hauses zu hören bekäme, von den Ritualen die dort vorherrschten; doch nichts von alledem. Es blieb ihr schlichtweg nicht einmal Zeit ihr neues Zimmer, welches anscheinend unter dem Dach lag, anzusehen, oder gar die Hab und Gut dort unter zu bringen. Nein, ran musste sie sogleich. Keine weiteren Fragen an sie, oder auch keine weiteren Fragen, die sie momentan stellen durfte. „Also gut“, dachte Ava, zumindest werde ich gebraucht. Schließlich hatte ihre Mutter ja alles schriftlich für sie festgelegt. Das war ja schon auch mal nicht schlecht und wurde im gleichen Atemzug von dem Angestellten in eines der Kinderzimmer geführt. Der Raum, der von außen schon erschallt hatte. Sie wusste nicht, was da jetzt auf sie zu kam. Neun lärmende Kinder sprangen kreuz und quer durcheinander. Besser gesagt acht. Das neunte lag schreiend auf den Armen einer alten Frau, die so aussah, als bekäme sie jeden Moment einen Herzinfarkt. Sie hielt das Kleine einfach nur. Alles rannte um sie herum und der Winzling kreischte fast im Takt dazu. Es bot für die alte Frau ein gar trauriges Bild. Sie sah so aus, als wenn sie seit geraumer Zeit sich mit den Rangen herumschlagen müsste und diese Rangen hatten bemerkt, einschließlich des fast Neugeborenen in ihren Armen, 14 Wochen sollte es alt sein, dass mit ihr ein leichtes Spiel war. Keinerlei Respekt war vorhanden. Die Kinder machten mit ihr einfach, was sie wollten und nutzten kaum eine Gelegenheit aus, sie zu ärgern. Es sah aus, als ob sie das Kleine nur noch unbewusst versorgte. Aller Wahrscheinlichkeit hatte diese ältere Dame seit geraumer Zeit keinen Schlaf abbekommen, jedenfalls nicht annähernd genügend, so erschöpft wie sie aussah. Und es sah auch so aus, als wenn die Dame des Hauses alle Verantwortung an dieses arme Geschöpf abgegeben hätte. Dass nun ihr Auftauchen, mit allen Bedingungen die Muddl gestellt hatte, so schnell genehmigt war, war Ava aller Gegenwart in diesem Moment bewusst. Die „Alte“ musste abgelöst werden und was ihr noch viel wichtiger erschien, in diesen „Sauhaufen“ müsste endlich Disziplin und Respekt einkehren. Ava sah einer großen Verantwortung entgegen und sehr, sehr viel Arbeit. Dabei fielen ihr all die Worte der Anreise wieder ein, wollte sie nicht einmal selbst Kinder haben? Sollte sie dieses als Herausforderung für ihr kommendes Leben sehen? Oder wollte sie in ihr schwarzes Loch fallen und keine Zukunftsperspektiven mehr haben? Keine Warumfragen. Also ran an den Speck, dachte sich Ava bei diesem unordentlichen Haufen, den bezwinge ich, ich sehe diese Rangen als Herausforderung für mein künftiges Leben, das sie sich so sehr wünschte und im gleichen Atemzug bat Ava die überforderte alte Dame, sich zurück zu ziehen, sie würde ab jetzt Ordnung in dieses Durcheinander bringen. Das sagte sie ohne die Anweisung ihrer Hausdame, die wie sie an nahm, sowieso mit Kindererziehung nicht viel am Hut hatte.Die Rangen staunten nicht schlecht, als Ava den Raum betrat. Da kehrte zumindest für kurze Zeit Ruhe ein. Das weinende Bündel nahm sie der „Alten“ aus den Armen, drückte es sogleich an ihre Brust und die anderen acht „Wilden“ standen da und kuckten etwas dumm aus der Wäsche, wer da in ihr Refugium einträte. Es herrschte Stille. Auch beim kleinen Schreihals. Na, also. Ein Anfang wäre getan. Die „Alte“ schlich sich aus dem Raum. Ein Aufatmen war ihr anzusehen. Sie hatte es verdient, dass ihr wohl ein etwas ruhigeres Arbeiten im Hause zu Teil wurde. Ava blieb erst einmal stehen. Sie sah sich die Kinder einzeln an und blickte ihnen dabei tief in die Augen. Automatisch stellten sich die Kinder in eine Reihe auf. Ava stellte sich ihnen gegenüber. Sie stellte sich vor und teilte ihnen mit, dass sie, ihrer Ansicht nach, von nun an sie für ihr Wohlergehen zuständig wäre. Die staunten nicht schlecht. Vor allem, weil allen Beteiligten auffiel, dass Ava nur unmerklich älter war als diese selbst. Ein hoffnungsvolles Aufkeimen von allen Seiten her. Da könnte man was daraus machen, dass war allen Anwesenden hiermit klar. Die Kinder erwähnten einzeln ihre Namen, ihr Alter und ihre Wünsche und Freuden, ohne dass Ava es angeordert hätte. Ein guter Schritt in eine gute Richtung. Es war allen klar, dass das, was bisher war, ja nicht mehr so weiter gehen konnte. Somit wollte Ava hiermit an eine gemeinsame Zukunft anknüpfen. Sie versuchte zuerst mit allen Kindern einzeln zu reden, während das Kleinste wohlig an ihrer Brust einschlummerte. Ava hielt es mit einer Hand fest an sich gedrückt. Auf einmal waren die Kinder allesamt konzentriert, freundlich, aufmerksam und sichtlich erleichtert, dass eine neue Welle in ihr Leben einbrechen sollte. Jedes erzählte von sich, wie es sich fühlte, was es für Ziele hatte, was ihnen fehlte. Kurzum jedes Kind war erfreut über das persönliche Interesse, das ihm entgegen gebracht wurde. Und somit waren ganz schnell aus dem unübersichtlichen Haufen, einzelne Persönlichkeiten geworden, die jetzt gar keine Lust mehr verspürten, wild und zügellos durcheinander zu agieren, sondern neugierig darauf warten, was die „Neue“ wohl mit ihnen vor hatte. Es war schon dunkel geworden, da kam die Herrin des Hauses herein und war nicht schlecht sprachlos, dass aus ihrem unordentlichen Haufen ein interessiertes Grüppchen Neugieriger geworden war. Besser gesagt, es viel gar keinem großartig auf, das ihre Mutter auf einmal „da“ war, denn sie waren alle „anteilhaft“ am Gespräch beteiligt. Die Hausherrin machte sich bemerkbar und nahm Ava fest zur Seite, um ihr mitzuteilen, dass es Zeit sei die Kinder zum Abendbrot zu bringen und anschließend zu Bette. Gut. Als all dies geschehen war, fiel Ava auf, wir unendlich müde sie geworden war und sie sich mit schleppenden Beinen in ihre neue Kemenate führen ließ, wo ein unausgepackter Rucksack auf sie wartete. Irgendeiner hatte ihn auf ihr neues Bettchen gelegt. Dazu hatte sie aber keine Kraft mehr, den jetzt noch auszupacken, sondern sie fiel schnurstracks auf ihr Bett, rutschte den Sack zur Seite und fiel augenblicklich in einen tiefen Schlaf. Sie hatte nicht Mal gegessen. Gegen fünf Uhr morgens wachte sie auf. Der Hausdiener hatte an ihre Zimmertüre gepocht. Zeit aufzustehen. Wieder keine Zeit um ihre Habseligkeiten auszuräumen, sondern ihr Versorgungsdienst, ihre Arbeit begann. Ab in die Küche, Frühstück bereiten für alle Herrschaften, Hausdame und Hausherr und für die Kinder allesamt. Da gab es eine lange Tafel, die schon morgens mit schweren Tischdecken ausgelegt werden musste, die Gedecke aufgelegt, samt Silber, das täglich benutzt wurde. Dazu wurde Ava eine rein weiße Schürze gereicht, die sie extra für diese Tätigkeiten erhielt. Sie dachte erstmal, sie wäre mehr so eine Art Lehrerin für die Kinder, doch das erwies sich schnell als Irrtum. Die Herrin des Hauses machte ihr schnell mit eindringlichen Worten deutlich, indem sie sagte: „Fräulein, kümmern sie sich um das, wofür ich sie bezahle. Sie sind für die Hauswirtschaft zuständig, nicht für das Gesellschaftsleben meiner Kinder.“ Das saß. Ava verspürte ein regelrechtes eifersüchtiges Verhalten von ihrer Seite her. Doch was sollte sie tun. Sie war froh, die neue Stelle antreten zu dürfen, da war wieder kein Platz für ihre Bedürfnisse vorgesehen, schon gar nicht für Aufmüpfigkeit. Das hatte Ava erst einmal emotional nach hinten geschlagen. Aber wer hatte ihr gesagt, dass sie ausschließlich für die Sorge der Kindererziehung zuständig sein sollte? Niemand. Das hatte sie sich nämlich eingebildet, als sie der „Alten“ eigenmächtig das Zepter abnahm. Sie sollte hier putzen, waschen, Tische ein- und abdecken, alle Tätigkeiten, die ein Haushalt so mit sich brachte, einschließlich der Küche, welches ihr so ganz nebenbei gesagt wurde, dass sie auch noch für alle zu kochen hatte. Keine kleine Aufgabe. Da blieb nicht viel Zeit für Kinderfürsorge. Das konnte sie sich denn höchstens erlauben, wenn sie zwischen den Arbeiten kurz Platz fand. Nun denn, es war ihr eindeutig klar, sie war hier wieder als „Depp vom Dienst“ für einen Hungerlohn engagiert worden. Die schriftlichen Festlegungen ihrer Mutter waren anscheinend doch nicht eindeutig genug formuliert worden. Das wurde somit klar. Wenn sie für diese große Familie Besorgungen machen musste, dann passierte es sehr oft, dass die Hausherrin ihr kein Geld mitgab und sie musste von ihrem monatlichen Hungerlohn auch noch das Geld auslegen. Um es wieder zurück zu bekommen, bedurfte es häufig mehrerer Tage und Anläufe bei der Dame des Hauses. Diese blickte dann jedes Mal sehr gequält und öffnete nur widerwillig und vorwurfsvoll ihr Portemonnaie. Selbstverständlich verlangte sie grundsätzlich unaufgefordert eine Abrechnung. Dann durfte Ava sich schleunigst wieder den Wäschebergen widmen, oder dem Abwasch. Doch zwischenzeitlich holte Ava sich immer wieder zum Trost das Neugeborene an die Brust, oder hängte es sich um den Bauch, während sie sich eben anderen