Читать книгу Ende einer Ehe - Adrian Ambrer - Страница 9

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Die zweite Kladde

Pünktlich landete die Chartermaschine aus Antalya auf dem Düsseldorfer Flughafen. Insgeheim hatte Ralf zwar gehofft, Sabrina würde ihn schon am Flughafen abholen, doch dass sie das nicht getan hatte, musste nichts bedeuten. Sabrina hasste Autobahnfahrten, und schließlich hatten sie auch vereinbart, sich im Haus zu treffen.

Er hätte schreien können vor Freude, als er vor dem Haus hielt und durch die Gardinen sah, dass jemand im Wohnzimmer war. Aber als die Haustüre geöffnet wurde, stand Birgit, die Nachbarin, mit einem betroffenen Gesicht im Türrahmen und hielt eines der vier Kätzchen im Arm.

„Wo ist Sabrina?“ fragte Ralf statt einer Begrüßung.

„Sabrina kommt nicht. Sie war vor einigen Tagen hier, um sich weitere Sachen abzuholen.“

Ralf wurde leichenblass. .

„Es tut mir leid für dich“, fuhr Birgit fort. „Aber ich glaube, du musst dich damit abfinden, dass sie nicht zurückkommt.“

Ralf blickte sie an. In seinen Augen stand das nackte Entsetzen. „Aber sie hat mir versprochen, mit mir heute zu reden. Sie hat versprochen, keine endgültigen Entscheidungen zu treffen.“

Birgit hob die Arme. „Ich weiß nicht, was sie dir versprochen hat. Aber mir hat sie am Telefon gesagt, dass es ihr so gut geht wie schon seit Jahren nicht mehr. Ihre Beschwerden und Schmerzen sind verschwunden, sie kann wieder essen und trinken, was sie möchte. So hart es klingt, ich sage es dir, wie sie es mir gesagt hat: indem sie dich und dieses Haus verlassen hat, ist sie gesund geworden.“

Ralf wandte sich ab, weil er fürchtete, in Tränen auszubrechen. Sein Mund war pelzig und trocken. Er schluckte.

„Geht es dir gut?“ fragte Birgit. „Kann ich etwas für dich tun?“

„Bitte bring´ mir ein Glas Wasser“, bat Ralf, während er sich hinsetzte.

Aber auch das Wasser nützte ihm nichts, denn die schlimmste aller denkbaren Varianten war eingetroffen. Sie hatte ihn endgültig verlassen, die Faktenlage war klar, eine Aussprache war nicht mehr erforderlich.

„Bitte, lass mich allein, Birgit.“

Birgit stand auf und blickte ihn an. „Kann ich wirklich jetzt gehen? Oder soll ich nicht doch lieber Klaus-Peter rufen?“

Klaus-Peter war ihr Lebenspartner, auch einer der Freunde, die Ralf und Sabrina im Dorf gefunden hatten und die nun zu Zeugen seiner Vernichtung wurden. „Nein, es geht schon. Ich muss jetzt nur alleine sein.“

„Wir sind immer für dich da, wenn du jemanden zum Reden brauchst“, sagte Birgit. „Du kannst auch abends jederzeit zu einem Glas Wein oder einem Schnaps vorbeikommen. Das ist ehrlich gemeint, hörst du?“

„Danke Birgit, ich fürchte, ich werde darauf zurückkommen.“

Nachdem Birgit gegangen war, blieb Ralf sitzen und weinte. Diesmal waren die Tränen keine Erleichterung sondern die Begleiterscheinungen eines Schmerzes, von dem er schon jetzt spürte, dass er lange dauern würde. Alle Kraft war aus seinem Körper gewichen, und ohne dass er es merkte, rutschte er vom Stuhl und blieb zusammengekrümmt auf dem Teppich liegen.

Ablenkung um jeden Preis - das war die Maxime, mit der Ralf versuchte, die nächsten Tage zu überstehen. Joggen, Krafttraining, Flanieren, Cabriofahren, Einkaufen, Imkaffeehaussitzen, Reden, Schimpfen, durch die Parks laufen oder sich sinnlos in irgendwelchen Schlangen anstellen - jede Aktivität war willkommen, wenn sie sich nur in der Öffentlichkeit abspielte und dazu beitrug, dem Schmerz zu entgehen. Sein Leben nahm die Gestalt einer einzigen Fluchtbewegung an, deren Logik darin bestand, keine Sekunde zur Ruhe oder zum Denken zu kommen.

Doch es nutzte nichts.

