Dieser Band enthält folgende Krimis:
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Alfred Bekker: Satansjünger
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Alfred Bekker: Die Waffe
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Cedric Balmore: Mike Torringer und der Zeuge
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Wolf G. Rahn: Ein Double für den Killer
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Cedric Balmore: Der Tod war schneller
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Der Privatdetektiv Bount Reiniger rettet Leonard W. Scott nach einem Kinobesuch selbstlos vor ein paar Schlägern. Kurze Zeit später bittet Scott ihn um Hilfe. Doch dabei verfolgt er einen perfiden Plan. Noch ist Reiniger arglos. Aber dann hat er es plötzlich mit dem Gangsterboss Rush zu tun, der seinem Killer befiehlt, den Privatdetektiv zu beseitigen …
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5 mörderische Herbst Thriller - Krimi Sammelband 5003 September 2019
Alfred Bekker, Wolf G. Rahn, Cedric Balmore
Dieser Band enthält folgende Krimis:
Alfred Bekker: Satansjünger
Alfred Bekker: Die Waffe
Cedric Balmore: Mike Torringer und der Zeuge
Wolf G. Rahn: Ein Double für den Killer
Cedric Balmore: Der Tod war schneller
Copyright
Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books, Alfred Bekker, Alfred Bekker präsentiert, Casssiopeia-XXX-press, Alfredbooks, Uksak Sonder-Edition, Cassiopeiapress Extra Edition, Cassiopeiapress/AlfredBooks und BEKKERpublishing sind Imprints von
© Roman by Author / COVER MICHAEL SAGENHORN
© dieser Ausgabe 2019 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen in Arrangement mit der Edition Bärenklau, herausgegeben von Jörg Martin Munsonius.
Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und nicht beabsichtigt.
Alle Rechte vorbehalten.
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Satansjünger
Alfred Bekker
© by Author
© dieser Ausgabe 2015 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen
postmaster @ alfredbekker . de
Der Umfang dieses Buchs entspricht 104 Taschenbuchseiten.
1
"Wir müssen tanken, sonst bleibt uns der Wagen gleich stehen!"
"Morris! Glaubst du, dass sie uns noch folgen?" Morris wandte sich zu der jungen Frau um, die neben ihm auf dem Beifahrer-Sitz des klapprigen Kastenwagens saß. Dann lachte er kurz und heiser. Verzweiflung klang in seiner Stimme mit.
"Was glaubst du denn!"
"Oh, mein Gott, wo sind wir da nur hineingeraten!" In ihren Augen glitzerten Tränen. Sie schluchzte.
Morris schlug mit dem Handballen wütend gegen das Lenkrad.
"Verliere jetzt nicht die Nerven, Kimberley!" In Wahrheit war er fast genau so nahe daran, wie sie.
"Was sollen wir denn tun, Morris?"
Er schluckte und wirkte ziemlich ratlos.
"Ich weiß es nicht!", gestand er ein. "Ich habe noch die Pistole, die ich einem der Kerle abnehmen konnte. Ganz wehrlos sind wir also nicht!"
Sie blickte sich um und sah den Highway hinunter, den sie entlang gerast waren, so schnell wie die alte Kutsche es schaffen konnte. Bis zu den Bergen ein paar Meilen südlich war nichts zu sehen. Der Highway war ein gerader Strich in der öden Landschaft. Die Luft flimmerte. Es war heiß.
"Kein Wagen zu sehen", meinte sie.
"Ein gutes Zeichen", gab er zurück. Aber natürlich wusste er, dass der Vorsprung, den sie hatten, minimal war und sehr schnell wieder auf Null zusammenschrumpfen konnte. Morris drückte auf das Gas.
Dann deutete er mit der Hand nach vorne.
"Dort hinten! Das sieht aus wie eine Tankstelle!", rief er und schöpfte ein wenig Hoffnung.
"Hast du Geld?", fragte Kimberley.
Er atmete tief durch
"Keinen Cent. Genau wie du, nehme ich an!"
"Sie werden uns nichts geben, wenn wir nicht bezahlen können!"
Morris machte eine wegwerfende Geste. "Wir können die Polizei anrufen!"
"Oh, Morris! Bis die her draußen ist, sind wir längst tot!"
Morris bremste den Wagen merklich ab und bog dann zu der Tankstelle ein. Der Drugstore daneben war nicht besonders groß, was auch kaum verwundern konnte. Mit vielen Gästen konnte man an diesem einsamen Ort nicht rechnen. Ein paar Trucker vielleicht, die hier halt machten, um einen starken Kaffee und ein paar Hamburger zu sich zu nehmen.
Im Augenblick war kaum Betrieb.
Um so besser!, dachte Morris und ließ den Blick über das Gelände schweifen. Ein alter Buick stand an den Zapfsäulen. Eine Frau in den mittleren Jahren saß auf dem Beifahrersitz und schien darauf zu warten, dass ihr Mann vom Bezahlen zurückkam.
Fünf Sekunden später tauchte er auf, den Kopf gesenkt und den Blick ins offene Portemonnaie gerichtet, wo er umständlich das Wechselgeld einsortierte.
Morris wartete, bis er eingestiegen und davongefahren war. Dann stellte er sich selbst neben die Zapfsäule.
"Was hast du vor?"
"Wart's ab, Kimberley! Ich weiß schon, was ich tue!" Vor dem Drugstore stand ein Kleinlaster mit Verdeck, auf dem das Markenzeichen eines Limonade-Herstellers zu sehen war. Vielleicht jemand, der eine Kleinigkeit essen wollte, möglicherweise auch ein Lieferant.
Ein Geschenk des Himmels!, dachte Morris. Wer immer hier den Laden schmiss - er würde wohl erst einmal beschäftigt sein.
Morris schraubte den Tank auf und ließ das Benzin aus der Zapfpistole laufen.
"Morris, was tust du!", hörte er Kimberleys Stimme, die inzwischen begriffen hatte, welches Spiel ihr Gefährte zu spielen beabsichtigte.
"Bis das jemand merkt, sind wir längst weg!" Morris zuckte mit den Schultern. "Haben wir eine andere Wahl?"
"Komm, lass uns fahren!", forderte Kimberley.
"Augenblick noch! Jeder Liter, der im Tank ist, ist drin!" Kimberley deutete in Richtung Drugstore.
"Morris!"
Aber es war schon so gut wie zu spät. Ein stämmiger Mann in den mittleren Jahren kam schnellen Schrittes heran. Seine Glatze war braungebrannt, seine Augen funkelten giftig.
"Hey, was soll das!"
"Ich dachte, hier wäre Selbstbedienung!" meinte Morris schlagfertig.
"Steht doch extra dran: 'Keine Selbstbedienung'!"
"Habe ich nicht gesehen."
Morris nahm die Zapfpistole aus dem Wagen heraus. Der braungebrannte Glatzkopf riss sie ihm aus der Hand und hängte sie an die Säule.
"Sie sehen, was auf dem Zähler steht, Mister!" Morris sah etwas ganz anderes - etwas, das ihn erbleichen ließ.
Er musste unwillkürlich schlucken, als er den staubigen Landrover bemerkte, der jetzt vom Highway herunterkam. Es war, als ob sich ihm eine kalte Hand auf die Schulter legte. Todesangst hatte ihn ergriffen und einen ganzen Augenblick lang war er unfähig, irgendetwas zu tun. Er stand einfach nur bewegungslos da.
"Ist Ihnen nicht gut, Mister?"
Das weckte Morris aus seiner Lethargie.
Blitzartig zog er seine Pistole hervor und hielt sie dem Glatzkopf unter die Nase. Und nun verlor auch der seine frische Gesichtsfarbe.
"Machen Sie keine Dummheiten, Mister! Für die paar Dollar lohnt sich das doch nicht!"
"Gehen Sie weg!"
"Ist ja schon gut!"
Er wich scheu und mit erhobenen Händen zurück und schüttelte dabei stumm den Kopf. Morris' Gesicht war zu einer Maske verzerrt. Jetzt ging es ums Ganze. Um Leben oder Tod.
Morris schnellte um den Wagen herum, stieg ein und ließ ihn an.
"Es ist vorbei", hörte er seine Begleiterin flüstern. Sie war starr vor Angst. "Es ist vorbei, Morris, wir haben keine Chance!"
"Red' keinen Unfug!"
Der Landrover kam heran und hielt direkt auf den Kastenwagen zu, in dem Morris und Kimberley saßen. Es gab keine Möglichkeit, an ihm vorbeizukommen.
Also setzte Morris zurück und versuchte zu drehen. Dabei eckte er an eine der hinteren Zapfsäulen an, aber das spielte jetzt keine Rolle. Drei Männer saßen in dem Landrover. Einer hatte ein Gewehr im Arm und die anderen beiden waren wahrscheinlich auch nicht unbewaffnet. Morris wollte den Kastenwagen durchstarten, aber da hatte der Landrover längst nachgesetzt und ehe sie sich versahen, saßen sie vor dessen Stoßstange.
Es gab ein hässliches Geräusch.
Der Kerl, der den Landrover steuerte, verzog das Gesicht zu einem hässlichen Grinsen.
"Raus!", rief Morris seiner Gefährtin zu. Indessen kletterte der erste von den Kerlen bereits aus dem Landrover heraus. Es war der mit dem Gewehr.
Morris und Kimberley ließen die Türen des Kastenwagens auffliegen.
"Lauf, Kimberley! Zum Drugstore!"
Der Mann mit dem Gewehr hob seine Waffe, aber noch bevor er irgendetwas tun konnte, hatte Morris bereits einen Schuss aus seiner Pistole abgegeben.
Sein Gegenüber taumelte rückwärts. Ein ungezielter Schuss löste sich aus dem Gewehr und ging irgendwo ins Nichts.
Morris hatte ihn im Bauch erwischt. Der Mann klappte zusammen wie ein Taschenmesser.
Unterdessen waren die beiden anderen aus dem Landrover gesprungen. Sie waren mit Pistolen bewaffnet. Morris hörte Kimberleys Stimme und wirbelte herum. Sie hatte davonlaufen wollen, aber jetzt hatte einer der Kerle sie gepackt und hielt sie wie einen Schild vor sich, während der andere seine Waffe hob und losballerte.
Morris warf sich instinktiv zu Boden, während die Kugeln über ihn hinweg fegte. Er rollte sich herum und hechtete sich dann hinter einen Haufen alter Reifen. Er hörte Kimberley seinen Namen rufen.
"Morris! M..." Dann wurde sie abgewürgt. Es schnitt ihm wie ein scharfes Messer in die Seele, aber was sollte er tun?
Kimberley war in ihrer Hand. Er konnte nicht einfach seine Waffe nehmen und drauflos ballern, ohne die Frau zu gefährden, die er liebte - und das wollte er um keinen Preis!
Morris tauchte hinter den Reifen hervor und schoss ein paarmal - aber nicht gezielt, sondern weit über seine Gegner hinweg.
Immerhin zogen sie erst einmal die Köpfe ein. Ein paar Augenblicke gewann er dadurch und so startete Morris zu einem Spurt in Richtung Drugstore.
Er hörte die Schüsse, die auf ihn abgegeben wurden, als er rannte und dachte: Jetzt hilft nur noch Beten!
Zum Glück waren seine Gegner ebenso lausige Schützen wie er selbst. Es war fast ein Wunder, aber er bekam nichts ab und konnte sich bis zu dem Kleinlaster retten. Er dachte an Kimberley und daran, was ihr jetzt bevorstand.
Aber er konnte nichts tun, ohne sie zu gefährden. Morris verschanzte sich hinter dem Lastwagen. An der Tür des Drugstores standen der Tankwart und noch ein Mann - wahrscheinlich der Getränkefahrer - und gafften mit weit aufgerissenen Augen. Eine Schießerei, dass war hier draußen, wo fast gar nichts passierte, schon etwas, wo es sich lohnte hinzusehen.
Selbst dann, wenn es nicht ganz ungefährlich war. Morris öffnete die Tür des Lastwagens. Zum Glück steckte der Schlüssel.
"Hey!", rief der Getränkefahrer. Er wollte einschreiten, ohne darauf zu achten, dass von den Zapfsäulen vielleicht eine Kugel in seine Richtung geschickt wurde.
Morris ließ die Pistole herumwirbeln.
"Zurück!"
Der Fahrer erstarrte. Morris brannte eine Kugel dicht vor ihm in den Erdboden und das brachte endlich Bewegung in seine Beine.
Als er dann hinter dem Lenkrad saß und startete, sah er einen Jeep vom Highway herankommen. Fünf Männer drängelten sich darauf, manche mit Gewehren.
Auch sie gehörten zu den Verfolgern, Morris erkannte sie sofort.
Augen zu und durch!, schoss es ihm durch den Kopf und er trat das Gas durch und hielt direkt auf den Jeep zu. Der Motor heulte auf. So ein Kleinlaster war eben kein Porsche. Der Jeep musste zur Seite ausweichen und fuhr gegen einen Fahnenmast.
Die Männer sprangen heraus, aber Morris war jetzt durch.
Ein paar Schüsse wurden ihm hinterhergeschickt. Morris hörte die Flaschen scheppern. Aber die Reifen bekamen glücklicherweise nichts ab.
Er ließ den Wagen über den Highway jagen, aber seine Gedanken waren bei Kimberley. Tränen des Zorns traten ihm in die Augen, und er musste schlucken.
Was Kimberley erwartete, war vielleicht schlimmer als der Tod. Aber im Augenblick konnte er nichts weiter tun, als sein eigenes Leben zu retten. Er schämte sich nicht dafür, so zu denken. Er hatte einfach nur eine höllische Angst.
2
Das Haus des Industriellen Harry J. Morgan lag direkt an einem der malerischen Sandstrände auf der der Jamaica Bay vorgelagerten Rockaway-Nehrung. Das Gelände war eingezäunt. Ein bewaffneter Wachmann patrouillierte mit einem deutschen Schäferhund an der Leine auf und ab. Bount Reiniger war mit seinem champagnerfarbenen Mercedes 500 SL hier herausgefahren, und kam jetzt an das Gittertor. Für gewöhnlich empfing der bekannte New Yorker Privatdetektiv Klienten in seinem Office, aber diesmal machte er eine Ausnahme.
Ein bisschen frischer Seewind - das konnte niemandem schaden, der sonst vorzugsweise den Smog von Midtown Manhattan atmete.
Bount Reiniger ließ die Scheibe des 500 SL herunter und langte zu dem Knopf an der Sprechanlage hinaus.
"Ja bitte?", krächzte es.
"Bount Reiniger. Mister Morgan erwartet mich!" Es folgte keine Antwort mehr. Statt dessen öffnete sich nach ein paar Sekunden selbsttätig das Gittertor. Der Mann mit dem Schäferhund stand in der Nähe herum. Der Hund kläffte etwas. Vielleicht war ihm das Motorengeräusch von Bounts Wagen unsympathisch.
Vor dem Haus stellte Bount den Wagen ab und stieg aus. Ein Mann, der aussah, als wäre er der Majordomus kam ihm entgegen.
"Mister Reiniger?"
"Ja?"
"Mister Morgan erwartet Sie am Strand. Gehen Sie einfach geradeaus. Hinter den Dünen werden Sie ihn sehen."
Bount zuckte mit den Schultern.
Der edle Zwirn, den er trug, war sicherlich alles andere als die passende Kleidung für eine Strandwanderung. Über die Dünenkette gelangte er auf einem Weg aus Holzplanken. Das Meeresrauschen war allgegenwärtig. Vom Atlantik her wehte ein kräftiger Wind.
Zum Baden war es um diese Jahreszeit noch entschieden zu kalt. Und so stand Harry J. Morgan, der Besitzer von Morgan Industries auch in sicherer Entfernung von den auslaufenden Wellen und blickte auf das Meer hinaus. Wenig später hatte Bount ihn erreicht.
"Mister Morgan, nehme ich an!"
Morgan war ein untersetzter, stämmiger Mann um die sechzig, der vor Energie nur so zu strotzen schien. Er drehte sich herum und musterte Bount kritisch von oben bis unten, so als wollte er abschätzen, ob dies der richtige Mann für ihn war.
Nachdenklich nickte er.
"Und Sie sind Reiniger, New Yorks bester Privatdetektiv."
"Danke."
"Bedanken Sie sich nicht Reiniger. Das sagen andere über Sie, nicht ich. Ich werde mit meinem Urteil warten, bis ich gesehen habe, was Sie drauf haben."
Bount lächelte dünn und zuckte mit den Schultern.
"Das ist Ihr gutes Recht. Ich schlage vor, wir kommen gleich zur Sache!"
Harry J. Morgan verengte ein wenig die Augen. Eine heftige Windböe zerzauste sein schütteres graues Haar, aber er achtete nicht darauf, sondern fixierte Bount unverwandt mit seinem Blick.
"Waren Sie früher bei der Polizei, Reiniger?"
"Ja. Sie haben sich erkundigt?"
"Ich habe einfach geraten. Jeder, der in New York eine Lizenz als Privat Eye haben will, muss drei Jahre bei der Polizei oder in der Army gewesen sein. Als nächstes hätte ich gefragt, ob Sie Soldat gewesen sind."
Bount grinste.
"Wie es scheint, sind Sie selbst kein schlechter Detektiv. Warum brauchen Sie dann einen wie mich?"
"Nehmen Sie's mir nicht übel, Mister Reiniger. Ich weiß immer ganz gerne über die Leute Bescheid, mit denen ich umgehe."
"Das verstehe ich."
Sie gingen ein Stück den Strand entlang und Morgan erklärte: "Es geht um Kimberley, meine Tochter."
"Was ist mit ihr?"
"Sie ist verschwunden. Wir hatten in der Vergangenheit unsere Probleme miteinander und sie lebt auch schon lange nicht mehr bei mir im Haus, aber..."
Bount kratzte sich am Hinterkopf und meinte: "Sehen Sie, Mister Morgan, ich bin Privatdetektiv, kein Kindermädchen. Wenn Sie Probleme mit Ihrer Tochter haben, bin ich wahrscheinlich die falsche Adresse!" Eine verwöhnte Millionärstochter zur Räson zu bringen, das war einfach nicht Bounts Ding.
Aber Morgan schüttelte energisch den Kopf.
"Nein, das glaube ich nicht!" Er atmete tief durch und machte dann eine Geste mit den Händen, die seine ganze Hilflosigkeit ausdrückte. "Ich fürchte, dass ihr etwas zugestoßen ist, Mister Reiniger!" Sein Gesicht war ganz grau geworden. Trotz der frischen Luft, die vom Atlantik herüberwehte.
Bount nickte.
"Na, gut. Erzählen Sie mir etwas über Ihre Tochter."
"Kimberley ist 25. Vor einigen Jahren haben wir uns zerstritten. Sehen Sie, ich bin ein vielbeschäftigter Mann. Ich habe eine Firma in Newark, eine Niederlassung in Cleveland und eine drüben in Montreal. Und wenn man will, dass die Dinge so laufen, wie man es für richtig hält, dann muss man sich doch am Ende selbst darum kümmern."
"Verstehe..."
Morgan sog die Meeresluft ein, als gäbe es nur eine begrenzte Menge davon, von der man sich besser etwas sicherte, solange der Vorrat reichte. Mit der Rechten deutete er auf die Umgebung.
"Dies ist ein wunderbarer Ort, nicht wahr, Mister Reiniger?"
"Ja."
Wer hätte das auch ernsthaft leugnen wollen?
"Aber ich habe kaum Gelegenheit dazu, mich hier zu erholen. Ich komme einfach nicht dazu!" Er zuckte mit den Schultern, blieb stehen und blickte in sich gekehrt hinaus auf den Atlantik. "Und genau so war es mit meiner Familie. Meine Frau hat die Konsequenzen gezogen. Sie ist gegangen und ich habe nicht die geringste Ahnung, wo sie steckt. Und Kimberley... Ich habe sie auch verloren. Ich hätte mich mehr, um sie kümmern sollen. Aber zum Jammern ist es jetzt zu spät."
"Wahrscheinlich haben Sie recht."
Bount wartete mit wachsender Ungeduld darauf, dass sein Gegenüber endlich zum Punkt kam und versuchte indessen, sich eine Zigarette anzuzünden.
Bei dem Wind war das allerdings eine Kunst für sich war. Schließlich gelang es ihm jedoch, während Harry Morgan fort fuhr: "Kimberley hat sich herumgetrieben, seit sie von zu Hause ausgezogen ist. Erst wollte sie studieren, aber das war ihr dann wohl zu anstrengend. Sie ist nicht zu den Vorlesungen gegangen. Zwischendurch wurde sie von der Polizei wegen irgendeiner Drogensache aufgegriffen, bei der meine Anwälte sie heraushauen mussten. Vor zwei Jahren hatte sie sich dann etwas gefangen. Seit der Zeit lebte sie in einer Künstlerkolonie in SoHo. Sie hat es mit Malerei versucht. Große Leinwände hat sie vollgeschmiert."
"Konnte sie davon leben?", fragte Bount. Harry J. Morgan lachte heiser und freudlos. Er schüttelte dabei energisch den Kopf.
"Wie kommen Sie nur auf den Gedanken!"
"Es gibt Leute, die ein Vermögen für Kunst ausgeben!"
"Ja, bei Malern, die Talent haben!"
Bount hob die Augenbrauen.
"Und Kimberley hatte keines?"
Morgan zuckte mit den Schultern.
"Das kann ich nicht beurteilen. Ich kenne mich mit Kunst nicht aus, aber großartige Verkaufserfolge kann sie nicht gehabt haben."
"Wovon lebte sie?"
"Von meinem monatlichen Scheck." Er verzog bitter das Gesicht. Seine Nasenflügel bebten ein wenig. "Sonst wollte sie wenig mit mir zu tun haben, aber ich war immer noch gut genug dafür, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten." Er wandte sich zu Bount um und sah ihn offen an. "Es ist im Leben wie im Geschäft, Mister Reiniger! Genau wie ich sagte: Man muss sich um alles selbst kümmern! Ich hätte mich auch selbst im Kimberley kümmern müssen."
"Weder ich noch Sie können die Zeit zurückdrehen, Mister Morgan!", stellte Bount fest. Ein Unterton von Ungeduld war jetzt nicht mehr zu überhören. "Aber Sie könnten mir jetzt sagen, weshalb Sie so felsenfest davon überzeugt sind, dass Kimberley nicht einfach nur Urlaub macht, ohne Ihnen etwas davon gesagt zu haben!"
"Die Schecks der letzten drei Monate hat sie noch nicht eingelöst. Ist doch merkwürdig, nicht? Sie war immer in Geldnot und es würde mich nicht wundern, wenn sie noch immer hin und wieder Kokain genommen hat - angeblich soll das ja die Kreativität fördern. Jedenfalls ist es verdammt teuer. Kimberley hat nie gelernt, sich Geld einzuteilen, weil sie immer im Überfluss davon hatte. Manchmal hat sie mich angerufen und gefragt, ob der Scheck nicht eine Woche früher kommen könnte. Sie hat keine Rücklagen, da bin ich mir so gut wie sicher. Es mag ja Leute geben, die von wenig oder gar keinem Geld leben können, aber Kimberley gehört ganz sicher nicht dazu!" Bount wurde hellhörig.
Das mit uneingelösten Schecks war ein Punkt, der tatsächlich merkwürdig klang.
Indessen fuhr Morgan fort: "Gestern hat mich ihr Vermieter angerufen. Sie hat ist mit der Miete im Rückstand. Die Nachbarn haben sie seit längerem nicht mehr gesehen."
"Waren Sie in der Wohnung?"
"Ja. Ich habe mir Zutritt verschafft."
"Und?"
Er zuckte die Achseln.
"Sie war nicht dort!"
"Wann haben Sie Ihre Tochter zum letzten Mal gesehen?"
"Das ist fast ein halbes Jahr her. Sie brauchte mal wieder Geld. Das war nichts Ungewöhnliches, aber sie hatte sich doch in erschreckender Weise verändert. Sie trug nur noch schwarze Sachen und war im Gesicht weiß geschminkt. Wie eine Leiche. Ich war schon einiges an modischen Verrücktheiten von ihr gewohnt, aber als ich sie sah war ich doch etwas erschrocken. Wie eine lebende Leiche sah sie aus. Ich fragte sie, was mit ihr los sei."
"Was hat sie gesagt?"
"Ich hatte den Verdacht, dass sie wieder irgendetwas genommen hätte. Vielleicht war es auch so, sie wirkte ziemlich high und erzählte mir irgend so einen Unfug von Geisterbeschwörungen, Gläserrücken, Seancen, Stimmen auf Tonbändern, die von Verstorbenen stammen sollen und so weiter. Ich habe es nicht richtig verstanden und war auch nicht weiter neugierig darauf. Sie war ganz erfüllt von diesem Okkultismus-Zeug! So war das immer mit ihr, wenn sie auf einem neuen Trip war."
"Haben Sie ein Photo von ihr?"
"Ich werde Ihnen gleich eins geben, wenn wir zurück ins Haus gehen. Und dann bekommen Sie auch einen Scheck. Die Summe können Sie selbst eintragen." Er lächelte matt.
"Ich hoffe, Sie machen mich nicht arm, Mister Reiniger!"
"Ist das bei Ihnen überhaupt möglich?"
"Sie müssten sich schon einige Mühe geben!" Dann atmete Harry J. Morgan erleichtert durch und stellte fest: "Ich nehme also an, dass Sie den Fall übernehmen." Bount nickte.
"...falls es tatsächlich ein 'Fall' ist!"
"Ich hoffe, dass sich Ihre Skepsis bewahrheitet, Mister Reiniger. Aber ich habe ein schlechtes Gefühl."
3
SoHo - das stand für South Houston Industrial District, aber die ehemaligen Lager-und Fabrikhallen dienten zum Großteil seit langem einem ganz anderen Zweck. Seit die Verwaltung das Viertel zum Wohnen freigegeben hatte, war hier New Yorks jüngste Künstlerkolonie entstanden, denn die zahlreich vorhandenen Hallen und Lagerräume gaben hervorragende Ateliers ab.
Als Bount Reiniger am nächsten Tag Kimberley Morgans Adresse aufsuchte, fand er ihre Wohnung auf ungefähr hundert Quadratmetern, die von einer Lagerhalle abgetrennt worden waren.
Für Bount war es keine Schwierigkeit, das Türschloss zu öffnen. Er blickte sich um. Der Raum war hoch. Aus den oberen Fenstern fiel das Licht herein.
Bount konnte sich vorstellen, dass man hier gut malen konnte.
Die Wohnung war zugleich Atelier, Schlaf- und Wohnraum. Es gab keine Trennung zwischen den drei Funktionen.
Das Bett war eine große Doppelmatratze. Die Decke war zerwühlt, als ob Kimberley gerade erst aufgestanden wäre und gleich aus dem Bad kommen müsste.
Aber so war es nicht.
Es war niemand in der Wohnung.
Bount fand ein paar kleinere Mengen Kokain und Haschisch, bei denen Kimberley sich gar nicht erst die Mühe gemacht zu haben schien, die kleinen Briefchen zu verstecken.
Harry J. Morgans Verdacht, dass seine Tochter das Zeug immer noch nahm, war also nicht aus der Luft gegriffen. In einem mit Büchern gefüllten Regal fand Bount dann eine kleine Bibliothek des Erstaunlichen und Unerklärlichen: Okkultismus, Parapsychologie, Erdstrahlen und was sich sonst noch in diese Reihe stellen ließ. Kimberleys Interesse an diesen Phänomenen schien ziemlich ausgeprägt zu sein.
Bount blätterte in verschiedenen Bänden etwas herum. In einem war ein Foto eingelegt, dass Kimberley zusammen mit einem jungen Mann zeigte.
Beide waren sie ganz in schwarz gekleidet.
Das Buch - das den Titel SATANSKULTE UND SCHWARZE MESSEN trug - enthielt auch eine Widmung: Für Kimberley - in Liebe. Morris Clansing.
Bount fragte sich, ob der junge Mann auf dem Foto jener Morris Clansing war, der die Widmung verfasst hatte. Wahrscheinlich war es so. Leider war unter der Widmung kein Datum, so dass man nicht ermessen konnte, ob diese Bekanntschaft noch aktuell war.
Etwas später nahm Bount sich die Kunstwerke vor, die sich in Kimberleys Wohnung stapelten.
Gleichgültig, ob sie nun Talent hatte oder nicht Kimberley Morgan hatte eine beträchtliche Quadratmeterzahl an Leinwand vollgepinselt. Manche ihrer Werke waren fast drei Meter hoch.
Bount sah sich kurz einige ihrer Gemälde an. Sie waren stets penibel datiert, was in diesem Fall eine Hilfe war. Bis vor einem halben Jahr, so konnte Bount bei seiner flüchtigen Durchsicht feststellen, hatte Kimberley ziemlich fleißig gemalt.
Ihre Sachen waren keine gegenständliche Kunst, sondern abstrakte Farbgemenge. Rot, gelb und braun herrschten vor. Dann hatte sich das fast schlagartig geändert.
Kimberley schien nur noch wenig zu Stande gebracht zu haben. Die Farben waren düster. Schwarz wurde zum wichtigsten Bestandteil. Das letzte Gemälde war ein riesiges, blutrotes Pentagramm auf schwarzem Untergrund. Danach hatte sie ganz mit dem Malen aufgehört.
Jedenfalls fand Bount kein Bild, das später datiert war. Und die Annahme, dass ihr von einem Tag zum anderen die Galeristen auf einmal die Türen eingerannt und alles weggekauft hatten, war wohl mehr als unwahrscheinlich. Bount stolperte fast über einen Farbeimer.
Die Farbe darin war schon völlig getrocknet, der Pinsel endgültig verdorben. Da würden auch noch so große Mengen an Nitroverdünnung nichts mehr ausrichten. Und dann fiel Bounts Blick plötzlich auf einen Fleck am Boden.
Es gab viele Flecken - Farbflecken, die über die ganze Wohnung verteilt waren. Aber dieser Fleck sah anders aus. Blut.
Hundertprozentig sicher konnte Bount sich da natürlich nicht sein. Aber andererseits hatte er Dutzendweise Tatorte mit solchen Flecken gesehen.
Er ging zum Telefon und wählte die Nummer der Mordkommission.
Vielleicht war es schon zu spät, um Kimberley Morgan noch lebend aufzufinden.
Als er den Anruf beendet hatte, fiel Bount die Nummer auf, die in der Nähe des Telefons mit Bleistift ganz klein an die Wand geschrieben war. Bount probierte einfach und wählte die Nummer. Es meldete such der automatische Anrufbeantworter eines gewissen Dr. Samuel Follett mit der Bitte, doch noch dem Pfeifton eine Nachricht zu hinterlassen.
Bount legte auf.
4
"Hey, was machst du da!"
Es war eine feindselige Männerstimme, die Bount Reiniger herumfahren ließ. Diese Stimme hatte einen ziemlich unsympathischen Klang, der so scharf wie ein Rasiermesser durch die sonnendurchflutete Stille des Wohnateliers schnitt.
Bount verengte ein wenig die Augen und sah in das bleiche Gesicht eines Dreißigjährigen. Seine fettigen Haare waren zurückgestrichen, sein Bart etwa eine Woche alt. Die wässrig-blauen Augen fixierten Bount. Der Mann kam ein paar Schritte näher.
"Die Tür stand offen", sagte er. "Da bin ich hereingekommen, weil ich dachte, dass Kimberley vielleicht zurück wäre!"
"Wo ist Kimberley?", fragte Bount.
Es war ein Versuchsballon, den er da steigen ließ. Aber vielleicht kam ja etwas dabei heraus.
Der Mann verzog das Gesicht zu etwas, dass bei jemand anderem vielleicht ein Lächeln gewesen wäre. Bei ihm war es nur ein einziger Krampf.
Er baute sich breitbeinig auf.
"Glaubst du, ich wäre hier, wenn ich wüsste, dass Kimberley woanders ist?"
"Keine Ahnung. Was willst du denn von ihr?"
"Sie schuldet mir noch Geld."
Bount wurde hellhörig. Er begann sich eins zum anderen zu reimen.
"Für das Kokain?"
Der Mann erstarrte.
"Bist du ein Bulle?"
Bount verzog das Gesicht. "Sehe ich so aus?"
"Wenn du schon so fragst: Ja! Ich glaube, ich gehe besser!"
Jetzt war Bount sich sicher. Er hatte mit seiner Vermutung ins Schwarze getroffen. Aber wenn dieser Kerl tatsächlich Kimberleys Drogenlieferant war, dann wusste er vielleicht noch mehr! Bount konnte ihn nicht so einfach gehen lassen.
"Halt! Einen Moment!", rief der Privatdetektiv. Der Mann blieb stehen und drehte sich wieder herum. Er hielt die Faust in seiner Jackentasche. Vielleicht hatte er dort irgendeine Waffe. Eine Pistole oder ein Springmesser, so war zu vermuten. Ganz gleich, was es auch war, Bount wusste, dass er vorsichtig sein musste.