Tätigkeiten widmete. Sie nahm es der „Alten“ einfach aus den Händen. Die gab es gerne freiwillig her. Denn das ließ sie sich nicht nehmen, das mit dem Kleinsten. Denn die Kinder hatten trotz der vielen Arbeit, die sie zu verrichten hatte, ein inniges Verhältnis zu ihr aufgebaut, obwohl die „müde Alte“ sich wieder um die Kleinen kümmern musste. Auch wenn die Kinder es eben gerne anders gesehen hätten, da wurden sie nicht gefragt. Ava glaubte, die Hausherrin war vom ersten Moment eifersüchtig auf sie und obgleich sie sich nicht selbst um ihre Kinder kümmern wollte, wollte sie nicht, dass ihre Kinder eine „andere“ liebten. Wie traurig. Und so ackerte Ava Tag für Tag wiederum für viel zu viel für ihr Alter. Als sie spät abends immer in ihr Bett fiel, da nahm sie sich allabendlich vor, noch von ihrer Zukunft zu träumen, wie es wäre, wenn ihre eigenen Kinder in ihren Armen lägen; ja, für die wollte sie sich so richtig viel Zeit nehmen, ihnen ihre Wünsche von den Augen ablesen, für sie da sein und sie dann vor allem nicht mehr loslassen... doch meistens schlief sie schon vorher vor Erschöpfung ein, bevor die großen Wünsche in Auftrag gehen sollten...Es kam, wie es kommen musste; Ava wurde vor Erschöpfung krank. Sie hatte einfach keine Kraft mehr. Ihre kurze wunderschöne Kindheit reichte nicht aus, um dem Kummer und der vielen Arbeit in so jungen Jahren stand zu halten. Sie bekam Fieber und musste laut Doktor, der für sie gerufen wurde, das Bett hüten. Das Fieber stieg schnell an und Ava wurde von Tag zu Tag schwächer. Mit aller letzter Kraft schleppte sie sich aber immer noch zum Waschzuber, um nicht das Gefühl zu haben, der Familie zur Last zu fallen, damit sie schließlich für ihr Geld arbeite. Doch auch das ging dann eines Tages nicht mehr, da fiel sie gleich rückwärts wieder in ihr Bett in der Dachkammer zurück. Der Kreislauf hatte sie verlassen. Doch was machte Ava? Sie rief den Hausdiener, der freundlicher Weise ab und an nach dem Rechten sah, wie es ihr denn ginge, und bat ihn die Flickwäscheberge zu bringen, damit sie wiederum nicht untätig wäre. So kauerte sie mit zittrigen Fingern in ihrem Bettgestell, dem armen Poeten nicht unähnlich und brauchte deshalb sehr lange, um nur den Faden in die Nadel einzuführen. Die Schweißtropfen rannen ihr dabei vom Gesicht und ab und an war es auch eine Träne, die ihr auf die Hände netzte, so genau konnte sie das nicht sagen, welche Flüssigkeit da auf ihre Hände tropfte. Im Innersten waren es wohl mehr Tränen, als Schweißperlen, denn so hart hatte sie sich ihre Jugend nicht vorgestellt. Eine Pubertät zur persönlichen Entwicklung, oder Abnabelung vom Elternhaus war ihr durch ihr schweres Dasein fremd. Sie wollte sich nie abnabeln. Sie wollte Familie, die bei ihr war und wollte sich dort im Schoße der Liebe baden. Nicht alleine bei fremden Menschen schuften, bis ihr die Kraft in jungen Jahren schon abhanden ging. Zu aller Traurigkeit fiel ihr Wochenendbesuch bei ihren Eltern durch ihr Krankheitsbild aus. Wie gerne wäre sie in den Zug gestiegen, hätte sich in die Arme ihres geliebten Vaters geworfen, der Mutter beim Kochen in die Köpfe gekuckt, mit den Brüdern raus gegangen. In den Wald mit ihnen Pilze gesammelt, oder Tannenzapfen zum Heizen für den Ofen. Da war das Ackern gar nicht so schlimm. Ihr Liebsten hatten ihr alltäglich immer darüber hinweg geholfen. Nichts war so schlimm, wenn sie wusste, spätestens am Abend war ja irgendeiner von ihnen da. Und sie hielten alle zusammen. Was war das ein „Gräuel“ für sie, da alleine zu liegen, sich überflüssig zu fühlen, ohne das, was ihr das Einzigste war, nämlich Familie. Sie spürte, dass ihr jegliches Selbstwertgefühl fehlte, um alleine etwas auszuhalten. Sich alleine damit auseinander zu setzen, das kam für Ava nicht in Frage. Sie wollte es einfach nicht. Es fehlte ihr und es war doch so wichtig für sie. Dies wusste sie jedoch nicht. Entweder arbeiten, oder mit der Familie zusammen sein. Sonst gab es für sie keine Freuden. Ein Buch zu lesen, sich weiterzubilden, sich für irgendetwas anderes zu interessieren, das war für sie nicht mehr wichtig geworden. All ihre Hoffnungen setzte sie auf ihre Familie und die damit verbundene Arbeit. Dass sie insgeheim ihrer Familie einen nicht unbedeutenden Druck auferlegte, der niemals mehr heilen würde; das wusste sie nicht. Sie war auch bereit kleine Bußen dafür auf sich zu nehmen, nur um der Familie nahe zu sein. Sprich, sie benutzte jedes mal ihren letzten Heller um die Fahrtkosten des Zuges auf sich zu nehmen. Ihren Eltern war das ja zu teuer, das wusste sie, auch ohne zu fragen, sie wusste auch, dass wenn sie so oft zu ihren Eltern fuhr, ihr so gut wie nichts im Monat übrig blieb, dass sie sich mal einen neuen Rock, oder eine hübsche Haarspange hätte kaufen konnte, aber das war ihr nicht so wichtig, da stopfte sie lieber des Nächtens ihre alten Socken, die schon so oft gestopft wurden, dass sie kaum noch zu stopfen waren; Hauptsache Vaddl und Muddl und die Brüder. In irgendeiner Art war sie süchtig nach dieser Nähe, die ihr aber nie bewusst werden würde. Wie eine unheilbare Krankheit, die man nicht sehen konnte. Der Doktor hatte ihr äußerste Bettruhe verordnet. Ava neigte zusätzlich zur Schwindsucht und aufstehen war da nicht drin. Das wäre zu gefährlich. Also blieb ihre einzige Kraftquelle der Liebe versiegt und niemand konnte sie trösten. Auch das jüngste Kind der Familie, das sie sich immer mehr oder minder doch heimlich an die Brust drückte, durfte sie sich nicht mehr holen. Ansonsten duldete die Hausherrin dies, doch unter Krankheit ließ sie persönlich das Berührungsverbot anordern. Ava fühlte sich so alleine. Sie konnte aber nicht alleine sein. Und würde es auch nie lernen...So litt sie fast mehr unter der Einsamkeit, als unter ihrer Krankheit. So dauerte es durch ihre doppelte Schwäche ziemlich lange, bis sie sich wieder erholt hatte.Und sobald sie sich nur einiger maßen wieder auf den Beinen halten konnte, stieg sie als erstes in den Zug zu ihren Eltern. Eiligst stürzte sie sich ins Haus. Doch schon beim Eintreten in die Stube wich Ava ein Stück zurück. Da sah sie ihren heiß geliebten Vaddl auf dem Bett liegen, am Tage, das gab es sonst nie. Er wirkte blass und eingefallen und sah fast aus, als wenn er kraftlos wäre. Ava schluckte tief, machte dann aber doch zwei Schritte nach vorne, auf ihn zu und fragte was denn wäre. „Er arbeitet viel zu viel, viel zu schwer,“ kam es von hinten. Muddl brachte sich ins Spiel. Sie war zur Türe hereingekommen und war froh, dass Ava da war. Vaddl, der sonst immer ein Witzchen auf Lager hatte und sein ganzes Leben, egal in welcher Lage immer gestrahlt hatte und stets voller Hoffnung war, wirkte so erschöpft. Er wirkte verbraucht. Das gefiel niemanden. Ava vergaß, dass auch sie noch gar nicht wirklich gut auf den Beinen war; sie war ja voreilig, vor lauter Sehnsucht, zu ihren Eltern gereist. Jetzt stand sie da und weinte. Muddl nahm sie in die Arme und sie setzten sich zu ihm ans Bettgestell. Sie schwiegen zusammen eine lange Weile. Dann übernahm Ava das Zepter. „Wir müssen etwas ändern“, fand sie als erstes die Worte wieder. „Ja“, erwiderte Muddl, wir werden „grundwegs“ etwas anders machen. „Du hörst sofort auf, so hart zu arbeiten, Adalbert,“ dominierte Muddl hinterher. „Du wirst eine andere Arbeit finden, die dich nicht so kaputt macht und damit basta“, stand Muddl jetzt auf und brüstete sich so auf, dass ein Widersprechen unmöglich erschien. Wiederum langes Schweigen im Raum. Man konnte den Atem der Einzelnen hören. Das Rattern der Köpfe. „Also gut“, unterbrach Vaddl die unangenehm gewordene Stille. „Ich habe da was von einer Firma gehört, die sucht Arbeiter, es sei in einer Porzellanfabrik. Dort werde ich nachfragen, ob sie mich gebrauchen können. Dann muss ich vielleicht nicht mehr so viel schleppen. Na, und vielleicht wäre das auch was für unsere Jungen, die machen sich ja auch schon den Buckel kaputt.