Je hektischer er sich gebärdete, desto intensiver nistete sich der Schmerz bei ihm ein. Er war immer bei ihm, er war der Herrscher seiner Zeit, der sich austobte, wann er wollte - am Morgen eher als am Nachmittag, in der Gesellschaft von Menschen ebenso wie alleine. Der Schmerz durchdrang und überwölbte alles, er war die Membrane seiner Welt, und in den schwärzesten Minuten war es ihm, als erspürte er hinter seinem Schmerz die Gestade des Wahnsinns.

Ralf verfügte keinerlei Erfahrung im Umgang mit Angst und Verlust, denn sein Leben hatte sich bislang als überwiegend schmerzfreie Zone dargestellt, als ein Raum der Hobbies und Passionen, in der die spärlichen Zeiten des Liebeskummers wie ein Sommergewitter schnell und folgenlos vorüberzogen. Immerhin erinnerte er sich, dass es in Perioden des moderaten Kummers, die es auch in seinem Leben gegeben hatte, vor allem auf Selbstbeherrschung angekommen war, auf Fasson und Disziplin, was die täglichen Routinen anbelangte, auf die Eingewöhnung in neue Korsette für Alltag und Zeit, auf Gleichförmigkeiten und Refugien der Entspanntheit, in denen das seelische Neufett wachsen konnte, dass seinen Kummer überwuchern würde. Das hatte in der Vergangenheit gereicht, aber Ralf wusste, dass es diesmal viel schwerer werden würde, in die Normalität zurückzufinden. Er würde zum Herrn seiner Gedanken werden müssen, zum Regisseur seiner Assoziationen, die schweifen sollten, wohin sie wollten, nur nicht zurück in die glücklichen Jahre seiner Ehe. Die erste Regel, die er sich auferlegte, lautete deswegen: niemals eine angenehme Erinnerung an Sabrina an die Oberfläche des Bewusstseins treten lassen, und sofort an etwas anderes denken, sobald Anwandlungen dieser Art auch nur von Ferne erkennbar wurden. Regel zwei: wenn er schon an Sabrina denken musste, dann nur in widerwärtigen Kontexten, was ihm aber am Anfang praktisch nicht möglich war, denn ohne dass er es verhindern konnte, überfielen ihm immer neue Erinnerungen an die guten Jahre seiner Ehe: er sah seine Frau als Königin der Tafel im Kreise seiner Freunde, er sah sie mit einem Glas Sekt in der Hand lächelnd am Kamin sitzen, oder - was noch schrecklicher war - es drängten sich Bilder ihrer Zärtlichkeit mit unwiderstehlicher Macht in sein Bewusstsein.

Kaum weniger peinigend als der Kampf um die Herrschaft über seine Gedanken war der tägliche Kampf um den Schlaf. Sobald er lange nach Mitternacht die Müdigkeit in sich spürte und das Licht löschte, um in den Schlaf zu flüchten, brach seine Gedankenkontrolle zusammen, und er wurde mit einem Schlag hellwach. Ralf fürchtete sich jeden Abend vor diesem Wettstreit von Erschöpfung und Schmerz, den mal die eine, mal die andere Seite gewann. Selten gelang es ihm in den Nächten länger als drei oder vier Stunden zu schlafen. Er wurde regelmäßig lange vor Morgengrauen wach, durchlebte einige Sekunden lang eine selige Erinnerungslosigkeit zwischen Tag und Traum, ehe der Schmerz zurückkehrte und er in seine Joggingsachen springen und wie von Furien gehetzt aus dem Haus rennen musste. Er rannte durch den Wald, umrundete den benachbarten See, hörte sein asthmatisches Keuchen, spürte seine Knie und seinen Rücken und wartete darauf, dass das Ausmaß der körperlichen Erschöpfung den Schmerzpegel seines Kummer übertraf.

Wenn er mit dem Wagen zur Schule fuhr, kehrte der Schmerz gewöhnlich zurück, zuerst als eine Hitzewallung, dann als ein Ziehen im Unterleib, schließlich als ein Zusammenpressen und Verknoten seiner Innereien. Ein fräsendes Unbehagen okkupierte jeden Winkel seines Körpers, wurde von Stunde zu Stunde intensiver und quälender, während sein Herzschlag zuerst lauter und dann so unregelmäßig wurde, dass er fürchtete, sein Herz würde einfach stehen bleiben. Manchmal, wenn der Kummer am Mittag über ihn triumphierte, verschwanden Gesichter und Gestalten, Gerüche und Geräusche aus seinem Wahrnehmungsfeld, und er wurde zu einem elenden Leidbündel, zu einer weltlosen Monade und schnappte nach Luft, als drohe er zu ersticken. In solchen Augenblicken setzte er sich einfach auf den Boden oder auf eine Bank, oder, wenn die Kräfte noch reichten, lief er in ein Warenhaus, um irgendetwas einzukaufen, weil ihm der Erwerb einer neuen Hose oder eines neuen Hemdes minutenweise Erleichterung verschaffte. Es dauerte nicht lange, da hat er sich ohne Rücksicht auf seinen Kontostand vollkommen neu eingekleidet, und er hätte mit seinen neuen Schuhen, Hemden, Hosen und Jacketts einem Gigolo geglichen, wäre er nicht mit dem Gesicht eines Verzweifelten durch die Straßen gelaufen