"Was ist noch?", knurrte der Mann. Ihm gefiel das nicht, aber noch blieb er ruhig. Bount kam gleich zur Sache.
"Sagt dir der Name Morris Clansing etwas?"
"Kimberleys letzter Freund hieß glaube ich Morris." Bount Reiniger trat auf ihn zu und er wartete erst einmal ab. Als der Privatdetektiv direkt vor ihm stand, zeigte er dem Kerl das Foto, das er aus dem Buch über Satanskulte herausgenommen hatte.
"Ist er das?"
Er schaute kurz hin und nickte.
"Ja."
"Was weißt du noch über Kimberley?"
"Nichts!" Der Kerl schüttelte den Kopf. "Überhaupt nichts. Ich werde jetzt gehen!"
"Du bleibst!", bestimmte Bount in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. "Du bleibst, bis ich von dir gehört habe, was ich wissen will. Kapiert?"
"Du hast kein Recht dazu!", schnatterte er. Reiniger zuckte die Achseln.
"Die Mordkommission ist auf dem Weg hierhin. Wenn du wirklich Kimberleys Lieferant warst - und davon gehe ich aus - dann hast du wahrscheinlich kein Interesse daran, mit den Kollegen zusammenzutreffen. Besser, du gibst deine Auskünfte etwas schneller!"
Bount stand dicht vor ihm. Vielleicht ein bisschen zu dicht. Ihre Blicke begegneten sich und bohrten sich für einen Augenblick ineinander.
"Okay...", sagte der Mann zu Bount. "Du hast gewonnen..."
Aber das sagte er nur zur Ablenkung. In Wahrheit meinte er das genaue Gegenteil.
Blitzschnell kam die Faust aus seiner Jackentasche heraus. Und in der Faust hatte er tatsächlich ein Springmesser. Die Klinge schnellte so giftig hervor wie Zunge einer Schlange.
Bount erkannte die Gefahr im letzten Moment und wich zur Seite. Die Klinge stieß an seinem Körper vorbei ins Leere.
Der Kerl bekam postwendend die Antwort.
Bount nahm seinem Arm und drehte ihn herum. Der Kerl ächzte und ließ das Messer fallen. Bount schleuderte ihn dann ziemlich hart gegen die Wand. Er rutschte zu Boden und bevor er wieder auf den Beinen war, war Bount schon über ihm und packte ihn am Kragen.
"So haben wir nicht gewettet, Freundchen!", meinte er.
"Was willst Du wissen, Lackaffe?", knurrte der Kerl.
"Wer bist du!"
Es kam keine Antwort. Also musste Bount den Druck etwas erhöhen: "Hören Sie gut zu!", begann er. "Einer wie Sie steht garantiert in diesen schönen Bildbänden, die einem bei der Polizei immer gezeigt werden. Wahrscheinlich hat man dich immer nur mit kleinen Mengen erwischt und konnte dich deshalb nicht für länger einbuchten." Bount packte sein Gegenüber fester und durchsuchte mit der anderen Hand die Taschen. Er wurde schon nach wenigen Sekunden fündig. "Na bitte! Wer sagst es denn!", war Bounts Kommentar, als er ein paar kleine Briefchen mit weißem Pulver herausfischte und sie seinem Gegenüber unter die Nase hielt. "Wenn ich tatsächlich einen halben Tag damit verschwenden muss, um mir auf irgendeinem zugigen Revier Fotoalben anzuschauen, dann werde ich dir ein paar Schwierigkeiten machen, die sich gewaschen haben! Dies hier ist nämlich vielleicht ein Mordfall - und ich glaube nicht, dass du darin gerne verwickelt werden möchtest!"
Er schien ehrlich erstaunt.
"Was sagst du da? Mord?"
Bount ging nicht darauf ein.
"Ich bekomme sowieso heraus, wer du bist - so oder so. Du hast die Wahl!"
Der Kerl seufzte.
"Art Reilly", gab er als Name an.
"Wie oft bist du für gewöhnlich hier gewesen?"
"Immer, wenn Kimberley mich angerufen hat. Die Abstände waren unterschiedlich. Es lag daran, ob sie gerade viel malte, wie sie gerade privat zurechtkam und so weiter. Alle paar Wochen aber auf jeden Fall. Manchmal, wenn der Scheck von ihrem Vater noch nicht da war, dann habe ich ihr das Zeug erst einmal so überlassen. Bei ihr konnte man das machen. Da war ja genug Geld im Hintergrund."
"Verstehe..."
"Ist sie wirklich umgebracht worden?", fragte Reilly dann. Bount Reiniger ließ ihn los und sagte: "Ich weiß es noch nicht. Aber ich werde es herausfinden."
"Das täte mir leid. Sie war ein nettes Mädchen... Jedenfalls früher."
Bount legte die Stirn in Falten.
"Seit wann denn nicht mehr?"
"In letzter Zeit schien sie mir völlig durchgedreht. Wissen Sie, was ein Gruftie ist? Leute, die nur in schwarz gehen, sich mit Vorliebe auf Friedhöfen aufhalten und so etwas. Lebende Tote. Die haben sogar schon ihre eigenen Diskotheken."
"Und Kimberley war so ein Gruftie?"
"Sieh doch mal in ihren Bücherschrank oder schau mal die Schallplatten durch, die sie hört! Dann weißt du Bescheid!"
"Wann hast du Kimberley zum letzten Mal gesehen?" Reilly schien einen Augenblick nachzudenken. Dann sagte er: "Das war vor drei Monaten, glaube ich. Ihr Scheck war noch nicht da. Ich habe ihr das Zeug vorgestreckt. Ach ja, sie hatte sich da so ein seltsames Zeichen auf den Handballen malen lassen. Vielleicht war es auch eine kleine Tätowierung. Ich habe es nur ganz kurz gesehen."
"Ein Zeichen? Was für ein Zeichen?"
Reilly deutete mit der Hand auf eines der Gemälde, die in Kimberleys Atelier standen.
"Genau so sah es aus!", meinte er.
Bount Reiniger wandte den Kopf zur Seite und verengte ein wenig die Augen. Kein Zweifel, Reilly meinte das Bild mit dem überdimensionalen Pentagramm.
5
Bevor die zwei Detectives von der Mordkommission kamen, war Art Reilly verschwunden. Bount Reiniger hatte nichts dagegen, dass er sich davonmachte.
Es würde keine Schwierigkeit sein, ihn wieder aufzuspüren, wenn es sein musste. Und vielleicht würde es notwendig sein. Bount war sich zwar ziemlich sicher, dass Art Reilly nichts mit dem zu tun hatte, was mit Kimberley Morgan geschehen war, aber bis jetzt war der kleine Dealer sein einziger Anknüpfungspunkt. Ihn der Polizei zu übergeben hatte ohnehin wenig Sinn. Man konnte ihm damit ein bisschen Ärger machen, aber dann würde er wieder freigelassen werden müssen, weil die Mengen an Stoff, die bei sich führte zu gering waren.
Er war halt nur ein kleiner Fisch.
Und Fische, so dachte Bount, waren ja von Natur aus schon stumm und ziemlich schwer zum Singen zu bringen. Die beiden Detectives hießen Kurtz und Orban. Kurtz war fast zwei Meter lang und tiefschwarz. Bount kannte ihn flüchtig.
Orban hingegen war weiß, rothaarig und sommersprossig. Und noch ziemlich jung. Vermutlich war er noch nicht allzu lange im Dienst. Jedenfalls wirkte er recht unsicher.
Kurtz lächelte, als er Bount Reiniger die Hand schüttelte.
"Sie sind Bount Reiniger - der spezielle Freund unseres Captains, nicht wahr? Ich habe schon viel von Ihnen gehört."
Bount grinste.
"Wie ich hoffe, nur Gutes! Kommt noch jemand, der etwas von Spurensicherung versteht? Ich hatte am Telefon." Kurtz deutete auf seinen Kollegen und meinte: "Das ist Orbans Job!"
"Worum geht's denn?", fragte Orban.
Bount führte sie zu dem Blutfleck - oder dem, was er dafür hielt. Orban war allerdings auf den ersten Blick hin derselben Meinung.
"Wie lange dauert es, bis Sie wissen, was es ist!" Orban machte eine wegwerfende Geste.
"Am besten auch gleich, von wem - habe ich recht?"
"Zumindest die Blutgruppe wäre nicht schlecht!"
"Wir tun wie immer unser Bestes!", mischte sich Kurtz ein.
"Was denn sonst!", gab Bount sarkastisch zurück.
6
Nachdem Bount Reiniger zusammen mit Kurtz noch einige von Kimberleys Nachbarn besucht hatte, schaute er noch bei jenem Samuel Follett vorbei, dessen Telefonnummer für die junge Frau offenbar so wichtig gewesen war.
Dr. Samuel Follett war an diesem Tag eigentlich für niemanden zu sprechen, denn es war sein freier Tag. Und so schaute er auch ziemlich missmutig drein, als er den hochgewachsenen, gutgekleideten Mann vor seiner Wohnungstür stehen sah.
"Mein Name ist Reiniger. Ich hätte sie gerne kurz gesprochen, Mister Follett. Darf ich hereinkommen?"
"Hören Sie..."
Bevor er zu einem großangelegten Protest ausholen konnte hatte Bount Reiniger ihm bereits Kimberleys Foto unter die Nase gehalten. "Kennen Sie dieses Mädchen?"
"Nein."
"Sie haben es sich doch gar nicht richtig angesehen!" Follett warf Bount einen giftigen Blick zu. Dann nahm er das Bild und sah es sich richtig an. "Ich kenne sie nicht. Und jetzt verschwinden Sie bitte - wer auch immer Sie geschickt haben mag!"
Aber Bount hatte keineswegs die Absicht, sich so leicht abwimmeln und ins Boxhorn jagen zu lassen.
"Wenn Sie sie überhaupt nicht kennen - wie kommt es dann, dass diese junge Frau sich Ihre Telefonnummer aufgeschrieben hat?"
Er stutzte und wurde ein wenig unsicher. Gerade noch hatte er Bount die Tür vor der Nase zuschlagen wollen, jetzt schienen seine Ohren ganz weit offen zu sein.
"Was weiß ich...", murmelte er kaum hörbar. "Muss ich mir darüber den Kopf zerbrechen?" Er musste. Und er tat es auch längst. Bount konnte es ihm deutlich ansehen. In Folletts Kopf begann es zu arbeiten. Er hob ein wenig die Augenbrauen fragte dann: "Sind Sie von der Polizei?"
"Haarscharf daneben. Privatdetektiv. Aber vielleicht wird die Polizei auch noch hier aufkreuzen. Wer weiß..."
"Hat die Kleine irgendetwas ausgefressen?"
"Schon merkwürdig, dass Sie das wissen wollen, wo Sie sie doch gar nicht kennen, Mister Follett. Ihr Name ist übrigens Kimberley. Kimberley Morgan..."
"Kimberley, sagen Sie..." Er warf noch einen Blick auf das Foto, aber Bount wusste, dass das reine Show war. Er wollte seine Taktik ändern. "Ich erinnere mich. Ja, jetzt erkenne ich sie! Sie ist wohl beim Friseur gewesen, seit diese Aufnahme entstand. Was ist mit ihr?"
Bount zuckte die Achseln.
"Genau das möchte ich auch gerne wissen. Sie ist verschwunden."
Das schien ihn neugierig zu machen.
"Kommen Sie herein."
Follett führte Reiniger in seine Wohnung und bot ihm einen Platz in dem weiträumig angelegten Wohnzimmer an. Bount bekam sogar einen Drink angeboten, den er auch bereitwillig annahm, während Follett nervös auf und ab ging.
"Sie sind Psychiater, nicht wahr?", fragte Bount. Follett nickte.
"Psychiater und Nervenarzt."
"War Kimberley Ihre Patientin?"
Follett zögerte. Dann erwiderte er: "Haben Sie noch nie etwas von Schweigepflicht gehört?"
"Ich habe Sie ja nicht gefragt, was ihr fehlte!"
"Das spielt keine Rolle."
Bount lächelte dünn. Diese Art von Versteckspielen kannte er zu Genüge, aber seine Position in diesem Poker war gar nicht so schlecht.
Samuel Follett baute sich breitbeinig auf, was ziemlich lächerlich wirkte, denn er war klein und schmächtig.
"Wer ist Ihr Auftraggeber, Mister Reiniger?"
"Hängt davon die Beantwortung meiner Fragen ab?" Follett zuckte mit den Schultern.
"Vielleicht."
Bount begriff. Das Ganze sollte eine Art Handel werden, bei dem Follett ihn über den Tisch ziehen wollte. Der Privatdetektiv erhob sich und stellte sein inzwischen leeres Glas auf den niedrigen Tisch.
"Bedaure...", meinte er. "Ich habe das Gefühl, dass ich hier meine Zeit verschwende! Aber wenn Sie schon nicht mir antworten wollen - der Mordkommission werden Sie antworten müssen. Die werden hier todsicher bald auftauchen und ich will in Ihrem Interesse hoffen, dass Sie sich bis dahin eine überzeugende Story ausgedacht haben." Es war ein Bluff, denn es war keineswegs sicher, dass Kurtz und Orban je vor Dr. Folletts Tür stehen würden. Aber Bount hatte richtig gepokert. Er hatte noch nicht einmal den halben Weg zur Tür zurückgelegt, da hatte Follett angebissen.
"Warten Sie, Mister Reiniger!", rief er ihm hinterher. Bount drehte sich halb herum.
"Habe ich richtig verstanden? Sagten Sie Mordkommission?"
"In Kimberleys Wohnung hat man einen Blutfleck gefunden. Es besteht der Verdacht, dass Kimberley umgebracht wurde."
"Ich habe nichts damit zu tun!"
"Warum spielen Sie dann Katz und Maus mit mir?" Follett seufzte und trat näher an Bount heran. Er wirkte jetzt ziemlich kleinlaut.
"Setzen Sie sich wieder."
Bount verzichtete darauf, während Follett fortfuhr: "Ich habe Kimberley vor einem halben Jahr zum letzten Mal gesehen. Und in meinen Patientenkarteien wird man sie nicht finden. Das ist die Wahrheit."
Bount Reiniger ließ nicht locker. Zu offensichtlich hatte Follett zu erkennen gegeben, dass ihn Kimberleys Schicksal interessierte. Und genau deshalb hatte Bount ihn am Haken.
"Trotzdem", stellte der Privatdetektiv fest. „Sie kennen Kimberley! Und dafür wird es auch Zeugen geben!"
"Ich habe sie aber nicht umgebracht!", stieß er hervor und atmete dann tief durch. Etwas ruhiger setzte er hinzu: "Vor etwa einem Jahr habe ich sie auf einer Vernissage kennengelernt. Wir verstanden uns ganz gut. Sie war sehr kunstinteressiert und ist auch selbst als Malerin tätig. Ich sagte ihr, dass in meinem Bekanntenkreis auch ein paar Galeristen seien, mit denen ich sie in Kontakt bringen könnte..."
"...und dafür ist sie dann mit Ihnen ins Bett gegangen!" Follett schluckte und wurde knallrot. Bount wusste, dass er ins Schwarze getroffen hatte.
"Woher wissen Sie das?"
"Ich habe es nur vermutet. Hat das denn geklappt mit ihren Bildern?"
"Ein, zwei Verkäufe habe ich ihr vermitteln können. Im Grunde war es ein Anfang, aber dann begann sie sich zu verändern." Er zuckte mit den Schultern. "Ich bot ihr ein paar kostenlose Sitzungen an, denn mir war schon aufgefallen, dass sie immense seelische Probleme haben musste. Aber es war zu spät..."
"Was meinen Sie damit?"
"Plötzlich verschloss sie sich vor mir. Sie veränderte sich, schien mir manchmal sehr depressiv und niedergeschlagen zu sein, obwohl sie doch auf dem Kunstmarkt einen Anfang gemacht hatte - wenn auch einen bescheidenen. Sie malte auch kaum noch. Wir verloren uns aus den Augen." Jetzt wandte sich Bount endgültig zum Gehen.
"War es meine Frau, die Sie auf mich angesetzt hat, Mister Reiniger?", fragte Follett zuvor noch. Bount hob die Augenbrauen und schüttelte den Kopf.
"Keine Sorge", meinte er.
7
Bount legte den Hörer auf und lehnte sich nachdenklich zurück.
"Und?", fragte June March, Bounts hinreißende Assistentin, wobei sie sich ihren knappen Rock glatt strich.
"War es wirklich Blut?"
Bount nickte.
"Ja. Blutgruppe Null!"
June atmete tief durch.
"Wer hat die nicht!"
"Du sagst es, June."
"Und Kimberley Morgan?"
"Wir werden ihren Vater fragen müssen."
"Wenn sie dieselbe Blutgruppe hat, könnte ihr etwas zugestoßen sein!", meinte June, der Bount von seinem Besuch bei Dr. Follett erzählt hatte. "Ein Eifersuchtsdrama vielleicht! Die Frau dieses Psychiaters könnte von Folletts Verhältnis erfahren und ihrer Nebenbuhlerin einen unfreundlichen Besuch abgestattet haben!"
"Daran habe ich auch schon gedacht", nickte Bount.
"Aber Follett sagte, er hätte Kimberley seit einem halben Jahr nicht gesehen!"
"Vielleicht hat er gelogen, Bount! Das liegt doch nahe! Kimberley ist möglicherweise ermordet worden und er hat keine Lust, darin verwickelt zu werden - ganz gleich, ob er nun seine Frau in Verdacht hat oder nicht! Er hat schließlich einen Ruf und gut zahlende Patienten zu verlieren!" June machte eine kurze Pause und setzte dann hinzu: "Und wenn es genau umgekehrt ist?"
"Wie meinst du das?"
"Follett könnte von Kimberley erpresst worden sein. Vielleicht drohte sie ihm damit, seiner Frau etwas von der Verbindung zu sagen. War sie nicht immer in Geldsorgen? Follett könnte es zuviel geworden sein..."
Aber Bount schüttelte energisch den Kopf. "Mir war gleich klar, dass er Kimberley kannte, aber er schien mir wirklich überrascht darüber zu sein, dass sie vielleicht ermordet wurde. Bis jetzt fehlt uns auch noch die Leiche..."
"Die kann ja noch auftauchen!", gab June den Ball zurück.
Bount zuckte mit den Schultern und stand auf.
"Ich bin mir da nicht ganz sicher!", erklärte er nachdenklich. "Erstens könnte das Blut auch dann von jemand anderem stammen, wenn die Blutgruppe übereinstimmt und zweitens..."
June verschränkte die Arme vor der Brust.
"Da bin ich aber gespannt!", meinte sie provozierend.
"Kimberley war auf einer Art Okkultismus-Trip. In diesen Kreisen werden oft ziemlich blutige Rituale durchgeführt."
June machte große Augen und lachte dann.
"Menschenopfer? Bount, wir sind hier New York City nicht auf irgendeiner Kannibaleninsel!" Aber Bount schüttelte energisch den Kopf.
"Soweit muss man gar nicht gehen, June. Ich spreche von Verletzungen, mit Messern beigebrachte Hautritzen und solchen Dingen. In Verbindung mit Musik und vielleicht auch Drogen wird eine Art Ekstase erreicht." June schüttelte energisch den Kopf und warf dann ihre blonde Mähne in den Nacken.
"Du bist verrückt!"
"Ich habe mich informiert, June. Diese Phänomene gibt es wirklich - zum Beispiel bei dem sogenannten Tanz der Derwische, bei dem sich die Teilnehmer auch eigenhändig verletzen. So stecken sie sich spitze Messer durch die Wangen, ohne dabei irgendwelchen Schmerz zu empfinden."
June zuckte mit den Schultern und stemmte ihre schlanken Arme in die schmale Wespentaille. Bei der Arbeit in einer Detektiv-Agentur kam ja zwangsläufig mit allerhand erstaunlichen Dingen in Berührung, aber irgendwo gab es da auch für sie eine unsichtbare Grenze. Und dies hier ging ihr nun wirklich über die Hutschnur.
"Meine Vorstellung von Ekstase ist das aber nicht!", meinte sie.
Bount grinste.
"Die Geschmäcker sind eben verschieden!"
"Du sagst es!"
"Lange Rede, kurzer Sinn: Kimberley Morgan könnte auch selbst für diesen Blutfleck verantwortlich sein. Jedenfalls meinte das dieser neunmalkluge Kurtz gerade am Telefon. Die zuständige Mordkommission wird die Sache wohl erst einmal auf die lange Bank schieben. Ich war mit diesem Kurtz bei einigen Nachbarn, und die haben natürlich den armen Detective ganz kopfscheu gemacht mit ihren Stories von den seltsamen Zusammenkünften, die in Kimberleys Atelier stattgefunden haben sollen."
"Was haben die denn so erzählt?"
Bount zündete sich eine Zigarette an und nahm einen tiefen Lungenzug, während sein Blick hinaus in den Himmel über dem Central Park ging und genoss für zwei Sekunden den phantastischen Ausblick, den er aus seinem Office in der 7th Avenue hatte.
"Einer will an ihren Armen frische Schnittwunden gesehen haben, ein anderer behauptete, sie hätte eine tote und verstümmelte Katze in den Müll geworfen."
"Scheußlich!"
"Dort wohnen jede Menge schräger Vögel, aber so schräg wie Kimberley scheint niemand zu sein!"
Bounts Blick ging zum Telefon und er dachte an das, was ihm noch bevorstand: Er würde Harry J. Morgan über die Sache mit dem Blutfleck informieren müssen und ihm damit wahrscheinlich einen mittelschweren Schock versetzen.
Keine angenehme Aussicht. Aber wie es schien, konnte Bount dem Industriellen die Hiobsbotschaft nicht ersparen. Aber sich brauchte sich gar nicht die Mühe zu machen, Morgans Nummer zu wählen, denn der rastlose Workoholic selbst war es, der in diesem Moment Bounts Apparat klingeln ließ.
"Es gibt eine Neuigkeit, die vielleicht für Ihre Ermittlungen wichtig sein kann, Mister Reiniger!", meldete er sich.
Bount hob die Augenbrauen.
"Ich höre!"
"Heute hat mich ein Brief von Kimberley erreicht! Ich schlage vor, Sie schauen sich das mal an! Ich kann in einer Viertelstunde in Ihrem Office sein!"
8
"Und Sie sind sich absolut sicher, dass das die Schrift Ihrer Tochter ist?", erkundigte sich Bount, während er den Blick noch immer auf das Blatt Papier gerichtet hielt, welches Harry J. Morgan ihm zugereicht hatte.
Wenn es wirklich Kimberley Morgan war, die das zu Papier gebracht hatte, dann war Bount Reinigers Job erledigt.
Sie war nach diesem Brief wohlauf und ihr Vater hatte völlig unnötig Sorgen gemacht. Und das Kokain, den schlechten Umgang und die seltsamen Gewohnheiten, die Kimberleys Nachbarschaft aufgefallen waren - das alles waren Dinge, die Harry J. Morgan seiner Tochter schon selbst abgewöhnen musste. Wenn es dazu nicht längst zu spät war!
"Ich habe hier ein paar Vergleichsproben, Mister Reiniger. Für mich ist die Sache eindeutig. Es ist ihre Schrift. Was mich nur wundert ist die Tatsache, dass sie mir überhaupt geschrieben hat." Harry Morgan fuhr nervös mit der Hand über das Gesicht.
Dann rieb er sich die Nase. Er machte einen müden und abgespannten Eindruck. Sein täglicher Job war wahrscheinlich allein schon kräftezehrend genug.
Und wenn dann noch so eine Geschichte dazukam.
Er zuckte mit den Schultern und schien die Welt nicht mehr zu verstehen. "Ich kann es nicht erklären, aber da stimmt etwas nicht! Es hat Kimberley nichts etwas ausgemacht, mir Sorgen zu machen! Sie hat es oft geradezu darauf angelegt, damit ich mich mehr um sie kümmerte. Das war schon so, als sie noch Kind war."
Er schien fast mehr zu sich selbst zu sprechen, als zu denen, die ihm zuhörten. Tiefer Schmerz schwang in diesen Worten mit. Der große Harry J. Morgan blickte ins Leere und schien mit den Gedanken sehr weit weg zu sein. Bount holte tief Luft und begann: "Mister Morgan..." Er wollte eigentlich noch etwas hinzufügen, aber der Industrielle kam ihm dann doch noch zuvor. Er schüttelte sehr energisch den Kopf.
"Vielleicht halten Sie mich jetzt für einen Verrückten, dem der Gedanke, dass er sich zu wenig um seine Tochter gekümmert hat, langsam aber sicher um den Verstand zu bringen droht."
"Haben Sie schon einmal in Betracht gezogen, dass Ihre Tochter eine erwachsene junge Frau ist, Mister Morgan?" Morgan blickte auf und Bount wusste, dass der Boß von Morgan Industries jetzt wieder in der Wirklichkeit angekommen war.
"Ich möchte, dass Sie weiterrecherchieren."
"Ich habe kein gutes Gefühl dabei. Aber andererseits bin ich dafür, auf Nummer sicher zu gehen. Lassen Sie mir den Brief und die Schriftproben da!"
"Was haben Sie vor?"
Bount machte eine unbestimmte Geste. "Meine Beziehungen zur New Yorker Polizei sind nicht die schlechtesten. Ich werde dafür sorgen, dass sich Schriftsachverständiger sich dieses Stück Papier mal ansieht. Wenn etwas damit faul ist, werden die Kollegen es herausbekommen."
"Sie werden schon wissen, was richtig, ist, Mister Reiniger. Ich setze mein ganzes Vertrauen in Sie!"
"Das weiß ich zu schätzen. Haben Sie noch den Umschlag, in dem der Brief gekommen ist?"
Harry Morgan griff in die Innentasche seines Jacketts und zog das Kuvert augenblicklich hervor.
"Hier!"
"Hm...", machte Bount. "Abgestempelt in Tucson, Arizona. Kennen Sie übrigens diesen Morris, der im Brief erwähnt ist?"
"Flüchtig. Ich glaube Clansing ist sein Nachnahme. Kimberley ist mal mit ihm bei mir vorbeigekommen, um mich um einen Extra-Scheck anzubetteln. Ich habe ihn nie wieder gesehen." Er machte eine unbestimmte Geste mit den Händen. "Irgendwie..."
Bount zog die Augenbrauen hoch.
"Ja?"
"Ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll, aber dieser Clansing schien einen sehr starken Eindruck auf Kimberley gemacht zu haben." Er blickte Bount offen an und setzte dann nach einer kleinen Pause hinzu: "Ein seltsamer Kauz. Trug nur schwarze Sachen - genau wie Kimberley später auch. Und als ich ihm die Hand gab, sah ich, dass er so eine seltsame Tätowierung auf dem Handballen hatte. Sah fast aus wie ein Sheriff-Stern."
"Ein Pentagramm", stellte Bount fest.
9
Bount brachte den Brief bei Captain Rogers vom Morddezernat Manhattan C/II vorbei. Toby Rogers war nicht nur sein Freund, sondern ihm auch noch mehr als einen Gefallen schuldig. Der übergewichtige Captain würde Kimberleys Brief unter die Lupe nehmen lassen. Ein Foto von Kimberley ließ er auch dort. Immerhin war es ja möglich, dass ihre Leiche plötzlich irgendwo auftauchte. Wunder konnten allerdings alle Experten und Labors zusammen nicht vollbringen. Vor morgen Mittag war das Ergebnis nicht zu erwarten, selbst wenn Rogers Dampf machte.
Und er würde Dampf machen, darauf konnte sich Bount verlassen.
Die Zeit bis dahin würde Bount allerdings keineswegs ungenutzt verstreichen lassen.
Morris Clansing, Kimberleys Freund, war es sicherlich wert, sich ein bisschen genauer mit ihm zu befassen. Seine Adresse hatte Bount Reiniger aus dem Adressbuch, das in Kimberleys Nachttisch gelegen hatte. Clansings Wohnung war auch in SoHo gelegen - aber längst nicht so nobel wie die von Kimberley Morgan, was wohl daran lag, dass er keine reichen Eltern im Hintergrund hatte.
Clansing bewohnte ein Zimmer zur Untermiete.
Wahrscheinlich aber würde man ihm die Sachen bald vor die Tür setzen, denn er war mit der Miete im Rückstand und zudem unauffindbar. Wenn stimmte, was in dem Brief stand, dann war er jetzt mit Kimberley unterwegs 'an die Westküste'. Eine reichlich vage Angabe, die ganz danach klang, als sollte dadurch jeder entmutigt werden, der eventuell auf die Idee kam, ihr nachzureisen.
Bount sprach mit der Vermieterin.
Sie war eine kräftige, untersetzte Frau mit mehreren halbwüchsigen Kindern, die einen Teil ihrer Wohnung vermietete, um über die Runden zu kommen. Sie war auf die Einnahmen angewiesen, seit ihr Mann sich vor einem Jahr auf Nimmerwiedersehen aus dem Staub gemacht hatte. Jedenfalls erzählte sie das Bount.
Bount deutete auf die Tür zu Morris Clansings Zimmer.
"Haben Sie einen Schlüssel?"
"Ja. Aber ich weiß nicht, ob ich Sie da so hineinlassen darf. Schließlich sind sie ja..."
"...ein Privatschnüffler, ich weiß." Bount lächelte gewinnend. "Aber vielleicht ist dort irgendein Hinweis, durch den ich Ihren Untermieter schneller finde! Und das kann doch auch nur in Ihrem Interesse sein, oder? Schließlich schuldet er Ihnen ja noch ein paar Dollar, wenn ich recht verstanden habe!"
Das leuchtete ihr ein und so machte sie ihm auf.
Zusammen gingen sie in das Zimmer, in dem es ziemlich dunkel war. Die Vorhänge waren fast gänzlich vor die Fenster gezogen. Auf der einen Seite des Raumes ging ein mannsgroßes Poster, das ein blutrotes Pentagramm zeigte ein Motiv, wie Kimberley es in Öl gebracht hatte. Auf der anderen Seite hing ein ähnliches Bild. Es zeigte ein umgedrehtes Kreuz - das Symbol Satans.
Während Bount den Blick umhergleiten ließ und dann in einem Stapel von Zeitschriften und Broschüren herumstöberte, erzählte Clansings Vermieterin ihm einen halben Roman über das Leben ihres Mitbewohners.
Danach war Clansing ein mehr oder weniger arbeitsloser Schauspieler. Sein Traum war der Broadway gewesen und er hatte es auch tatsächlich geschafft, einmal eine Nebenrolle zu ergattern. Aber dann war nichts mehr gelaufen, von ein paar Werbespots abgesehen. Das Geschäft war eben ziemlich hart.
"Und dann", so berichtete seine Vermieterin, "dann hat er angefangen, völlig durchzudrehen! Sie sehen ja! Dies ist das Zimmer von jemandem, bei dem es nicht mehr richtig tickt!"
Da mochte Bount nicht widersprechen.
"Hat Clansing irgendetwas von einer Reise gesagt, die er machen wollte?", fragte Reiniger.
"Er hat nie viel geredet. Mir hat er nichts gesagt. Es hätte mich auch gewundert, wovon er das hätte bezahlen sollen!" Bount wollte schon gehen, da fiel ihm eine Broschüre in die Hände. ZENTRUM FÜR ESOTERISCHE STUDIEN UND PERSÖNLICHKEITSBILDUNG stand dort.
Bount blätterte ein bisschen darin herum. Das Ganze war nicht ernstzunehmen. Unbewiesene Behauptungen und Theorien gemischt mit einfacher Mystik für den Hausgebrauch. Alles war natürlich mit eindrucksvollen Illustrationen versehen. DURCH DIE BEGEGNUNG MIT DEN UNFASSBAREN MÄCHTEN DER FINSTERNIS GEWINNST DU INNERE STÄRKE UND FREIHEIT!, stand dort zu lesen.
Wahrscheinlich steckte irgendeine obskure Sekte dahinter.
Es ist doch immer dasselbe, dachte Bount grimmig. Erst wird mit Freiheit geworben am Ende bekommen die Leute von diesen Vereinen dann das genaue Gegenteil!
"Hatte Clansing Kontakte zu irgendeiner Sekte?", fragte Bount.
"Keine Ahnung. Er hatte merkwürdigen Umgang, aber ich weiß nicht, was das für Leute waren. Und viel Kontakt hatten wir nicht. Ich hatte immer das Gefühl, dass in seinem Innersten glaubte, dass niemand ihn wirklich verstehen könnte. Dadurch wirkte er ziemlich arrogant und verschlossen."
"Vielleicht ist in er in Wahrheit ein ganz armer Hund", murmelte Bount.
Die Vermieterin bestätigte das mit einem Nicken. "Das ist auch meine Meinung. Aber wenn er nicht bald auftaucht, um seine Miete zu zahlen - dann muss ich ihn hinauswerfen. Halten Sie mich nicht für herzlos, aber um auf die Einnahmen verzichten zu können, dazu bin ich selbst ein zu armer Hund."