“ „Das ist ein Wort,“ sagte Muddl. „Dann geh` gleich morgen hin und frag`. Aber heute wird noch geruht“, kam da noch mit fester Stimme hinterher. Ava sagte gar nichts. Sie nickte nur zustimmend mit dem Kopf und Vaddl wurde von den starken Frauen in seinem Leben gänzlich überrumpelt. Wie schon des öfteren. Aber er sah das durchaus ein. So machte er sich schon am nächsten Morgen, nachdem er ein wenig erholter war, gleich nach der Stallarbeit auf den Weg zur Porzellanfabrik, um für sich und seine Söhne vorzusprechen. Es tat ihm zwar im Herzen ein bisschen weh, weil er vom Naturell her ja ein Bauer war mit Leib und Seele, aber was brachte ihm das, wenn seine Gesundheit ihm einen Strich durch die Rechnung machte und nicht zu vergessen, die schweren Jahre des Krieges, die ihm körperlichen und seelischen Schaden zugefügt hatten. Vielleicht würde er durch eine andere Arbeit seinen Gedanken neues Gefüge geben. Neue Arbeit schafft neue Hoffnung und neue Freude fürs Leben. So ergab es sich, dass Vaddl am nächsten Morgen, voller Zuversicht in der Porzellanfabrik vor sprach. Er hatte Glück, die suchte einige neue Mitarbeiter und sahen, dass Vaddl ein zielstrebiger, verantwortungsvoller Mensch war. Für seine Söhne sprach er gleich mit und auch die wurden, ohne dass sie gesehen, oder angehört wurden, gleich genommen. Die Firma expandierte nach dem Krieg, da gab es für viele fleißige Hände eine Menge zu tun. So konnte Vaddl gleich am nächsten Tag anfangen. Doch wie sollte er es so schnell seinem Bauern klar machen, dass er so mir nichts – dir nichts einfach aufhörte und bei der Porzellanfabrik anheuerte? Schließlich wohnten sie alle noch bei ihm. Das gab ein Problem. Der Bauer konnte sie doch einfach raus schmeißen, wenn er wollte. Dann stünden sie alle heimatlos aus der Straße? Kopfzerbrechen. Doch Vaddl sagte sich, dass das alles von Gott gerichtet wäre und er in ihrem Falle schon wüsste, was nun das Richtige für ihn und die Familie sei. So jedoch konnte er nicht weiter machen, dass war ihm sicher und damit gab er sich erst einmal für das erste zufrieden und vertraute. Er kam dann erst einmal nach Hause und überbrachte die frohe Botschaft, dass die Rackerei auf dem Bauernhof jetzt ein Ende finden würde. Er könnte mit seinen Söhnen gleich am nächsten Tage kommen. Muddl freute sich, aber auch sie verstand, dass augenblicklich mit dem Bauern geredet werden müsste, wie es nun mit ihrer Bleibe und einer Nachfolge wäre. Sie gingen gleich zusammen Vaddl und Muddl zum Landwirt und erzählten ihm von der neuen Situation. Der schaute erst einmal etwas dumm aus der Wäsche, als die Familie so abrupt mit so einem Vorhaben ins Haus fiel. Der Bauer stutzte eine Weile, dann legte er beruhigend seine Hand auf Vaddls Schulter und sprach ruhig und besänftigend auf ihn ein. „Ich habe sowieso schon eine ganze Weile mit mir herum getragen, dass mein Bruder zu mir kommen mag, der will bei mir arbeiten. Da ihr aber so gute Leut` seid, hab´ ich erst mal nichts zu ihm sagen können, ob´s denn geht, denn euch raus schmeißen wollt ich auch nicht. So hab´ ich ihn immer vertröstet, dass es halt noch net geht. Aber jetzt, wo du sagst, dass ihr gehen mögt, kann ich ihm ja gleich zusagen und ihm heut´ noch einen Brief schreiben. Ihr könnt´ auch noch bei mir erst mal wohnen bleiben, bis ihr was Neues habt, mein Bruder schläft erst mal bei mir in der Stube bis dahin und dann könnt´ ihr immer noch in Ruhe ausziehen und meinem Bruder dann euer übergeben.“ Das waren ganz schön viele Sätze für den sonst eher ruhigen und wortkargen Bauern. Doch er selbst war richtig stolz, dass dieser Weg gefunden wurde. Zu aller Erleichterung und um's nochmals zu zeigen, auf seine ganz persönliche Art und Weise, dass das alles sein Gutes hatte, holte er seinen Most aus der Speise und bot Vaddl und Muddl an, mit ihm zu trinken. Das ließen sich alle nicht zweimal sagen und stießen an auf ihr aller Wohl und ihre Zukunft. Alle Fliegen mit einer Klappe. Hab´ ich`s nicht gesagt, sprach Vaddl später zu sich selbst, Gott wird`s schon richten und mit diesen Gedanken freute er sich auf den morgigen Tag, der eine neue Richtung in seinem Leben bringen würde. Er half noch ein bisschen morgens im Stall aus und ging dann mit einem Päckchen voller Zuversicht zur Porzellanfabrik. Die Arbeit war zwar zu Anfang etwas ungewohnt, weniger körperlich, dafür sehr routiniert. Das war vollkommen neu für Vaddl. Immer den gleichen Vorgang tätigen zur gleichen Ware. Etwas komisch für ihn. Der, der die frische Luft so liebte, den Wind um den Ohren und vor allem die freie Zeiteinteilung. Kein Regen, oder Sturm konnten ihm in all den Jahren etwas ab haben, nur der harte Druck der körperlichen Schafferei; das war`s halt. Das hatte ihm bis dahin das Genick gebrochen. Das aufkommende Alter spielte wohl auch eine Rolle, das der Körper gegen die Belastungen ankämpfte. Das jetzt hier hatte ganz andere Schattenseiten. Nach Stunden bezahlt zu werden. 0,62 Mark in der Stunde bekam er. Und wenn er schneller arbeite im Akkord, dann bekam er ein wenig mehr. Das war ihm bis dahin völlig fremd. Aber was sollte er tun? Sollte er da bleiben? Warumfragen. Da musste er jetzt halt durch. Die Familie galt es zu ernähren. Den Söhnen ging es nicht anders. Sie kamen ein paar Tage später nach in die Porzellanfabrik. Auch ihr Bauer hatte sie entlassen. Weil die Landwirtschaft auch vom Bauern allein zu bewältigen war. Doch im Gegenzug zum Vater, waren sie trotz des harten Krieges noch in Saft und Kraft und sie wollten die Arbeit in der Porzellanfabrik nur kurz annehmen, bis sie wieder einen Bauern gefunden hatten, dessen Land zwei kräftige willensstarke junge Männer gebrauchen konnte. Später, sehr viel später, als Victoria, Vaddls Lieblingsenkelin schon selbst Mutter war, da hatte sie zum Essen immer eine ganz bestimmte Vorlegeplatte, die noch aus dem Bestand von Vaddls Porzellanfabrikzeiten stammte und die sie heilig verehrte und pflegte voller Liebe und guter Gedanken. Vaddl empfand es geradezu als Wohltat, als sein Vorgesetzter ihn von der Gleichförmigkeit seiner zugeordneten Arbeit wegholte und ihn den Hof kehren ließ. Zwar keine herausragende Tätigkeit, doch endlich an der frischen geliebten Luft und nicht unter Kontrolle und Druck der Mitarbeiter. Der Vorgesetzte hatte wohl ein Einsehen mit ihm, oder wohl besser, er erkannte, dass es nicht unbedingt Vaddls freier Wille war, in der Porzellanfabrik Akkord zu arbeiten und da er ordentlich und zuverlässig war, orientierte er ihn bis zur Rente für solche Arbeiten um, die gänzlich an der frischen Luft zu tätigen waren, damit Vaddl ein wenig selbstständiger arbeiten konnte. Er tat ihm leid. Was Vaddl auch zu schaffen machte, war die all morgendliche Anreise zur Fabrik. Die aus vier Kilometer Fußmarsch zur Bahn bestand, 25 Kilometer Fahrt mit dem Zug und noch ein Kilometer Fußweg zur Fabrik und dann das ganze abends wieder heim. Das war so ungewohnt für Vaddl diese An - und Abreisen. Er war es doch gewohnt, einfach das Haus zu verlassen und in den Stall morgens zu gehen, er war eins mit seiner Arbeit gewesen. Schlafen, essen, arbeiten, all dies gehörte zusammen. Das eine mit dem anderen verbunden. Für ihn keines wegzudenken; das eine vom anderen. Und jetzt dieser weite Weg zur einer Tätigkeit, die seinem Wesen fremd war. Doch er hielt still. Nur jeder, der ihn ein wenig kannte, spürte die innere Unzufriedenheit und das stille Unglück, das ihn alltäglich begleitete. Natürlich fühlte auch seine Frau das innere Unzufriedensein und die große Hoffnung, die ihn ihm keimte, an ein besseres, von Gott gesegnetes Leben in Einklang mit der Natur und der inneren Freude. Er hatte es so verdient. Doch sie schwieg, weil sie ihm so eine Bürde aufgelegte und er hielt diese für sie ein. Muddl hoffte so sehr, dass ihre Liebe und Fürsorge um ihn dazu ausreichte, um die Lücke zu stopfen, aber sie merkte doch, ohne Worte, dass das nicht reichte. Er sollte schon selbst glücklich sein, um auch anderen Glück und Lebensfreude schenken zu können. So blieben seine täglichen Witzchen, die kleinen frechen Anekdoten zum Alltag, die ihm immer „spitzbübig“ auf den Lippen lagen, immer häufiger weg. Die Fließbandarbeit hatte ihn seelisch krank. Er schwieg stattdessen und das stellte ihr Liebe auf eine harte Probe. So unverständlich und unvorstellbar es klingen mochte, doch in Zeiten des grausamen Krieges unter der Last der Teppiche die er auf dem Karren durchlebte und die Angstschweißtropfen sein ständiger Begleiter war, hatte er mehr Schalk im Gesicht, wenn seine Frau ihm heimlich die Essensrationen verabreichte und sogar ein für die anderen unsichtbares Küsschen noch drin war. Jetzt schwieg er oft. Und das war fast so traurig, als wenn er überarbeitet abends auf dem Bette lag. Sie wünschten sich beide, dass sich dieses unsichtbare Unglück wieder legen sollte, damit Vaddl endlich seine verdiente Ruhe finden konnte. Das Schicksal hatte es wieder gut mit ihm gemeint, er empfand allmählich Freude an der Reiselust zur täglichen Arbeit und an der leichten Tätigkeit des Hofkehrens und Unkrautjätens vor den Toren der Fabrik. Auch das Versprechen des Bauern, er könne mit seiner Frau bis zum Ableben am Hofe wohnen, ohne weiterhin Frondienste dort zu führen, erleichterten seine Seele schwer, er wurde wieder der „Alte“. Ava ging wieder zurück zu ihrer Familie. Noch immer geschwächt und in Gedanken etwas hoffnungsloser, nicht nur wegen ihres Vaters, sondern auch wegen ihrer eigenen Wünsche, die sich wiederum nicht so erfüllt hatten, wie sie sich das vorgestellt hatte. Sie war bei der Familie der „Arbeitsdepp“ vom Dienst und nicht die Kinderfrau gewesen, die sie sich erhofft hatte. Der direkte Zugang zu den Kindern war nicht für sie vorgesehen. Sie wollte doch so viel lernen was sie dann für eigene Kinder anwenden wollte. Fünf Kinder wollte sie unbedingt einmal haben. Sie