Da er seit dem Ausbruch der Krise kaum noch aß, hatte er so radikal abgenommen, dass seine Freunde erschraken, wenn sie ihn sahen. Die körperlichen Strapazen der endlosen Waldläufe, der Energieaufwand seiner immerwährenden Gedankenkontrolle und das Schlafdefizit hatten zu einer physischen Erschöpfung geführt, die sich in Zittern, Halluzinationen und Tagträume manifestierte. Auf den langen Autofahrten zwischen der Schule und dem Bergischen Land überfielen ihn Anfälle überwältigender Müdigkeit, verbunden mit dem grotesken Wunsch, einfach am Rande der Autobahn anzuhalten und einzuschlafen.

Mitunter wurde diese Müdigkeit durch einen Mitteilungsdrang ersetzt, der Ralf selbst befremdete. Ohne dass er selbst in der Lage gewesen wäre, diese Anwandlungen zu kontrollieren, überkamen ihn Anfälle einer suadahaften Geschwätzigkeit, die Ralfs Freunde, so gut es ging ertrugen. Manch einer, wie Karl Schneider, der als Broker bei einer Direktbank arbeitete, empfahl ihm eine Psychotherapie, und sein Kollege Rille, ein knochentrockener Germanist, der sich weigerte, in seiner Freizeit etwas anderes als die deutschen Klassiker zu lesen, zitierte gar Goethe: „Einst hat ich eine Liebe – schweig still, und ertrag den Verlust.“ Carla und Tobias boten ihm an, ihn jeden Sonntag zu bekochen, damit er die langen Wochenenden besser ertrüge, und Martin aus Pulheim wollte sich als Schachpartner zur Verfügung stellen, ohne zu bedenken, dass es für den Liebeskranken kaum etwas Fremderes gibt als Damen-Gambit und Sizilianische Eröffnung. Wolfgang Schnute, ein ehemals erfolgreicher Malerfürst der „Neuen Wilden“ wollte ihn zum Zeugen seiner tragischen Kunst erheben, doch Ralf zog es vor, lieber in der Sommerhitze Wolfgangs Hof und seinen Carport auszumisten.

Eine Partnerschaftsanzeige in einer Zeitung oder einem Internetportal aufzugeben – das war der Rat, den ihm Norbert Kürter gab, ein mit allen Wassern gewaschener Womanizer, der auf diese Weise schon seit Jahren seine Partnerinnen rekrutierte. Bei einem gemeinsamen Frühstück im Stadtgarten gab er sich alle Mühe, Ralf die Vorzüge dieser Methode der Kontaktanbahnung nahe zu bringen. „Es ist so einfach“, sagte er, während er herzhaft in sein Salamibrötchen biss, „du rufst einfach nur den Kölner Stadtanzeiger oder die Rheinische Post an, trittst bei Parship oder Elite-Partner ein, gestaltest deine Präsentation, und alles geht seinen Gang.“

„Was soll das heißen: alles geht seinen Gang?“

„Na, dann erhältst du Dutzende Anfragen über dein Partnerschaftsportal, oder dein Briefkasten quillt über vor lauter Chiffre-Briefen. Und dann hast du die Qual der Wahl“, erwiderte Norbert Kürter und rollte mit den Augen, als überlege er, ob auch stimmte, was er sagte. „Es wird sicher nicht gleich der Hit dabei sein, aber du bist abgelenkt, und darauf kommt es doch im Moment vor allem an. Oder?“ Norbert Kürter lehnte sich zurück und zuckte mit den Schultern. „Das ist mein Rat“ schloss er. „Mach´ was draus.“

Als Ralf in seine Wohnung zurückkehrte. wählte er die Nummer der Anzeigenaufnahme des Kölner Stadtanzeigers.

„Welche Art Anzeige darf es denn sein?“ fragt die Dame am anderen Ende der Leitung.

„Ich würde gerne eine Partnerschaftsanzeige aufgeben.“

„Haben Sie sich denn schon einen Text überlegt?“

Ralf hatte keinen Text vorbereitet. Was konnte er schon schreiben, wenn er nicht lügen wollte?