"Verstehe", murmelte Bount, während sein Blick zurück zu der Broschüre ging. Und dann fiel ihm etwas ins Auge, das zwar verdammt klein gedruckt, dafür aber auch viel interessanter war, als das ganze Gewäsch von Finsternis, Tod und Jenseits. Das sogenannte ZENTRUM hatte nämlich auch eine Adresse.
Ein Postfach in Tucson, Arizona.
Bount pfiff durch die Zähne.
10
Am nächsten Mittag saß Bount Reiniger im Büro seines Freundes Toby Rogers. Der Captain der Mordkommission ließ sein beträchtliches Gewicht auf einen Stuhl plumpsen und machte ein ziemlich verknittertes Gesicht.
"Was ist los, Toby?", fragte Bount. "Welche Laus ist dir denn über die Leber gelaufen!"
Rogers atmete tief durch und schnappte erst einmal nach Luft. Als er genug davon eingesogen hatte, schnaubte er: "Welche Laus mag das schon gewesen sein, Bount!"
"Ich bin gespannt!"
"Du natürlich! Mit deinen verdammten Extrawürsten. Stephenson, unser Schrift-Experte wird wahrscheinlich für mindestens ein halbes Jahr sauer auf mich sein, weil ich durchgesetzt habe, dass deine Sache vorgezogen wird!" Bount zuckte mit den Schultern.
"Dieser Stephenson wird sich schon wieder beruhigen! Da bin ich mir sicher!"
"Du kennst ihn nicht! Er ist ein Könner seines Fachs, aber auch der schlimmste Giftzwerg, den ich in unserem Laden kenne!"
Bount erwiderte ironisch: "Ich kenne aber dein diplomatisches Geschick, Toby! Du wirst das schon wieder hinbiegen!"
Rogers knurrte etwas Unverständliches und machte eine eindeutig ärgerliche Geste.
"Ich hoffe, du revanchierst dich mal", kam es unwirsch zwischen seinen Lippen hindurch. Dann lachten sie beide.
"Bei nächster Gelegenheit. Das weißt du doch, Toby!"
"Ich werde dich beim Wort nehmen, Bount!"
"Nun komm schon, Toby! Heraus damit! Was ist bei der Sache herausgekommen?"
Rogers lehnte sich etwas zurück. Er schien es zu genießen, Bount jetzt ein paar Sekunden zappeln lassen zu können.
Dann sagte er: "Zunächst eine gute Nachricht, Bount."
"Das höre ich gerne!"
"Dieses Mädchen - Kimberley Morgan - ist bisher noch nicht irgendwo als Leiche aufgetaucht. Ich weiß, dass das nichts heißen muss, aber immerhin liegt sie noch in keinem New Yorker Leichenschauhaus aufgebahrt."
"Und die schlechte Nachricht?", erkundigte sich der Privatdetektiv.
Toby Rogers zuckte mit den breiten Schultern und machte: "Tja... Ich weiß nicht, was das zu bedeuten hat, aber unser Experte sagt, dass dieser Brief auf keinen Fall von Kimberley geschrieben wurde. Die Vergleichsproben belegen das!"
Bount stutzte.
"Er ist sich absolut sicher?"
"Ja. Dieser Brief wurde gefälscht und es scheint ganz so, als hätte sich jemand damit ziemlich große Mühe gemacht, um ein überzeugendes Ergebnis vorzulegen."
Bount nickte nachdenklich.
Immerhin war ja auch Kimberleys Vater felsenfest davon überzeugt gewesen, dass der Brief von seiner Tochter geschrieben worden war.
"Waren noch irgendwelche anderen Spuren zu finden? Fingerabdrücke oder soetwas?"
Rogers schüttelte den Kopf.
"Nein, Fehlanzeige."
Bount seufzte.
"Wäre ja auch zu schön gewesen, um wahr zu sein!" Rogers lachte heiser. "Wenn jemand schon einen so großen Aufwand treibt, um einen Brief zu fälschen, wird er auch peinlich genau darauf achten, nicht gewissermaßen seine Unterschrift zu hinterlassen!"
"Auch wieder wahr."
Bount erhob sich und knöpfte sich sein Jackett zu.
"Was hast du vor, Bount?"
Bount ließ ein dünnes Lächeln über seine Lippen huschen und erwiderte: "Eine kleine Reise nach Arizona."
"Was du zu finden versuchst, ist die berühmte Stecknadel im Heuhaufen, nicht wahr?"
"Ja, aber wahrscheinlich steht dieser Heuhaufen in Tucson und Umgebung. Der angeblich von Kimberley geschriebene Brief kam von dort... Es gibt dort ein ZENTRUM FÜR ESOTERISCHE STUDIEN UND PERSÖNLICHKEITSBILDUNG. Ein Postfach. Könntest du nicht mal bei deinen Kollegen dort anfragen, ob die etwas über diesen Verein vorliegen haben?"
Rogers blies erst die fleischigen Wangen auf, als wäre er Louis Armstrong und seufzte dann gut hörbar.
"Okay, Bount. Weil du es bist!"
Bount ging zur Tür und drehte sich vor dem Gehen noch einmal um.
"Könnte ja sein, dass dieses ZENTRUM nicht ganz koscher ist."
11
"Hat Toby Rogers’ Anfrage in Tucson eigentlich irgendetwas gebracht?", erkundigte sich June March an ihren Chef Bount Reiniger gewandt, der am Steuer eines Chevrolets saß.
"Nein", antwortete Bount. "Aus irgendeinem Grund wurde Tobys Fax gar nicht beantwortet!" Er zuckte mit den Schultern.
Von New York aus hatten sie den Flieger nach Phoenix genommen und von dort aus einen weiteren auf den kleinen Airport von Tucson, Arizona.
Das erste, was Bount sich dann besorgt hatte, war eine Automatic-Pistole vom gleichen Typ, wie er sie auch sonst stets bei sich trug.
Flugreisen waren zwar eine feine und vor allem schnelle Sache, aber aus verständlichen Gründen hatten die Airlines etwas gegen bewaffnete Passagiere.
Jetzt saß Bount mit seiner Assistentin in einem Leihwagen und ließ diesen über die breite Main Street von Tucson donnern.
"Wo fangen wir an, Bount?", fragte June, die ein Gähnen nicht unterdrücken konnte. Kein Wunder, die Zeitumstellung machte ihr zu schaffen. "Vielleicht ist der Brief nur aus Tucson abgeschickt worden, um jeden irrezuführen, der versucht, Kimberleys Spur zu folgen!" Bount nickte.
"Ja, daran habe ich schon gedacht. Aber da war noch dieses Postfach. Es könnte Zufall sein, aber daran mag ich irgendwie nicht so recht zu glauben."
Im Post Office von Tucson standen sie dann wenig später vor einer Wand mit nummerierten Fächern.
Die Nummer des ZENTRUMS FÜR ESOTERISCHE STUDIEN war auch dabei. Bount warf einen Blick in eines der ausliegenden Telefonbücher. Aber das ZENTRUM hatte weder Telefonnummer noch Adresse in Tucson und Umgebung. Merkwürdig war das schon.
"Vielleicht ist dieser komische Verein nicht an Öffentlichkeitsarbeit interessiert!", meinte June.
"Und die Broschüre in Morris Clansings Zimmer?", wandte Bount ein und schüttelte dann energisch den Kopf. June verschränkte die Arme vor der Brust.
"Stimmt auch wieder." Sie verdrehte etwas ihre blauen Augen. "Und was machen wir jetzt mit diesem Postfach? Es scheint mir irgendwie eine Sackgasse zu sein." Aber da war Bount ganz anderer Ansicht.
"So ein Postfach wird doch vermutlich regelmäßig von seinem Besitzer geleert."
"Anzunehmen, Bount."
"Also braucht man nur abzuwarten."
"Und wenn der Betreffende das Fach nur einmal monatlich leert?"
Bount verzog das Gesicht zu einem dünnen Lächeln.
"Dann haben wir Pech gehabt."
Sie stemmte die Arme in die Hüften und legte ihre ganze Empörung in diese Geste. "Das ist doch dein Ernst! Wir sollen uns hier auf unbestimmte Zeit die Beine in den Bauch stehen?"
Bount versuchte, es ihr schonend beizubringen.
"Ich dachte, dass du hier erst einmal ein bisschen die Augen aufhältst, während ich beim örtlichen Polizei-Chief vorbeischaue, um..."
"Um dich zu verdrücken, Bount! Ich hab's doch geahnt!" Bount fasste seine schmollende Assistentin bei den zierlichen Schultern. Einen begeisterten Eindruck machte sie nun wirklich nicht.
"Ist ja nicht für lange! Ich bin bald wieder zurück!" Und damit war er schon weg.
12
Als Bount der Polizei von Tucson seinen Besuch abstattete, musste er sich wohl oder übel mit den niederen Chargen abgeben, weil die größeren Tiere gerade ausgeflogen waren oder vielleicht auch schlicht und ergreifend keine Lust hatten, sich seine Geschichte anzuhören.
Der Mann auf der anderen Seite des völlig überfüllten und nicht besonders aufgeräumten Schreibtischs hieß Milland und war groß und schlaksig.
Bount hielt ihm Fotos von Kimberley Morgan und Morris Clansing unter die Nase. Und als der Privatdetektiv dann das Wort Okkultismus fallen ließ, da war Milland plötzlich hellwach.
"Ich will Ihnen keine Angst machen, Mister..."
"Reiniger. Bount Reiniger."
"...aber wir hier in der Gegend eine ganze Reihe von Leichen gefunden, bei denen wir vermuten, dass sie möglicherweise Ritualmorden zum Opfer gefallen sind." Bount hob die Augenbrauen. Eine Spur war das noch nicht, aber vielleicht ein Punkt, an dem es lohnte, noch etwas nachzubohren.
"Gibt es irgendwelche Anhaltspunkte, wer dahinterstecken könnte?", fragte er.
Milland machte kein glückliches Gesicht und Bount konnte sich an zwei Fingern ausrechnen, wie erfolgreich die Polizei in dieser Sache bislang gearbeitet haben musste.
"Die Täter konnten nie gefasst werden. Wir hatten so etwas vor Jahren schon einmal. Damals steckte ein karibischer Geisterkult dahinter, den Einwanderer hier her gebracht hatten. Aber dies scheint mir etwas anderes zu sein, schon weil die meisten Opfer Weiße waren."
"Gibt es in der Umgebung irgendwelche Sekten oder Kulte, die in Frage kämen?"
Milland lachte.
"Jede Menge. Wir sind ein freies Land, da darf jeder an das glauben, was er will - selbst wenn es grober Unfug ist."
"Aber Menschen umzubringen, das fällt nicht unter diese Freiheit!" stellte Bount ernst fest.
Milland fixierte Bount mit einem nachdenklichen Blick und nickte dann.
"Sie sagen es!"
"Kennen Sie ein ZENTRUM FÜR ESOTERISCHE STUDIEN?"
"Nein."
"Es hat aber ein Postfach in Tucson."
Milland zuckte desinteressiert die Schultern. "Muss es ich es deshalb kennen?"
Bount lächelte dünn.
"Ich dachte, dass Sie sich als Polizist etwas auskennen."
"Tu ich auch. Hat dieses Zentrum etwas mit den beiden Figuren zu tun, die Sie mir gezeigt haben?"
Bount wusste, dass es zwecklos war, an dieser Stelle weiterzumachen.
Deshalb fragte er: "Haben Sie Fotos von den Opfern dieser Ritualmorde?"
"Mutmaßlichen Ritualmorde!", verbesserte Milland.
"Absolute Sicherheit haben wir da nicht. Nur Indizien!" Er zuckte mit den Schultern und setzte noch zynisch hinzu:
"Wahrscheinlich wird unser Chief die Akten am Ende unter 'ungeklärte Bandenmorde' ablegen. Die gibt es nämlich überall. Das macht nicht so viel Aufsehen!"
Bount begleitete Milland dann ins Archiv, wo das Bildmaterial aufbewahrt wurde.
"Insgesamt sind es cirka dreißig Fälle gewesen", meinte Milland fast wie beiläufig. "Die Opfer sind oft vergraben und nur durch Zufall entdeckt worden. Wahrscheinlich gibt es noch mehr, die nicht gefunden wurden. Der Letzte ist vor einer Woche von Campern entdeckt worden." Er zuckte mit den Schultern. "Vielleicht sind Ihre Leute ja dabei, Mister Reiniger!"
"Ich will es nicht hoffen!"
"Bekommt einer wie Sie dann weniger Honorar, wenn die Ermittlungen auf diese Weise vorzeitig abgeschlossen sind?" Milland grinste unverschämt.
"Sie sind geschmacklos", erwiderte Bount.
"Tut mir Leid, Sir. Berufskrankheit. Ich muss Sie übrigens warnen. Die Fotos sind ziemlich unappetitlich!" Bount verzog den Mund.
"Ich denke, ich bin alt genug dafür."
Als Bount die Bilder dann allerdings vor Augen hatte, musste er dennoch schlucken. Milland hingegen gab sich alle Mühe, überhaupt keinen Blick auf das Material zu werfen.
Bount ging die Bilder einzeln durch. Aber weder Kimberley Morgan noch Morris Clansing waren unter den Toten.
Dafür sah Bount auf einem der Bilder etwas anderes. Es war eine kleine Tätowierung in der geöffneten Hand eines der Ermordeten.
Ein daumennagelgroßes Pentagramm.
"Haben Sie so etwas schon mal irgendwo sonst gesehen?", fragte Bount an Milland gewandt und zeigte ihm die Tätowierung.
Millands Blick auf das Foto war betont kurz. Die scheußlichen Einzelheiten der übel zugerichteten Leichen waren auch bestens dazu geeignet, den Betrachter in Form von Alpträumen zu verfolgen.
Dann schüttelte der Polizist den Kopf.
"Ich habe keine Ahnung, was das sein könnte." In Bounts Gehirn arbeitete es.
Er hatte Spuren, Hinweise, aber alles schien mehr oder weniger ins Nichts zu führen. Kimberley Morgan und ein Toter, den man irgendwo zwischen den Kakteen am Highwayrand abgelegt hatte, trugen dasselbe Symbol als Tätowierung am Handballen. Möglich, dass sie derselben Sekte, demselben düsteren Kult angehörten. Und was hatte dieses mysteriöse ZENTRUM FÜR ESOTERISCHE STUDIEN damit zu tun?
Vielleicht gar nichts.
Vielleicht war es aber auch der Schlüssel zu der ganzen Geschichte. Schließlich wäre es nicht das erste Mal gewesen, dass sich hinter einem sogenannten 'Studienzentrum', einer Stiftung oder ähnlichem nichts anders, als eine Sekte verbarg, die ihre Mitglieder auf kriminelle Weise unterdrückte, ausbeutete - und in diesem Fall möglicherweise sogar ermordete.
Und wenn diese Morde tatsächlich rituelle Tötungen - Menschenopfer - waren, dann war es natürlich unmöglich, das in aller Öffentlichkeit zu tun und sich dazu zu bekennen. Es lag auf der Hand, dass ein Kult, der so etwas praktizierte, sich tarnen musste.
"Tut mir Leid, dass ich Ihnen nicht helfen konnte", hörte Bount Millands Stimme. Aber es klang nicht sehr bedauernd. Er schien zu hoffen, dass sich der Privatdetektiv bald davonmachte. Irgendwie konnte Bount ihn auch verstehen.
Warum sollte der Polizist auch annehmen, dass irgend so ein dahergelaufener fremder Privatschnüffler von der anderen Seite des Kontinents einen Fall löste, bei dem die örtliche Polizei ganz offensichtlich schon kapituliert hatte.
"Macht nichts", murmelte Bount.
Gemeinsam verließen sie das Archiv.
13
Bount Reiniger glaubte seinen Augen nicht zu trauen und er musste zweimal hinsehen, um es wirklich zu glauben.
"Was ist los?", fragte Milland.
"Der Kerl dort..."
"Bei den Phantombildern?"
"Ja." Bount ging hin, nahm das Foto von Clansing und hielt es daneben. "Sieht ihm doch sehr ähnlich, oder?" Milland verzog das Gesicht.
"Mit diesen Phantombildern ist das so eine Sache. Er könnte sein oder auch nicht. Ich würde mir da nicht zu viele Hoffnungen machen, Mister Reiniger."
"Weswegen wird dieser Mann denn gesucht?" Milland machte eine unbestimmte Geste mit der Rechten.
"Irgendeine Schießerei an einer Highway-Tankstelle. Er hat außerdem einen Lastwagen gestohlen."
"Welche Tankstelle war das?"
"Sie bekommen aber auch nie genug, was?"
"Das ist mein Job!"
"Wenn Sie mir versprechen, mich nie wieder zu belästigen, suche ich Ihnen die Tankstelle heraus." Bount grinste.
"Ich verspreche Ihnen, dass ich das nächste Mal ihrem Chief auf die Nerven gehen werde. Vorausgesetzt, ich treffe ihn."
Später sollte Bount noch merken, dass das alles andere als eine gute Idee war.
14
June gähnte zum dritten Mal innerhalb von fünf Minuten und blickte ziemlich genervt auf die Uhr an ihren Handgelenk.
Die Sekunden schienen zäh wie Sirup dahinzurinnen. Bount war jetzt schon eine ganze Weile weg und sie stand immer noch da und versuchte möglichst unauffällig, die Postfächer im Auge zu behalten.
Eine aufregende Sache war das! Jede Bürotätigkeit war dagegen eine unwahrscheinlich spannende Angelegenheit. Und das Schlimmste war: Vermutlich kam bei der ganzen Aktion überhaupt nichts heraus! Vielleicht musste sie hier stundenlang stehen, ohne dass es sie und Bount auch nur ein bisschen näher an Kimberley Morgan heranbrachte.
Innerlich fluchte sie, versuchte aber, sich nichts anmerken zu lassen.
"Na, haben unsere Freunde ihre Post inzwischen abgeholt?", hörte sie dann jemanden hinter sich sagen und wirbelte herum.
Es war Bount.
"Na, endlich!"
"Es hat ein bisschen länger gedauert!"
"Hier hast sich nichts getan. Vielleicht bekommen diese Esoteriker ja auch gar keine Post, Bount. Wäre doch möglich, oder?" Sie lachte und setzte ironisch hinzu: "Wahrscheinlich übertragen die ihre Botschaften durch außersinnliche Wahrnehmung!"
"Das glaube ich nicht."
Bounts Blick ging an June vorbei zu den Postfächern. Ein blasser, schwarzbärtiger Mann stand am Postfach des Esoteriker-Zentrums und blickte sich mehrfach um. Dann erst steckte er den Schlüssel ins Schloss, um die Post zu holen. Er drehte sich erneut um, ganz so, als würde er etwas Verbotenes tun und wüsste es.
"Was machen wir jetzt?", flüsterte June.
"Erst mal abwarten."
Bount hatte plötzlich den Arm um sie gelegt und sie an sich gepresst. Sie sahen jetzt aus wie ein Liebespaar und würden dem Schwarzbart nicht weiter verdächtig erscheinen.
Leider war es nichts weiter als eine Tarnung.
June hätte nichts dagegen gehabt, wenn es auch der Wirklichkeit entsprochen hätte, aber da hatte sie bislang bei Bount auf Granit gebissen.
Indessen kam der Schwarzbart sehr nahe an ihnen vorbei, um sich dann in Richtung Ausgang zu bewegen.
"Komm, wir müssen sehen, dass wir ihn nicht verlieren", meinte Bount und löste sich ziemlich abrupt von June.
"Wie wär's, wenn wir das in Zukunft öfter machen", hörte June sich selbst sagen, aber Bount nahm das schon gar nicht mehr wahr. Er hatte die Verfolgung bereits aufgenommen und sie musste sich alle Mühe geben, ihn wieder einzuholen.
Im Freien sahen sie den Schwarzbart in einen Landrover steigen, dessen vordere Stoßstange einen ziemlich ramponierten Eindruck machte.
Der Mann stieg ein, warf die Post auf den Beifahrersitz und startete sofort, setzte zurück und versuchte, sich in den Verkehr der Main Street einzufädeln.
Bount und June schafften es noch gerade rechtzeitig in den geliehenen Chevrolet und jagten dem Landrover hinterher. Der Schwarzbart hatte ein ziemliches Tempo drauf und wirkte ungeduldig.
Es ging nach Norden auf den Highway Nr.10, der über Phoenix bis zum über 600 Meilen entfernten Los Angeles führte. Aber eine so lange Reise würde der Mann im Landrover nicht machen, da war Bount sich ziemlich sicher. Während erzählte Bount seiner Assistentin von der Serie mutmaßlicher Ritualmorde und dem, was sich sonst noch bei der Polizei ergeben hatte.
June seufzte unwillkürlich.
"Ich sehe bei all dem noch keinen Zusammenhang", meinte sie verzweifelt.
"Ich auch nicht", gab Bount zu. "Aber wenn es einen gibt, dann bekommen wir ihn heraus."
"Was ist denn mit den Opfern dieser Mord-Serie genau geschehen?"
"Stell dir eine Herzoperation mit einem stumpfen Messer vor - durchgeführt von einem, der nicht einmal ein Metzger ist - geschweige denn ein Chirurg..."
"Hör auf, Bount!"
"Du hast mich gefragt."
Sie fuhren jetzt durch eine steinige, karge Landschaft. Auf dem Highway war nicht viel Betrieb. Ab und an kam ihnen ein Truck entgegen, aber sonst war nicht viel los. Das hatte den Nachteil, dass der Mann im Landrover früher oder später Verdacht schöpfen würde. Bount hoffte später - aber diese Hoffnung schien sich nicht zu erfüllen, denn der Schwarzbart blickte sich einige Male nervös um.
"Er scheint zu ahnen, dass wir ihn verfolgen!", stellte June fest und Bount nickte. Der Landrover beschleunigte sichtlich und Bount ließ ihn etwas davonziehen. Die Gefahr, ihn zu verlieren, war hier draußen nicht besonders groß.
Eine ganze Weile ging das so und June war nahe daran, zwischendurch einzuschlafen. Doch dann schreckte sie plötzlich hoch.
"Bount! Ich glaube, er biegt ab!"
Der Privatdetektiv nickte.
"Ja, sieht so aus", murmelte er.
June holte eine Landkarte aus dem Handschuhfach des Chevys heraus und entfaltete sie. Knapp über 20 Meilen hatten sie auf dem Highway Nr.10 von Tucson aus hinter sich gebracht.
"Seltsam!", meinte June. "Der nächste Ort, bei dem es sich lohnt, den Highway zu verlassen ist Marana - aber das ist noch ein ganzes Stück entfernt." Sie zuckte mit den Schultern und schüttelte verständnislos den Kopf. "Hier draußen ist doch - nichts! So weit das Auge reicht."
"Wer weiß", erwiderte Bount.
"Vielleicht will er nur, dass wir an ihm vorbeiziehen, Bount!"
"Ja, kann sein, dass es eine Falle ist. Aber vielleicht auch nicht."
Wenig später kamen sie an die Abfahrt, die der Landrover genommen hatte. Schon bald befanden sie sich auf einer schmalen Nebenstraße, deren Zustand von Meile zu Meile schlechter zu werden schien. Das Gelände wurde bergiger.
Der Abstand zum Landrover wurde größer und das war durchaus Bounts Absicht. Es hatte keinen Sinn, den Fahrer verrückt zu machen.
"Glaubst du, dass hier in dieser Einöde irgendwo dieses ZENTRUM FÜR ESOTERISCHE STUDIEN zu finden ist?"
"...UND PERSÖNLICHKEITSBILDUNG!", ergänzte Bount. Er grinste. "Ist doch ein idealer Ort! Ich weiß nicht, was das für Dinge sind, die dort geschehen und wodurch die Persönlichkeit gebildet werden soll - aber jedenfalls kann die 'Kundschaft' schlecht davonlaufen, wenn die... Nach der Gehirnwäsche bleiben sie dann ohnehin freiwillig."
June seufzte.
"Auch wieder war. Du hältst dieses ZENTRUM für die Tarnung von etwas anderem, nicht wahr?"
"Keine Ahnung. Aber selbst wenn das nicht der Fall ist, könnte Morris Clansing dort einen Besuch abgestattet haben. Und wenn Clansing dort war..."
"Dann vielleicht auch Kimberley Morgan!"
"So ist es!"
Aus der Straße wurde jetzt eine rutschige Geröllpiste. Der Chevy humpelte durch tiefe Schlaglöcher, die die Federung auf ihre Belastbarkeit durchtesteten. Staub wirbelte auf. Der Boden war trocken, aber wenn es hier einmal regnete - was selten genug vorkam - dann gab es vermutlich überhaupt kein weiterkommen mehr.
Auf so einem Gelände war der Landrover natürlich gegenüber einem für den Asphalt gedachten Chevrolet im haushohen Vorteil.
Er verschwand hinter einem Hügel und nachdem sich schließlich auch Bounts Chevy den Hang hinaufgequält hatte, war er verschwunden.
"Wir haben ihn verloren!"
Das war June und sie klang ziemlich ärgerlich.
15
Einige Minuten später hatte Bount den Chevy gestoppt und war ausgestiegen. Er stand an einer Art Gabelung. Der breitere Weg ging geradeaus weiter, ein schmalerer zweigte in Richtung Osten ab und führte in ein felsiges, unübersichtliches Gebiet.
Bount blickte auf den Boden und sah die Spuren, die die Reifen des Landrovers hinterlassen hatten. Die Sache war klar. Der Landrover war ostwärts gefahren.
"Wenn ich gewusst hätte, wohin die Reise geht, hätte ich einen Jeep ausgeliehen!", sagte Bount, als er wieder am Steuer saß und den Chevy über die Piste ruckeln ließ.
"Ich hoffe, du findest den Weg auch wieder zurück in die Zivilisation, Bount!"
"Du wirst doch daran nicht etwa zweifeln?", lachte Bount. June strich sich eine blonde Strähne aus dem Gesicht.
"Wie käme ich dazu! Ich hoffe nur, dass wir keine Panne haben! Der Fußmarsch zur nächsten Tankstelle dürfte kein Vergnügen sein!"
Bount lächelte dünn.
"...und wenn man in die falsche Richtung läuft kann man laufen, bis man schwarz wird!"
Sie passierten ein Schild mit der Aufschrift: PRIVATGELÄNDE. BETRETEN VERBOTEN.
Bount pfiff durch die Zähne.
"Jetzt wird es interessant!"
Die Piste führte dann an schroffen Felsen vorbei durch ein enges Tal, das sich schlauchartig hinzog.
Und dann krachte ein Schuss, der in diesem Tal wie eine ganze Salve klang und mehrfach widerhallte.
Der Chevrolet brach zur Seite aus und Bount wusste sofort, dass es einen Reifen erwischt hatte.
"Runter!", zischte June zu, obwohl das gar nicht mehr nötig war, denn das blonde Minnesota-Girl hatte sich längst niedergekauert.
Ein weiter Schuss wurde abgefeuert, schien aber ins Nichts zu gehen. Mit einem Ruck kam Bount der seitwärts über den steinigen Boden rutschende Chevy zum Stehen. Bount ließ die Tür aufspringen. Sein Griff ging zur Automatic. Er riss die Waffe heraus, ließ sich aus dem Wagen fallen und rollte sich auf dem Boden herum, feuerte einmal und war dann eine Sekunde später hinter einem Felsen in Deckung gegangen.
Er hatte nicht genau erkennen können, woher die Schüsse gekommen waren, aber wenn ihn nicht alles täuschte, dann waren es verschiedene Richtungen gewesen.
Er fluchte innerlich.
Eine schöne Falle war das, in die er da zusammen mit June getappt war. Andererseits bestärkten die Schüsse nur sein Gefühl, auf der richtigen Fährte zu sein.
Bount wollte aus seiner Deckung heraustauchen, aber ein paar Schüsse wurden in seine Richtung geschickt und pfiffen ihm um die Ohren. Manche kamen gegen den harten Fels und wurden als gefährliche Querschläger weitergeschickt. Es blieb ihm nichts anderes, als erst einmal den Kopf einzuziehen.
Und er konnte nur hoffen, dass June dasselbe tat... Er hörte Schritte. Und jetzt war auch klar, dass es mehrere sein mussten, die sich da durch Bounts und Junes Anwesenheit gestört fühlten.
Dann hörte Bount die Stimme seiner Assistentin.
"Bount!"
Er kam etwas höher und sah sie in den Armen eines kräftigen Mannes, der ganz so aussah, als ginge er mindestens zweimal die Woche in ein Fitness-Center. Bount ließ seine Automatic herumwirbeln, blickte aber im nächsten Augenblick in mindestens drei verschiedene Gewehr-und Pistolenmündungen.
"Waffe fallen lassen!", sagte einer von ihnen. Es war der blasse, schwarzbärtige Mann aus dem Landrover.
Bount hielt es für besser, dem Befehl des Schwarzbarts erst einmal Folge zu leisten. Er konnte versuchen, was er wollte - es hätte keinen Sinn gehabt. Die Automatic fiel also in den Staub.
Bount fragte: "Zufrieden?"
Aber das reichte ihnen keineswegs.
Der Schwarzbart bewegte die Beretta in seiner Rechten hin und her. Ein Zeichen, dass die anderen sofort begriffen. Drei Mann stürzten sich von vorne, von hinten und von der Seite auf den Privatdetektiv und packten ihn ziemlich roh. Bount Reiniger war klug genug, sich nicht dagegen zu sperren. Die anderen hatten einfach die überzeugenderen Argumente in Form der auf ihn gerichteten Waffen. Und außerdem hatte einer von ihnen sich June gegriffen. Bount hörte ihren unterdrückten Schrei.
Sie zappelte zwar ziemlich herum, aber sie hatte natürlich nicht die geringste Chance. Sie konnte nicht einmal schreien. Eine große, behaarte Pranke hielt ihr grob den Mund zu.
"Wer sind Sie?", fragte der Schwarzbart.
"Mein Name ist Reiniger."
"Und was machen Sie hier?"
"Ein bisschen herumfahren. Ist das verboten?"
"Haben Sie das Schild nicht gelesen?"
"Muss ich übersehen haben."
Der Schwarzbart trat jetzt nahe an Bount heran, der sich unter den Griffen der Kerle kaum rühren konnte. Bount sah auf. Sein Blick traf sich mit den kühlen, blassblauen Augen des anderen.
Ein Gesichtsmuskel zuckte bei dem Schwarzbart.
Für zwei, drei volle Sekunden geschah überhaupt nichts. Dann bekam Bount einen furchtbaren Schlag in die Magengrube. Durch das Anspannen der Bauchmuskeln konnte er das Schlimmste verhindern, aber es blieb trotzdem ein hundsgemeiner Hieb.
Der Schwarzbart grinste.
Bount biss die Zähne zusammen. Dann blickte er auf und fragte: "Wofür war das denn?"
"Dafür, dass Sie mich anlügen!", kam es zurück. "Und das mag ich eben nicht besonders." Er zuckte die Achseln.
"Was Sie nicht sagen..."
"Sie haben mich von Tucson aus verfolgt. Und Sie tragen das da!" Er deutete auf die Sand liegende Automatic. Dann packte er Bounts Jackett am Revers und durchwühlte die Innentaschen. Er nahm die Brieftasche heraus. Dann hielt er Reinigers Lizenz als Privat Eye in den Fingern und nickte dabei. Sein Gesicht blieb dabei unbewegt.
"Habe ich es mir doch gedacht...", murmelte er. Er sah auf die Lizenz. "...Mister Reiniger! Wir mögen hier keine Schnüffler!"
"Ist das mein Fehler?", zischte Bount.
"Es ist ihr Fehler, dass Sie weitergefahren sind, obwohl da ein Schild war, das Sie aufgefordert hat, es nicht zu tun!"
"Geschenkt! Aber mussten Sie mir deshalb den Reifen zerballern?"
"Seien Sie verdammt noch mal froh darüber, dass es nur der Reifen war. Was wollen Sie von uns?"
"Ich weiß nicht, ob ich etwas von Ihnen will. Schließlich weiß ich ja noch nicht einmal, wer Sie sind!"
"Braucht Sie auch nicht zu interessieren!" Im Gesicht des Schwarzbarts zuckte es. "Na los, raus damit! Warum sind Sie mir gefolgt?"
"Vielleicht sage ich es ihnen, wenn Sie mich loslassen!" Bount sah, dass sich auf der beiden Stirn seines
Gegenübers ein paar Falten gebildet hatten. Für einen kurzen Moment schien er nachzudenken, ob es sinnvoller war, darauf einzugehen oder dem Privatdetektiv einfach noch eine reinzuhauen.
Bount hatte Glück.
Der blasse Schwarzbart entschied sich für die erste Möglichkeit und gab seinen Männern ein Zeichen, woraufhin sie Bount losließen. Bount zog sich seine Jackett zurecht und deutete auf June.
"Sie auch!"
"Okay."