wollte doch miterleben, wie man so viele Kinder erzieht, wie man für alle gleichzeitig da sein konnte und sie wollte sie vor allem beglucken. Dort begluckte sie ja nur bergeweise schmutzige Wäsche und Geschirr – kein Wunder, dass ihr gesundheitliches Bild auch nach wenigen Wochen kein viel Besseres war. Sie erholte sich einfach nicht. Und das hatte auch die Hausherrin nicht vorgesehen, dass sie eine Angestellte bekam, die dauernd krank war. Sie wollte eine funktionierende Haushaltskraft, keine kränkelnde, überarbeitete, unglückliche junge Frau. Und Ava wollte Kinder. Das passte auf Dauer wiederum nicht zusammen. Es wurde zwar darüber nicht gesprochen, jedoch wusste jeder Bescheid, dass diese Verknüpfung auf Dauer nicht zusammen passte. Heimlich hatte sich die Hausherrin schon nach einer neuen Kraft erkundigt, die mehr im Saft stand und ihre eigenen Wünsche besser vertrat. Das alles unter vorgehaltener Hand. Ava ihrerseits sprach es offen beim nächsten Besuch ihrer Eltern aus, dass das Verhältnis und die Bedingungen in ihrer Arbeit fast unerträglich wurden. Man schwieg auch mit ihr. Wenn Ava irgendwann einmal Belange aus ihrer Sicht vor trug, dann hatte man entweder keine Zeit für Sie, oder sie wurde schlichtweg überhört. „Das hab' ich mir schon gedacht“, sagte Vaddl, „du bist nicht umsonst so krank geworden. Du hast ein krankes Herz, deshalb hast du einen kranken Körper.“ Was sollte sie dazu sagen. Es entsprach der Wahrheit. „Weißt du was!“ sagte Vaddl, wir hören uns nach einer leichteren Arbeit für dich um, ich glaube sogar, dass ich da schon etwas weiß!“ Ava war froh. „Die alte Gretl, die ihren polnischen Jüngling gefreit hatte, kannte einen älteren Herrn, der jemand für sich im Haushalt brauchte. Ein allein stehender älterer Herr braucht nicht soviel Pflege wie so viele Kinder. Er machte auch nicht soviel Arbeit. Da wirst du dich ein bisschen erholen können,“ meinte Vaddl. „Ich schreib noch heute hin!“ Ava wurde wieder nicht gefragt. Sie ließ sich permanent fremd bestimmen. Von ihrer Familie, denn ihre Familie war ja ihr Leben. Doch die Bedingungslosigkeit, die sie so suchte und nicht wusste, wie sie zu kriegen war, wollte mit der „Hin - und Her -Schubserei“ einfach nicht zu finden sein. Also wagte sie wieder ein Weitersuchen. Ein Weiterhoffen, dass es irgendwie in eine Richtung ginge, die ihrer Auffassung am nächsten kam. Ein Weg der sie führen sollte, das sollte es doch sein. Also fuhr sie zurück zur Großfamilie mit der Absicht, hoffentlich ein letztes Mal dorthin gefahren zu sein, um sich schon in Gedanken auf einen neuen Weg zu begeben. Die Hausherrin kam schon bei ihrer Ankunft von alleine auf Ava zu und teilte ihr aus eigenem Antrieb mit, dass sie mit ihr nicht zufrieden war und sie sich schon nach einer neuen kräftigeren Kraft umgehört hätte. Harte Worte, aber ehrliche. Ava erwiderte nur kurz: „Ist Recht so!“ nicht mehr… und steuerte einfach in sich hoffend, zum letzten Angriff auf die nimmer endenden Wäscheberge, zu.Sie war innerlich sehr traurig, was hatte sie sich als Kind alles gewünscht und hatte damals doch schon so viel. Sie kam sich in Gedanken so schäbig vor, dass sie als reiches, umsorgtes, geliebtes Kind oftmals unleidlich war wegen einer Kleinigkeit, wenn sie früher zu Bett musste, oder wenn die Eltern sie zur Rechenschaft ermahnten, weil sie sich als kleines Mädel mal wieder mit dem gefährlichen Baden der Pferde im Fluss beschäftigt hatte. Jetzt hatte sie als junges Mädchen Schmerzen, war mit sechszehn Jahren überarbeitet, hatte daraus einen Wirbelsäulenschaden genommen und war ihren Zielen weiter entfernt den je. Was hätte sie damals gerne verzichtet, dass sie jetzt ein bisschen davon bekäme. Die Hausherrin hatte schnell eine Nachfolgerin gefunden. Anscheinend war es ihr sehr wichtig, dass eine körperlich agile Person ihr alles Unangenehme vom Leibe hielt und die sich vor allem nicht einmischte. Sie stellte Ava wiederum vor die unabänderliche Situation, ein Ultimatum. „Nächste Woche kannst du wegbleiben“, ohne sich weiter nach ihr zu erkundigen, ob es denn für sie in Ordnung wäre. Ob sie zufrieden gewesen wäre, ob es ihr etwas ausmachen würde, keine Entschuldigung, keine Nachfrage ob sie ein Zeugnis bräuchte. Nur „bleib weg“ blieb in Avas Gesicht hängen. Was war das für eine unbarmherzige, kalte Frau. Ava standen die Tränen in den Augen, sie schluckte diese aber vor der herrischen Vorgesetzten herunter. Die letzte Blöße wollte sie sich nicht geben. „Vergess` ja nichts wenn du gehst“, hörte sie die dominante Person noch nach rufen, während sie versuchte, die Treppen gleichmäßig und standhaft zu meistern, die sie zu ihrer Kemenate führten, wobei ihr die Tränen in Rinnsalen über das Gesicht liefen, am Hals entlang, in die Bluse hinein. Ava drehte sich kein einziges Mal um, während sie den Worthall dieser Frau hörte. Das hatte sie nicht verdient. Ein wenig Stolz wollte sie sich erhalten. Es taten ihr nur die armen neun Kinder leid, die wirklich arm waren, weil sie von der eigenen Mutter keine Liebe, oder Aufmerksamkeit bekamen, sie bekamen nur teure Kleidung, schönes Spielzeug, aber eine warmherzige Umarmung, ein zartes Streicheln einer Haarsträhne aus dem Gesicht, das alles bekamen sie nicht. Ava hätte sie am liebsten alle mitgenommen, aber das war ja nur in ihren Träumen realisierbar. Eines jedoch nahm sie nach dieser abgeschlossenen Woche mit fürs Leben auf den Weg – so wie die wollte sie ihre Kinder nicht erziehen. Da lieber arm, aber geliebt. Und somit war ihr auf einmal ihr persönliches Schicksal gar nicht mehr so grausam. Denn wenn sie jetzt nach Hause fuhr konnte sie sich in die Arme ihres Vaddls flüchten, der strich ihr immer eine Haarsträhne aus dem Gesicht, wenn sie ihr rotziges Schnupfnäschen an seiner Weste nass rieb. Sie hoffte nur für die Kinder, dass sie eine würdige Nachfolgerin erhielten, die ihnen ab und an heimlich ihre Näschen trocknete. Für sie war dieser Kapitel somit abgeschlossen. Als ihr Abreisetag kam, ging sie genauso unauffällig, wie sie gekommen war. Sie sah ein letztes Mal zu den lärmenden Kindern ins Spielzimmer und sie winkte ihnen freundlich zu. Sie tat so, als wenn sie nur kurz Besorgungen erledigen würde, um anschließend wieder zu kommen. Sie wollte sich und den Kindern den Abschied zu leicht wie möglich machen. Sie holte sich ihren letzten Verdienst im Arbeitszimmer ab, der Hausdiener hatte ihr bestellt, dass sie dort ein Kuvert antreffen würde mit ihrem Lohn. Sie selbst war gar nicht mehr anwesend. Der Diener passte nur auf, dass sie nicht „zu viel“ vom Schreibtisch räumte. Ebenfalls ohne Worte, kein Brief und keine Glückwünsche für die Zukunft. Aber sie hatte es ja nicht anders erwartet. Sie nahm den Brief und verließ das große Haus ohne sich noch einmal um zu drehen. Dieses Mal im Fußmarsch Richtung Bahnhof, nicht mit der Kutsche, mit Ziel zu den Eltern und in eine neue ungewisse Zukunft, die ein bisschen mehr Bedingungslosigkeit für sie übrig haben sollte. Bei den Eltern angekommen, erzählte der Vaddl sofort, dass sie ein Brief erreicht hätte, des alten Herrn, Ava könne so bald als möglich kommen. Er würde sich freuen. Neuer Versuch. Ava wollte erst einmal eine Nacht bei ihren Eltern verbringen, sie holten sich den Most des Bauern. Trotz aller schwere des Daseins vergaßen alle nur all zu oft, dass man auch einmal etwas feiern konnte. Schließlich war das ein reibungsloser Übergang von einer Arbeitsstelle zur anderen und es war alles von Gott wohl so eingerichtet worden. Früher, vor dem Krieg, da feierten die Eltern öfters. Obwohl sie auch hart arbeiteten, hatte Vaddl des öfteren eine Überraschungseinladung für Muddl parat. Da legte er ihr so einfach mal ein Briefchen unter den Suppenteller, mit einer von Hand gemalten Rose im Inlet, hatte ein Küsschen darauf gemalt und die hoffnungsvolle Frage: „Willst du heute Abend mit mir tanzen gehen mein Schatz?