Die Pranken, die June bis dahin gehalten hatten, lösten sich von ihr und sie lief zu Bount herüber. Die Männer ließen es geschehen. Der Schwarzbart hielt den Blick auf Bount gerichtet. "Ich höre!", sagte er und in seinem Tonfall lag eine deutliche Drohung, die Bount keinesfalls überhörte.
Bevor Bount etwas sagen konnte, hatte der Schwarzbart noch etwas in der Brieftasche herumgewühlt und zog nun einen Abzug des Fotos hervor, auf dem Kimberley Morgan und Morris Clansing zu sehen waren.
Er warf einen kurzen Blick auf das Bild, aber es war ihm nicht anzusehen, ob er sie erkannte.
"Hat es damit zu tun?", fragte er.
Bount nickte.
"Ja."
"Suchen Sie den Mann oder die Frau?"
"Haben sie denn einen von ihnen schon einmal gesehen?"
"Nein."
"Und Ihre Leute?"
Der Schwarzbart musterte Bount kurz. Dann ging er von einem zum andren, hielt jedem das Foto für eine Sekunde unter die Nase und kam dann wieder zu Bount. Er packte Lizenz und Foto wieder in die Brieftasche und gab sie dem New Yorker zurück.
"Sie sehen, Mister, dass Sie hier an einer völlig falschen Stelle suchen. Sie können also getrost abdrehen!" Ein zynischer Zug spielte jetzt um seine Lippen. "Ich hoffe nur, dass Sie einen Ersatzreifen haben, sonst gibt es einige Probleme für Sie!"
Bount lächelte dünn.
"Keine Sorge!"
"Und kommen Sie nie wieder hier her!"
Der Schwarzbart hob seine Beretta und sicherte sie. Dabei fiel Bounts Blick für den Bruchteil einer Sekunde auf den Handballen. Aber dieser kurze Augenblick genügte, um die Tätowierung zu erkennen.
Es war ein Pentagramm, so groß wie ein Daumennagel. Bount dachte, dass er hier vielleicht doch an der richtigen Adresse war.
16
Ein Jeep und der Landrover mit der zerdellten Stoßstange kamen herangefahren und der Schwarzbart und seine Truppe sprangen auf und brausten davon.
"Das war knapp!", meinte June.
Bount winkte ab.
"Hätte schlimmer kommen können!"
"Und was machen wir nun?"
"Erstmal den Reifen wechseln."
"Hast du die Tätowierungen gesehen, Bount?" Der Privatdetektiv nickte.
"Schätze, wir werden uns wohl oder übel noch einmal hier her bemühen müssen..."
Der Reifen war schnell gewechselt und dann sahen sie zu, dass auf den Rückweg kamen. Es hatte wenig Sinn, jetzt hier noch irgendetwas zu versuchen. Man konnte sich an zwei Fingern ausrechnen, dass sie weiterhin beobachtet wurden.
Als sie zurück in Tucson waren, war immerhin noch Zeit dazu, um sich auf dem Katasteramt zu erkundigen, wem jenes Land gehörte, dessen Besitzer offenbar besonderen Wert darauf legte ungestört zu sein.
Aber die Angaben, die dort zu finden waren, waren auch nicht sonderlich aufschlussreich. Das Land gehörte einer Erbengemeinschaft. Es handelte sich mehr oder weniger um ein Stück Halbwüste, das für Landwirtschaft nicht infrage kam.
Da man Bodenschätze vermutete, den Erben aber das Geld für Bohrungen fehlte, hat man das Land erst einmal verpachtet. In den Akten war ein gewisser Phil Delaney als Pächter eingetragen. Von einem ZENTRUM FÜR ESOTERISCHE STUDIEN war nichts zu finden.
Aber Bount wusste, dass das nichts heißen musste.
17
Für die Nacht hatten sich Bount und June im St. George, einem Nobelhotel einquartiert.
Als morgens mit dem Frühstück auch die Zeitung in ihre Suite gebracht wurde, war dort auch das Phantombild von Morris Clansing zu sehen. Darunter ein Artikel über die Schießerei bei der Highway-Tankstelle, die sich vor ein paar Tagen ereignet hatte.
Wie es schien war die Polizei mit ihrer Arbeit noch nicht sehr weit gekommen. Ein Leitartikel stellte die Frage nach dem Grund dafür.
Bount reichte June das Phantombild und meinte: "Das könnte er sein, nicht wahr?"
Sie führte ungerührt ihre Kaffeetasse zum Mund und zuckte dann mit den Achseln.
"Könnte und könnte auch nicht, Bount."
"Aber es gäbe Sinn, June! Dieser Kerl hat sich mit ein paar anderen eine Schießerei geliefert und einen Lastwagen gestohlen... Außerdem steht hier, dass er zuerst in Begleitung einer Frau war..."
"Kimberley!"
"Möglich."
June klimperte mit ihren blauen Augen.
"Aber warum ist dann kein Bild von ihr in der Zeitung?"
"Hier steht, dass sich die Zeugenaussagen zu sehr widersprachen und unbrauchbar waren. Der Mann ist ihnen wohl besser im Gedächtnis geblieben. Übrigens hat er einen von den Männern, mit denen er sich eine Schießerei geliefert hat, über den Jordan geschickt. "
June hob die Augenbrauen.
"Und?"
"Identität unbekannt. Aber es würde mich nicht wundern, wenn er ein Pentagramm an der Hand hätte."
June seufzte.
"Also auf zum Leichenschauhaus!"
Aber Bount schüttelte den Kopf.
"Das können wir später nachholen. Wenn wir uns jetzt damit aufhalten, ist Clansing vielleicht schon über alle Berge. Und damit wird es sehr schwer, Kimberley aufzutreiben."
June schlug gekonnt die Beine übereinander und lehnte sich etwas zurück. "Warum so kompliziert?", meinte sie und Bount zog die Augenbrauen in die Höhe.
"Was meinst du damit!"
"Na, soll doch die Polizei mal dort etwas herumsuchen, wo wir nicht weitergekommen sind! Wenn einer in Uniform dort auftaucht, werden sie ihn schon nicht gleich mit einem Bleiregen empfangen, Bount!"
Bount winkte ab.
"Was haben wir denn? Ein Postfach und einen Mann, der es geleert hat. Sonst nichts. Die Polizei wird von der erdrückenden Beweislage begeistert sein."
June verdrehte die Augen.
"Und was schlägst du vor?", fragte sie kratzbürstig.
18
Bount fuhr mit June erst einmal zu jener Highway Tankstelle, an der die Schießerei stattgefunden hatte. Die Tankstelle nebst dazugehörigem Drugstore lag ein paar Meilen südlich von Tucson auf dem Weg in Richtung Nogales und mexikanische Grenze.
Der Tankwart hieß Grayson und war sehr zuvorkommend und auskunftsfreudig. Bount und seine Assistentin waren durchaus nicht die ersten, die ihn wegen dieser Sache ausfragten. Die Polizei und die Lokalpresse waren da gewesen und er war sichtlich stolz darauf, dass man ihn im Bericht erwähnt hatte.
Er hielt Bount die Zeitung unter die Nase, um ihm die entsprechende Stelle zu zeigen. Der Privatdetektiv lächelte nachsichtig.
Dann hielt er ihm das Foto unter die Nase, auf dem Kimberley und ihr Freund zu sehen waren.
"Das ist der Kerl!", meinte Grayson sofort. Bount hob die Augenbrauen. "Sind Sie sicher?"
"Absolut, Sir! Er ist in Richtung Süden davongefahren!" Er machte eine entsprechende Bewegung mit der Hand.
"Und die Frau?"
"Keine Ahnung. Ich weiß nur, dass er den Lastwagen von meinem Lieferanten mitgenommen hat. Man hat ihn übrigens heute Morgen verlassen aufgefunden."
"Wo?"
"Irgendwo hinter Sahuarita. War dem Kerl wohl zu auffällig, mit einem Getränkewagen durch die Gegend zu fahren!"
Bount grinste.
"Er hätte jedenfalls nicht so schnell Durst gekriegt."
"Auch wieder wahr. Aber so ist er auch nicht schlecht gefahren. Er hat sich nämlich die Kasse unter den Nagel gerissen. Mein Freund Larry hat es mir gesagt. Er ist der Fahrer. Wir haben heute Morgen telefoniert."
Ein paar Augenblicke später ließ Bount den Chevy wieder über den Asphalt fliegen. Er drückte das Gaspedal ziemlich herunter.
"Ich hoffe nur, dass wir keiner Polizeistreife begegnen!", meinte June. Dann seufzte sie. "Glaubst du, dass Clansing noch in der Umgebung von Sahuarita steckt?"
"Die Chance besteht."
"Er könnte getrampt sein und sich längst in Mexiko befinden!"
"Wir wollen es nicht hoffen. Jedenfalls muss er eine Heidenangst haben."
"Warum geht er nicht zur Polizei?"
"June, er hat einen Mann erschossen, einen Lastwagen gestohlen und die Getränkekasse an sich gebracht. Das sind schon drei gute Gründe, es nicht zu tun. Und vielleicht gibt es auch noch weiter, wir nicht kennen."
"Und wo sollen wir ihn jetzt suchen, Bount?"
"Stell dir vor, bist ohne Wagen, musst aber schleunigst verschwinden und bist darauf angewiesen, dass dich jemand mitnimmt. Wo würdest du unterkriechen?"
"In einem Highway-Motel!", meinte June.
"Handelsreisende, Trucker... Irgend jemand wird einen schon mitnehmen."
Bount nickte. "Genau so stelle ich mir das auch vor, June."
June verschränkte die Arme vor ihrer Brust und blies sich eine Strähne ihrer blonden Mähne aus den Augen.
"Und jetzt willst du tatsächlich alle Motels bis zur mexikanischen Grenze abklappern?"
"Es gibt nicht so viele, wie du vielleicht denkst!"
19
Sie kamen an Sahuarita vorbei.
Das erste Motel schien ein Reinfall zu sein. Es bestand aus mehreren Flachdach-Bungalows, die allesamt den Eindruck von Containern mit Fenstern machten. Das Haupthaus, in dem das Büro untergebracht war, war etwas besser ausgestattet.
Es wirkte alles recht vernachlässigt. Wahrscheinlich war es ziemlich preiswert und schon deswegen für Morris Clansing die richtige Adresse. Den Getränkewagen hatte Clansing in der Umgebung abgestellt. Wenn er am gestrigen Abend nicht zufällig noch einen Truck gefunden hatte, der bis Nogales an der Grenze durchfuhr, dann konnte er gut hier gestrandet sein.
Während Bount das Büro aufsuchte, wartete June im Chevy.
Der Mann an der Rezeption war klein, hager und hatte die sechzig sicher schon überschritten. Die Sonne hatte sein Gesicht braungebrannt und ledrig werden lassen.
Als Bount eintrat, zog er an einem dicken Zigarrenstummel, dessen Geruch den ganzen Raum ausfüllte.
"Welchen Bungalow wollen Sie?", fragte der Hagere.
"Für zwei Personen nehme ich an." Er grinste unverschämt und blies Bount dann den Zigarrenqualm entgegen. "Sie sind doch mit der Lady gekommen, die draußen im Chevy wartet."
Bount Reiniger legte ihm das Foto auf den Tisch.
"Ich suche diesen Mann", sagte er. "War er hier?"
"Nein."
"Schauen Sie doch wenigstens mal richtig hin!" Der Mann schien genervt und kaute missmutig auf seinem Zigarrenstummel herum. Dann knirschte er zwischen den Zähnen hindurch: "Sind Sie von der Polizei?"
"Ich habe Ihnen eine Frage gestellt und möchte eine Antwort!", erwiderte Bount, ohne darauf einzugehen. Sein Gegenüber weigerte sich indessen immer noch standhaft, auch nur einen Blick auf das Foto zu werfen.
Der Mann grinste.
"Also ein Privatschnüffler. So einer sind Sie also... Sehen Sie, Mister, hier kommen viele Leute her, die es nicht so gerne haben, wenn man sie hier sieht. Und zu meinem Job gehört, es schnell die Gesichter zu vergessen!" Er lachte rau. "Ich schätze irgendeine wildgewordene, eifersüchtige Ehefrau hat Sie beauftragt. Habe ich recht? Aber da werden Sie bei mir auf Granit beißen."
Bount langte über den Tisch hinweg und bekam den Mann am Kragen zu fassen. Er zog ihn zu sich heran. Vor Schreck fiel ihm die Zigarre aus dem Mund.
"Ich habe gesagt, Sie sollen sich dieses Foto anschauen!" Bount hielt es ihm direkt vor die Augen. "Ich bin nicht hier, weil eine eifersüchtige Frau etwas dagegen hat, wenn er sich vergnügt, sondern weil ich ihm vielleicht das Leben retten kann."
Der Mann machte große Augen und schluckte.
"Er war hier!", japste er.
Bount ließ ihn los und er plumpste nach hinten, zurück in seinen Sessel.
"Welcher Bungalow?"
"Ich sagte er war hier. Er ist weg - in Richtung Mexiko glaube ich."
Bount musterte den Alten eingehend. Er war sicher ein Profi im Lügen, deshalb konnte man nicht genau sagen, wie viel auf seine Auskunft zu geben war. Vielleicht wollte er seinen ungebetenen Gast auch einfach nur auf möglichst schnelle Weise loswerden.
"Ich denke, Sie haben nichts dagegen, wenn ich mich hier mal etwas umschaue!", meinte Bount.
Aber der Alte hatte durchaus etwas dagegen. Das Gift in seinem Blick war unübersehbar und Bount war heil froh darüber, dass Blicke nicht töten können.
Bount wandte sich zum Gehen.
"Sie haben kein Recht dazu!"
"Rufen Sie ruhig die Polizei", sagte Bount. "Könnte sein, dass Sie mir dadurch sogar Arbeit abnehmen."
Jetzt war er still.
Und dann hörte man von draußen ein Hupen, das Bount aufhorchen ließ. Der Alte blickte aus dem Fenster und meinte: "Die Lady in Ihrem Chevy wird ungeduldig, Mister. Besser Sie verschwinden jetzt!"
Bount ahnte, was das zu bedeuten hatte.
Er achtete nicht weiter auf den Alten und ging ins Freie. June saß im Chevy und zeigte in Richtung der Bungalows. Sorgfältig ließ Bount den Blick schweifen.
Ein Mann war auf dem weg zu einem der Bungalows. Er blickte sich um wie ein amateurhafter Kaufhausdieb, der gerade etwas eingesteckt hatte. Es war ziemlich auffällig. Morris Clansing wirkte gegenüber dem Bild, das Bount Reiniger in seiner Brieftasche hatte, ziemlich heruntergekommen, aber der Privatdetektiv erkannte ihn sofort.
Clansing blickte herüber.
Ihre Blicke trafen sich für den Bruchteil einer Sekunde. Bount Reiniger machte ein paar entschiedene Schritte in Clansings Richtung. Wenn Clansing an einer Schießerei beteiligt gewesen war, dann hieß das, dass er bewaffnet war. Bount wusste, dass er aufpassen musste.
Aber wenn er jetzt die Automatic unter dem Jackett hervorholte, würde der Kerl wahrscheinlich in Panik geraten. Er sah ohnehin schon aus wie ein Mann, der die Hosen gestrichen voll hatte.
Er war fast bei seinem Bungalow. Es war die Nummer 5. Bount hatte indessen ein Stück aufgeholt.
"Morris Clansing? Warten Sie, ich will ihnen helfen!" Aber Clansing schien von der Aussicht auf Hilfe überhaupt nicht begeistert zu sein.
Jedenfalls hatte er in der nächsten Sekunde eine Waffe in der Hand und drückte ab. Ein Schuss krachte. Bount hatte sich instinktiv etwas geduckt, während seine Rechte die Automatic herausgerissen und in Anschlag gebracht hatte. Zum Glück war Clansing ein lausiger Schütze, der auf diese Entfernung wahrscheinlich auch einen Elefanten nur per Zufall getroffen hätte.
Aber er war in Panik. Und das war es, was ihn gefährlich machte.
Er ballerte noch zweimal mit seiner Waffe herum, ohne etwas zu treffen. Dann war er im Bungalow verschwunden. Bount setzte zu einem Spurt an und hatte das Gebäude gerade noch erreicht, bevor Clansing wie wild aus dem Fenster heraus feuerte. Bount presste sich an die Holzwand.
"Clansing! Hören Sie auf! Ich will Ihnen nichts tun! Ich bin keiner von denen, die hinter Ihnen her sind! Ich will Ihnen helfen!" Bount atmete tief durch. Einen Augenblick lang geschah gar nichts und der Privatdetektiv dachte: Eins zu null! Wenigstens hört er mir zu.
Aber dann ging der Rollladen des Fensters herunter. Bount hörte ein paar Geräusche.
Vielleicht räumte er etwas vor die Tür. Es hätte ihm ähnlich gesehen!
Dieser verfluchte Angsthase!, schoss es Bount durch den Kopf. Clansing schadete sich selbst am meisten.
"Ich bin im Auftrag von Kimberleys Vater hier", erklärte Bount. Wenn die beiden ein paar waren, dann musste der Name Kimberley doch eine Saite in ihm anrühren. "Er macht sich Sorgen um seine Tochter."
Bount hatte richtig gepokert.
Aber Clansing war noch immer weit davon entfernt, ihm zu glauben.
"Wo ist Kimberley? Was habt ihr Schweine mit ihr gemacht?"
"Ich weiß nicht, wo Kimberley ist, Clansing! Ich dachte eigentlich, dass Sie mir das sagen könnten. Deshalb bin ich hinter Ihnen her!"
"Alles Lüge! Das ist eine Falle!"
"Sie haben Angst, das verstehe ich. Aber Sie sollten jetzt verdammt noch mal ihren Kopf gebrauchen und nicht auf den einzigen weit und breit zu schießen, der auf Ihrer Seite ist!"
Bount ging zur Tür und versuchte sie zu öffnen.
Sie war abgeschlossen.
In der nächsten Sekunde wurde sie dann durch drei kurz hintereinander abgefeuerte Kugeln glatt durchschlagen. Bount wich blitzartig zur Seite auswich und sich auf den Boden warf.
Dieser Idiot!, zuckte es durch seinen Kopf.
Clansing stand hinter der Tür und ballerte einfach drauflos, in der Annahme, dass Bount vor der Tür stand. Er musste mehr oder weniger wahnsinnig vor Angst sein. Und dann machte es 'klick!'.
Bount wusste, was das nur bedeuten konnte und das dies seine Chance war.
Clansings Waffe war leergeschossen. Bount schnellte hoch und rammte mit der Schulter die Tür, aber noch hielt sie stand. Ein Schuss mit der Automatic ließ dann das einfache Schloss aufspringen. Hinter der Tür waren ein paar Stühle und ein Tisch aufgetürmt, aber das war kaum ein Hindernis. Bount ließ sie einfach beiseite rutschen, als er die Tür aufdrängte.
Er blickte direkt in die Mündung von Clansings Waffe, der starr vor Angst in der hinteren Ecke des Raumes stand. Er warf die Waffe in Bounts Richtung. Sie segelte knapp an seinem Kopf vorbei. Und dann setzte er sich plötzlich in Bewegung. Wahrscheinlich wollte er aus einem der hinteren Fenster türmen.
"Bleiben Sie stehen!", rief Bount und das hielt ihn erst einmal auf. Bount warf ihm seine Detektiv-Lizenz hin.
"Bevor sie die Chance, das Leben Ihrer Freundin Kimberley zu retten, einfach wegwerfen, sehen Sie sich bitte das hier an!"
Er blickte Bount scheu und feindselig an, bückte sich dann aber doch, um sich die Lizenz anzusehen.
"Bount Reiniger, New York..." murmelte er.
"Glauben Sie mir nun, dass ich die Wahrheit gesprochen habe?"
Clansing atmete tief durch.
"Sie haben eine Waffe, ich nicht...", stellte er fest. Indessen war Bount näher an ihn herangekommen. Er steckte die Automatic weg. "Wenn Sie ein besserer Schütze gewesen wären, hätten Sie mich umgebracht!", erklärte der Privatdetektiv.
Clansing verzog das Gesicht.
"Okay. Und nun haben Sie die Gelegenheit dazu."
"Wenn es das wäre, was ich wollte, wären Sie längst ein toter Mann, denn ich kann schießen. Aber ich bin kein Killer."
Bount holte das Foto hervor, das Clansing zusammen mit Kimberley zeigte. "Wissen Sie, woher das kommt, Clansing?"
Er warf einen kurzen Blick darauf.
"Ich habe es ihr glaube ich mal geschenkt."
"So ist es. Es war in ihrer Wohnung."
"Dass Sie aus New York kommen heißt noch nicht, dass Sie nicht zu ihnen gehören."
Zu ihnen... Er hatte das in einem ganz besonderen Tonfall gesagt und das ließ Bount aufhorchen.
"Wer sind Sie?"
Morris Clansing blickte Bount ins Gesicht. Und Bount dachte: Wovor auch immer dieser Kerl Angst haben mag, es muss furchtbar sein.
Dann packte Clansing plötzlich Bounts Hand und drehte sie herum. Bount ließ es geschehen und wehrte sich nicht, denn er glaubte zu wissen, wonach der andere suchte. Er nahm auch die andere Hand.
"Suchen Sie eine Tätowierung...Ein Pentagramm?" Er wich einen Schritt vor Bount zurück.
"Das beweist noch gar nichts", murmelte er. "Sie könnten es auch irgendwo am Körper haben!"
Sein Gesichtsausdruck bekam etwas Irres, seine Augen traten unnatürlich weit hervor und Bount ahnte, was passieren würde und verhinderte es.
Bevor er auch nur einen Meter flüchten konnte, verpasste er ihm einen sauberen Haken, der Clansing erst einmal ins Land der Träume versetzte. Wie ein nasser Sack ging er nieder. Bevor er zu Boden fiel, fing Bount ihn auf und wuchtete ihn über die Schulter.
So trat er dann ins Freie.
June sah das und schaltete gleich. Sie rutschte ans Steuer des Chevys und fuhr ihn heran. Bount packte den bewusstlosen Morris Clansing auf die Hinterbank und setzte sich selbst daneben.
"Fahr los, June!", meinte er. "Ich schätze, wir haben hier schon mehr als genug Aufsehen erregt."
Der Mann aus dem Motel-Office stand mit gerunzelter Stirn vor seiner Tür und beobachtete die Szene. Und genau so verwundert schien der Fahrer eines Ford zu sein, der gerade ausgestiegen war, um besser sehen zu können.
20
Es dauerte ein bisschen, bis Bount den bewusstlosen Clansing wieder wach bekam. Er blickte entgeistert um sich, während Bount ihn mit der ersten Frage bombardierte.
"Wo ist Kimberley? Ich bin überzeugt davon, dass Sie wissen wo Sie ist!"
"Satans Kinder werden sie umbringen", murmelte er. Er lachte wie irre und meinte dann: "Scheint, als hätte ich mich in Ihnen getäuscht, was?"
"Irren ist menschlich. Wer sind die Kinder Satans?" Morris Clansing hielt Bount seine Hand hin und Bount sah das Pentagramm. "Ich selbst gehöre zu ihnen", erklärte er. "Oder besser: Ich gehörte zu ihnen. Ein Kind Satans..."
"Und Kimberley?"
"Sie auch."
"Sie und Kimberley haben sich beide sehr für Okkultismus und außersinnliche Phänomene interessiert."
Clansing nickte. "Ja. Wir waren beide wie besessen davon. Diese alten Rituale, schwarze Messen, schwarze Magie..."
"Ich verstehe!"
"Das glaube ich kaum, Mister Reiniger. Vielleicht haben Sie ein paar sensationslüsterne Illustrierten-Artikel darüber gelesen. Aber wirklich begreifen kann man das nur, wenn man dazugehört."
Bount musterte den Mann neben sich auf dem Sitz des Chevys nachdenklich. Wahrscheinlich hatte er recht. Bount selbst war eher der Ansicht, dass solche Dinge nicht ins zwanzigste Jahrhundert passten, aber welchen Sinn hatte es, jetzt darüber zu streiten? Es fanden sich eben immer wieder schwache Persönlichkeiten, die glaubten, nicht leben zu können, ohne dass sie irgendjemandem blind folgten einem Führer, einem Guru, einer starken Gemeinschaft oder einem finsteren, mächtigen Wesen im Hintergrund...
"Was ist schiefgelaufen?", fragte Bount schließlich. "Es sind doch Satans Kinder, die hinter Ihnen her sind, nicht wahr? Ihre eigenen Glaubensbrüder also - wenn man das Wort an dieser Stelle verwenden kann."
Clansing schluckte.
"Ja..."
"Erzählen Sie!"
"Wir kamen in New York mit Mitgliedern dieser Gruppe in Kontakt. Sie treffen sich im Geheimen, um die Zeremonien abzuhalten. Schwarze Messen, Totenbeschwörungen und so etwas." Er blickte Bount an und setzte hinzu: "Zuerst... war es wie eine Art Spiel! Diese dunklen Rituale und finsteren Mächte... Es war ein seltsames Prickeln, ein eigenartiges Schaudern dabei. Aber im Grunde war es harmlos."
"Satans Kinder findet man nicht im Telefonbuch, nicht wahr?"
"Nein. Sie tarnen sich hinter Stiftungen und dergleichen."
"Ist einer ihrer Deckmäntel zufällig das ZENTRUM FÜR ESOTERISCHE STUDIEN UND
PERSÖNLICHKEITSBILDUNG?"
Er nickte.
"Ja. Hier in Arizona ist das Zentrum dieser Gruppe. Es war reine Neugier, die uns hier her trieb - Kimberley und mich. Satans Kinder haben ein Stück Land gepachtet und dort eine Art Siedlung errichtet. Es liegt ziemlich einsam. Dort erregt man auch kein Aufsehen. Zuerst war es ganz gut. Eine feste Gemeinschaft. Jeder wusste, wo sein Platz war..." Er blickte hinaus in die Weite. "Ich hatte das Gefühl, etwas zu bedeuten." Er hielt inne und schien zu träumen. Bount sah, dass er einen ziemlich gebrochenen Mann vor sich hatte, der einige Probleme damit bekommen würde, wieder mit sich selbst zurecht zu kommen. Aber darauf konnte Bount jetzt keine Rücksicht nehmen.
Bount zog die Augenbrauen hoch und fragte: "Irgendwann muss es dann nicht mehr gestimmt haben, sonst wären Sie ja nicht getürmt..."
"Das ist richtig", flüsterte er. "Erst wollten wir es nicht wahrhaben, Kimberley und ich. Wir haben einfach die Augen verschlossen."
Bount Reiniger begriff. Man hatte Kimberley und Clansing vermutlich zu Anfang ihrer Zeit bei Satans Kindern einer Art Gehirnwäsche unterzogen. Das sie es dennoch geschafft hatten, davonzulaufen, war erstaunlich.
"Es geschahen schreckliche Dinge...", fuhr Clansing fort.
"Menschenopfer."
"Woher wissen Sie das?"
"Spielt doch keine Rolle, Clansing. War einfach nur eine Vermutung." Bount atmete tief durch und setzte dann noch hinzu: "Wissen Sie, ich war schon mal in der Gegend, wo sich dieses angebliche Studienzentrum befindet, aber man hat mich ziemlich unfreundlich wieder davon geschickt."
"Jetzt wissen Sie, warum."
"Allerdings."
"Seien Sie froh, dass man Sie nicht in der Wüste verscharrt hat, Reiniger! Diese Leute kennen nämlich kein Pardon."
"Warum töten Satans Kinder?", fragte Bount sehr ernst.
"Es gibt hier in der Gegend eine Serie von Morden. Alle Opfer wurde auf die gleiche, bestialische Weise getötet."
"Ja, ich weiß. Ich war selbst Augenzeuge." Er stockte kurz, bevor er weitersprach. Es fiel ihm ganz offensichtlich nicht leicht, darüber zu reden. "Es gehört zum Kult!", erklärte Clansing schließlich. "Satan, unser Herr, verlangt Opfer... Immer wenn sich der Mond in einer bestimmten Stellung befindet. Um das auszurechnen gibt es einen Astrologen. Und ein Knochenorakel entscheidet dann, wer das Opfer ist."
"Ein Knochenorakel?"
"Ja. Einige Knochensplitter werden auf den Boden geworfen. Das Ergebnis wird durch den Hohepriester Satans interpretiert."
"Wer ist der Hohepriester?"
"Er heißt James."
"James - und wie weiter?"
"Ich kenne ihn als James. Nichts weiter."
"Schauderhaft!", warf June March ein, die am Steuer saß und das Gas ziemlich durchdrückte. "Was sind das nur für Menschen?"
"Hinter die Sache mit den Menschenopfern kamen Kimberley und ich erst nach und nach. Wir wollten aussteigen..."
"...und dagegen hatten Satans Kinder etwas einzuwenden!"
"Man wollte uns ebenfalls auf dem Altar Satans opfern. Und vielleicht hat man das mit Kimberley auch schon getan. Bei der Tankstelle haben sie sie in die Hände bekommen." Er sprach nicht weiter. Schon die Erinnerung an das Erlebte schien ihn schaudern zu lassen. Morris Clansing traten Tränen in die Augen. "Es sind bestialische Mörder", flüsterte er.
Bount nickte nur stumm.
Dann fragte Clansing plötzlich: "Wohin fahren wir jetzt?"
"Zu Polizei", erklärte Bount ruhig. Er sah gleich, dass es ein Fehler gewesen war, das zu sagen. Clansings Augen quollen wieder bedenklich aus ihren Höhlen heraus, sein Gesicht bekam etwas von seinem panischen Zug zurück.
"Ich habe jemanden erschossen und einen Lastwagen gestohlen."
"Notwehr", sagte Bount.
"Ich habe Angst."
"Ich weiß. Denken Sie an Kimberley. Wir müssen ihr helfen!"
Er nickte stumm und mit zusammengekniffenen Lippen. Bount fragte: "Was glauben Sie, ist sie noch am Leben?"
"Das steht in den Sternen, Mister Reiniger. Und das meine ich ganz wörtlich. Man wird sie als Opfer für Satan auswählen, das ist klar. Sie hat sich gegen Satan, ihren Herrn und Meister vergangen und wird ihm zurückgegeben werden. Aber wann - das rechnet der Astrologe aus." Bount holte eine Landkarte von Tucson und Umgebung hervor und legte sie Clansing vor.
"Zeigen Sie mir genau, wo Satans Kinder ihr Hauptquartier haben und beschreiben Sie mir die Anlage so detailliert Sie können!"
Er nickte.
21
"War dieser Ford nicht vor dem Motel-Office?", fragte June nach einem Blick in den Rückspiegel, als sie schon kurz vor Tucson waren. Bount drehte sich herum.
"Ja", meinte er. "Der Kerl hat uns noch so neugierig nachgestiert. Ich erinnere mich."
"Glaubst du, dass das Zufall ist, Bount?"
"Wer weiß..." In diesem Moment holte der Ford plötzlich auf und zog seitlich an dem Chevy vorbei. Als beide Wagen auf gleicher Höhe waren, tauchte blitzartig ein zweiter Mann auf, der sich auf dem Rücksitz befunden hatte. Er ein Gewehrlauf kam durch das offene Fenster, ein Mündungsblitz flammte grell auf. Die Schussgeräusche gingen im Highway-Lärm ziemlich unter.
Alles ging blitzschnell.
"Runter!", keuchte Bount und warf sich im selben Moment zur Seite auf den völlig desorientierten Clansing. Die Kugel ging durch die Seitenscheibe und ließ sie zu Bruch gegen. Ein zweiter und ein dritter Schuss folgten. Bount riss die Automatic heraus und feuerte zurück. Aber in diesem Augenblick geriet der Chevy ins Schleudern. Wahrscheinlich hatte es einen der Reifen erwischt. June war keine schlechte Fahrerin, aber sie konnte nicht viel machen. Der Chevy ging aus seiner Spur und wurde von einem nachfolgenden Lieferwagen am Heck gerammt, der nicht mehr schnell genug abbremsen konnte. Der Ford brauste indessen davon. Bount versuchte noch, sich das Kennzeichen zu merken, obwohl es wahrscheinlich nicht viel wert sein würde. Wenn diese Kerle nur einen Funken Verstand besaßen, dann war der Wagen gestohlen. Der Chevy rutschte gegen die Leitplanken, durchbrach sie und kam dann ziemlich hart zum Stehen.
Bount kam irgendwo hart mit dem Kopf auf. Er fühlte sich für einen Augenblick etwas benommen. Als er die Hand hob, sah er, dass sie voller Blut war. Aber das Blut kam nicht von ihm, sondern von Morris Clansing.
Eine der Kugeln hatte ihn böse erwischt. Ihm konnte niemand mehr helfen.
"Bount!", hörte er Junes Stimme. "Ich konnte nichts machen."
"Ich weiß. Bist du in Ordnung?"
Sie wandte sich nach hinten um und Bount sah sie aus der Nase bluten.
"Das sieht schlimmer aus, als es ist!", meinte sie. "Ich bin auf das Lenkrad geschlagen. Das ist gleich vorbei!" Bount stieg aus. Etwas abseits stand der Lieferwagen, der den Chevy hinten gerammt hatte. Der Fahrer kam wild gestikulierend auf Bount zu.
Er schien ziemlich verzweifelt zu sein.
"Ich konnte nichts dafür, Mister! Wirklich!" Bount versuchte, ihn zu beruhigen.
"Ich weiß", meinte er.
22
Als Bount diesmal bei der Polizei von Tucson auftauchte, kam der Chief schon auf ihn zu, baute sich vor ihm auf und meinte: "Sie sind also dieser Privatschnüffler Reiniger von der anderen Seite des Kontinents." Bount nickte. "Richtig."
Er reichte Bount eine kräftige behaarte Pranke und drückte fest zu. Es war der Händedruck eines Mannes, der jedem gleich zeigen wollte, wer der Boss war.
"Mein Name ist Terrance und ich bin hier der Chief!", erklärte er. "Milland hat mir von Ihnen erzählt. Sie haben eine Menge Fragen gestellt."
Bount zuckte ungerührt mit den Schultern.
"Dafür werde ich bezahlt", meinte er.
Chief Terrance warf Reiniger einen Blick zu, der glatt vermuten lassen konnte, dass ihm diese Antwort nicht gefiel. Um seine Mundwinkel stand ein verkniffener Zug in seinem Gesicht.
"Gehört Staub aufwirbeln auch zu den Dingen, für die Sie bezahlt werden, Reiniger?", erkundigte er sich - nicht ohne eine gewisse Portion Gift in der Stimme.
"Manchmal schon", gab Bount zurück. Aber darum ging es jetzt wirklich nicht und deshalb setzte er noch hinzu, bevor der andere etwas erwidern konnte: "Hören Sie, Chief. Ich weiß, wer hinter den Ritualmorden steht. Und wenn ein weiterer verhindert werden soll, dann muss jetzt schnell gehandelt werden!"
"Ach, ja?"
Chief Terrance warf Bount einen seltsamen Blick zu, den dieser einfach nicht zu deuten wusste. Aber Bount spürte schon, dass er nichts Gutes bedeuten konnte.
Es roch nach Schwierigkeiten - und zwar meilenweit gegen den Wind.
Ein arroganter Provinz-Sheriff, der es nicht aushalten kann, wenn die private Konkurrenz etwas effizienter arbeitet, schoss es Bount Reiniger durch den Kopf. Diese verdammte Eitelkeit... Bount hoffte nur, dass es nicht am Ende auf Kosten von Kimberley Morgan gehen würde. Terrance verzog das Gesicht. "Kommen Sie in mein Büro, Schnüffler! Da können wir alles weitere besprechen!" Wenig später saß Terrance hinter seinem Schreibtisch und bot Bount einen Stuhl an, aber hatte nicht die geringste Lust, sich gemütlich hinzusetzen.
So knapp und präzise berichtete er dem Chief, was geschehen war und was er von dem toten Morris Clansing wusste.
Aber Chief Terrance schien von der Story, die Bount ihm da auftischte, nicht besonders überzeugt zu sein. Er verdrehte die Augen und schien nur mit halben Ohr hinzuhören.
"Kimberley Morgan ist vielleicht noch am Leben", erklärte Bount eindringlich. "Aber wenn wir sie retten sollen, dann muss jetzt schnell etwas geschehen!" Chief Terrance lachte heiser und schlug mit der flachen Hand auf den Schreibtisch.
"Und was soll Ihrer Meinung nach geschehen, Mister Reiniger? Dieses Studienzentrum da draußen in der Wüste hat nie irgendjemandem Ärger gemacht. Und jetzt kommen Sie mit einer wilden Sekten-Story von schwarzen Messen und Menschenopfern, die ihnen ein Mann aufgetischt hat, der offenbar halb verrückt vor Angst war!"
Bount Reiniger nickte.
"Ja, Clansing war halb verrückt vor Angst! Und er hatte Grund dazu! Denn bevor ich ihn hier her bringen konnte, um ihn auspacken zu lassen, da war er schon tot!" Terrance machte eine unbestimmte Geste mit den Händen und hob ein wenig die Schultern. "Mister Reiniger... Ist Ihnen das noch nie passiert, dass Sie ein Zeuge hereingelegt hat? Dieser Clansing ist wahrscheinlich der Mann, der in eine Schießerei an einer Highway-Tankstelle verwickelt war."
"Weil Satans Kinder hinter ihm her waren. Kimberley Morgan haben sie gekriegt, er hatte Glück!"
"Verdammt noch mal, das sind doch alles nur Vermutungen! Das reimen Sie sich so zusammen oder Clansing hat es Ihnen untergejubelt! Wollen Sie mal meine Version hören, Reiniger?"
Bount verzog das Gesicht.
"Da bin ich aber gespannt!", meinte er - nicht ohne ironischen Unterton.
"Die medizinischen Untersuchungen an der Leiche, die in ihrem Chevy war, sind noch keinesfalls abgeschlossen, aber kurz bevor Sie kamen, habe ich noch mit dem Arzt gesprochen."
"Ich hoffe nicht, dass Sie jetzt auch noch in Frage stellen, dass Morris Clansing durch eine Kugel gestorben ist", murmelte Bount zwischen den Zähnen hindurch.
Unterdessen erhob sich Chief Terrance von seinem Sessel, trat nahe an den Privatdetektiv heran und verschränkte dabei die Arme.
"Dieser Clansing war vermutlich drogensüchtig, Reiniger!"
"Was Sie sind nicht sagen." Das überraschte Bount nun wirklich nicht - nach allem was er über ihn und Kimberley inzwischen wusste. Das Gegenteil wäre schon weitaus verwunderlicher gewesen.
"Seine Nasenschleimhäute sind vom Schnupfen völlig zerstört."
"Abgesehen davon, dass so etwas auch durch den Gebrauch von Nasensprays gegen Heuschnupfen kommen kann - was hat das damit zu tun, dass eine junge Frau in Lebensgefahr schwebt? Wenn es nicht ohnehin schon zu spät ist!"
"Das will ich Ihnen sagen!" Terrance holte tief Luft blies sich auf wie ein Ballon. "Ich reime mir das so zusammen, Reiniger: Dieser Clansing hatte mit der Drogenszene zu tun. Wahrscheinlich ein Kleindealer oder so etwas." Er zuckte mit den Schultern. "Kommt doch vor, dass solche Leute sich mit den Falschen anlegen, oder etwa nicht? Das geht ganz schnell. Jemand verletzt die ungeschriebenen Regeln dieses Gewerbes und ist auch schon eine Leiche."
Bount konnte es kaum fassen.
"Ein ungeklärter Bandenmord also", stellte er fest.
"Wahrscheinlich ja, Reiniger!" Er schlug Bount auf die Schulter und versuchte etwas, das so aussehen sollte wie ein Lächeln. "Kommen Sie, Reiniger, seien Sie ein fairer Verlierer..."
"...wie bei den anderen Opfern dieser Ritualmord-Serie! Alles ungeklärte Bandenmorde, ja?"
Als Bount das gesagt hatte, war es zwei volle Sekunden lang völlig still in Chief Terrance' Büro.
Dann fragte der Polizist: "Hat Milland Ihnen das erzählt?"
"Spielt das eine Rolle?"
Er zuckte die Achseln. "Vermutlich nicht. Er hört sich eben gerne reden. Das mit den Ritualmorden war eine Vermutung. Sie kam von Milland und er hat bis zum Schluss daran geglaubt. Wir haben uns eben geirrt, Reiniger! Ist doch menschlich, oder?"
"Leider, ja."
Bount sah seine Chancen schwinden, hier irgendetwas zu bewegen. Die Zeit drängte. Wie sehr konnte niemand sagen - niemand außer jenem mysteriösen Hohepriester vielleicht, der die Sekte anführte.
"Geben Sie's zu, Mister Reiniger! Sie haben nichts in der Hand! Nichts, was es rechtfertigen würde, eine Polizeiaktion durchzuführen! Vermutlich würde ich noch nicht einmal einen Durchsuchungsbefehl bekommen!"
"Wie wär's, wenn Sie es wenigstens versuchen!"
"Nein!"
Bount richtete den Zeigefinger auf ihn. "Eines Tages wird man Sie vielleicht für Ihre Ignoranz zur Rechenschaft ziehen, Chief!"
"Tucson ist nicht New York. Aber wissen Sie, wie viele Morde, Einbrüche, Vergewaltigungen und so weiter es hier gibt? Wir haben jede Menge Arbeit."
"Dann tun Sie gefälligst Ihre Arbeit, bevor es zu spät ist!"
"Wenn es Sie beruhigt: Ich kann ja morgen früh mal dort draußen bei diesem Studienzentrum vorbeischauen. Ganz informell."
Bount erkannte, dass er gegen eine Wand rannte. Es hatte keinen Sinn, das ging ihm mehr auf.
Er ließ den Chief stehen und wandte sich zur Tür.
"Reiniger..."
Bount hatte die Klinke schon heruntergedrückt. Ohne sich umzudrehen fragte er: "Was ist noch, Chief? Ich denke, es ist alles gesagt..."
"Nein, durchaus nicht. Sie haben vielleicht alles gesagt, aber ich noch nicht! Hören Sie mir gut zu!"
"Machen Sie es kurz!"
"Wenn Sie irgendetwas auf eigene Faust versuchen sollten, Reiniger, dann werde ich Ihnen kräftig auf die Füße treten! Haben Sie mich verstanden?"
"War ja deutlich genug!"
"Es existiert übrigens eine Anzeige gegen Sie." Bount drehte sich jetzt doch herum. Er hob verwundert die Augenbrauen. Das wurde ja immer doller!
"So?"
"Unbefugtes Betreten von Privatgelände. Der Leiter des Zentrums für esoterische Studien hat sich beschwert..."
"Interessant. Kann ich mal sehen?"
"Können Sie nicht."
Vielleicht bluffte er nur. Und selbst wenn nicht, es interessierte Bount im Augenblick nur in zweiter Linie.
"War das alles?"
"Lassen Sie sich nicht mehr dort blicken, klar? Wenn Sie ein Schild sehen, dass Sie darauf hinweist, dass Sie sich auf privatem Grund und Boden befinden, drehen Sie augenblicklich ab!"
"Leben Sie wohl,...Chief!"
"Reiniger!" Chief Terrance streckte seinen Zeigefinger aus wie eine Pistole. "Ich warne Sie! Spielen Sie hier nicht den wilden Mann! Am besten, Sie gehen nach New York zurück lassen mich hier meinen Job machen!"
23
June holte Bount vom Polizeipräsidium ab. Sie hatte bei der Autoverleihfirma einen neuen Wagen besorgt. Es war ein hochbeiniger Toyota. Bount musterte das Gefährt kurz und nickte.
"Sieht geländegängig aus!", meinte er.
"Genau, wie du gesagt hast, Bount! Erst wollten sie mir gar keinen Wagen ausleihen, als ich das mit dem Chevy beichten musste."
Bount lachte rau. "Und, wie hast du sie überredet?"
"Mein Augenaufschlag hat da leider nicht ausgereicht. Ich musste ihm schon die Kreditkarte präsentieren und ihm versichern, dass wir alle Kosten übernehmen, was den Chevy angeht."
Bount zuckte mit den Schultern.
"Was soll's", meinte er leichthin. "Der gute Mister Morgan wird es auf die Spesenabrechnung draufbekommen!"
Sie fuhren erst einmal in Richtung Hotel.
"Ich sehe dir an, dass es nicht so gelaufen ist, wie du dir das gedacht hast, Bount!"
Bount schlug wütend gegen das Lenkrad.
"Dieser Terrance, der hiesige Polizei-Chief will einfach nichts unternehmen. Die Sache sei zu dünn, meinte er."
"Sie ist auch, dünn, Bount."
"Das Ganze würde mich nicht so aufregen, wenn ich mit Gewissheit wüsste, dass Kimberley Morgan nicht mehr am Leben ist. Dann hätten wir Zeit genug, einen Stein auf den anderen zu setzen und am Ende auch etwas Handfestes zu präsentieren. Aber so..."
"Du hast doch etwas vor, Bount!"
Das Lächeln, das in diesem Augenblick auf seinem Gesicht erschien, ging fast von einem Ohr zum anderen.
"Dreimal darfst du raten, was!"
Sie hatten das Hotel erreicht. Bount parkte den Toyota und als sie wenig später das Foyer durchquerten, erregten sich nicht wenig aufsehen. Das lag vor allem an Bount, dessen Kleider noch mit Morris Clansings Blut besudelt waren.
Als sie oben in ihrer Suite waren, machte Bount sich gleich daran, sich umzuziehen. Als er fertig war und aus dem Bad herauskam, ging er an die Automatic und lud das Magazin nach.
"Von diesem betriebsblinden Polizei-Chief können wir keinerlei Hilfe erwarten, June. Eher schon, dass er uns irgendwelche Knüppel zwischen die Beine wirft."
"Das kann ja heiter werden!"
"Es war ganz seltsam. Jeden Verdacht gegen dieses Studienzentrum hat er gleich abgeblockt. Fast hätte man denken können, dass er in irgendeiner Verbindung mit Satans Kindern steht."
"Wahrscheinlich ist einfach nur zu sehr von sich überzeugt", meinte June.
Bount nickte. "Vermutlich hast du recht." June sah ihren Chef ernst an.
"Dir schwebt ein Alleingang vor, nicht wahr? Ich kenne dich doch. Wir arbeiten ja schließlich nicht erst seit gestern zusammen!"
Bount lächelte matt.
"Fällt dir vielleicht was Besseres ein?"
"Nein. Glaubst du denn wirklich, dass Kimberley Morgan noch am Leben sein könnte? Schließlich wurde Clansing auch einfach so erschossen, ohne dass diese Satansanbeter dafür auf eine bestimmte Mondstellung gewartet haben..."
"Clansing wurde ihnen zu gefährlich", meinte Bount.
"Sie wussten, dass es sehr heiß für sie werden würde, wenn er vielleicht vor Gericht ausgepackt hätte. Vielleicht haben wir diese Mörder sogar auf ungewollt auf seine Spur gebracht. Aber bei Kimberley liegt der Fall anders. Wenn sie sie in ihrer Gewalt haben, dann können getrost abwarten bis Mond und Sterne richtig stehen."
Bount holte jetzt die Landkarte von dem Landstrich, auf dem sich das Hauptquartier von Satans Kindern befand, und breitete sie auf dem niedrigen Tisch aus, während June zunächst beim Zimmer-Service etwas zu essen bestellte und sich dann etwas frisch machte. Bount hörte sie unter der Dusche singen und lächelte.
Und dann klopfte es auf einmal an der Tür zur Suite, während Bount ziemlich vertieft in die Karte war. Wenn er den Kindern Satans einen weiteren Besuch abstatten wollte, dann musste er sich schon einigermaßen auskennen.
"Wer ist da?", fragte Bount.
"Zimmerservice!"
"Kommen Sie herein."
Ein junger, braungebrannter Latino schob einen Wagen herein, auf dem allerlei Köstlichkeiten aufgetürmt waren.
"Stellen Sie es einfach ab!", meinte Bount. Der Privatdetektiv hatte eigentlich damit gerechnet, dass der Latino sich jetzt zur Tür wenden und wieder gehen würde. Aber er stand noch da und wartete ab.
"Was ist noch?", fragte Bount.
"Sie sind Mister Bount Reiniger?"
"Ja, der bin ich."
"Ich soll Ihnen eine Nachricht überbringen!" Bount runzelte die Stirn, während sein Gegenüber in die Jackentasche der schneeweißen Uniform griff und einem Umschlag hervorholte.
Er reichte ihn Bount und dieser wollte ihn schon wie beiläufig aufreißen, da ließ ihn etwas stocken. Im ersten Sekundenbruchteil, war ihm nicht klar, ob es nur eine dunkle Ahnung war, oder ein besonderes Gefühl in den Fingerspitzen.
Wahrscheinlich beides.
Bount tastete genauer. Und im nächsten Moment war ihm klar, dass er Glück hatte, noch am Leben zu sein.
Was er da in der Hand hielt, war der sekundenschnelle Tod.
24
"Wer hat das abgegeben?", erkundigte sich Bount. Der Latino zuckte mit den Schultern.
"Es lag auf dem Tresen an der Rezeption. Ich habe keine Ahnung. Warum? Ist etwas nicht in Ordnung?"
Bount lächelte dünn. "Nein", meinte er. "Alles okay!" Dann atmete er tief durch, während der Zimmer-Service die Suite verließ.
Unterdessen war June mit Duschen fertig. Sie hatte ihre blonde Mähne hochgesteckt und trug nichts weiter als ein Handtuch.
Bount blickte auf und meinte grinsend: "So etwas solltest du öfter tragen."
June verzog das Gesicht.
"Du meinst also, es steht mir?"
"Ja, aber für die Aufgabe, die ich zugedacht habe, empfiehlt sich ein anderes Outfit." Er hob den Brief. "Dies ist ein wichtiges Beweisstück?"
"Mach ihn doch auf!"
"Es ist eine Briefbombe."
"Oh..."
June wäre fast das Handtuch heruntergerutscht. Der Schrecken stand ihr ins Gesicht geschrieben.
"Keine Sorge, solange du den Umschlag nicht öffnest, passiert nichts. Du brauchst nicht einmal besonders vorsichtig zu sein. Die Dinger sind so konstruiert, dass sie in der Regel auch einen Poststempel und die raue Behandlung bei der Briefbeförderung aushalten..." June atmete tief durch. "Zur Polizei damit?"
"Ja, aber nicht hier in Tucson. Diesem Terrance traue ich nicht mehr über den Weg." Bount verzog den Mund. "Wenn ich dem damit kommen würde, würde er mich wahrscheinlich wegen illegalem Sprengstoffbesitz ins Loch stecken, anstatt sich nach dem Täter umzuschauen!"
25
Die Sonne war schon milchig geworden, als Bount Reiniger mit dem Toyota über den Highway jagte. Nicht mehr lange und es würde stockdunkel werden.
Für Bounts Vorhaben war das nur günstig. Schließlich wollte er bei dem Besuch, den er Satans Kindern abzustatten gedachte, nicht gleich den Wächtern in die Arme laufen.
Bount trug jetzt Jeans und einen Blouson. Auf dem Beifahrersitz hatte er eine große Taschenlampe liegen, die er sich unterwegs in einem Geschäft besorgt hatte. Er würde mit dem Wagen nicht näher als eine Meile an das Zentrum von Satans Kindern heranfahren, ihn stehen lassen und sich zu Fuß heranschleichen.
Morris Clansings Angaben waren leider nicht so detailliert gewesen, wie Bount sich das für eine solche Aktion gewünscht hätte. Aber damit würde er fertig werden.
Er sah in den Rückspiegel und bemerkte einen Streifenwagen, der immer näher herangekommen war. Bount verfluchte sich dafür, nicht auf die Geschwindigkeit geachtet zu haben. Es wäre zu dumm, jetzt wegen einer solchen Sache aufgehalten zu werden.
Der Streifenwagen zog an dem Toyota vorbei. Eine Kelle wurde aus dem Fenster gehalten und Bount an den Rand gewinkt.
Die Polizisten stiegen aus und kamen heran. Bount hatte ein schlechtes Gefühl. Er ließ die Seitenscheibe hinunter.
"Was gibt's, Officer?", fragte Bount.
"Ist das Ihr Wagen?"
"Ich habe ihn geliehen."
"Bitte steigen Sie aus!"
Der zweite Officer war von der anderen Seite an den Toyota herangekommen und hatte von außen die Tür geöffnet.
"Das hat sich Chief Terrance ausgedacht, was?"
"Aussteigen, habe ich gesagt!", wiederholte der Mann am Fenster sichtlich nervös. Und eine Sekunde später blickte Bount auch schon in die Mündung eines Polizeirevolvers. Bount wusste, dass es sinnlos war, jetzt irgendetwas zu versuchen. Dadurch würde es nur noch schlimmer werden.
"Okay, okay..." sagte er. Er öffnete vorsichtig die Tür und trat hinaus. Die Hände hielt er hoch, um den Officer nicht noch nervöser zu machen. Der andere Polizist kam herum. Bount wurde gepackt und gegen den Wagen
gestellt. Einen Augenblick später war er seine Automatic los.
"Er ist tatsächlich bewaffnet, Jim!", meinte einer von ihnen. "Die Warnung war also berechtigt."
"Was liegt denn eigentlich an?", fragte Bount.
"Der Wagen, mit dem Sie fahren, ist als gestohlen gemeldet. Das liegt an!", erwiderte der, der Jim hieß und noch immer die Waffe auf Bount gerichtet hielt.
"Das kann unmöglich sein", erwiderte Bount. "Ich sagte doch, ich habe den Wagen geliehen. Sie können die Firma ja anrufen, dann wird sich das Ganze klären."
"Ja, wahrscheinlich haben Sie sogar gefälschte Papiere dabei!", meinte der Mann, der Jim hieß. "Wir sind davor gewarnt worden, darauf hereinzufallen!"
"Das Ganze ist ein Irrtum!", versuchte es Bount zum letzten Mal.
"Wenn es wirklich ein Irrtum ist, wird es sich herausstellen. Wir werden Sie jedenfalls erst einmal mitnehmen! Was ist übrigens mit dieser Waffe? Haben Sie einen Waffenschein dafür? Sonst kommt nämlich noch illegaler Waffenbesitz dazu."
Bount hatte einen Waffenschein, aber nicht für diese Automatic.
Wahrscheinlich hatte Chief Terrance das ganze eingefädelt, um ihn erst einmal kaltzustellen. Er hatte ja nur aus dem Fenster blicken müssen, um zu sehen, dass Bount in den Toyota stieg. Für den Chief war es eine Kleinigkeit, dafür zu sorgen, dass das Kennzeichen in die Fahndungsliste kam. Per Funkspruch ging das blitzschnell - und man konnte sicher sein, dass die erste beste Highway-Streife, deren Weg Bount kreuzte, ihn anhalten würde.
Und genau so war es ja nun auch geschehen.
24 Stunden konnte man ihn festhalten. Zur Feststellung der Personalien, wie es so schön hieß. Am Ende würde man sich bei Bount Reiniger entschuldigen und sagen: "Tut uns Leid, ein Fehler."
Aber dieser Fehler konnte für Kimberly Morgan tödlich sein, wenn es ungünstig kam.
Satans Kinder mussten inzwischen wissen, dass jemand auf Kimberleys Spur war. Wozu sonst die Briefbombe? Sie gerieten unter Zugzwang.
Und das konnte für Kimberley - vorausgesetzt, man hatte sie noch nicht irgendwo in der Wüste verscharrt - gefährlich werden.
In seinem Rücken hörte Bount einen der beiden Polizisten sagen: "Leg' ihm sicherheitshalber Handschellen an, Jim!"
Bount wandte leicht den Kopf, so dass er den einen beobachten konnte. Er hielt den Revolver fest umklammert und schussbereit, während der zweite herankam.
Bount fühlte seine Nähe.
Aber er dachte nicht im Traum daran, sich Handschellen anlegen zu lassen!
"Hände zusammen!", befahl der Officer, aber Bount wirbelte statt dessen blitzartig herum und packte ihn am Arm und am Hals.
Es ging alles so schnell und unerwartet, dass der arme Kerl gar nicht reagieren konnte. Aber Bount hatte keine andere Wahl. Ein schneller Griff und er hatte den Revolver aus dem Holster gezogen und richtete ihn auf den zweiten Polizisten - Jim.
Den andern hielt er im Würgegriff wie einen Schutzschild vor sich.
"Waffe fallenlassen!", befahl der Privatdetektiv. Jim schluckte, schaute für eine Sekunde fragend zu seinem Partner herüber, dessen Gesicht rot angelaufen und von Furcht gezeichnet war. Dann nickte er. Sein Revolver plumpste in den Sand am Straßenrand und eine Sekunde später auch die Automatic, die er Bount abgenommen hatte.
"Sie wissen gar nicht, was sie sich da einbrocken, Mister!"
Bount machte eine Handbewegung mit der Waffe.
"Zum Streifenwagen!", befahl er knapp.
Dort angekommen jagte er als erstes ein paar Kugeln in die Funkanlage. Dann ließ er die beiden Polizisten sich hinsetzen und kettete sie mit den Handschellen am Lenkrad fest. Vom Highway aus würden sie aussehen, wie eine Patrouille, die gerade eine Geschwindigkeitskontrolle durchführte.
"Tut mir Leid, Jungs, aber ich fürchte, ihr werdet hier eine Weile Dienst schieben müssen", meinte er. Zum Schluss öffnete er noch die Motorhaube und sorgte mit ein paar Handgriffen dafür, dass der Streifenwagen sich auf keinen Fall in Bewegung setzen konnte.
26
Als Bount den Highway verließ hatte sich bereits die Dämmerung wie grauer Spinnweben über das karge Land gelegt. Der Übergang zur Nacht würde ziemlich abrupt von statten gehen, das war ihm bekannt. Aber die Nacht konnte ihm helfen. Sie war ein Verbündeter.
Als es dann dunkel wurde, ließ Bount den Toyota unbeleuchtet. Er hatte nicht die geringste Lust, sich schon von weitem anzukündigen.
Schließlich stellte er den Geländewagen bei einer Gruppe knorriger, halbverdorrter Bäume ab. Manche hatten ziemlich skurrile Formen, was vielleicht auf Blitzschläge zurückzuführen war.
Von nun an ging es nur noch zu Fuß weiter. Bount steckte die Taschenlampe unter den Blouson und überprüfte den Sitz der Automatic.
Er hatte die Karte zuvor gut studiert und das war auch notwendig, um sich hier bei zunehmender Dunkelheit nicht hoffnungslos zu verlaufen.
Bald schon funkelten die ersten Sterne am dunklen Himmel. Der Mond stand als leuchtende Sichel da. Eine klare, kalte Nacht würde es werden.
27
Der Raum war völlig dunkel.
Kimberley Morgan war allein und hatte furchtbare Angst. Sie wusste, dass der Tod unweigerlich auf sie warten würde. Nur der Zeitpunkt stand noch nicht fest.
Jede bestialische Einzelheit des Rituals war gegenwärtig und verfolgte sie in ihren Alpträumen.
Sie wusste nicht, ob es Tag oder Nacht war. Jede zeitliche Orientierung hatte sie verloren, seit man sie in diesem dunklen Raum gefangen hielt. Kimberley hatte kaum geschlafen und wenn, dann zumeist aus Erschöpfung. Zu sehr nagte die Angst in ihr. Todesangst.
Wenn sie nicht von der Erschöpfung wie betäubt war, dann kroch ihr das Grauen kalt den Rücken hinauf. Sie wusste, dass sie kaum noch Grund hatte, sich irgendwelche Hoffnungen zu machen.
Lebendig begraben bin ich, ging es ihr durch den Kopf. Wie in einer dunklen Gruft...
Sie erhob sich von ihrer Liege und tastete sich an der Wand entlang.
Es muss doch einen Weg geben, hämmerte es in ihr.
Morris... Was mochte wohl aus Morris Clansing geworden sein? Hatte er es geschafft? Oder hatten sie ihn gekriegt. Vielleicht war er in einem anderen, dunklen Raum, genau wie sie, und wartete darauf, seinem Herrn und Meister geopfert zu werden - Satan.
Dann hörte sie plötzlich ein Geräusch. Schritte.
Kimberley erstarrte, während jemand den Schlüssel im Schloss herumdrehte. Vielleicht brachten sie ihr jetzt etwas zu Essen und zu Trinken. Möglich war aber auch, dass sie sie abholten, um sie für die Opferung vorzubereiten. Die Tür ging auf. Kimberley war wie geblendet von dem aus dem Flur hereinflutenden Licht.
Es dauerte ein paar Sekunden, bis sie sich daran gewöhnt hatte. Der Puls ging ihr bis zum Hals und hämmerte wie verrückt.
Dann erkannte sie die hochaufgeschossene Gestalt eines schwarzbärtigen Mannes.
"Ray!", stieß sie hervor, aber der Schwarzbart wandte den Blick zur Seite. Er wollte es ganz offensichtlich tunlichst vermeiden, der Gefangenen direkt in die Augen sehen zu müssen. Jedenfalls wusste Kimberley nun, dass ihr noch eine weitere Galgenfrist blieb, denn wenn sie jetzt hätte sterben sollen, dann wäre James, der Hohepriester selbst, gekommen.
Ray, der Schwarzbart, hielt ein Tablett in den Händen, auf dem ein Teller mit Suppe stand.
Er reichte es Kimberley.
Noch zögerte sie, es auch zu nehmen. Ihre Augen funkelten voller Angst und Hass.
"Na, wie fühlst du dich bei dem, was du tust, Ray!" Er schwieg. Und das machte sie rasend. Ray war einer der Priester und er war eigentlich immer sehr nett zu ihr gewesen.
"Da fällt dir nichts ein, was?"
"Ich darf nicht mir dir sprechen, Kimberley", sagte er schluckend. "Das weißt du so gut wie ich..."
"Steht schon fest, wann ich umgebracht werde?"
"Du musstest wissen, was du tust Kimberley. Und du kannst nicht sagen, dass du die Folgen nicht gekannt hast..."
"Das ist keine Antwort."
Aber sie wusste insgeheim schon jetzt, dass sie darauf auch keinerlei Antwort mehr bekommen würde.
Ihre Blicke begegneten sich für einen ganz kurzen Augenblick und dann kam es Kimberley in den Sinn, dass dieser Moment vielleicht ihre allerletzte Chance war... Sie konnte sich nicht einfach so zur Schlachtbank führen lassen, ohne wenigstens etwas versucht zu haben. Selbst, wenn die Chance minimal war...
Sie tat, als wollte sie das Tablett abnehmen, aber statt dessen ließ sie die Hände hochfahren und schlug es ihm ins Gesicht. Die Suppe war heiß. Er schrie auf.
Für den Bruchteil eines Augenblicks war der Schwarzbart unfähig, irgendetwas zu tun und das nutzte Kimberley verzweifelt. Sie stieß ihn zur Seite und rannte den Flur entlang.
Hinter sich hörte sie Ray.
Er ächzte und kam hinter ihr her.
Kimberley war lange genug bei Satans Kindern, um sich hier auszukennen und genau zu wissen, wohin sie laufen musste.
An der Tür, die ins Freie führte, stand ein bewaffneter Wächter, der aber nicht sonderlich aufmerksam war. Er stand mit dem Rücken zu ihr und bevor er richtig gemerkt hatte, was eigentlich los war, hatte sie ihn mit dem Schwung ihres Spurts schon der Länge nach niedergestreckt. Er riss seine Waffe hervor, aber bis er sie im Anschlag hatte, war Kimberley schon im Freien. Draußen war es dunkle Nacht.
Kimberley lief ohne nachzudenken in die Finsternis hinein. Nur weg von hier! Das war ihr einziger Gedanke. Namenlose Furcht trieb sie voran und mobilisierte ungeahnte Kräfte in ihr.
Ihr Blick ging flüchtig über die kleine Ansammlung von Gebäuden, die das Zentrum von Satans Kindern bildeten. Die kleineren waren meistens zum Wohnen da, im Haupthaus befand sich der Tempel.
Sie hörte Stimmen, sah Lichtkegel umherkreisen und stoppte dann plötzlich abrupt ihren Lauf.
Sie sah in das narbige, hartgeschnittene Gesicht eines Mannes in den mittleren Jahren. Zwei intelligente Augen brannten wie Feuer in der Gesichtsmitte.
Kimberley schluckte.
Schwindel erfasste sie.
Es war niemand anderes als James, der Hohepriester. Und mit ihm stand eine ganze, unheilige Prozession dort in der Nacht, deren Mitglieder sie anstarrten und mit ihren Blicken zu durchbohren schienen.
Anscheinend waren sie auf dem Weg zum Tempel, um die schwarze Messe abzuhalten. Kimberley wich ein paar Schritte zurück. Sie wusste, dass jetzt ihr Fluchtversuch so gut wie aussichtslos geworden. James, der Mann mit dem Narbengesicht, war der Kopf von allem. Satans Kinder gehorchten ihm blind und sie wusste, dass ein Zeichen von ihm genügen würde, um die Menge über sie herfallen zu lassen. Sie fuhr sich mit der Hand über das Gesicht, begann zu schluchzen und schüttelte verzweifelt den Kopf. In ihrem Rücken bemerkte sie, wie Ray und der niedergeworfene Wächter herankamen.
Sie unternahm einen letzten, verzweifelten Ausbruchsversuch, der damit endete, dass Dutzende von Händen nach ihr griffen und an ihr zerrten. Sie schrie, aber in ihrem Innersten wusste sie, dass niemand sie hören würde. Niemand...
Sie wurde roh gepackt dann stand sie James' kalten Augen gegenüber.
Der Hohepriester des Satans musterte sie ohne jegliche erkennbare Regung, während die anderen Sektenmitglieder erwartungsvoll zu ihm hinstarrten.