“ Muddl war im Innersten immer sehr entzückt von der fantasievollen Art ihres heiß geliebten Mannes. Doch bei Tisch ließ sie sich vor all ihren Angestellten nie etwas anmerken. Weder im Guten, noch im Bösen, da bewahrte sie immer Haltung. Jetzt als alles einen ganz anderen Rahmen hatte, da freute sich Muddl offensiver über die kleinen „Präsente“, die ihr Mann immer irgendwo auftrieb. Ein Pfundskerl. So hatte er eben dem Bauern eine extra Hilfe angeboten, für den Most. Sie tranken. Ava bekam sogar einen kleinen Schwips. Was soll`s. Am nächsten Morgen packte Ava wieder ihren selbst genähten Rucksack und lief frohen Mutes zur Bahn. 20 km wohnte der alte Herr weg. Ein wenig außerhalb der nahe gelegenen Kleinstadt. In einem etwas verwunschenen Haus. Als sie aus dem Zug ausstieg, hatte sie noch ein Stück zu laufen. Im Brief war eine kleine Skizze gemalt, damit sie zu Fuß hin fand. Sie musste eine kleine Brücke überqueren, die über einen Bach führte. Sehr idyllisch. Doch je näher Ava dem Bach näher kam, desto vehementer vernahm sie ein winselnden Hilferuf. Er wurde immer lauter. Sie lief instinktiv schneller. Zum Hilferuf kam noch ein planschendes Geräusch hinzu. Als sie den Bach erreicht hatte, traute sie ihren Augen kaum – ein kleines Kind war im Bach. Es war anscheinend in den Bach gefallen. Ava warf ihren Rucksack zu Boden. Sie blickte sich um. Weit und breit war niemand zu sehen. Ohne mit der Wimper zu zucken rannte sie eiligst in das Wasser hinein, samt Schuhen und Strümpfen versank sie bis zu den Knien im Bach und zog den armen Tropf am Hosenträger aus dem Nass. Sie konnte gar nicht schwimmen, daran hatte sie gar nicht gedacht. Der Kleine krähte wie ein Hahn, gar jämmerlich, er konnte noch nicht einmal reden. Er war vielleicht so eineinhalb Jahre alt, kaum das er laufen konnte, war dieser Winzling irgendwie in den Bach gefallen. So ganz alleine. Sie drückte das nasse Etwas fest an sich, der nicht zu schreien aufhörte und ging mit ihm an Land. Von dort aus konnte sie in der Ferne einen Bauernhof sehen, wo Licht brannte. Also packte sie diesen nassen Lümmel auf der einen Seite, ihren Rucksack auf die andere Seite und versuchte dort ihr Glück, ob dieses feuchte schreiende Häufchen dort entflohen wäre. Ein paar hundert Meter waren es schon, die sie so zurücklegte, bis Ava dort an die Türe klopfte. Eine, ein wenig verwirrte, Frau mit übergroßen Händen und Tränen in den Augen, öffnete ihr. „Da ist er ja, der Schlawiner!“ Wo haben sie denn den gefunden, den alten Ausreißer? Als die Bauersfrau sah, dass der Schlawiner pitsch nass war und auch Avas Beine trieften, da hatte sich ihre Frage erledigt. „Mein Gott, Gott segne Sie!“ Sie nahm ihren Sohn, den sie schon vermisst hatte in ihre Arme und der lächelte schon wieder, obwohl kein Faden an ihm trocken erschien. Und es wäre erwähnt, es war schon Ende Oktober, da war es schon ganz schön kalt. Die Frau bat Ava zu bleiben. Versorgte ihren nassen Lümmel mit neuen Kleidern und erzählte nebenbei, dass seit er laufen könnte, er nicht zu halten wäre; er würde fast täglich ausbüchsen. Ein freies offenes Land und sie müsste viel arbeiten, sie nähme ihn immer mit, doch so bald sie sich umdrehe, sei dieser kleine Wilde wie vom Blitz getroffen und weg. Sie hatte schon dran gedacht, ihn einzusperren. Doch sie hatte es nicht übers Herz gebracht. Sie bot Ava neue Strümpfe an und machte ihr ein heißes Fußbad. Sie nahm dankend an. Sollte der alte Herr noch ein wenig warten, dachte sie. Nicht dass sie wieder krank werde. Gott sei Dank, war mit dem Alten auch kein genauer Zeitpunkt ausgemacht. Es hatte nur geheißen, sie sollte an diesem Tage kommen. Sie war jetzt wo sie dem Kleinen das Leben gerettet hatte, ganz schön erschöpft. Das merkte sie erst später und so nahm sie die Einladung zum Abendessen der Bauernfamilie dankend an, während ihr neuer, eineinhalb jähriger Freund sich an sie gedrückt hatte und dabei friedlich einschlief. Nun denn, in Zufriedenheit, dass das alles gut ausgegangen war, machte sich Ava auf den restlichen Weg zu ihrem alten Dienstherrn. Es war glücklicher Weise nicht mehr weit. Der saß in seinem Ohrensessel, war eingeschlummert, als es plötzlich an seiner rostigen Türglocke schellte. Er dachte zuerst, als das Läuten nicht aufhörte, er hätte es geträumt. Doch als das „Gebimmele“ gar kein Ende fand, schrak er hoch. Das war kein Traum. Da fiel ihm ein, dass er ja noch das junge Ding erwartete, dass für ihn sorgen wollte. Nun es dauerte noch eine Weile, bis er sich hochgerafft hatte, seinen Stock in der Rechten, man wusste ja nie wer da wäre. Schließlich wohnte er in einem abgelegenen Haus und lugte mit einem Auge durch den Spion. „Wer ist da?“ rief er hinaus. „Ich bin es die Ava, ich soll doch heute den Dienst bei ihnen antreten!“ „Ja, ja, schon gut!“ ich mach` ja schon. Langsam öffnete er die schwere Holztüre und holte sich sicherheitshalber seinen Monokel aus der Westentasche, um ordentlich zu sehen, wer oder was da vor einem stand. Schien sein Richtiges zu haben, stellte er fest und blickte sie beim Eintreten in sein Haus gar argwöhnisch an.Er begrüßte sie kurz und bündig und gab ihr im gleichen Wortschwall knapp ihr Anweisungen für ihren Aufenthalt. Morgens den Ofen schüren und kochen, waschen und putzen. „Das krieg` ich hin“, erwiderte sie kurz und er zeigte ihr das Zimmerchen, das sie bewohnen durfte. Er zeigte mit dem Finger in die Richtung des Raumes. Es war karg und dunkel. „In Ordnung“, sagte Ava und damit war der rauschende Wortwechsel zwischen den beiden auch schon beendet. Der Alte setzte sich wieder in den Ohrensessel und schloss wieder die Augen. So als wenn nichts gewesen wäre. Ava ging in das angewiesene Zimmer und versuchte in die Ruhe zu kommen. Ob sie sich freuen sollte, dass war ihr in diesem Moment nicht wirklich klar. Es stellte sich zwischen den Spinnweben in ihrem neuen Domizil kein Glücksgefühl ein. Am nächsten Morgen legte sie Kohlen nach und versuchte aus den gegebenen Zutaten in der Küche ein Frühstück für den Herrn herzurichten. Der hatte sich bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht blicken lassen. Es war beängstigend ruhig in diesem Hause. Die einzige Geräuschkulisse war die alte Standuhr, die ihr Pendel im Takt schwang. Der Alte kam irgendwann aus seinem Zimmer. Ava begrüßte ihn und da kam nicht wirklich etwas zurück. Ein Murmeln vernahm sie. Ob das ein „guten Morgen“ heißen sollte, war ihr beim besten Gewissen nicht zu erklären. Er blickte nur in Richtung des Ofens und sah nach, ob die Kohlen richtig in der Glut lägen. Ansonsten Schweigen. So verhielt es sich den ganzen Tag. Schweigen, nur Schweigen. Ava durfte sich aus den Resten seiner Würste eine Art Bouillon zubereiten. Er war nicht nur schweigsam, sondern auch schrecklich geizig. Das Essen, das sie zu sich nehmen durfte, bestand fast ausschließlich aus seinen Resten. Ava schluckte. Alleine die Vorstellung, das sie nicht einmal Schweinefett, oder Öl in die Pfanne geben durfte, sondern von ihrer Bouillon den Rahmen sozusagen abschöpfen musste, das war fast krankhafter Geiz. Der Rahm musste dann auf ein altes Papier in der Küche, das neben dem Ofen lag, gekratzt werden. Mahlzeit. Wohin war sie da nur wieder hingeraten. Eines morgens, Ava war gerade dabei Kohlen in den Ofen zu geben und die alte Asche heraus zu schaufeln. Da fing der Alte aus dem Nichts das Schreien an. Sie erschrak zu tiefst. „Du Verschwenderin“, schrie und fuchtelte er panisch wütend um sich herum. Ava wusste nicht, was da gerade geschah und war sich keinerlei Schuld bewusst. Er griff mit den Händen in die alte, erkalte Asche und holte zwei angeglühte Kohlestückchen heraus. Die er dann zaghaft auf ein Stück Papier legte. „Auweia“, dachte Ava. Als sie das Martyrium etwas kapiert hatte. „Das halte ich nicht lange aus“, das war ihr nach diesem Glimmzug wieder einmal klar. Wo war sie denn, ihre Bedingungslosigkeit des Glücks? Wo denn? Warum schlüge ihr Leben so fehl? „Bitte lieber Gott, würdest du mir den Weg zeigen, wohin mich meine Reise trüge?“ Als sie sich abends die alte Wolldecke in ihrem Nachtlager über den Kopf zog. Der Alte besserte sich auch nicht in den nächsten Wochen. Sonntags legte er ihr eine Mark auf den Küchentisch, damit sie sich etwas zu essen kaufen konnte. Sonntags ging er aus. Wo immer er auch hin ging, er erwähnte es nicht. Ava hatte in den Dorf einen Wurststand gefunden, den sie auf dem Heimweg des Kirchgangs entdeckt hatte. Und nachdem sie beim Alten nur karges Mahl bekam, freute sie sich immer nach der Kirche zum Würstelstand zu gehen und sich eine große Rote zu holen. Das war das, worauf sie sich die ganze Woche gefreut hatte. Die Mark, die sich allwöchentlich in eine wunderbare Leckerei verwandelte. Ihre Angst bestand aus dem, dass der Alte sie einmal vergessen könnte. Ihre finanziellen Rücklagen waren eben nur immer genau mal so groß, dass die Zugfahrt alle vier Wochen zu den Eltern abgesichert war. Und im Notfalle immer das Zuggeld zu haben, um heimzukehren, dass war ihr das Wichtigste. Aber auch so wortkarg, geizig und „grummelig“ der Alte auch war, die Mark lag stets da. Ava dachte immer, es wäre für ihn so eine Art Entschuldigung, dass er nichts mehr mit ihr anfangen konnte und dass sie als junges Mädchen es mit ihm auszuhalten hatte. Also stürzte sie sich allwöchentlich zum Stand. „Schmeckst dir Mädel?“ fragte der Würstelstandbesitzer. „Himmlisch“, erwiderte Ava. „Die Wurst im Brötchen ist jede Woche meine Freude“, meinte sie. „Na, dann freu´ ich mich mein Kind, dass ich dir mir der Pferdewurst so eine große Freude machen kann!“ Ava biss gerade herzhaft in das belegte Brötchen, da hätte sie sich fast verschluckt daran. „Woraus besteht die Wurst?“ fragte sie noch einmal sicherheitshalber nach. „Aus Pferdefleisch, mein Kind, hab` ich dir doch schon gesagt.