Er war der Stellvertreter Satans auf Erden - so jedenfalls nannte er sich selbst. Und Kimberley wusste, dass alles, was jetzt geschah, einzig von ihm abhing.
Sie machte sich auf das Schlimmste gefasst.
Mit einer Handbewegung brachte James das leise Gemurmel unter Satans Kindern zum Schweigen und sagte: "Nehmt sie und bringt sie in den Tempel! Wir werden unserem Herrn und Meister, dem Gebieter der Finsternis und des Chaos das Opfer schon jetzt bringen! Nehmt sie und übergebt sie dem Engel des Todes!"
28
Der Wächter wirbelte im letzten Moment herum, aber es war zu spät. Bount gab ihm keine Chance, die Waffe herauszureißen, sondern verpasste ihm einen Schlag, der ihn mit einem dumpfen Ächzen zusammenklappen ließ.
Aber dieses Geräusch ging in dem allgemeinen Tumult, der die Nacht erfüllt hatte, unter.
Bount blieb bei einer Hausecke stehen, um etwas Deckung zu behalten.
Er sah die Fackeln in der Dunkelheit. Es war ein gespenstischer Zug, in dessen Mitte sich eine zappelnde, widerstrebende Gestalt einer jungen Frau befand.
Kimberley Morgan.
Der Fackelschein tauchte ihr Gesicht in ein warmes, flackerndes Licht. Ihre Augen waren vor Schrecken weit aufgerissen. Zuerst hatte Bount sie schreien hören, aber jetzt war sie vor Entsetzen verstummt.
Bount wusste, dass er erst einmal abwarten musste, auch wenn es ihm nicht gefiel. Der gespenstische Zug setzte indessen seinen Weg zu jenem Gebäude fort, dass das Zentrum dieser kleinen Siedlung zu sein schien. Der Tempel Satans, in dem aufgeklärte Menschen des zwanzigsten Jahrhunderts sich an finsteren Ritualen berauschten.
Bount sah die unheilige Gemeinde in ihrem Tempel verschwinden.
Bount sah einen bewaffneten Wächter vor dem Gebäude patrouillieren. Der würde kein unüberwindliches Hindernis darstellen. Und dann? Es waren mindesten hundert Menschen im Tempel versammelt!
Bount hatte kaum irgendwelche Waffen gesehen. Nur vereinzelte Revolver und Gewehre bei denjenigen, die offenbar mit Bewachungsaufgaben betraut waren. Und das waren nicht allzu viele.
Den einfachen Sektenmitgliedern hätte man vielleicht auch gar nicht so weitreichendes Vertrauen geschenkt. Bount schlug einen Bogen, schlich von Gebäude zu Gebäude, bis er schließlich den Wächter erreicht hatte. Er schien etwas vor sich hin zu träumen. Als er den Blick hob sah er in die Mündung von Bount Reinigers Automatic.
"Keinen Laut!", befahl dieser.
Er nickte.
Bount nahm ihm die Waffe ab und warf sie ein paar Meter weit fort in den Staub. Er machte eine Geste mit der Waffe in der Hand.
"Wir gehen dort jetzt hinein!", bestimmte er.
"Aber... Das geht nicht! Dort ist jetzt eine Zeremonie!", stammelte sein Gegenüber.
Bount drehte ihn roh herum, packte ihn von hinten und drückte ihm die Automatic in den Rücken.
"Ich hoffe nicht, dass du mir Schwierigkeiten zu machen versuchst!", zischte er.
Er gab keine Antwort.
Von drinnen war jetzt ein merkwürdiger, summender Gesang zu hören, ein Gesang, der sich anhörte, als stammte er von den verdammten Seelen im Jenseits selbst.
Bount fragte: "Wo ist die Frau?"
"Welche Frau?"
"Du weißt genau welche! Und im Augenblick habe ich wenig Sinn dafür, mir eine so dämliche Antwort anzuhören! Pech für dich, aber mein Humor ist heute auf null, Mann!" Der Kerl wandte ein wenig den Kopf, so dass er Bount aus den Augenwinkeln heraus anschielte. Er schien jetzt begriffen zu haben, dass Bount es ernst meinte.
"Sie wird für das Ritual vorbereitet", sagte er.
"Ein Ritual, dass sie nicht überleben wird."
"Sie ist unser Opfer für den Herrn der Finsternis, den Gebieter über das Chaos."
"Wo findet diese Vorbereitung statt?"
"In einem Nebenraum. Dann wird man sie in den Hauptraum führen und auf den Altar legen."
"Führ mich zu ihr!"
Er zögerte für den Bruchteil eines Augenblicks.
Dann erklärte er: "Du bist der Mann aus New York, der hinter uns her spioniert, nicht wahr?" Es war alles andere als irgendeine Art Frage, sondern war eine schlichte Feststellung.
Bount verzog das Gesicht.
"So, das weißt du also auch schon."
"Du wirst nicht davonkommen!" Er sagte das mit so absoluter Überzeugung, dass man frösteln konnte. Es klang wie eine Art Todesurteil.
"Vorwärts!"
Sie gingen durch die Tür und kamen in einen Vorraum. Geradeaus ging es weiter zu einer hölzernen Doppeltür. In jeden der beiden Flügel war ein umgedrehtes Kreuz eingebrannt - das Symbol Satans.
Hinter der Tür musste sich der Altarraum befinden. Bount hörte den summenden Gesang, der jetzt noch mehr anzuschwellen schien. Es war gespenstisch.
Und dann war da noch eine kleine Seitentür.
Bount deutete dorthin.
"Ist sie dort?"
"Ja."
"Dann mach auf!"
Bount hielt den Wächter genau im Auge und achtete auf jede Bewegung. Der Kerl war sicher kein Profi in seinem Fach, aber wenn er irgendetwas versuchte, und die Männer und Frauen im Altarraum darauf aufmerksam wurden dann konnte diese Aktion ein übles Ende nehmen. Der Kerl öffnete die Tür und machte einen zaghaften Schritt vorwärts. Bount half nach und gab ihm einen kräftigen Stoß, der ihn in den Raum hineintaumeln ließ. Bount stand breitbeinig da, mit der Automatic im Anschlag und blickte verständnislose Gesichter, die erst eine Sekunde zu brauchen schienen, um zu begreifen, was geschehen war.
Insgesamt waren es zwei Männer und eine Frau, die Kimberley festhielten und sie für das Ritual vorbereiteten. Bount konnte sich nicht so recht vorstellen, worin diese Vorbereitung wohl liegen mochte - aber ganz offensichtlich gehörte dazu, dass man ihre Kleider gegen ein schwarzes, bis zur Hälfte der Oberschenkel reichendes Hemd ausgetauscht hatte. Offenbar war das nicht ohne Gewaltanwendung geschehen. Jedenfalls zeigten Kimberleys Arme, Beine und auch ihr Gesicht Spuren, die darauf hindeuteten: blaue Flecken und kleinere Schürfungen.
"Loslassen!", zischte Bount.
Sie gehorchten.
Kimberley kam instinktiv zu Bount herüber. Erst etwas zögernd, dann immer entschiedener.
Bount packte sie am Arm und zog sie zu sich heran. Es musste jetzt schnell gehen. "Komm", sagte er nur. Es war jetzt keine Zeit für Erklärungen. Die konnten später folgen. Und auch die Gerechtigkeit musste wohl noch etwas warten. Jetzt ging es erst einmal darum, aus diesem Hexenkessel lebend heraus zu kommen.
Rückwärts ging Bount mit Kimberley am Arm zur Tür zurück, die Automatic noch immer schussbereit in der Rechten. Satans Kinder blickten ihn mit vor Wut funkelnden Augen an, aber niemand von ihnen wagte es, sich zu rühren.
Bount wusste, dass das sofort anders werden würde, wenn sie nicht mehr in den Lauf der Waffe blickten. Im Altarraum war indessen der summende Gesang verstummt. Bount und Kimberley verließen den Nebenraum. Er zog sie entschlossen mit sich und einen Augenblick später hatten sie auch die Haupttür passiert, die hinaus ins Freie führte.
Die Nacht war noch kühler geworden. Kimberley fröstelte in dem dünnen schwarzen Hemd.
"Was geschieht jetzt?", fragte sie.
Bevor Bount antwortete, setzte er zu einem Spurt an, wobei er ihre Hand nicht losließ und sie mit sich riss.
"Lauf so schnell du kannst! Sie werden uns gleich wie die Hasen jagen!"
29
Sie liefen in die Nacht hinein, während hinter ihnen Geräusche und Stimmen zu hören waren.
"Wohin?", keuchte Kimberley. "Wir sind weit draußen."
"Nicht reden - laufen!"
"Wir werden es nicht schaffen."
"Ich habe meinen Geländewagen in der Nähe abgestellt!" Sie rannten weiter. Kimberley stolperte, Bount half ihr auf und zog sie mit sich.
Zweihundert Meter weiter, bei ein paar hüfthohen Dornbüschen machten sie kurz halt. Vor ihnen lag ein steiniger Hang und wie es schien war Kimberley nicht gerade besonders durchtrainiert.
Bount blickte zurück und sah die Fackeln in der Dunkelheit. Irgend jemand bellte Anweisungen.
"Wer bist du?", fragte Kimberley plötzlich. Und dabei klapperten Ihr die Zähne. Er gab ihr seinen Blouson und sie nahm ihn dankbar an.
Irgendwie ein unpassender Moment für so eine Frage, fand Bount. Aber vielleicht musste er ihr dennoch eine Antwort geben.
"Dein Vater hat mich beauftragt. Ich bin Privatdetektiv."
"Aber..."
"Das muss jetzt genügen. Ich hoffe, du hast gut Luft geholt, Kimberley!" Bount deutete den Hang hinauf. "Wir müssen jetzt dort hinauf!"
Bount nahm ihre Hand und wollte sie mit sich ziehen.
"Weißt du, dass du mir das Leben gerettet hast?"
"So weit sind wir noch nicht!" wandte Bount ein. Sie nickte.
"Ich weiß", murmelte sie.
Ein paar Steine kamen ins Rollen, als sie hinaufkletterten. Sie konnten von Glück sagen, dass es dunkel war und zwischen Gebäuden ein ziemlicher Aufruhr herrschte. Zwischendurch wandte Bount sich um. Er sah Lichter. Fackeln, Taschenlampen...
Lichtkegel schwenkten umher und suchten.
"Runter!", zischte Bount und zog Kimberley hinter ein halbverdorrtes Gestrüpp. Die harten, trockenen Zweige ritzten ihre bloßen Beine.
Die Verfolger kamen unterdessen heran.
"Mach dich so klein du kannst", flüsterte Bount an die junge Frau gerichtet. "Davon hängt unser beider Leben ab." Viel konnte Bount nicht erkennen, dazu hätte er sich zu weit aus der Deckung herauswagen müssen. Schritte näherten sich und wurden wieder leiser. Einige von Satans Kindern kamen auch den Hang hinauf.
Deutlich war das Geröll zu hören, dass hinunter rutschte. Drei oder vielleicht vier Gestalten waren es, so schätzte Bount. Er selbst konnte nur hin und wieder einen von ihnen als dunklen Schemen gegen das Mondlicht sehen. Er trug einen langgezogenen Gegenstand - es konnte ein Baseballschläger sein, aber ebensogut ein Gewehr.
"Seht ihr was?"
"Verflucht dunkel!"
"Wir müssen sie einfangen! Das Mädchen könnte verdammt gefährlich für uns werden!"
Einer fluchte, weil er offenbar über irgendetwas gestolpert war.
"Dahinten scheint etwas los zu sein!", meinte dann eine Frauenstimme.
"Wo, ich sehe nichts!"
"Na, dort!"
Die Schritte entfernten sich etwas. Die Gefahr schien erst einmal vorüber. Irgendeine Bewegung hatte die Gruppe in eine andere Richtung gelockt. Vielleicht ein Strauch, der sich im Wind bog oder ein Tier. Vielleicht sogar jemand von den eigenen Leuten.
Bount und Kimberley konnte das gleichgültig sein. Eine Weile noch warteten sie in ihrer Deckung ab. Dann tauchte Bount mit der Automatic in der Hand hervor. Überall in der Landschaften waren Gruppen von Lichtern zu sehen, während in der Siedlung selbst kaum noch etwas los war.
"Komm!", forderte Bount und half Kimberley auf. Bald erreichten sie den Kamm und dann ging es wieder bergab.
"Ist es noch weit bis zum Wagen?", erkundigte sie sich. Bount schüttelte den Kopf.
"Nein."
Bald darauf durchquerten sie jenes langgezogene, schlauchartige Tal, in dem Satans Kinder Bount das letzte Mal aufgelauert hatten. Er war also tatsächlich sehr nahe dran gewesen.
Aufmerksam ließ Bount den Blick schweifen. Aus der Ferne waren noch Stimmen zu hören, aber von den Verfolgern war im Augenblick nirgends etwas zu sehen. Schließlich ging es erneut an einen Aufstieg. Diesmal war der Hang steiler und felsiger. Bount sah Kimberley nur zu deutlich an, dass ihr das nicht gefiel, aber es war nun einmal der kürzeste Weg.
30
Eine Viertelstunde brauchten sie, bis sie in die Nähe der Baumgruppe kamen, bei der Bount den Toyota abgestellt hatte.
Der Wagen stand im Schatten der Bäume und war dadurch praktisch unsichtbar.
Als Bount und Kimberley in Sichtweite der Bäume kamen, war Bount sofort klar, dass etwas anders gelaufen war, als er gedacht hatte. Er sah die Lichter der Taschenlampen. Der Wind, der über das karge Land strich, trug Stimmen heran.
Und dann wurde ein Motor angelassen.
Bount hielt Kimberley am Arm.
"Verdammt!"
"Was ist?"
"Sie waren schneller und haben meinen Wagen gefunden!" Er atmete tief durch. "Wir können in dieser Richtung nicht weiter, wenn wir der Meute nicht in die Arme laufen wollen..."
"Aber..." Kimberley blickte in die Nacht hinaus. "Dort ist - nichts! Felsen, Steine, Sand, ein paar Kakteen und Dorngewächse. Wissen Sie, wie weit es in der Richtung bis zur nächsten Spur der Zivilisation ist?"
Bount nickte.
"Ja, ich weiß es. Wir werden Bogen schlagen und dann irgendwann auf den Highway stoßen. Dort kann uns jemand mitnehmen."
"Wenn du dich da nicht verrechnet hast!"
"Darauf musst du schon vertrauen." Er verzog das Gesicht. "Es ist auf jeden Fall bessere, als diesen Leuten in die Hände zu fallen, oder?"
Sie gingen weiter. Den Gruppen von Lichtern, die durch Nacht geisterten, wichen sie aus. Das war nicht besonders schwierig, denn das zerklüftete Land bot genug Deckung und Möglichkeiten, sich zu verstecken.
Schließlich waren sie ganz allein. Die Stunden gingen dahin, während das Land um sie herum immer flacher wurde. Das machte die Orientierung um so schwieriger.
"Bist du dir sicher, dass wir nicht im Kreis laufen?", meinte Kimberley resigniert. Sie war mit ihren Kräften ziemlich am Ende.
"Kopf hoch. Es wird schon klappen!", erwiderte Bount, obwohl er sich selbst da gar nicht so sicher war.
"Es ist verdammt kalt hier nachts."
"Unter anderen Umständen würde ich ein Feuer machen, Kimberley. Aber wenn Satans Kinder uns noch suchen, ist das zu auffällig. Es könnte gesehen werden."
"Ja, ich weiß. Du sagst, mein Vater hätte dich beauftragt."
"Ja, so ist es. Er macht sich große Sorgen um dich, Kimberley."
"Er sollte akzeptieren, dass ich mein eigenes Leben führe."
"Vielleicht sollte er das. Aber wenn er es getan hätte, wärst du jetzt nicht mehr am Leben."
"Wie bist du auf meine Spur gekommen?"
"Eine lange Geschichte. Da war zum Beispiel eine Broschüre in der Wohnung deines Freundes."
"Morris..." Sie sah ihn an. Das Mondlicht fiel ihr ins Gesicht und ließ es weich und melancholisch aussehen.
"Haben Sie eine Ahnung, wo er ist?"
Bount nickte. Er zögerte noch eine Sekunde, bevor er es ihr sagte. Ganz gleich, was man in einer solchen Situation auch für Worte fand - es waren immer die falschen.
"Er ist tot", sagte er tonlos.
Für Kimberley war dieser Satz wie ein Schlag vor den Kopf. Sie blieben stehen und als Bount die Tränen in ihren Augen glitzern sah, legte er behutsam den Arm um sie.
31
Die ganze Nacht hindurch liefen sie durch die nächtliche Einöde. Schließlich begann am Horizont blutrot die Sonne aufzugehen.
Und sie sahen noch etwas anderes. Eine Linie, die sich wie ein gerader Strich durch das Land zog.
"Ist das der Highway?", fragte Kimberley stirnrunzelnd. Bount nickte. "Sieht ganz so aus..."
Ein einsamer Truck jagte daher. Das Motorengeräusch war auf die Entfernung kaum zu hören.
Es dauerte noch eine ganze Weile, bis sie dann endlich an der Asphaltbahn standen.
"Um diese Zeit ist noch nicht viel los", meinte Bount.
"Aber in einer Stunde sieht das schon anders aus. Die ersten Lieferanten werden nach Tucson hineinfahren. Und einer von ihnen wird uns schon mitnehmen."
Ein alter Packard kam vorbei.
Bount versuchte ihn anzuhalten, aber der Fahrer hupte nur und zeigte ihm einen Vogel. Offenbar mochte er keine Tramper. Da war nichts zu machen.
"Wird man die Kerle kriegen, die Morris auf dem Gewissen haben?", fragte Kimberley plötzlich.
"Viel wird von deiner Aussage abhängen, Kimberley."
"Ich weiß." Ihre Augen funkelten wütend. "Ich werde dafür sorgen, dass alles ans Licht kommt! Das bin ich Morris schuldig."
In der Ferne tauchte ein Wagen auf.
Es war ein Jeep und als er näher heran war erkannte Bount auch den Fahrer, bei dem es sich um niemand anderen als Chief Terrance handelte.
Der Jeep hielt auf Kimberley und Bount zu und hielt dann in einem Abstand von wenigen Metern mit quietschenden Bremsen.
Kimberley fasste Bounts Arm. "Ich kenne diesen Mann..." Sie verstummte, als der Chief einen Blick zu ihr hinwarf. Terrance Augen wurden dabei zu schmalen Schlitzen. Er schien sie ebenfalls wieder zu erkennen. Langsam begann sich in Bounts Gehirn einiges zusammenzureimen.
"So früh schon unterwegs, Chief?", meinte Bount nicht ohne Ironie in der Stimme. "Ich muss mich wundern..." Terrance verzog das Gesicht zu einer Grimasse und sprang aus dem Jeep heraus.
"Ich wundere mich über Sie auch, Reiniger! So eine Nachtwanderung am Highway-Rand. Ein Wanderweg ist das hier nämlich nicht."
Bount merkte, das Kimberley ein paar Schritte zurückgewichen war und den Chief mit weit aufgerissenen Augen ansah.
"Er gehört dazu!", rief sie. "Dieser Mann gehört zu Satans Kindern. Er war oft in der Siedlung. Und auch bei den Zeremonien im Tempel!"
Chief Terrance Gesicht blieb völlig unbewegt.
Dafür ging seine Hand nach unten und was dann geschah, hatte Bount in etwa so vorausgesehen. Terrance riss seine Dienstwaffe heraus und wollte Bount und Kimberley nicht den Hauch einer Chance lassen.
Er drückte sofort ab.
Ein Schuss peitschte und einen Sekundenbruchteil gleich in zweiter hinterher. Aber Bount hatte sich längst zur Seite fallen lassen und Kimberley mit sich gerissen.
Blitzschnell war die Automatic in seiner Hand.
Chief Terrance legte erneut an und feuerte. Aber der Schuss ging ins Leere, denn Bount hatte fast gleichzeitig geschossen und nun hielt Terrance sich den Arm.
Eine Mischung aus Fluch und Schmerzensschrei ging über seine Lippen, während der Polizeirevolver auf den Asphalt schlug.
Bount kam wieder auf die Beine und trat dem Chief entgegen.
"Es stimmt, was Kimberley sagt, nicht wahr? Sie gehören dazu. Und weil Sie das wusste, konnten Sie sie unmöglich am Leben lassen."
"Was wissen Sie schon, Reiniger", zischte er.
"Genug. Es wir keineswegs Betriebsblindheit oder schlichte Dämlichkeit, die Sie veranlasst hat, meine Ermittlungen zu behindern, wo sie nur konnten. Schon als mein Freund Captain Rogers von New York aus hier angefragt hat, haben Sie vermutlich dafür gesorgt, dass sein Fax unbeantwortet blieb."
"Sie werden nicht weit kommen, Reiniger! Weder Sie noch Kimberley!"
Bount lächelte dünn.
"So, meinen Sie?"
"Man wird Sie jagen, Reiniger! Ganz gleich, was jetzt mit mir geschieht."
32
Ein dumpfes, anschwellendes Geräusch ließ Terrance herumfahren. Es war ein Hubschrauber. Er landete neben dem Highway und Bount meinte: "Da kommen Ihre Kollegen, Chief! Mir scheint, dass Sie ihnen eine interessante Story zu erzählen haben."
Einige Männer stiegen aus und näherten sich dem Ort des Geschehens. Und dann sah Bount jemanden, den er nur zu gut kannte: June March, seine Assistentin, deren Blondschopf durch die wirbelnden Rotorblätter gehörig durcheinandergewirbelt wurde.
"Die Männer sind vom FBI", erklärte sie völlig außer Atem, als sie Bount erreichte. "Ich bin froh, dass dir nichts passiert ist!"
"Was ist mit Satans Kindern?"
"Sie werden gerade verhaftet, Bount. Diese ganzen ungeklärten Mordfälle werden wohl neu aufgerollt." Einer der FBI-Leute hielt indessen Chief Terrance den Ausweis unter die Nase. "Sie sind verhaftet, Mister Terrance. Sie haben das Recht zu schweigen..." Bount blickte June überrascht an und sie lächelte - nicht ohne ein triumphierendes Funkeln ihrer strahlend blauen Augen.
"Ja, da staunst du, was?"
Er zog die Augenbrauen hoch.
"Allerdings, ich schätze, du musst mir ein paar Dinge erklären!"
"Ich sollte doch zusehen, dass wir ein bisschen offizielle Unterstützung bekommen - und zwar möglichst ohne, dass der örtliche Polizeichief einbezogen wird..." Bount nickte.
"Mein Misstrauen hat sich bestätigt. Terrance gehört zu Satans Kindern. Kimberley kann das bestätigen. Aber sag mal, wie hast du es denn geschafft, das FBI zu überzeugen?"
"Durch die Briefbombe. Der Sprengstoff stammt nämlich aus Polizei-Beständen, die ursprünglich bei Razzien sichergestellt worden waren. Terrance hatte Zugang dazu."
"Ich verstehe...", murmelte Bount.
Er wandte sich dann Kimberley zu, die einfach nur dastand und sich ansah, wie Chief Terrance abgeführt wurde.
Bount Reiniger schenkte ihr ein Lächeln.
"Sieht aus, als müssten wir jetzt nicht mehr trampen, um nach Tucson zu kommen."
"Ja", nickte sie abwesend. Sie versuchte ebenfalls zu lächeln, aber es wohl auch selbst klar, dass sie noch eine ganze Weile brauchen würde, um diese Geschichte zu vergessen. Vielleicht würde es ihr auch nie wirklich gelingen. Die Zeit würde es zeigen.
ENDE
Die Waffe
Ein CassiopeiaPress E-Book
© by Author
© 2015 der Digitalausgabe by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen
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Die Morgensonne kroch im Osten über die Dächer der Wolkenkratzer. Im Central Park, der grünen Lunge New Yorks, zwitscherten die ersten Vögel. Hier und da fuhren ein paar Inline Scater oder Mountain Biker die asphaltierten Wege entlang.
Jogger nutzten die Ruhe des Morgens für ihr allmorgendliches Fitness-Programm. Die meisten würden in anderthalb Stunden ihre Sportfunktionskleidung mit einem dreiteiligen Anzug oder einem konservativen Kostüm vertauscht haben, um in Downtown Manhattan ihren Jobs nachzugehen. Aber für einen dieser Jogger galt das nicht. Sein Job musste genau hier erledigt werden – auf dem Weg, der vom Central Park South zur Transverse Road No. 1 führte.
Er trug einen blau gestreiften Jogginganzug auf dessen Rücken die Aufschrift SUPER BOWL zu lesen war.
Als er den Heckscher Playground erreichte, hielt er an. Er atmete tief durch, schüttelte die Arme aus und tat so, als würde er ein paar Lockerungs- und Dehn-Übungen durchführen.
Dann blickte er auf die Uhr.
Der vermeintliche Jogger griff kurz unter das Oberteil seines Jogginganzugs und umfasste den Griff der automatischen Pistole.
2
James E. Longoria war Mitte fünfzig, aber noch sehr gut in Form. Ein großer Mann, der als Staatsanwalt eisern durchzugreifen wusste. Er bewohnte ein Traumapartment am Ende der Fifth Avenue. Von dort aus hatte man eigentlich immer einen hervorragenden Panoramablick auf den südlichen Teil des Central Park.
Ein Jogger, der am Wegrand nach Atem rang, erweckte kurzzeitig das Interesse des Juristen: Seine Gedanken waren jedoch zu sehr von Aufgaben des vor ihm liegenden Tages erfüllt, als dass er weiter auf den Jogger achtete.
Ein paar knifflige Fälle lagen auf Longorias Schreibtisch. Er hatte sich einen Namen als Hardliner gemacht. Seine Gegner allerdings sprachen davon, dass Longorias Vorgehensweise oft genug am Rande der Rechtsbeugung anzusiedeln war.
Aber das störte den hageren Mann mit den ausgedünnten, grauen Haaren nicht.
Ab und zu warf er einen kurzen Blick nach rechts, wo ein See namens „The Pond“ das Blickfeld beherrschte. Auf der Wasseroberfläche hielt sich hartnäckiger Frühdunst, aber die Sonne würde es in spätestens zwei Stunden zweifellos geschafft haben, die auf dem Wasser liegenden Dunstfelder zu verdrängen.
James E. Longoria bemerkte den Jogger wieder, als er die von Ost nach West den Süden des Central Parks durchziehende Transverse Road No. 1 erreichte.
Der Kerl war ihm gefolgt und hatte es aus irgendeinem Grund vermieden, ihn zu überholen.
Longoria rang nach Luft.
Der Jogger kam näher.
Plötzlich riss er eine Waffe mit aufgeschraubtem Schalldämpfer unter der Kleidung hervor. Sie verfügte über eine Zielerfassung durch Laserpointer. Ein roter Punkt tanzte durch die Luft.
Longoria wich zurück und hob abwehrend die Hände.
Aber für die schnell hintereinander abgefeuerten Kugeln der Automatik war das kein Hindernis. Der vermeintliche Jogger feuerte ein Projektil nach dem anderen ab.
Jedes Mal entstand dabei ein Geräusch, das an ein kräftiges Niesen oder den Schlag mit einer Zeitung erinnerte.
Longorias Körper zuckte. Mit weit aufgerissenen Augen und vollkommen fassungslosen Gesicht stand der Getroffene schwankend da. Weitere Treffer in den hageren Körper ließen ihn zucken. Sein Gesicht verzog sich wie unter großem Schmerz. Dann brach er in sich zusammen und schlug auf den Asphalt. Eine Blutlache bildete sich.
Der Killer drehte sich kurz um. Niemand schien bemerkt zu haben, was er tat.
Vorerst…
Dann rannte er weiter. Er spurtete zur Transverse Road und dort weiter nach links.
Am Straßenrand wartete ein BMW.
Der Fahrer startete den Motor. Der Killer riss die Beifahrertür auf und sprang hinein.
Mit Vollgas raste der BMW anschließend die Transverse Road No. 1 in westlicher Richtung entlang, vorbei am Heckscher Playground. Am Central Park West bog er nach links und fädelte sich ziemlich brutal in die gerade beginnende erste Welle des Berufsverkehrs ein.
3
Mister Jonathan D. McKee, der Chef des FBI Field Office New York, machte ein sehr ernstes Gesicht, als wir in seinem Besprechungszimmer eintrafen.
Ich hatte Milo am Morgen an der bekannten Ecke abgeholt. Es hatte in Strömen geregnet. Mein Kollege Milo Tucker war pitschnass geworden und versuchte sich mit einem Becher von Mandys Kaffee wieder aufzuwärmen.
Außer Milo und mir nahmen noch eine ganze Reihe anderer G-men an der Besprechung teil, darunter unsere Kollegen Leslie Morell und Jay Kronburg. Ebenfalls anwesend war unser indianischer Kollege Orry Medina und Clive Caravaggio, der im Rang eines Special Agent in Charge nach unserem Chef der zweite Mann im Field Office war.
Mister McKee wartete, bis alle sich gesetzt hatten. Die Hände hatte er tief in die Taschen seiner grauen Flanellhose vergraben.
Eine Furche stand mitten auf seiner Stirn.
Seitdem seine Familie durch ein Verbrechen ums Leben gekommen war, hatte Mister McKee sich voll und ganz dem Kampf für das Recht gewidmet. Oft war er der erste von uns, der in den FBI Büros an der Federal Plaza anzutreffen war und abends der letzte, der ging. Zweifellos war er ein Mann, der viel hatte einstecken müssen und den so schnell nichts zu erschüttern vermochte.
Umso mehr machte uns seine augenblickliche Verfassung deutlich, dass etwas wirklich Schlimmes geschehen sein musste.
„Ich bekam vor einer Viertelstunde die Nachricht, dass der Ihnen allen bestens bekannte Staatsanwalt James E. Longoria beim Joggen im Central Park ermordet wurde.“ Mister McKee atmete tief durch und erklärte uns dann, dass unser Kollege Fred LaRocca bereits am Tatort wäre, um die Ermittlungen aufzunehmen. Die FBI-Erkennungsdienstler Agent Sam Folder und Agent Mell Horster waren ebenfalls auf dem Weg zum Tatort an der Transverse Road No. 1, um die Kollegen der Scientific Research Division zu unterstützen. Die SRD ist eigentlich der zentrale Erkennungsdienst für sämtliche New Yorker Polizeieinheiten, aber auch die Police Departments benachbarter Städte wie Yonkers, Union City oder West New York nehmen deren Hilfe bisweilen in Anspruch. Darüber hinaus verfügte das FBI allerdings noch zusätzlich über entsprechende erkennungsdienstliche Kapazitäten.
Die Tür ging auf.
Agent Max Carter, ein Innendienstler aus unserer Fahndungsabteilung, trat ein.
Er hatte sich etwas verspätet, schien dafür aber einen entschuldbaren Grund zu haben. Jedenfalls nickte Mister McKee ihm lediglich zu, woraufhin Max sich zu uns an den Tisch setzte.
„Über die näheren Umstände am Tatort kann ich Ihnen natürlich noch nichts sagen“, erklärte unser Chef. „Es ist leider unvermeidlich, dass die Medien diesen Fall groß aufziehen werden, was unserer Arbeit, wie Sie sich alle denken können, nicht gerade erleichtern wird. Einen Aufruf für Zeugen, die eventuell sachdienliche Hinweise zu machen haben, hat Max bereits dankenswerter Weise an alle großen Zeitungen und Radiosender, sowie die lokalen Fernsehkanäle herausgegeben. Mister Longoria ist schließlich nicht der Einzige gewesen, der um diese Zeit in diesem Teil des Central Park seine Runden gedreht hat. Nach den bisherigen Angaben der Homicide Squad I des 12. Reviers unter Captain Danny Ricardo, ist Longoria wohl aus nächster Nähe erschossen worden. Es gibt einen Zeugen, der glaubt, einen BMW mit quietschenden Reifen davon fahren gesehen zu haben. Es handelt sich um einen Rentner, der um diese Zeit mit seinem Hund im Central Park spazieren geht. Der Hund hat den Toten übrigens gefunden. Alles Weitere wird man erst noch ermitteln müssen.“ Nach einer kurzen Pause des Schweigens setzte Mister McKee noch hinzu: „Der Respekt vor dem Recht scheint auf einem Tiefpunkt angekommen zu sein, wenn jetzt schon Staatsanwälte fürchten müssen, von Gangstern einfach niedergestreckt zu werden. Es ist allgemein bekannt, dass ich mit Mister Longoria nicht immer und in allen Fragen übereingestimmt habe. Aber die Leidenschaft für das Recht als wichtigste Waffe im Kampf gegen das Verbrechen haben wir geteilt. In letzter Zeit haben wir uns auch persönlich etwas näher kennen gelernt. Mister Longoria verlor seine Eltern bereits im Alter von vierzehn Jahren durch einen Amokschützen, der unter dem Einfluss der damals gerade aufkommenden synthetischen Drogen stand. Das hat seinem Kampf gegen das Verbrechen den nötigen Antrieb gegeben. Seit ich das erfuhr, konnte ich ihn noch um einiges besser verstehen…“
„Die Liste derjenigen, die mit James Longoria noch eine Rechnung offen hatten, dürfte ziemlich lang sein“, brach Clive Caravaggio als erster das anschließende, etwas betretene Schweigen. Es kam nicht oft vor, dass unser Chef seine Emotionen nach außen dringen ließ. Wir hatten gerade einen dieser seltenen Momente erlebt und es erschien den meisten von uns wohl irgendwie unangemessen, einfach zur Tagesordnung überzugehen. Aber genau das mussten wir tun, wenn wir den oder die Mörder von James E. Longoria fassen wollten. Es war immer dasselbe. Die Zeit arbeitete zu Gunsten des Täters und für uns begann jedes Mal ein Wettlauf. Spuren verschwanden oder zersetzten sich, Zeugen erinnerten sich nicht mehr richtig. Die Berichte in den Medien würden außerdem dazu führen, dass wir eine ganze Flut von vermeintlichen Hinweisen, Verdächtigungen und vielleicht sogar falschen Geständnissen von psychisch gestörten Wichtigtuern bekamen. Eine unserer kniffligsten Aufgaben war es dann immer, aus dem ganzen Wust das Wenige herauszufiltern, was wirklich relevant war.