“ Ava spuckte im hohen Bogen ihren Biss aus. Die Tränen liefen an ihr herunter. Sie sah nur noch die Pferde ihrer Kindheit, die sie heimlich mit ihren Brüdern zu Bade ließ. Die ihr eine so Riesenfreude im Leben bereitet hatten, jetzt verspeiste sie vielleicht eines ihrer Freunde, die sie im Stall gestriegelt hatte, bei denen sie in den Boxen heimlich übernachtet hatte, wenn eines der Pferde krank gewesen war, denen sie all ihre Kindheitsträume in die großen Ohren geflüstert hatte. Jetzt bestand ihre einzige Freude darin, all Sonntags ein dicke Wurst zu essen und die sollte aus Pferdefleisch bestehen? Für Avas Seele war das zu viel. Das hätte sie nie ihrem heiß geliebten Bruder Peter erzählen können, dessen erste Frage nach der Rückkehr aus dem Krieg war: „Vaddl und Muddl, was ist aus den Pferden geworden?“ Er hatte sie vergöttert, die Tiere. Die Pferde verwandelten sich in seiner Hand zu zarten Häschen. Sie fühlten seine Liebe zu ihnen. Man hätte ihn wohl als Pferdeflüsterer bezeichnet, so eins war er mit den Huftieren. Und jetzt war Ava soweit, dass ihre einzige Freude daraus bestand, Pferdefleisch zu essen? Sie wusste jetzt auf einmal, warum sie in ihren jungen Jahren so herumgereicht wurde, warum sie so viele Stationen abklappern musste, warum das alles so geschah. Sie hatte sich das alles so aber viele Male gestellt. Endlos oft hatte sie zum lieben Gott gebetet, um Antworten auf diese Plackereien zu erhalten. Jetzt, jetzt endlich hatte sie die Antwort. Sie wusste augenblicklich, dass dies ihre letzte Station des Unglücks war, dass sie tiefer hätte in ihrem Dasein nicht fallen können. Und dass ab nun eine neue Zeit für sie hereinbrechen würde, die ihr mehr Freude bringen würde, die sie insgeheim an ihr Ziel tragen würde. Dass das Leid ab jetzt ein Ende hätte. Sie war jetzt ganz unten im Brunnen und sie bräuchte sich fortan nicht mehr hin- und herschubsen zu lassen. Sie saß an diesem Tag noch lange alleine vor dem alten Ofen und freute sich an jedem Knistern der Holzspäne und am Anblick der glühenden Kohlen. Niemand hätte ihr jetzt mehr Angst einjagen können. Der alte „Grandler“ schon lange nicht. Sie wusste ab diesem Zeitpunkt ginge es bergauf. Als sie zu Bett gehen wollte, hörte sie einen groben Aufprall. Sie erschrak. Ava verließ das Zimmer und sah, wie der Alte aus seinem Ohrensessel gefallen war. Er lag regungslos auf dem Boden. Ava schüttelte ihn und versuchte ihn wieder zu Sinnen zu bekommen. All das schlug fehl. Daraufhin warf sie sich ihren Mantel über das Nachthemdchen und rannte nach draußen. Den nächsten Nachbar zur Hilfe holen. Sie wusste nicht mehr wie lange sie gerannt war. Sie rannte zum Haus des unfreiwillig badenden Kleinen. Dort angekommen klopfte sie ungestüm an die Haustüre. Die Bauersfrau öffnete und Ava unterbreitete die Botschaft. Die holte ihren Mann und der fackelte nicht lange, zog sich ohne große Worte seine warme Joppe über und spannte die Pferde an, um zum Doktor zu eilen. Ava und die Bauersfrau machten sich zusammen auf den Weg zurück zum Alten. Der lag immer noch regungslos da. Sie versuchten ihn hoch zu stemmen, doch es fehlte ihnen an Kraft. Wie lange es gedauerte hatte, bis der Nachbar mit dem Doktor eingetroffen war, konnte nachher keiner mehr sagen. Auf jeden Fall stellte der Arzt einen Herzinfarkt fest und bestimmte, dass der Alte ins Krankenhaus musste und dass er zu alt wäre, um alleine zu leben. Der Doktor würde sich während des Hospitalaufenthaltes um einen Platz für ihn im Altenheim kümmern, Geld genug hätte er anscheinend. Damit war Ava arbeitslos. Ihre Lage hatte sie richtig erkannt. Sie richtete dem Alten das Haus zum Abschied noch einmal schön her. Stellte alles an seinen Platz und schrieb ihm einen Abschiedsbrief. Kein Wort über seinen Argwohn, oder seinen Geiz. Sie schrieb ihm einen Brief voller Dankbarkeit, dass alles so sein Richtiges hatte und dass für sie jetzt ein anderes Leben beginnen würde. Welches immer es sein möge. Er hätte ihr unbewusst den Eintritt dazu verschafft. Sie wünschte ihm noch ein gesundes Leben, ohne Einsamkeit und packte dann ihren Rucksack mit ihren Habseligkeiten und machte sich auf den Weg zu ihren Eltern. Die freuten sich sehr, als Ava zurück kam. Sie stellten keine Fragen. Sie merkten nur, dass irgendetwas an ihr anders geworden war. Sie war auch sehr blass und schmal geworden und kaum war sie im Schoße ihrer Familie, da wurde sie erneut krank. Die Seele brauchte ihre Ruhe, um das Erlebte zu verdauen. Ava lag einige Wochen bei ihren Eltern. Muddl versorgte sie wie ein Kleinkind. Sie fütterte sie mit Haferflocken und dicken Margarinebroten, liebkoste und streichelte sie. Doch keiner sprach über etwas. Das alles war nur Heilung. Aber trotzdem wussten alle unterbewusst, dass jetzt das Alte ein Ende hatte und das Neue kam und darauf freuten sie sich. Es dauerte ein paar Wochen, bis sich Ava erholt hatte. Das Mühsal der letzten Jahre waren nicht spurlos an ihr vorbeigegangen. Sie hatte sich seit Kriegsbeginn keine Pause gegönnt. Sie war ja fast noch ein Mädchen, nein, sie war noch ein Mädchen. Davon hatte sie selbst ja gar nichts mitbekommen. Zurück blieb nur ihre Wirbelsäulenverkrümmung, die sie an die Quälereien der Vergangenheit erinnerte. Ganz langsam formte sich wieder Kraft in ihr. Der Wille für das Neue wuchs von Tag zu Tag. Sie wollte wieder arbeiten. Das gefiel auch ihren Eltern. Sie hatten sich zurück gehalten, was das Thema Arbeit belangte. Sie hatten sich alle eingeschränkt, um dem Genesungsfortbestand von Ava nicht zu schaden. Aber darüber wurde nicht geredet. Als sie von alleine kam und den Eltern mitteilte, dass sie sich nun wieder kräftiger fühlte, war dies das Zeichen - alles hatte seine richtige Form. „In der Handschuhmacherfirma suchen sie noch Frauen zum Handschuhnähen“, sagte Vaddl. Hab` ich in der Porzellanfabrik gehört. „Du kannst doch gut nähen und stellst dich sehr geschickt bei solchen Arbeiten an“, meinte auch Muddl. „Wenn du möchtest können wir ja mal fragen, ob die Interesse an dir haben.“ „Ja, das wäre eine wunderbarer Eingebung“, sprudelte es aus Ava hervor. „Gut, dann tun wir das.“ Doch dieses Mal fühlte sie sich nicht fremd gesteuert. Dieses Mal fühlte sie irgend etwas anderes. Vaddl fragte am nächsten Tag in der Porzellanfabrik bei seinen Informanten noch einmal, ob die Näherin noch akut wären und der wollte ein Übriges tun. Schon am nächsten Tag kam Vaddl mit einem breiten Lächeln von der Arbeit nach Hause. „Sie suchen noch, mein Kind! Du kannst gleich morgen um fünf Uhr Nachmittags in die Fabrik kommen und vorsprechen.“ „Werde ich, Vaddl! Das freut mich zutiefst.“ Und schon machte sie sich Gedanken, was sie da morgen wohl anziehe würde. Sie fand mit Muddl noch einen braunen Rockstoff im hintersten Teil des Schrankes. Denn hatte Muddl für besondere Anlässe aufgehoben. Sie spürten alle, das war so einer. Keiner wusste wirklich warum. War einfach so. Ava setzte sich sogleich mit Muddl hin und sie fingen an einen Rock zu nähen. Schließlich wollte sie auch noch ein wenig ihre Fingerfertigkeit mit der Nadel üben, um sich selbst unter Beweis zu stellen. „Ich kann gut nähen.“ Und das klappte. Am späten Abend war der braune Stoff in einen wunderhübschen Rock verwandelt, der am nächsten Tage zu Einsatz kommen sollte. Ava traf pünktlich gegen fünf Uhr an der Fabrik ein. Geschmückt mit ihrem neuen braunen Rock. Sie fühlte sich sehr beschwingt und das nicht nur weil der neue Rock im Takt zu ihren entschlossenen Schritten wippte. Sie freute sich auf die neue Herausforderung, sie fühlte sich ausgeruht, geliebt und hatte so ein freudiges Lächeln auf den Lippen. Sie betrat das Gebäude und fragte sich nach dem Lohnbüro durch. Es schien gerade Feierabend in der Fabrik zu sein. Ein großes Läuten war zu hören und ganz viele Menschen tummelten sich gleichzeitig auf den Fluren. Ein richtiges Gewusel. Sie sah das Lohnbüro anhand der Aufschrift von weitem. Sie drückte sich zu dieser Tür mit der Betitelung „LOHNBÜRO“ in großen braunen Druckbuchstaben durch und fiel fast stürmisch zur Türe herein. Just in diesem Moment stürzte ein Mann zu gleicher Zeit vom Lohnbüro nach draußen. Er hatte es verflixt eilig und wollte nur raus. Er war völlig in Gedanken. Ava war auch völlig in Gedanken. Es kam, wie es kommen musste. Es krachte. Ava und dieser Mann prallten beim Öffnen der Türe aufeinander. Es machte einen „Wumm`s“. Ava stürzte. Die beiden erschraken so sehr. Der Mann, schüttelte sich und zog sie am Arm hoch. Dabei blickte er ihr tief in die Augen. Ein langer Augenblick entstand. Keiner sagte etwas. Ein durchdringender Blick, der nur die Augen des anderen sah. Langes Schweigen. Nach einer gefühlt unendlich langen Zeit fragte der Mann Ava: „Wo willst du hin?“ „Mich anmelden! Und du?“ „Mich abmelden!“ Keiner hatte sich vorgestellt, keiner wusste den Namen des anderen. Sie duzten sich einfach. „Schade“, sagte der Mann. Ava schwieg. Sie sagte einfach anmelden, obwohl sie sich noch nicht einmal vorgestellt hatte, geschweige denn, ob sie diese Arbeit überhaupt bekam. Keiner sprach sonst etwas. Keine Entschuldigung bezüglich der Kollision. Der Mann hatte sie nicht einmal gefragt, ob ihr etwas passiert wäre, ob alles in Ordnung wäre. Sie trennten sich wieder, ohne dass einer vom anderen wusste, wer er wäre. Ava hob einfach ihren Rucksack auf, der bei dem Zusammenstoß zu Boden gefallen war und ging ohne sich noch einmal um zu drehen ins Büro. Der Mann drehte genauso wenig um und verschwand, wie er gekommen war im Nichts.Sie wurde bereits erwartet im Lohnbüro. Es war ihr etwas unangenehm. Vor allem, weil sie Ordentlichkeit und Pünktlichkeit in einer Person war. Doch sie schwieg zu dem Vorfall mit dem Mann. Sie hatte ja selbst nicht verstanden, was da passierte. So erwähnte sie nur ihren Namen und dass sie erwartet würde. Da die Bürokräfte bald nach Hause gehen wollten, es war schließlich Feierabend für sie und keine Lust mehr hatten, große Diskussionen zu führen und die Anstellung als Näherin noch frei war, bekam Ava kurzentschlossen gleich die Zusage. Es gab genug zu tun in der Fabrik, deshalb nahmen sie einfach nur ihre Daten auf und fragte sie, ob sie morgen früh anfangen wollte. Ava bejahte. Sie unterschrieb ein vorgeschriebenes Arbeitspapier, wünschte einen schönen Abend und verließ auf schnellstem Wege das Gebäude. Sie setzte sich schleunigst auf ihr Fahrrad, radeln konnte sie jetzt ja, der Bauer, der ihre Eltern in Anstellung nahm, hatte es ihr geliehen und nichts wie weg hier, heim zu den Eltern. Dort wurde sie schon sehnlichst erwartet, doch Ava sagte nur: „Ich fang` dann morgen früh dort an.“ Das war alles. Sonst malte sie immer in rauschenden Sätzen ihre Geschehnisse aus. Diesmal nicht. Ein wenig komisch fanden Vaddl und Muddl das schon. Doch fragen wollten sie nicht. Sie würde wohl ihre Gründe haben, warum sie so einsilbig war. Ava verzog es nach draußen. Sie ging lange spazieren und setzte sich irgendwann einmal auf einen Stein und wartete auf den Sonnenuntergang. Ganz alleine. Sie konnte sich selbst nicht erklären, was sie da machte und warum sie so seltsam reagierte. Sonst redete sie nur allzu gerne und freute sich, ihren geliebten Eltern alles mitteilen zu können. Aber jetzt wollte sie niemanden sehen. Sie wollte nicht über den Vorfall mit diesem fremden Mann nachdenken, aber es klappte nicht, das was da passierte, war ihr fremd, es brachte sie vollkommen aus dem Konzept, doch sie fühlte nur eines, dass es sich bedingungslos richtig anfühlte. Hatte sie sich verliebt?Ava wusste bis zu diesem Zeitpunkt nicht, was verliebt sein war. Sie fand zwar einen Nachbarjungen nett, der manchmal mit den Brüdern ausritt, oder er brachte auch seine Pferde zum Bade, wenn die Brüder es taten und Ava sah ihn manchmal an; das tat sie damals gerne. Aber sie war ja noch ein Kind. Und mehr als gerne ansehen und Zeit mit den Brüdern verbringen, das gab es noch nicht. Und interessierte sie auch nicht. Das war ein Spielkamerad. Doch seit dieser Begegnung mit diesem fremden Mann auf dem Flur, der sie total aus der Fassung gebracht hatte, fühlte sie, dass es anscheinend noch etwas gab. Etwas komplett Neues. Das sie aber gänzlich verwirrte. Es war so unkontrolliert in diesem Moment. So groß und übergreifend. Aber sie konnte an nichts anderes mehr denken, als an diesen Fremden. Spät abends ging sie dann wortkarg zu den Eltern und richtete sich ihr Schlafgemach. Nach einer unruhigen Nacht fuhr sie wiederum ohne große Worte zu ihrer neuen Arbeitsstelle. Das Herz hüpfte ihr auf dem Wege bis zum Hals. Oh je! Dort angekommen, ging sie wieder den Flur entlang, da wo ihr gestern der große Unbekannte erschien. Sie hatte plötzlich Angst und war schrecklich aufgeregt. War er wieder da? Sie sah ihn nicht. Im Büro wiesen sie ihr einen Arbeitsplatz zu. Eine Frau begleitete sie dorthin. Ava sah permanent nach links und rechts, um ja nichts und niemanden zu übersehen. Doch es gab nichts Ungewöhnliches. Eine Frau legte ihr einen Berg zugeschnittener Handschuhe an die Nähmaschine, den galt es in kürzester Zeit zu steppen. Das lenkte erst einmal ab. Da Ava noch nicht geübt war im Nähen, bat sie ihre Nähnachbarin sie solle ihr erst einmal bitte behilflich sein, die Arbeit richtig anzuweisen. Die tat es gerne. Ava wusste zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass diese Frau an der anderen Nähmaschine, auch eine Schwester des unbekannten Mannes war. Und so war Ava erst einmal schwer angespannt, die Arbeit richtig zu machen. Sie musste sich voll und ganz konzentrieren. Doch ab und zu schaute sie suchend auf, ob da nicht jemand in den Raum kam, der ihr Herz in Wallungen versetzte. Sie traute sich nicht, jemanden nach ihm zu befragen. Sie hatte ja auch keinen Namen, sie wusste nur wie er aussah. Und er sah verdammt gut aus. Also galt es nur zu hoffen, dass er wieder auftauchte. Innerlich machte Ava dies ganz schön verrückt. In diesem Zustand verbrachte sie ganze drei Tage. Heim essen, wenig reden, gleich schlafen gehen, morgens wenig reden, wenig essen, gleich aufs Fahrrad und dort suchend warten. Schrecklich. Am dritten Tage fühlte sich Ava schon mit den Nerven runter. Er kam einfach nicht. Der Mann war einfach weg. „Vergiss' ihn Ava“, sagte sie zu sich selbst. Das war eine Fata Morgana, sonst nicht. Und so blieb sie am dritten Tage in ihrer Mittagspause auch bei der Nähmaschine, an ihrer Arbeit sitzen. Sie kam noch nicht so gut voran mit dem Nähen, schließlich war das alles noch fremd für sie. Und der Handschuhberg wurde nicht schnell genug kleiner. „Also, was soll's!“ meinte Ava und arbeitete mittags durch. Voll konzentriert war sie. So bemerkte sie gar nicht, wie sich jemand von hinten an sie annäherte. „Ritsch-ratsch“, machte ihre Nähmaschine ihre gleichmäßigen Bewegungen und Ava fühlte sich bei jedem Paar fertig gestellter Handschuhe ein wenig selbstbewusster. Sie lernte schnell. „Hallo“, raunte es in ihr Ohr. Ava hätte sich fast in den Daumen genäht – sie hatte die Annäherung nicht bemerkt, so erschrocken war sie. Sie dachte ja, sie wäre alleine. Dieses „Hallo“ sah sie nur an, holte sich einen Stuhl und nahm ihr gegenüber Platz. Ava blickte hoch, an ihrem Daumen lutschend, der Gott sei Dank, nicht blutete. Der große schöne Unbekannte war es. Er sagte noch nichts und beobachtete sie weiter. Ava musste aufhören zu nähen, ihre Konzentration war am Ende. Sie blickte ihn ebenfalls an, jedoch nicht so offensiv wie der Mann. So blieb dieser Augenblick ziemlich lange erhalten. Das Einzige was sie hörte, war ihr Herz. Das schlug bis zum Halse. Sie hatte Angst, dass das Schlagen ihres Herzens so laut war, dass man es hören konnte. Für sie fühlte es sich an, als wenn Big Ben in London das Zwölf Uhr mittags einläutete. Jeder musste es hören. Erst dachte sie Lex Barker säße ihr gegenüber. Ein klasse Typ. Aber es war nicht Lex Barker. „Ich bin Gregor“, sagte er ruhig. „Ich fange nächste Woche in Ravensburg an zu arbeiten. Hier habe ich gekündigt. Wenn du es willst, kannst du mitkommen.“ Nicht mehr und nicht weniger. Ava starrte ihn ganz lange an. Dieses Mal intensiver. Sie brachte vor Aufregung kein Wort heraus. Er saß weiterhin völlig in sich ruhend da und beobachtete sie schweigend. So verbrachten sie beide die Mittagspause bis der große Gong, dass Weiterarbeiten nach der Mittagspause, einläutete. Mit diesem Zeichen stand Gregor, der große Unbekannte auf und wollte den Raum verlassen. Ava verspürte - dies war einer der wichtigsten Momente in ihrem Leben. Den durfte sie sich aus Scham und Angst nicht versauen. Deshalb sah sie ihn noch einmal intensiv an und sie nickte. Ja, sie nickte tatsächlich. Sie wusste auch nicht, was sie da tat. Aber sie nickte. Sie gab das Einverständnis. Sie würde ihm folgen. Das war es. Gregor verstand es. Er lächelte ganz sanft und verschwand so unscheinbar, wie er gekommen war, während die anderen Arbeiterinnen wie Fliegenschwärme tratschend und klatschend den Raum betraten und Ava gar nicht bemerkten. Geschweige denn, den Vorfall, der da gerade von statten ging. Ava nahm einfach den nächsten Handschuh und nähte weiter. Sie nähte an diesem Nachmittag, wie als wenn sie die Olympiade im Wett nähen gewinnen müsste. Sie bemerkte kaum, als das Feierabendläuten aufhellte. Sie bemerkte nur, wie die tratschenden und klatschenden Weiber eiligst an ihr vorbei huschten. Sie bemerkten Ava in ihrer Veränderung nicht. Doch das war ihr egal. Es war ihr sogar recht. Die Weiber hatten Gregor auch mittags gar nicht wahrgenommen. Die waren viel zu sehr mit ihrer eigenen Welt beschäftigt. Ava war für sie neu und noch nicht ganz als Kollegin integriert. Sie hatte den Anschluss in ihre Kreise vom ersten Tag an nicht gesucht. Jetzt wusste sie auch, warum sie dies auch gar nicht wollte. Sie nahm einfach ihren Rucksack und schlich als letzte aus dem Raum, deckte ihre Nähmaschine ab und gab der heimlich noch einen Kuss. Aus Dankbarkeit, als Zeugin für ihr Glück und ihre Bedingungslosigkeit an diesen Augenblick. Von nun an gab es kein zurück. Nur Gott war noch Zeuge aus dem mittäglichen Glück. Sie fuhr zu ihren Eltern heim und erzählte zum ersten Mal von ihrer Begegnung. Vaddl und Muddl hörten geduldig zu und Vaddl nahm sie danach fest in seine Arme. „Von jetzt an wird jemand anderes für Dich sorgen“ und noch etwas ganz Wichtiges: „Ich gebe Dir jetzt einen Leitsatz mit auf Deinen kommenden Weg, merke ihn Dir immer: „Dein Leben sei fröhlich und heiter, kein Leiden betrübe Dein Herz, das Glück sei stets Dein Begleiter, nie treffe Dich Kummer und Schmerz.