Longoria galt insbesondere in Fällen des organisierten Verbrechens als Hardliner, der sich nicht gerne auf einen Deal mit Verdächtigen einließ, die er für schuldig hielt.
„Max war so freundlich, schon mal ein paar Fälle herauszusuchen, in denen jemand blutige Rache gegenüber Staatsanwalt Longoria geschworen hat oder ihn bedrohte“, erklärte Mister McKee. Er wandte sich an Max Carter und fragte: „Was haben Sie gefunden?“
„Da ist zum Beispiel Shane Kimble, ein Gang-Leader aus der Bronx, der jetzt eine halbe Ewigkeit in Rikers Island absitzen muss“, erläuterte Max. „Ein Komplize hat gegen Kimble ausgesagt, nachdem Longoria ihm ein Angebot gemacht hat. Das hat Kimble ziemlich sauer gemacht.“
„Ausgerechnet der kompromisslose Longoria!“, konnte sich Orry eine Bemerkung nicht verkneifen. Unser indianischer Kollege trug einen modisch geschnittenen italienischen Anzug zu einer stilvollen Seidenkrawatte. Orry galt allgemein als bestangezogendster G-man an der Federal Plaza. Doch das war beileibe nicht seine einzige Qualität. Er war drüber hinaus auch ein hervorragender Ermittler, wie er bei zahlreichen Fällen unter Beweis gestellt hatte. Ein Kollege, auf den man sich hundertprozentig verlassen konnte.
„Ich erinnere mich an den Fall“, sagte Mister McKee und nippte dabei an seinem Kaffeebecher. „Das ist gut fünf Jahre her. Wenn Longoria diesem Komplizen – wie hieß er noch gleich?“
„Dustin Jennings!“, gab Max nach einem kurzen Blick in seine Unterlagen Auskunft.
„…kein Angebot gemacht hätte, wäre Kimble wieder auf freiem Fuß.“
„Jetzt sitzt er wegen Mordes und hat wohl keine Aussicht jemals wieder entlassen zu werden“, stellte Max fest.
„Und was ist mit Jennings?“, fragte ich.
„Ist seit einem halben Jahr auf Bewährung draußen“, erklärte Max. „Jedenfalls hätte Kimble im Gerichtssaal bei der Urteilsverkündung beinahe den Staatsanwalt angefallen und musste trotz Handschellen von mehreren Officers festgehalten werden. Da wir außerdem davon ausgehen müssen, dass Kimble zumindest einen Teil seiner Drogengeschäfte aus dem Gefängnis heraus steuert und von seinen Gangbrüdern wie ein Held verehrt wird, gehört Kimble auf jeden Fall auf die Liste der Verdächtigen!“
„Aber er dürfte nicht der einzige sein“, gab Orry zu Bedenken.
Max nickte.
„Ganz zu Anfang seiner Karriere sorgten Longorias Ermittlungen für die Verurteilung eines Mannes namens Jason Carlito für Aufsehen. Carlito war Zuhälter in Spanish Harlem und wurde beschuldigt, eine der jungen Frauen, die für ihn anschafften, grausam ermordet zu haben. Die Beweise schienen eindeutig zu sein. Jahre später veranlasste sein Verteidiger eine erneute Untersuchung des damals sichergestellten DNA-Materials. Es gab inzwischen bessere Verfahren und so stellte sich heraus, dass Carlito vielleicht ein Zuhälter aber kein Mörder war.“
„Wie hat er das hingenommen?“, hakte Mister McKee nach.
„Schlecht“, fuhr Max fort. „Er hat Longoria mit Hassanrufen verfolgt, sich bei dessen Prozessauftritten ins Publikum gemischt, um ihn aus dem Konzept zu bringen. Longoria ließ ihm gerichtlich verbieten, dass er sich ihm auf mehr als hundert Yards näherte. Es gab in dieser Zeit eine Serie von zusammengeklebten Drohbriefen, die sowohl Longorias Büro als auch seine Privatadresse erreichten, aber Jason Carlito konnte vor Gericht nicht nachgewiesen werden, der Urheber dieser Briefe gewesen zu sein.“ Max deutete auf die vor ihm liegenden Ordner. „Es gibt noch eine Reihe weiterer Fälle, die ebenso mit Longorias Ermordung in Verbindung stehen könnten. Ganz zu schweigen von seinen aktuellen Ermittlungen gegen mehrere Drogengangs in der Bronx und ihre Hintermänner…“
Milo seufzte hörbar.
„Es wird uns wohl kaum etwas anderes übrig bleiben, als diese Liste systematisch abzuarbeiten“, glaubte er und damit lag er zweifellos richtig.
4
Als Milo und ich am Tatort im Central Park ankamen, war dort das meiste schon gelaufen.
Longorias regelrecht durchsiebter Leichnam lag längst in der Pathologie des Coroners und wurde einer Obduktion unterzogen.
Patronenhülsen, die mit einer Automatik vom Kaliber 45 abgeschossen worden waren, hatten sichergestellt werden können. Ob die Tatwaffe schon einmal verwendet worden war, würde sich erst nach den ballistischen Untersuchungen zeigen. Damit wir in diesem Fall nicht auf die im Moment stark überlasteten SRD-Labors in der Bronx angewiesen waren, würde unser eigener Ballistiker Dave Oaktree die dafür notwendigen Untersuchungen durchführen. Weil wir Dave am Tatort mit Sicherheit nicht mehr antreffen würden, hatten wir während der Fahrt von der Federal Plaza zur Transverse Road No.1 telefonischen Kontakt mit ihm. Er machte uns allerdings wenig Hoffnung darauf, dass die Testergebnisse schneller als in vierundzwanzig Stunden zur Verfügung standen.
Eine Untersuchung der Patronenhülsen auf Fingerabdrücke war bereits am Tatort geschehen und negativ ausgefallen.
Einige Kollegen der City Police hatten Jogger und Passanten befragt, ob sie etwas gesehen hatten. Die Ausbeute war mager.
Nachdem wir uns am Tatort umgesehen und uns ein Bild gemacht hatten, besuchten wir Captain Danny Ricardo auf seinem Revier, der die ersten Tatortermittlungen zu verantworten hatte und sprachen mit ihm über das Problem.
„Sie haben ja sicher selbst mitgekriegt, was für ein Wetter wir heute Morgen hatten. Immer wieder gab es heftige Schauer, die mit kürzeren trockenen Phasen abwechselten. Da sind natürlich nicht gerade viele Leute unterwegs. Außerdem hat der immer wieder einsetzende Regen dafür gesorgt, dass wir so gut wie nichts am Tatort gefunden haben, was irgendwelche Rückschlüsse auf den oder die Täter ergeben könnte – von den Patronenhülsen und einem Reifenprofil einmal abgesehen.“
„Sie gehen davon aus, dass es mehrere Täter waren“, stellte ich fest.
Ricardo nickte. „So ist der Stand der Ermittlungen, wenn die Geschichte mit dem BMW stimmt, wovon ich aber ausgehe. Es gab einen, der die Waffe abgeschossen hat und einen Komplizen, der den Fluchtwagen gefahren hat. Der Rentner, der den Wagen gesehen hat, konnte sich sogar einen Teil der Zulassungsnummer merken.“
„Und?“, hakte ich nach. Selbst wenn man eine Zulassungsnummer nur teilweise vorliegen hatte, dazu aber weitere Merkmale des gesuchten Fahrzeugs wie Typ, Farbe, Ausstattung, Bereifung und ähnliches vorliegen hatte, konnte man das betreffende Fahrzeug in den meisten Fällen ermitteln oder die Zahl der in Frage kommenden Halter stark einschränken.
„Wir vermuten, dass der BMW mit einem Fahrzeug identisch ist, das vor zwei Tagen als gestohlen gemeldet wurde.“
„Ein gestohlener Wagen als Fluchtfahrzeug, keine Fingerabdrücke an den Patronenhülsen – spricht das nicht dafür, dass hier Profis am Werk waren?“, meinte Milo.
Danny Ricardo zuckte die Schultern. „Dass wir überhaupt Patronenhülsen gefunden haben, spricht allerdings dagegen“, gab er zu bedenken. „Ich weiß, worauf Sie hinaus wollen, Agent Tucker. Longoria hat sicher jede Menge Feinde bei den Syndikaten gehabt.“
5
Es war bereits Abend, als wir in der 332 MacMillan Road in Riverdale eintrafen, wo der in zweiter Ehe verheiratete James Longoria in einem schmucken Bungalow gewohnt hatte. Riverdale gehörte zur Bronx, zeigte aber ein Bild, das man von diesem Stadtteil gar nicht erwartete. Mit den verfallenen Straßenzügen, wie man sie leider immer noch in der South Bronx finden konnte, hatte Riverdale nichts zu tun. Stattdessen gab es hier von Bäumen gesäumte Straßen mit ein- bis zweistöckigen Häusern und kleine Geschäftszentren.
Ich parkte den Sportwagen, den uns die Fahrbereitschaft des FBI zur Verfügung stellte, am Straßenrand. Wir stiegen aus, traten an die Haustür und klingelten.
Eine junge Frau öffnete uns. Longoria war 56 Jahre alt geworden, seine Frau war schätzungsweise zwanzig Jahre jünger als er.
Wir stellten uns vor und zeigten Mrs Ann Longoria unsere Ausweise.
Insgeheim war ich froh darüber, dass bereits ein Kollege vom NYPD hier gewesen war, um Ann Longoria darüber zu informieren, dass sie nun Witwe war. Ihre Augen wirkten rot geweint.
„Kommen Sie herein“, sagte sie. „Ich bin mit den Prozeduren, die auf einen Mord folgen, durchaus vertraut, wie Sie mir glauben können.“
„Natürlich, Ma’am“, nickte ich.
Ich stutzte, als wir das Wohnzimmer betraten. In einem der breiten Ledersessel saß ein hagerer Mann mit hohen Wangenknochen und eisgrauen Augen. Das graumelierte Haar war voll, aber sehr kurz geschoren. Ich schätzte sein Alter auf Mitte fünfzig.
Ich hielt ihm meine ID-Card entgegen.
„Agent Jesse Trevellian, FBI“, stellte ich mich vor und deutete dann auf Milo. „Dies ist mein Kollege Milo Tucker. Darf ich fragen, wer Sie sind?“
Er reichte mir die Hand.
Sein Händedruck war sehr fest. Wie bei einem Mann, der gleich klarmachen will, wer der Chef war. „Mein Name ist Miles Buchanan“, sagte er in einem ruhigen, tiefen Tonfall. „Ich bin ein Freund des Hauses. Vielleicht trifft es das am Besten.“
„Woher kannten Sie Mister Longoria?“, fragte ich.
„Wir haben uns während des Jura-Studiums kennen gelernt. Allerdings habe ich es nie bis zur Zulassung als Anwalt gebracht, sondern einen völlig anderen geschäftlichen Weg eingeschlagen. Aber es würde zu weit führen, Ihnen die ganze Story jetzt in ein paar Sätzen auseinanderzusetzen.“
„So fern eine Verbindung zum Fall besteht, habe ich auch gegen längere Erzählungen nichts einzuwenden“, erwiderte ich.
Miles Buchanans Gesicht verzog sich zu einem dünnen Lächeln. „Ich bin recht erfolgreich in der Immobilienbranche tätig. Vor ein paar Jahren trafen James und ich bei der gemeinsamen Vorstandsarbeit für eine gemeinnützige Stiftung wieder aufeinander, für die wir uns beide engagiert haben."
„Ich verstehe", sagte ich.
„Im Moment bin ich hier, um Ann in ihrer schwierigen Situation beizustehen. Ich denke, sie braucht jetzt jemanden, der sich um sie kümmert."
„Ganz sicher!“
„Wenn ich irgendetwas tun kann, um Ihnen bei Ihren Ermittlungen zu helfen, dann lassen Sie es mich bitte wissen.“
„Oh, ich weiß Ihre Kooperationsbereitschaft zu schätzen, Mister Buchanan.“
„Meine geschäftlichen Verbindungen bilden ein exzellentes Netz, das sich natürlich auch zur Erlangung von Informationen eignet. Also, wenn Sie mal wollen, dass ich meine Verbindungen spielen lasse…“
„…werden wir auf Sie zurückkommen“, mischte sich nun Milo ein. Der Tonfall, in dem er sprach, verriet, dass ihn die anbiedernde Art dieses Mannes einfach nur nervte.
Ich wandte mich an Ann Longoria, die schweigend dasaß, den Blick in sich gekehrt und wie versteinert wirkend. Für sie musste das alles ein wahrer Albtraum sein.
„Im Moment sind wir dabei, eine Liste derjenigen zusammenzustellen, die vom Tod Ihres Mannes profitiert oder ihn sich gewünscht haben könnte“, sagte ich so sachlich mir dies in der gegenwärtig emotional ziemlich aufgeladenen Stimmung möglich war.
„Mein Mann war stolz darauf, den Ruf eines Hardliners zu haben und in kriminellen Kreisen gefürchtet zu werden“, flüsterte Ann Longoria. Sie verschränkte die Arme vor der Brust und brach schließlich in ein Schluchzen aus. Dann griff sie nach ihrem Taschentuch und wischte die Tränen weg, nur um sich wenig später noch einmal förmlich zu schütteln.
Miles Buchanan legte den Arm ihre Schulter. Sie strich sich eine verirrte Strähne aus dem Gesicht und atmete tief durch.
„Vielleicht ist es einfach das Beste, Sie kommen ein andermal wieder“, glaubte Buchanan. „Bitte! Sie sehen ja, wie mitgenommen Ann im Moment noch ist.“
„Das würde vor allem den Tätern und ihren Auftraggebern nützen“, stellte ich fest.
Miles Buchanan runzelte die Stirn. „Sie gehen davon aus, dass es sich um einen Auftragsmord handelte?“
„Das ist eine Hypothese“, gab ich zu.
„Die meisten von denen, die mit James noch eine Rechnung offen hatten, dürften in irgendeinem Staatsgefängnis sitzen“, glaubte Miles Buchanan.
„Einen Mord kann man leider auch aus einer Haftanstalt heraus in Auftrag geben – vorausgesetzt man hat die nötigen Verbindungen und entsprechende finanzielle Mittel“, gab Milo zu bedenken.
Ich wandte mich der Witwe zu. „Bitte, Mrs Longoria, versuchen Sie darüber nachzudenken, wer Ihren Mann so sehr gehasst haben könnte, dass er ihn tot sehen wollte.“
Ann Longoria zuckte die schmalen Schultern. „Wie schon gesagt, es gab so viele, die ihn hassten. Es verging kaum ein Tag, an dem uns das nicht auf die eine oder andere Weise klargemacht wurde. Mal durch Drohbriefe, dann wieder durch obszöne Anrufe, die uns trotz unserer Geheimnummer erreichten. In letzter Zeit waren es vor allem Emails, die ein krankes Hirn verfasste, das sich Rächer der Gerechten nennt…“
„Davon steht nichts in den Unterlagen“, sagte ich. „Warum hat er sich damit nicht an die Polizei oder an uns gewandt?“
„Das hat er“, widersprach Mrs Longoria. „Die Kollegen vom NYPD fanden heraus, dass ein Mann namens Paco Benitez dahinter steckte.“
„Der Name kommt mir bekannt vor“, meinte Milo.
„Er stand lange auf den Fahndungsseiten der Homepage des FBI“, fand Ann Longoria dafür sofort eine plausible Erklärung. „Benitez war der Mann fürs Grobe eines Drogensyndikats von Exilkubanern. Mein Mann brachte ihn für die nächsten dreißig Jahre ins Gefängnis. Irgendwie hat Benitez es geschafft, über den Internetzugang der Gefängnisbibliothek dafür zu sorgen, dass die private Mail-Adresse meines Mannes einige Zeit ständig verstopft war. Benitez bekam keinen Zugang mehr zum Bibliotheksrechner von Rikers Island, nachdem die Sache aufgedeckt wurde.“
„Wann war das?“ fragte ich.
„Vor drei Wochen hörte der Spuk auf.“ Mrs Longoria schluckte und strich sich mit einer fahrigen Geste eine Strähne ihrer brünetten Haare aus den Augen. „Jedenfalls dachte ich das…“
„Wir werden ohnehin die privaten Sachen Ihres Mannes durchsuchen müssen“, sagte ich und versuchte ihr damit schonend beizubringen, dass ein ganzes Team unserer Erkennungsdienstler eine Hausdurchsuchung durchführen würde. „Sie wissen sicher, dass das Routine in Mordfällen ist. Schließlich…“
„…war ich lang genug die Frau eines Staatsanwalts!“, vollendete Ann Longoria meinen Satz. Sie erhob sich aus ihrem Sessel. Mit verschränkten Armen stand sie einen Augenblick da, sah mich direkt an und sagte schließlich: „Tun Sie Ihren Job, Agent Trevellian und ziehen Sie diejenigen zur Rechenschaft, die mir meine Mann genommen haben! Ich werde alles tun was notwendig ist, um Sie zu unterstützen.“
6
Später trafen noch unsere Erkennungsdienstler Mell Horster und Sam Folder sowie Agent Fred LaRocca ein. Die drei waren zuvor auch an der Durchsuchung von James E. Longorias Dienstzimmer im Amtssitz des District Attorney beteiligt gewesen.
Der Mann musste ein Workaholic gewesen sein.
Longorias privates Arbeitszimmer nahm das gesamte Dachgeschoss des Bungalows ein. Es stellte sich heraus, dass Longoria viele seiner dienstlichen Angelegenheiten zu Hause bearbeitet hatte und offenbar häufig auch am Wochenende und nach Feierabend noch an seinen Fällen tätig gewesen war. Was wir von Mister McKee über Longorias Schicksal erfahren hatten, machte die besondere, über das Normalmaß hinausgehende Engagement für die Strafverfolgung von Verbrechen verständlich – und auch die besondere Verbindung, die Mister McKee zu ihm gehabt zu haben schien.
An der Wand hing ein gerahmtes Kinoplakat, das Clint Eastwood als rächenden US-Marshal in HÄNGT IHN HÖHER zeigte.
„So hat sich James Longoria wohl selbst gesehen“, meinte ich. „Der harte Kerl, der die Verbrecher gnadenlos zur Strecke bringt!“
„Dieses Image dürfte der Hauptgrund dafür sein, dass die Wähler ihn immer wieder in seinem Amt bestätigt haben“, glaubte Milo.
„Vermutlich hast du Recht.“
„Ich denke, was als nächstes ansteht, nachdem wir hier fertig sind, ist ein Besuch auf Rikers Island“, meinte Milo.
Ich nickte. „Wenigstens haben wir da wahrscheinlich einige Dutzend Verdächtige an einem Ort versammelt!“
„Du sagst es!“
Fred LaRocca meldete sich jetzt zu Wort. „Seht euch das mal an!“, meinte er und zog einen Prospekt zwischen den im Arbeitszimmer herumliegenden Unterlagen hervor.
Er reichte ihn mir.
„LIGA FÜR RECHT UND ORDNUNG“, las ich da. Es handelte sich um eine gemeinnützige Stiftung, die Verbrechensopfern half. Der Prospekt enthielt einen Spendenaufruf. Ich deutete auf die Broschüre und fragte: „Was ist daran so außergewöhnlich?“
„Es ist nicht außergewöhnlich, nur interessant“, antwortete Fred LaRocca. „In dem Prospekt ist der verantwortliche Vorstand dieser Stiftung angegeben. Longorias Name ist dabei.“
„Dass dieser Workaholic dazu überhaupt noch Zeit hatte“, staunte Sam Folder.
7
Am folgenden Tag lag das ballistische Gutachten vor. Wir saßen in Mister McKees Dienstzimmer und ließen uns die Ergebnisse von unserem Chefballistiker Dave Oaktree erläutern.
Oaktree hatte mit dem Beamer seines Laptops die Vergrößerung der Oberflächenstruktur eines der Projektile an die Wand projiziert, die aus James Longorias Körper stammten.
„Sie können hier deutlich zwei verschiedene Riefungen feststellen“, erläuterte Oaktree. „Eine ist etwas stärker. Sie stammt vom Lauf einer 45er Automatik, die aktenkundig ist. Diese Waffe wurde bei mehreren Schießereien zwischen rivalisierenden Gangs in der South Bronx verwendet. Sie gehörte dem Gang Leader Shane Kimble, den wir ja bereits in der Liste der Verdächtigen führen. Er sitzt wegen Mordes in Rikers Island. Die Waffe, die er damals benutzte, galt als verloren.“
„Es haben wohl alle angenommen, dass Kimble sie in den East River geworfen hat“, meinte ich.
Aber das war offensichtlich nicht der Fall gewesen.
Dave Oaktree ergriff jetzt wieder das Wort. Er markierte mit einem Laserpointer eine bestimmte Linie auf der Abbildung. „Ich wollte eigentlich noch erläutern, was da sonst noch zu sehen ist“, erklärte er.
„Dann fahren Sie fort, Dave!“, wies Mister McKee ihn an.
„Die schwächeren Riefungen, die man hier sieht, stammen vom Schalldämpfer. Der könnte ein Eigenbau sein, was vielleicht Rückschlüsse auf den Täter zulässt. Es müsste dann jemand sein, der sich in der Metallverarbeitung auskennt und über handwerkliches Geschick verfügt.“
„Gang-Mitglieder, die in der Lage sind, ihre Harleys zu tunen, sind nun wirklich keine Seltenheit!“, seufzte Orry. „Und irgendwelche Spoiler-Bleche an ihren aufgemotzten Wagen hinzubiegen, das bekommen auch die allermeisten von denen hin.“
„Aber eigentlich solle man annehmen, dass die harten Jungs aus Kimbles Gefolge, die inzwischen für ihn die Geschäfte auf der Straße führen, genau wissen, dass man eine Waffe nicht mehrfach verwenden kann, wenn man nicht auffallen will“, sagte Fred LaRocca.
„Vielleicht ist es ja gerade das, was die Täter wollen!“, vermutete Mister McKee. „Kimble wird doch von seinen Leuten noch immer als Held verehrt, wie ich den Berichten in dem Dossier entnommen habe, das Max uns dankenswerter Weise zusammengestellt hat.“ Unser Chef hob die Schultern. „Es sieht fast so aus, als wollte hier jemand seine ganz persönliche Markierung hinterlassen…“
„…die sich dazu noch auch auf Kimble bezieht!“, stimmte Milo zu. „Was will uns der Killer damit sagen? Seht her, wer einen Kimble ins Loch bringt, dem ergeht es schlecht oder so ähnlich?“
Mister McKee atmete tief durch und nickte schließlich. „Wäre nicht das erste Mal“, murmelte er düster vor sich hin. Er blickte in die Runde. „Ich denke, es liegt jetzt klar auf der Hand, was als nächstes zu geschehen hat. Wir nehmen uns Kimble auf Rikers Island und seine Komplizen vor, die noch immer frei herumlaufen. Im Übrigen möchte ich noch etwas in eigener Sache sagen.“ Alle Blicke waren jetzt gespannt auf den Mann gerichtet, der unser Field Office seit vielen Jahren im Rang eines Assistant Directors leitete. „Es wird Ihnen allen nicht entgangen sein, wie nahe mir der Tod von James E. Longoria gegangen ist. Ich denke, zu den Gründen habe ich genug gesagt. Mehr braucht niemand von Ihnen darüber wissen. Ich möchte, dass Sie verstehen, weshalb ich in diesem Fall mich persönlich weitgehend heraushalten werde. Ich war weder am Tatort, noch habe ich Longorias Haus betreten, um bei der Durchsuchung und Sicherung von Beweismitteln dabei zu sein. Das wird Sie vielleicht verwundern, aber ich denke, das Wichtigste ist, dass wir gute Arbeit leisten. Persönliche Interessen müssen dahinter zurückstehen. Mich würde nichts mehr reizen, als persönlich auf die Jagd nach dem Mörder von James Longoria zu gehen, aber ich weiß, dass für erfolgreiche Ermittlungsarbeit eine professionelle Distanz nötig ist, die dann einfach nicht mehr gewahrt wäre. Und das kann im Extremfall bedeuten, dass man auf einem Auge blind ist und die entscheidenden Dinge zur Lösung eines Falls nicht sieht. Vielleicht auch gar nicht mehr sehen will. Wie auch immer, ich möchte nur, dass Sie verstehen, dass es kein Widerspruch ist, wenn ich mich einerseits bewusst zurückhalte und Sie Dinge tun lasse, von denn Sie vielleicht erwartet hätten, dass ich sie selbst tun sollte.“ Mister McKee ließ noch einmal den Blick schweifen und sagte dann: „Das wäre alles.“
8
Zusammen mit unseren Kollegen Clive und Orry fuhren Milo und ich nach Rikers Island.
In einem Verhörraum trafen wir uns mit Shane Kimble, der in Begleitung von Cheyenne Masters erschien, einer jungen, aufstrebenden Strafverteidigerin, die für die renommierte Kanzlei Richardson, Franklyn & Partners arbeitete. Wer immer diese Kanzlei mit seinem Mandat betraute, durfte nicht arm sein. Zwar war Shane Kimbles Drogenvermögen seinerzeit nach dem Rico’s Act beschlagnahmt worden, aber offenbar hatte er es doch irgendwie geschafft, einige seiner Drogengelder irgendwo in einem sicheren Drittland zu parken. Über Vertrauensleute konnte er dann an die Gelder heran. Es hätte mich persönlich nicht gewundert, wenn die Kanzlei Richardson, Franklyn & Partners selbst ihre Finger in diesem Verschleierungsspiel gehabt hätte. Der seriöse Ruf dieser Kanzlei rührte vor allem aus jener Zeit, als Doug Richardson senior noch persönlich die Geschäfte geführt hatte. Seit nunmehr fünf Jahren hatte der alte Richardson sich jedoch aus dem Tagesgeschäft zurückgezogen und seine Kanzleianteile in die Hände seines Sohnes gelegt, der weit weniger Skrupel zu haben schien. Immerhin waren er geschickt genug, um sich nichts nachweisen zu lassen, aber es pfiffen die Spatzen von den Dächern, dass die Anwälte dieser Kanzlei sich zumindest mittelbar an diversen Geldwäschegeschäften beteiligt hatten.
Shane Kimble war ein großer, breitschultriger Mann, dem anzusehen war, dass er die Zeit auf Rikers Island dazu genutzt hatte, seine Muskeln in den Fitnessräumen dieser Strafanstalt zu stählen. Sein Haar war kurz geschoren. Am Oberarm trug er eine Tätowierung, die ihn als Mitglied der SOUTH BRONX TIGERS auswies, einer Gang, die er lange Zeit angeführt hatte, bis die Ermittlungen von James Longoria dafür gesorgt hatten, dass er nun wohl den Rest seines Lebens hinter Gittern sitzen musste. Er hatte weder mit vorzeitiger Entlassung noch mit Bewährung zu rechnen. Das ging schon allein wegen seines Verhaltens während des Strafvollzugs nicht. Immer wieder war Shane Kimble in Streitigkeiten verwickelt. Er hatte einen Mitgefangenen ins Koma geprügelt. Seit anderthalb Jahren lag der Mann, ein schwarzer Halbpuertoricaner aus der Bronx – nun schon in der Intensivabteilung des Bethesda Hospitals, wo man die Möglichkeit hatte, sich umfassend um ihn zu kümmern.
Shane Kimble ließ sich auf den bereitstehenden Stuhl fallen.
„Nehmen Sie ihm Handschellen und Fußfesseln ab“, wandte sich Clive Caravaggio an einen der Wächter, die ihn bis in den Gesprächsraum begleitet hatten.
Der flachsblonde Italoamerikaner kam sofort und ohne Umschweife zur Sache.
„Wir sind heute hier, weil Staatsanwalt James Longoria gestern Morgen erschossen wurde.“
Shane grinste breit. Er entblößte dabei eine Reihe mit Metallzähnen.
„Ich habe davon gehört!“, bekannte er und lachte heiser. „Gute Nachrichten sprechen sich schnell herum hier drinnen.“
„Wir suchen den Täter und…“
Clive wurde von Kimble grob unterbrochen.
„Was soll der Mist hier?“, tönte der Mann, der sich noch immer für eine der größten Nummern in der Bronx zu halten schien. „Ich habe nie ein Geheimnis daraus gemacht, dass ich James Longoria nicht leiden kann! Außerdem sollten Sie mal meine Akte genauer studieren, bevor Sie sich mit jemandem wie mir an einen Tisch setzen. Sie hätten dann feststellen können, dass in meinem Fall jeglicher Hafturlaub und was es sonst noch so für Vergünstigungen gibt, ausgeschlossen wurde. Ich habe also ein wirklich wasserdichtes Alibi!“ Kimble erhob sich von seinem Platz und streckte dem Wachmann die Hände hin. „Ich nehme an, dass Gespräch ist damit beendet. Gehen wir besser jeder für sich zur Tagesordnung über.“
„Einen Moment bitte!“, mischte ich mich ein.
Der neben Kimble stehende Wachmann legte ihm eine Hand auf die Schulter und drückte ihn zurück auf den Stuhl.
„Was ist denn noch?“, brummte Shane Kimble. Er verdrehte die Augen. „Zu dem Thema habe ich alles gesagt, was zu sagen ist. Punkt. Ende. Aus.“
„Nein, das ist nicht wahr!“, widersprach ich und riss damit nun endgültig die Gesprächsführung an mich. „Sie haben uns noch nicht erklärt, wieso die Waffe, mit der Sie damals einen Menschen erschossen und mehrere weitere schwer verletzt haben, jetzt plötzlich wieder in Umlauf gebracht wurde.“
Shane Kimble runzelte die Stirn und sah mich mit schiefen Blicken an.
„Wie bitte?“, fragte er, so als hätte er mich nicht verstanden.
„Sie haben richtig gehört“, ergänzte Orry. „Die Waffe, die Sie damals nach Ihrer letzten Schießerei irgendwo versteckt haben müssen, ist wieder aufgetaucht.“
„Aber verdammt noch mal, G-man, geht das nicht in Ihren Schädel hinein? Ich war hier unter Aufsicht und habe die Waffe nicht abgedrückt!“ Er kicherte. „Das werden auch all Ihre Untersuchungen beweisen!“
„Wo befand sich diese Waffe während der letzten Jahre?“, fragte ich.
„Keine Ahnung, G-man!“
„Ich weiß nicht, ob Sie hier drinnen alles haben, was Sie brauchen“, meinte ich. „Aber vielleicht ist es nicht schlecht, wenn die Staatsanwaltschaft weiß, dass Sie kooperieren wollen.“
„Den Teufel werde ich tun!“, erwiderte Shane Kimble.