“ Vergiss das nie, egal was kommen mag und wird.“ Vaddl tat, wie als wenn dieser große Unbekannte ein Heiratsversprechen abgeben hätte. Aber das war auch ohne Versprechen klar. Die paar wenigen Worte des großen Unbekannten waren ihr klar und sehr eindeutig. Diese Worte waren so fundamentiert und reichlich überlegt gewesen. Am folgenden Tag kam der große, fast nicht mehr Unbekannte wieder in der Mittagspause. Dieses Mal sah er Ava einfach nur beim Nähen zu. Er wusste ja von ihrem Einverständnis. Wozu viele Worte verwenden, wenn einfach alles so in Ordnung war. Ava wurde bei der zweiten Begegnung auch etwas ruhiger. Sie gewöhnte sich an ihn. Und so blieb es der Rest der Woche. Immer in der Mittagspause kam er aus dem Nichts. Ava fragte ihn auch nicht, woher er kam und wohin er anschließend ging. Am letzten Tag der Woche kam er wiederum pünktlich. Doch dieses Mal sprach er. „Heute komme ich das letzte Mal, morgen fahre ich mit dem Motorrad nach Ravensburg und suche am Wochenende eine Wohnung für uns. Ich erwarte dich, sobald du hier gehen kannst, gib mir deine Adresse, damit ich dir deinen neuen Wohnort mitteilen kann.“ Ava nickte nur wieder und holte ihr Brotzeitpapier hervor, auf dem sie mit dem Bleistift die Anschrift ihrer Eltern hinterlassen hatte. Diesen Schmierzettel drückte sie ihm wortlos in die Handfläche. Darauf verschwand er wieder beim Läuten der Mittagsglocke, ohne Ava je geküsst, oder umarmt zu haben. So unscheinbar wie er gekommen war, so unscheinbar verschwand er wieder ins Nichts. Doch seine Spuren, die er hinterlassen hatte, hatten eine andere Ava geformt. Die Kolleginnen hatten von all dem rein gar nichts bemerkt, die waren ja in der Mittagspause gewesen. Zu Hause erzählte Ava es ihren Eltern, auch die sagten nichts. Sie wussten, ihr Kind war erwachsen geworden, sie müsste jetzt ihren eigenen Weg gehen. Es vergingen ein paar Wochen, in denen sich äußerlich nichts verändert hatte. Ava ging täglich zur Arbeit. Sie arbeitete viel und fleißig. Mehr als von ihr erwartet wurde. Sie wollte sich ein wenig Geld zusammen sparen, weil sie erst einmal mit dem Zug bis nach Ravensburg reisen wollte und ihr neues zu Hause in Augenschein nehmen wollte. Sie zweifelte keinen Augenblick an ihrer Entscheidung, die voller Bedingungslosigkeit getroffen wurde. Gregor ließ auch nicht viel von sich hören. Aber das hatte nichts schlechtes zu bedeuten. Seine Worte waren gesagt und bestätigt worden. Was hätte er noch daran herum palavern sollen? Das Einzige was von seiner Seite kam, war ein kurzer Brief. In dem stand nur die neue Adresse, unterschrieben mit Gregor Meier. Weniger wäre nicht gegangen, kein „ ich vermisse Dich, ich liebe Dich, oder ähnliches“, nein nur die neue Anschrift stand da. Aber es war ausreichend. So ging Ava wieder ins Lohnbüro. Sie kündigte zum nächsten Monat. Danach ging sie zum ersten Mal in ihrem Leben in ein Hutgeschäft. Sie kaufte sich einen wunderschönen grünen Hut mit Schleier. Den wollte sie tragen auf ihrer Reise nach Ravensburg. Und sie gönnte sich in einem Bekleidungsgeschäft ein grünes Kostüm. Das wollte sie aber nicht gleich tragen. In Gedanken wollte sie es für ihre Verlobung aufheben. Das war es. Als der Monat endete, durfte Ava problemlos in der Firma gehen. Sie hatte jetzt keine Anstellung mehr, sie hatte nur noch dieses Vertrauen. Dieses Vertrauen an diesen Fremden, der ihr doch näher war, als alle anderen Menschen, außer ihren Eltern und Brüdern. Sie arbeitete an ihrem letzten Arbeitstag bis zum Feierabend, als wenn nichts gewesen wäre. Wie gesagt, die anderen Frauen, hatten den „Zwischenfall“ ja nicht bemerkt und Ava wollte sich auch nicht äußern. Wozu, keine von Ihnen schien sehr vertrauenswürdig ihr gegenüber und so saß sie sogar am letzten Arbeitstag in der Mittagspause noch vor der Maschine, während die anderen Frauen kicherten, rauchten und sich die neuesten Klatschgeschichten auftrugen. Sie arbeitete bis zum Ende den ihr anerkorenen Berg an Handschuhen weg. Und mittlerweile war ihr das Nähen schon in Fleisch und Blut übergegangen und es hatte ihr immer mehr Freude bereit. Sie würde das irgendwie in ihrem Leben weiter von statten bringen. Am nächsten Morgen richtete sie sich fein, zog zum ersten Mal den neuen grünen Hut mit Schleier auf und die Eltern nahmen sich frei, sie wollten Ava zur Bahn bringen. Muddl hatte heimlich auch Geld gespart, davon hatte sie Ava ein Köfferchen gekauft, das Zeitalter des Rucksackes war für Ava wohl nun endgültig vorbei. Die Eltern unterstützen dieses Vorhaben ihrer Tochter, sie konnten ihr bedingungslos vertrauen. So hatten die Eltern ihr abends das Köfferchen überreicht. Sie freute sich riesig. So stand sie jetzt da, mit Hut und Schleier, mit Koffer und sah aus wie eine Dame, nein, sie fühlte sich auch so. Die Eltern standen solange mit am Bahnsteig, bis ihr Zug in ihr neues Leben abfuhr. Vaddl und Muddl hatten Tränen in den Augen, aber nicht aus Trauer. Sie hatten beide gewusst, dass bei Ava bald dieser Schritt kommen würde. Sie war reif dafür. Alle hatten es ja gespürt. Und so schritt sie als Dame in den Zug, während der Schaffner ihr liebenswürdiger Weise den Schlag geöffnet hatte, wie bei einer Madame eben. Ava trat ans Zugfenster mit ihrem neuen, bestickten Taschentuch, dass ihr Muddl ebenfalls gehäkelt hatte und damit winkte sie, bis von den Eltern nur noch ein Pünktchen zu sehen war. Ava kam im neuen Ort an.Sie hatte den Zug als Mädchen mit Hut und Schleier bestiegen und als sie dort ankam war sie emotional eine Frau. Die Zugfahrt war's. Ihr Gang war aufrecht und erwartungsvoll. Sie schritt sehr graziös aus dem Bahnhoftrakt und winkte einem Taximeter zu. „Zur Wertherstraße 19, bitte,“ sagte sie dem Taxifahrer und stieg elegant hinten in den Wagen ein. Wie, als wenn sie noch nie in ihrem Leben etwas anderes getan hätte. Dort angelangt, klingelte sie mit der einen Hand an der Türglocke des Hauses und mit der anderen Hand krallte sie sich am Köfferchen fest. Ihr Herz begann wild zu pochen. Nie wusste sie sicherer in ihrem Leben, dass dies der bedingungslose Eintritt in ein neues Leben war.Gregor öffnete ihr. Er schien nicht überrascht zu sein, dass Ava vor seiner Türe stand. Er sagte wieder nichts. Er öffnete nur weit die Haustüre, damit Ava in ihr neues Leben eintreten konnte. Das tat sie. Es erwartete sie eine komplette kleine drei Zimmer Wohnung, die spartanisch, aber sehr sauber eingerichtet war. Ab jetzt ihr neues zu Hause. Gregor stand souverän mit dem Rücken zur Haustüre gelehnt und beobachtete sie. Die ging zielstrebig durch alle Zimmer. Sie versuchte die Aura der Räume aufzunehmen und sie sah sich gleichzeitig schon als Hausfrau durch die Zimmer huschen, in der Hand die Rührschüssel mit dem Backteig für Gregors Kuchen. Er beobachtete nur. Er schmunzelte etwas. Er war sehr glücklich. Sein Wunsch, Ava zu heiraten und mit ihr eine Familie zu gründen ging auf. Das musste er nicht aussprechen, dass sah er mit welcher Emsigkeit sie alles betrachtete, wie liebevoll sie über die neuen Möbel mit der Hand strich, um Kontakt mit ihnen aufzunehmen. Dass sie der Wohnung ihr weibliches Gepräge geben wollte, dass nahm er alles auf. Sie sprachen nicht einmal miteinander. Sie spürten beide nur und als Ava fertig war alles an zu fassen und zu begutachten, da drehte sie sich zu ihm um und sah ihn erwartungsvoll an. Gregor sagte noch nichts. Er ging einen Schritt auf sie zu und nahm sie in seine festen männlichen Arme. Die ersten Worte, die nach der langen intensiven Umarmung erklangen, als Gregor Ava ein Stückchen von sich weg schob, um sie an den Unterarmen fest zu halten, waren: „Willst du mich heiraten?“ Ava liefen die Tränen über die Wangen. Sie schluchzte. Weinend nickte sie und würgte vor Rührung ein leises „Ja“ hervor. Das reichte. Gregor nahm sie ein weiteres Mal in die Arme und sagte: „Dann herzlich willkommen zu Hause.“Er packte sie ein weiteres Mal am Arm und sagte: „Komm, lass uns zur Feier des Tages Essen gehen. Ich habe heute frei, weil du heute kommst. Lass uns beim Essen besprechen, wie unsere gemeinsame Zukunft zu bewerkstelligen ist.“ „Gut“, antwortete Ava. „Lass' uns das so machen.“ Die beiden ließen sich treiben von ihrem Eins in ihren Wünschen und Bedingungen.

Die Rose auf dem Butterbrot

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