„Ganz wie Sie wollen!“, sagte Clive. Der flachsblonde Italoamerikaner schien genug von den Ausweichmanövern des ehemaligen Gang-Anführers zu haben. „Aber wenn sich herausstellt, dass Sie die Verbrechen aus den Mauern von Rikers Island heraus geplant und in Auftrag gegeben haben, dann wird man Sie nicht hier in New York lassen, sondern irgendwo anders hin verlegen. Ich weiß nicht, wie es mit Ihren Besuchsrechten dann noch steht…“
„Glauben Sie wirklich, dass dieser Mord mit meiner alten Waffe begangen worden wäre, wenn ich hinter der Sache stecken würde?“, fragte Shane Kimble zurück. Er lief dunkelrot an und machte eine wegwerfende Handbewegung, die so ausholend und heftig ausgeführt wurde, dass die in der Nähe postierten Wachmänner schon nervös wurden. „Ihr G-men müsst mich für reichlich dämlich halten.“
„Dann sagen Sie uns doch einfach, wo Ihre Waffe die letzten Jahre aufbewahrt wurde und von wem!“, beharrte Clive Caravaggio. „Wenn Sie wirklich jemand in die Pfanne hauen wollte, dann bekommen wir das heraus! Andernfalls hängen Sie nach der derzeitigen Beweislage mit drin, weil jeder glauben wird, dass Sie einen Ihrer Leute losgeschickt haben, damit er mit der alten Waffe ein Zeichen setzt!“
„Das ist doch Unsinn!“
„Rache aus dem Knast mit perfektem Alibi! Aber sobald wir den Kerl haben, der abgedrückt hat, wird der reden und Sie in die Pfanne hauen, bevor er die Schuld allein auf sich nimmt. Da können Sie sicher sein!“
„Hören Sie auf!“
„Mein Mandant könnte behaupten, die Waffe vor seiner damaligen Verhaftung einfach weiterverkauft zu haben“, mischte sich Kimbles Anwältin ein. „Und ich sehe nicht, wie Sie diese Behauptung widerlegen könnten!“
„Bravo. Lady! Geben Sie den Ärschen Zunder!“, rief Kimble. „Ich behaupte einfach, was die Lady sagt und Ihr könnt mich dann mal!“
„Wenn Ihr Mandant dämlich gewesen wäre und unter Geldmangel gelitten hätte wäre das plausibel“, antwortete Clive. „Aber beides wird niemand behaupten wollen. Außerdem stellt sich dann die Frage, wieso er uns den Käufer nicht nennt und mit uns kooperiert!“ Clive wandte sich wieder direkt an Kimble. „Und sagen Sie nicht, dass es nicht auch für Sie nicht noch schlimmer kommen könnte!“
Kimble lehnte sich zurück.
Die Pose großspuriger Lässigkeit war jetzt von ihm abgefallen.
Er schien mit sich selbst zu ringen und brauchte vielleicht nur noch einen kleinen Anstoß, um etwas zu tun, was für einen ehemaligen Gang Leader aus der Bronx so etwas wie den Verlust der Ehre bedeutete.
„Wenn herauskommt, dass ich mit Ihnen zusammenarbeite, bin ich erledigt“, sagte er.
„Hören Sie auf“, mischte sich die Anwältin ein. „Sie setzen meinen Mandanten in unzulässiger Weise unter emotionalen Druck.“
„Ich mache ihn lediglich auf seine Situation aufmerksam“, erklärte Clive.
„Das haben Sie zu genüge getan. Mein Mandant hat seine Position sehr unmissverständlich zum Ausdruck gebracht. Er hat mit dem Tod von James Longoria nichts zu tun. Was das Auftauchen dieser ominösen Waffe angeht, so kann er sich auf den fünften Zusatz zur amerikanischen Verfassung berufen, wonach sich niemand selbst belasten muss. Im übrigen muss ich sagen, das Ihre These, wonach mein Mandant irgendein Rachezeichen oder so etwas setzen wollte, an den Haaren herbeigezogen ist!“
Clive verzog das Gesicht zu einem dünnen Lächeln und wandte sich Cheyenne Masters zu. „Wie sollte sich Mister Kimble durch eine Aussage denn selbst belasten, wenn seine bisherigen Aussagen der Wahrheit entsprechen und er tatsächlich nichts mit dem Mord an Staatsanwalt Longoria zu tun hat?“
„Schon der unangemeldete Besitz dieser Waffe war eine Straftat, die noch nicht verjährt ist!“, gab die Anwältin zu bedenken.
„Ich bitte Sie, das ist nicht Ihr Ernst, Miss Masters!“, stieß Clive aufgebracht hervor. „Angesichts der Strafe, die das Gericht ihrem Mandanten bereits aufgebrummt hat, dürfte…“
„Ich denke, es ist alles gesagt worden, was in dieser Sache von Belang ist. Die Unterredung dürfte damit beendet sein, Gentlemen!“
Shane Kimble lehnte sich zurück und klatschte mit seinen großen, prankenartigen Händen Beifall.
„Richtig so, Lady! Machen Sie die Typen fertig!“ Dann hielt er einem der Wachleute seine Hände über Kreuz entgegen. „Schließt mich wieder in meine Zelle! Ich werde hier seelisch misshandelt!“, schrie er.
9
Clive Caravaggio hämmerte mit der Faust gegen die Wand des Besprechungszimmers, nachdem Shane Kimble abgeführt worden war und Cheyenne Masters mit einem triumphierenden Lächeln im Gesicht und ein paar spitzen Bemerkungen auf der Zunge den Raum verlassen hatte.
„Das darf doch alles nicht wahr sein! Was spielt dieser Kerl für ein Spiel?“
„Die Kids in der Bronx sehen in ihm so etwas wie ein Vorbild“, meinte ich. „Jemand, der nur das Pech hatte, von einem Kumpel verraten worden zu sein und deswegen im Knast sitzt.“
Milo nickte. „Wenn er jetzt einen seiner Leute in die Sache hineinzieht, macht er genau das, was Dustin Jennings mit ihm getan hat und er wäre unten durch.“
„Aber was nützt ihm dieser Ruhm?“, fragte Orry kopfschüttelnd.
„Offenbar nützt er ihm mehr, als ihm die Kooperationsverweigerung mit uns schadet“, gab ich zu denken. „Wenn die Gerüchte stimmen, und er wirklich noch Einfluss auf die Geschäfte seiner Gang hat, dann ist der legendäre Ruf, den er genießt ein wichtiger Faktor dabei, wie ich mir vorstellen könnte.“
„Dazu kommt noch, dass er hier auf Rikers Island ja wohl nicht das einzige Mitglied der SOUTH BRONX TIGERS ist, das hier einsitzt“, meinte Milo. „Er hat auf diese Weise immer eine Truppe von Paladinen in seiner Nähe.“
„Männer, die möglicherweise über ihre Anwälte und andere Besuchskontakte eine Verbindung nach draußen herstellen, falls man Kimbles eigene Besuchsmöglichkeiten aus Sicherheitsgründen einschränken sollte!“
Clive atmete tief durch.
„Wir fangen wir also ganz von vorne an.“
„Ich würde sagen, es wird Zeit, dass wir uns diesen Dustin Jennings mal vorknöpfen“, meinte ich. „Ich zumindest wüsste gerne mal seine Version darüber, was damals zu Kimbles Verurteilung führte. Das Verschwinden der Waffe spielte doch sicher auch eine Rolle.“
„Zumindest könnte Jennings dazu eine Aussage machen“, stimmte Clive zu „Dann würde ich vorschlagen, dass du und Milo ihn aufsucht, während Orry und ich einen andere Ansatzpunkt verfolgen.“
„Einen anderen Ansatzpunkt?“, fragte Milo erstaunt und hob dabei die Augenbrauen. „Habe ich irgendetwas verpasst?“
„Orry und ich werden uns die Besucher von Kimble aus dem letzten halben Jahr vornehmen“, meinte Clive.
10
Es stellte sich heraus, dass Kimbles Besuchsmöglichkeiten bereits eingeschränkt waren – und zwar auf Antrag von Staatsanwalt James Longoria, der im Zuge der Ermittlungen gegen mehrere andere Mitglieder der SOUTH BRONX TIGERS den begründeten Verdacht gehabt hatte, dass Kimble seine Besuchszeiten dazu nutzte, um die alten Geschäfte weiter zu führen.
Die Besuchslisten aus der Zeit vor dieser Beschränkung legten das nahe. Ehemalige Gangmitglieder und vermutete Partner im Drogengeschäft hatten sich da die Klinke in die Hand gegeben.
Vor drei Monaten war damit jedoch Schluss gewesen.
Die Besuche waren auf Verwandte ersten Grades und seine Anwältin eingeschränkt worden. Mehr hatte Longoria beim Gericht nicht durchsetzen können.
Außer Cheyenne Masters stand noch eine gewisse Teresa Johnson in den Besucherlisten. Sie war die Mutter seines dreijährigen Sohnes namens Edmond. Nach einem DNA-Gutachten, das Cheyenne Masters bei Gericht vorgelegt hatte, war Kimble der Vater dieses Jungen. Der Richter kam zu dem Schluss, dass es die Rechte dieses Jungen in unzulässiger Weise einschränken würde, wenn man ihm den Umgang mit seinem Vater untersagte. Longorias Argumentation, dass auch Teresa Johnson Teil von Kimbles Organisation sein könnte, wurde seinerzeit als nicht ausreichend belegte Behauptung zurückgewiesen.
Teresa Johnson wohnte in einem Apartmenthaus Ecke East 68th Street und York Avenue in der Upper East Side.
Clive und Orry trafen dort etwa zweieinhalb Stunden nach der Unterredung mit Shane Kimble und seiner Anwältin ein.
Das Haus, in dem Teresa Johnson ihre Wohnung hatte, gehörte der mittleren bis gehobenen Kategorie an. Die Brownstone-Fassade war frisch renoviert, und es gab einen privaten Sicherheitsdienst, der rund um die Uhr die Augen offen hielt.
Flure, Empfangshalle und der Bereich vor dem Eingang waren mit Überwachungskameras bestückt.
Mit dem Aufzug fuhren Orry und Clive in den fünften Stock. Wenig später standen sie vor Teresa Johnsons Wohnungstür.
„Ja, bitte?“, fragte eine weibliche Stimme über die Sprechanlage.
„Sind Sie Teresa Johnson?“
„Ja.“
„Clive Caravaggio, FBI. Mein Kollege und ich haben ein paar Fragen an Sie.“
„Liegt irgend etwas gegen mich vor?“, fragte Teresa. „Falls nicht, bin ich nicht verpflichtet, Ihnen zu öffnen.“
„Wir können Sie auch in unsere Dienstgebäude an der Federal Plaza vorladen oder auch zwangsweise vorführen lassen, wenn Ihnen das lieber ist, Miss Johnson“, sagte Clive. „Aber ich denke, Sie sind klug genug, wegen ein paar Routinefragen nicht gleich so einen Aufstand zu machen. Es beschuldigt Sie im Übrigen auch niemand eines Verbrechens, sondern Sie werden nur als Zeugin befragt!“
„In welcher Sache?“
„Glauben Sie, ich spiele hier mit Ihnen Katz und Maus? Da sind Sie im Irrtum. Also öffnen Sie jetzt!“
Einige Augenblicke lang herrschte Schweigen.
„Die scheint auf Cops aller Art ziemlich allergisch zu reagieren“, meinte Orry.
„Wenn sie tatsächlich in Kimbles Geschäften drin hängt, hat sie dazu auch allen Grund!“
„Ich glaube allerdings ehrlich gesagt nicht so richtig daran. Es ist für Kimble doch viel leichter, über seine ebenfalls inhaftierten Gangbrüder, bei denen es keine Besuchsbeschränkungen gibt, Kontakt nach außen zu bekommen!“
„Warten wir es ab, Orry.“
Teresa Johnson meldete sich schließlich wieder. Im Hintergrund war eine Kinderstimme zu hören.
„Halten Sie Ihre Ausweise in die Überwachungskamera oben rechts!“, verlangte sie.
Diesem Wunsch konnten die beiden G-men natürlich nachkommen. In wie fern Teresa Johnson dazu in der Lage war, auf den üblicherweise ziemlich kleinen Bildschirmen solcher Überwachungsanlagen, noch die Echtheit der ID-Cards zu beurteilen, stand auf einem anderen Blatt.
Sie öffnete.
Teresa Johnson war eine Frau von Ende zwanzig. Das blauschwarze, leicht gelockte Haar fiel ihr bis über die Schultern. Ihr Gesicht war feingeschnitten und die dunkelbraunen Augen beobachteten die beiden FBI-Agenten aufmerksam.
Auf dem Arm trug sie einen etwa dreijährigen Jungen, der den Kopf auf ihre Schulter gelegt hatte.
„Kommen Sie herein“, forderte sie Clive und Orry auf. „Aber schließen Sie die Tür hinter sich.“
Für New Yorker Verhältnisse war Teresas Wohnung sehr groß. Clive schätzte sie über den Daumen auf etwa hundertzwanzig Quadratmeter.
„Was machen Sie beruflich?“, fragte Clive.
„Ich bin Mutter“, erwiderte Teresa. „Ist das nicht auch ein Beruf?“
„Keiner von dem man sich so eine Wohnung leisten kann.“
„Ich dachte, ich wäre nur eine Zeugin und keine Verdächtige.“
„Das ist richtig.“
„Außerdem haben Sie behauptet vom FBI und nicht von der Steuerfahndung zu sein. Ich weiß also nicht, was Ihre Fragen jetzt sollen!“
„Es geht um den Vater Ihres Kindes: Shane Kimble.“
„Das hätte ich mir ja denken können“, murmelte sie. Sie setzte den Kleinen auf den Boden, woraufhin er in den Nachbarraum lief. Teresa verschränkte die Arme vor der Brust und sah Clive direkt in die Augen. „Was wollen Sie Shane denn noch anhängen? Reicht es nicht, dass er für den Rest seines Lebens seinen Sohn nur alle vier Wochen einmal sehen kann? Reicht es nicht, dass Sie ihn nach einem fadenscheinigen Prozess voller Ungereimtheiten verurteilen und lebenslang wegsperren können?“
„Ich will ihm nichts anhängen“, sagte Clive. „Ganz im Gegenteil. Ich möchte ihm helfen.“
„Pah, dass ich nicht lache!“ Sie machte eine wegwerfende Handbewegung und wandte sich ab. Tränen des Zorns stiegen ihr in die Augen. „Ich kann mir schon denken, wie diese Hilfe aussieht! Am Ende wird Shane der Dumme sein und noch schlimmer im Dreck sitzen, als jetzt schon! So enden diese Spielchen doch immer! Na, nur heraus damit! Welche Tricks hat sich die Staatsanwaltschaft denn jetzt ausgedacht, um ihm das Leben zur Hölle zu machen?“
„Es geht um den Mord an Staatsanwalt James Longoria. Sie werden davon gehört haben.“
„Es war unmöglich,
„Dann wissen Sie ja, wovon ich rede.“
„Ja – und soll ich Ihnen was sagen? Ich bedaure es kein bisschen, dass es diesen arroganten Sack erwischt hat! Ich sehe ihn noch im Gerichtssaal vor mir. Damals hätte ich ihn umbringen können…“
„Vielleicht sollten Sie überlegen, ob Sie jetzt vielleicht lieber einen Anwalt dabei haben möchten“, mischte sich Orry in ruhigem Tonfall ein.
Sie atmete tief durch und fügte dann hinzu: „Das war damals. Der Zorn ist inzwischen verraucht. Außerdem würde ich so etwas nie tun.“
„Was?“
„Einen Menschen umbringen. Das könnte ich nicht. Selbst jemanden wie Longoria nicht. Außerdem trifft ihn nicht die Hauptschuld.“
„Wen dann?“
„Na, Dustin Jennings natürlich. Um selber nur wegen eines minderschweren Vergehens angeklagt zu werden und schon nach wenigen Jahren wieder raus zu kommen, hat er Shane belastet und dafür gesorgt, dass er lebenslang hinter Gitter kommt. Longoria hätte doch gar nichts gegen ihn in der Hand gehabt, wenn Jennings nicht gewesen wäre! Auf seiner Aussage basierte die Anklage und als klar war, dass sich das Blatt zu Shanes Ungunsten wenden würde, sind natürlich auch andere Zeugen plötzlich umgefallen und haben sich gedacht: Dem können wir ruhig noch mal ans Bein pinkeln, bevor er weggesperrt wird!“
Eine Pause des Schweigens entstand.
Clive entschloss sich, zum eigentlichen Ausgangspunkt des Gesprächs zurückzukehren und noch mal ganz von vorn zu beginnen. Teresa Johnson hatte sich in Rage geredet und wenn bei dieser Befragung noch etwas herauskommen sollte, dann war es an Clive, dafür zu sorgen, dass ihre kochende Seele wieder auf Normaltemperatur herunter gekühlt wurde.
„Shane Kimble wurde damals auf Grund von Jennings’ Zeugenaussage angeklagt, das ist richtig. Aber diese Aussage wurde von weiteren Zeugen bestätigt. Außerdem gab es Sachbeweise dafür, dass Kimble am Tatort war.“
„Aber die Justiz hat damals nie die Mordwaffe gefunden!“
„Genau um die geht es jetzt!“, erklärte Orry. „Mit derselben Waffe, mit der Shane Kimble damals gegen seine Konkurrenz vorgegangen ist, wurde auch Longoria ermordet. Ihnen ist doch klar, welchen Schluss wir daraus ziehen müssen.“
„Sie glauben, dass Shane den Mord an Longoria in Auftrag gegeben hat!“, begriff sie sofort.
„Wir müssen das zumindest als Möglichkeit in Betracht ziehen. Der Vater ihres Kindes liebt theatralische Auftritte – und wenn der Mann, den er für seine Verhaftung verantwortlich machte und deswegen abgrundtief hasste mit einer Waffe erschossen wird, die Longoria damals im Prozess vergeblich aufzutreiben versucht hat, dann ist die Symbolik doch eindeutig – ein später Triumph über den Prozessgewinner im Gerichtssaal.“
Sie hielt Clive ihre Hände über Kreuz hin. „Dann sollten Sie mich auch als Verdächtige betrachten. Schließlich hätte ich genauso ein Motiv, so etwas zu veranlassen!“
„Wir wollen einfach nur wissen, wo die Waffe damals geblieben ist. Dazu gibt es keine vernünftige Aussage in den Prozessunterlagen.“
„Und das fragen Sie ausgerechnet mich?“
„Vielleicht hat Shane Kimble mit Ihnen darüber gesprochen, Miss Johnson. Damals hätten Sie ihm vielleicht geschadet, wenn Sie sich darüber der Polizei oder dem Richter gegenüber geäußert hätten - aber jetzt wohl kaum noch. Shane Kimble sitzt so oder so lebenslänglich, aber falls es jemanden gibt, der ihm vielleicht nur etwas in die Schuhe schieben will, könnten Sie uns helfen, demjenigen einen Strich durch die Rechnung zu machen.“
„Sie würden uns gleichzeitig zeigen, dass nicht Sie selbst diejenige sind, die damals die Waffe aufbewahrt hat!“, ergänzte Orry.
„Dafür haben Sie keine Beweise. Und Sie werden auch keinen Richter finden, der mich auf Grund derart vager Anschuldigungen in Haft nimmt…“
Teresa Johnson ging zu dem Telefon, das auf einer Anrichte stand und nahm den Hörer ab.
„Wen rufen Sie an?“, fragte Clive.
„Meine Anwältin.“
„Heißt die zufällig Cheyenne Masters?“
„Ja. Wieso?“
„Sie vertritt auch Shane Kimble – und Sie sollten sich gut überlegen, ob Ihre Interessen im Moment wirklich identisch sind.“
„Außerdem haben Sie Recht“, fügte Orry hinzu. „Wir finden im Moment sicher keinen Richter, der einen Haftbefehl für Sie unterschreibt. Aber es könnte sein, dass die Besuche von Ihnen und Ihrem Sohn auf Rikers Island jetzt ein Ende haben!“
Teresa Johnson legte den Hörer wieder auf. „Hören Sie, ich habe mit dem Mord an Longoria nichts zu tun, warum ruinieren Sie mich?“
„Inwiefern ruinieren wir Sie denn?“, hakte Clive mit gerunzelter Stirn nach.
Sie atmete tief durch, lief einmal quer durch den Raum und ließ sich dann in einen der Polstersessel fallen. Das Kind kam herbeigelaufen und wollte ihr ein Spielzeugauto zeigen. „Jetzt nicht“, sagte sie gereizt, nahm ihn an der Hand und ging mit ihm in den Nachbarraum.
Wenig später kehrte sie zurück.
Sie strich sich das Haar zurück und vermied den direkten Blickkontakt. Vorsichtig schloss sie die Tür zum Nachbarzimmer hinter sich. „Also gut“, sagte sie schließlich. „Ich werde aussagen. Alles, was ich weiß – aber nur dann, wenn nichts an der Besuchsregelung geändert wird!“
„Das liegt erstens nur bedingt in unserer Hand und zweitens geschieht das auch nur, falls sich die Verdachtsmomente gegen Shane Kimble erhärten sollten“, antwortete Clive.
Orry fragte: „Warum legen Sie eigentlich so großen Wert auf den Kontakt Ihres Sohnes zu Kimble?“
„Er ist sein Vater.“
„Aber finden Sie, dass ein Gang Leader aus der Bronx das richtige Vorbild für ihn ist? Er wird größer werden und Fragen stellen.“
„Das wird er so oder so“, murmelte Teresa Johnson ziemlich niedergeschlagen. Sie machte eine ausholende Handbewegung. „Das alles hier ist ziemlich teuer. Shane zahlt zwar Unterhalt für den Kleinen, aber das würde nicht mal reichen, um sich in irgendeinem Rattenloch in der Bronx einzuquartieren. Solange ich ihn regelmäßig mit dem Jungen besuche komme, fließt genug Geld, um das alles hier zu unterhalten.“
„Shane Kimble ist pleite“, sagte Orry kühl. „Sein Vermögen wurde eingezogen, weil es aus Drogengeschäften stammte!“
Sie zuckte die Schultern. „Ich weiß nicht, woher das Geld letztlich kommt. Ich weiß nur, dass es regelmäßig fließt und das genügt mir.“
„Und was ist mit der Waffe?“, fragte Clive. „Sie sollten uns dazu auch etwas sagen.“
Sie zögerte noch, biss sich auf die Lippen und begann schließlich stockend: „Shane hat die Waffe an Dustin Jennings weitergegeben – und zwar mit dem Auftrag, sie verschwinden zu lassen.“
„Das hat Shane Kimble Ihnen erzählt?“, hakte Clive nach.
Sie schüttelte den Kopf. „Nein, ich war dabei und habe es selbst mit angehört.“
„Aber Jennings hat die Waffe offensichtlich nicht verschwinden lassen.“
„So muss es gewesen sein.“
„Nun hat aber Jennings keinerlei Anlass, Longoria den Tod zu wünschen. Schließlich verschaffte der Staatsanwalt ihm durch sein Angebot die Möglichkeit, schon nach relativ kurzer Zeit wieder das Gefängnis zu verlassen!“
„Ich kann Ihnen dazu nicht mehr sagen! Jennings sollte die Waffe verschwinden lassen. Es war nicht das erste Mal, dass er für Shane die Drecksarbeit gemacht hat. Aber offensichtlich hat sich Jennings überlegt, dass er die Waffe besser aufbewahrt!“
„Warum hat er das getan?“, fragte Orry.
„Zwei Wochen nach dem Prozess hat Jennings mich aufgesucht.“
„Was wollte er von Ihnen?“
„Ich sollte Shane sagen, dass er die Waffe hätte und dass er dafür gesorgt hätte, dass sie sofort auftaucht, sobald ihm was passieren würde.“
„Er hat also Angst gehabt, dass Kimble ihn aus dem Gefängnis heraus ermorden lässt!“
„Ja. Seine Anwälte haben Shane Hoffnungen im Hinblick auf eine Revision auf Grund ungenügender Beweiswürdigung gemacht und meinten, dass er vielleicht doch noch mal etwas glimpflicher davonkäme. Aber wenn die Waffe aufgetaucht wäre, hätte er das vergessen können. Wahrscheinlich waren sogar seine Fingerabdrücke darauf. Kein Richter der Welt hätte ihm dann noch irgendeinen Strafnachlass gegeben. So lange die Waffe verschwunden blieb, war es ein schwaches Indizienurteil, das vielleicht zu kippen war.“
„So schwach kann dieses Urteil nun auch wieder nicht gewesen sein“, gab Clive zu bedenken. „Immerhin wurde die Revision schon bei der Anhörung vor der Grand Jury niedergeschlagen.“
11
Milo und ich hatten eigentlich vorgehabt, uns in der South Bronx nach Dustin Jennings umzusehen.
Aber ein Anruf aus dem Field Office warf das fürs Erste über den Haufen.
Es war Mister McKee persönlich, der sich am anderen Ende der Leitung meldete. Wir hatten die Freisprechanlage auf ‚laut’ geschaltet, sodass wir beide mithören konnten.
„Die Vernehmung von Dustin Jennings werden Sie ein paar Stunden verschieben müssen“, meinte Mister McKee. „Das muss warten. Ich brauche Sie beide zunächst in Yonkers.“
„Was ist passiert?“, fragte ich nach.
„Auf einem Parkplatz am Madison Expressway ist von den Kollegen der Highway Patrol ein Wagen aufgefunden worden, bei dem es sich wahrscheinlich um den BMW handelt, der bei dem Attentat auf Longoria an der Transverse Road No.1 als Fluchtfahrzeug benutzt wurde. Sie beide sind von unseren Agenten am nächsten dran. Sehen Sie zu, dass mit diesem Wagen kein Unsinn geschieht, bis die Erkennungsdienstler vor Ort sind. Die können ihn dann meinetwegen bis zur letzten Schraube auseinander nehmen.“
12
Als wir an dem von Mister McKee angegebenen Parkplatz ankamen, waren die Kollegen der Highway Patrol bereits etwas ungeduldig.
Die beiden Officers, die hier Dienst taten hießen Naismith und O’Bannon.
Wir zeigten ihnen unsere Ausweise.
„Der Wagen ist in der Liste der gestohlenen Fahrzeuge verzeichnet“, sagte O’Bannon. „Eine Halterabfrage ergab, dass er einem gewissen Timothy Allen Garner aus Riverdale gehört.“
„Wir nehmen an, dass es sich um das Fluchtfahrzeug handelt, das beim Mordanschlag auf Staatsanwalt Longoria verwendet wurde“, erklärte ich. „Der erste Teil des Kennzeichens, den sich ein Zeuge merken konnte, stimmt jedenfalls – und die Typenbezeichnung auch.“
O’Bannon nickte leicht.
„Sie haben Recht, dass sind ein paar Zufälle zuviel, würde ich sagen.“
„Ich hoffe, Sie haben nicht versucht, den Wagen zu öffnen.“
„Nein, wir haben nichts angerührt.“
„Am Tatort konnte ein Reifenprofil sichergestellt werden“, mischte sich Milo ein. „Sollte es übereinstimmen, dann ist es der Wagen, den wir suchen – und vielleicht haben wir dann irgendeine mikroskopisch kleine Spur, die uns am Ende zu den Tätern führt.“
„Ich nehme an, wir werden dann nicht mehr gebraucht“, glaubte Naismith.
„Nein. Haben Sie vielen Dank für Ihre Unterstützung. Wir übernehmen von jetzt an.“
Die beiden Highway Patrol Officers schwangen sich auf ihre Motorräder und brausten davon.
Es dauerte eine Weile, bis die Kollegen von der SRD eintrafen. Eigentlich gehörte Yonkers nicht mehr zu ihrem unmittelbaren Einsatzgebiet, aber es kam auch in anderen Fällen durchaus zur Amtshilfe für das Yonkers Police Department. Der Wagen wurde fachmännisch geöffnet und anschließend von den Kollegen nach Spuren untersucht. Jeder noch so kleine Essensrest, jede Haarfaser, buchstäblich jeder Krümel wurde unter die Lupe genommen. Natürlich wurde vor allem nach DNA-Material gesucht, das der Täter vielleicht hinterlassen hatte.
Es reichte, kräftig zu niesen, etwas Haut unbemerkt abzuschürfen oder ein Haar zu verlieren, um genug Material für einen Test zu hinterlassen. Durch die neuen Polymerisationsverfahren konnten auch winzigste DNA-Reste im Labor zu Kulturen herangezüchtet werden, die dann für die herkömmlichen Tests ausreichen.
In diesem Fall mussten später Genproben vom rechtmäßigen Besitzer des BMW, seiner gesamten Familie und allen anderen genommen werden, die möglicherweise Gen-Material im Wagen zurückgelassen hatten, um deren DNA ausschließen zu können.
Dr. Jack Strencioch leitete die SRD-Untersuchung vor Ort und setzte uns genauestens auseinander, was alles noch an Verfahren in diesem speziellen Fall angewendet werden musste.
„Rechnen Sie nicht allzu schnell mit einem Bericht“, meinte er. „Selbst, wenn wir mit Hochdruck daran arbeiten und diesem Fall Priorität einräumen. Allein das Ausschließen sämtlicher Spuren von Personen aus dem Umkreis des rechtmäßigen Besitzers kann sich ziemlich hinziehen, wenn wir nicht alle in Frage kommenden Probanden antreffen. Die Ferienreise eines guten Bekannten, der aber öfter mal mitgefahren ist, kann uns lange aufhalten, wenn Sie verstehen, was ich meine.“
„Wir wären Ihnen auch schon dankbar, wenn Sie die Ergebnisse kleckerweise an uns weiterleiten würden“, erwiderte ich.
Die Erstuntersuchung zog sich ziemlich in die Länge. Ein paar Haare waren sorgfältig eingetütet worden. Die Ausbeute schien auf den ersten Blick nicht groß. Wenn es die Haare des rechtmäßigen Besitzers waren, konnten wir nichts damit anfangen, aber falls sie einem der beiden Täter gehörten, waren sie vielleicht der Schlüssel zu dem ganzen Fall. Dasselbe galt für das Kaugummi, das jemand unter den Sitz geklebt hatte, die Reste einer Mentholzigarette, die im Aschenbecher zu finden gewesen waren und eine kleine Blutspur, die sich auf dem Boden auf der Fußmatte befand.
Ein Abschlepp-Team zog den BMW schließlich auf seine Rampe. Von dort aus ging es direkt in die Labors der SRD.
„Wir sehen uns jede Schraube an dem Wagen an“, versprach Jack Strencioch. „Staatsanwalt Longoria war ein toller Mann. Nicht nur, dass er sich als Staatsanwalt für das Recht einsetzte – auch in seiner Freizeit war er noch für in Not geratene Verbrechensopfer tätig. Wussten Sie, dass er im Vorstand einer Stiftung war, die sich für solche Fälle stark machte?“
„Die LIGA FÜR RECHT UND ORDNUNG“, nickte ich.
„Ja – ich habe mir ein Spendenformular geholt, als ich davon gehört habe. Ich denke, dass hätte Mister Longoria gerne gesehen. Leider können wir ansonsten ja nicht mehr viel für ihn tun.“
„Wir können seinen Mörder dingfest machen“, erwiderte ich.
13
Milo und ich waren etwas später auf dem Weg in die South Bronx, als uns Clive über die Ergebnisse der Vernehmung von Teresa Johnson informierte.
Der Druck, Dustin Jennings so schnell wie möglich aufzutreiben, war durch die dabei ermittelten Fakten noch gestiegen.
Milo hatte die Freisprechanlage laut geschaltet, sodass wir beide mithören konnten.
„Wenn ihr mich fragt, dann hat dieser Jennings irgend ein schmutziges Spiel gespielt, bei dem Shane Kimble auf der Strecke bleiben sollte!“, meinte Clive. „Und der konnte natürlich nichts sagen, denn wenn die Waffe aufgetaucht wäre, hätte er seine letzten Chancen verspielt, in einer Revision besser wegzukommen!“
„Diese Chancen waren doch ohnehin nur minimal“, meinte Milo. „Longoria hatte gute Arbeit geleistet. Ich habe einen Blick in die Urteilsbegründung geworfen. Die Waffe war wirklich das einzige, was fehlte – aber die Indizienkette war auch so wasserdicht genug, um Kimble lebenslang hinter Gitter zu bringen. Dieser Gang Leader ist gegen Freund und Feind rücksichtslos vorgegangen, wenn es um die Durchsetzung seiner zwielichtigen Geschäftsinteressen ging. Mein Mitleid hält sich da in Grenzen!“
„Ich wollte aus Kimble auch weiß Gott kein Unschuldslamm machen“, stellte Clive klar. „Im Übrigen verfügt er selbst aus dem Knast heraus immer noch über immense finanzielle Mittel, wenn man bedenkt, welchen Luxus er allein der Mutter seines Kindes bieten kann!“
„Wäre sicher interessant, den Weg dieses Geldes zurückzuverfolgen“, meinte ich. „Wenn tatsächlich ein Killer engagiert wurde, dann kostet das schließlich auch eine Menge Geld…“
„Ich habe schon mit Max gesprochen. Unsere Innendienstler machen sich an die Arbeit.“
„Auf jeden Fall kann jemand, der trotz der Beschlagnahmung seines Vermögens noch eine Frau und ein Kind in Luxus leben lässt, ohne dass da die Steuerfahndung oder sonst wer misstrauisch wird, es wohl auch hinbekommen, einen Killer zu engagieren, der den Staatsanwalt niederstreckt!“, glaubte Milo.
„Das sehe ich genauso“, meinte Clive.
Er beendete einen Moment später die Verbindung.
„Du siehst ziemlich skeptisch aus“, meinte Milo.
„Irgendwie glaube ich noch nicht, dass wir den richtigen Ansatzpunkt in diesem Fall haben, Milo.“
„Du siehst die Sache zu schwarz. Ich denke, wenn wir Jennings haben, wird sich einiges von selbst klären.“
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