„Haben Sie nun einen Text?“

„Ja. Miserabel aussehender vollkommen erledigter Liebeskranker ohne jede Hoffnung und Perspektive sucht Heilung bei einer Frau, die nicht sofort in Ohnmacht fällt, wenn sie ihn sieht.“

„Wie bitte?“

„Bitte verzeihen sie“, bat Ralf. „Es war ein Versehen.“ Er legte auf.

Schließlich war er mürbe und bereit, zu kapitulieren Es war Donnerstag, das Wetter war zum Knochenerweichen grandios, alle Farben des Bergischen Landes fluoreszierten im prallen Sonnenlicht, als Ralf einen gigantischen Strauß roter Rosen erwarb. Mit diesem Strauß fuhr nach Wipperfürth, um Sabrina in ihrem Geschäft zu besuchen, nicht ohne vorher einen Liebesbrief zu verfassen, in den er so gut er es vermochte, die Quintessenz seiner Sehnsucht hineinlegte. Einen ganzen Tag lang hatte er an diesem Elaborat gefeilt, den Text immer aufs Neue geändert, als wäre sein Lebensglück eine Funktion von Satzlänge, Wortwahl und Interpunktion. Er hatte den Brief damit begonnen, dass er sie für alle seine Fehler um Verzeihung bat und die ersten Jahre ihrer Ehe beschwor, hatte jeden Absatz des Briefes mit Einsicht und Selbstkritik durchtränkt und die kühne These entwickelt, dass er ihren Ehebruch, den er natürlich nicht als solchen bezeichnete, nicht nur als Desaster sondern auch die einzige Chance betrachte, die ihnen geblieben war, um mit Aussicht auf Erfolg einen ehelichen Neuanfang zu wagen. So weit, ihr für ihren Ehebruch zu danken, ging er zwar nicht, doch wollte er ihn im Zusammenhang mit einer Totalerneuerung ihrer Ehe sehen. „In wenigen Tagen jährt sich unser Hochzeitstag zum vierten Male“, schrieb er in der letzten Zeile. „Komm zurück und lass uns eine zweite Hochzeit feiern.“

Als er mit Strauß und Brief in der „Oase“ aufkreuzte, war sie nicht da. Ihre Aushilfe Frau Krein stand hinter der Theke, eine kleine freundliche Frau, die auf ihrer Hochzeit den Service organisiert hatte und die Sabrina schon seit Jahrzehnten kannte. Früher war sie einmal Kundin der „Oase“ gewesen, ehe ihr Mann gestorben war und sie ihre Rente dadurch aufbesserte, dass sie stundenweise in der „Oase“ arbeitete. Sie war zuverlässig und vertrauenswürdig und gehörte zu den wenigen Menschen, an denen Sabrina etwas lag, was durchaus auf Gegenseitigkeit zu beruhen schien. Es war also durchaus möglich, dass die grundgute Frau Krein viel mehr über die Details seines Verhängnisses wusste, als er selbst, und einen Augenblick dachte er daran, sie zu befragen. Aber was hätte er fragen können, was nicht indiskret und peinlich geklungen hätte?

Nach einem kurzen Zögern überreichte Ralf die Blumen und den Brief Frau Krein und bat sie, seine Frau zu grüßen. Frau Krein nickte, sagte aber nichts.

Ralf bedankte sich und ging zu seinem Wagen zurück. Vielleicht war Sabrina mit ihrem Geliebten schon wieder im Oldtimer unterwegs, und sie ließen es sich am Meer oder in den Bergen gut gehen, während er daheim schwachsinnige Briefe verfasste. Dafür sprach, dass er auch in den nächsten Tagen keinerlei Reaktion auf Blumenstrauß und Brief erhielt. Es war aus. Je eher er sich das eingestand, umso besser.

Nachdem er eine weitere Woche lang kaum geschlafen hatte, bemerkte er an einem Freitagmorgen zum ersten Mal, dass auch die Kammern des Kummers nicht unendlich waren. An diesem Morgen waren sie einfach leer, und er erlebte Stunden einer relativen Ruhe. Auch der Schmerz unterlag offenbar Rhythmen und Gezeiten, die Ralfs Verbündete werden konnten, wenn es nur gelang, ihre Gesetzmäßigkeiten zu ergründen. Die Gegenwart von Menschen tat meistens gut, wenngleich nicht immer. Erinnerten ihn Frauen an Sabrina, dann erreichte die Agonie neue Höhen. Wenn Passanten ihn nervten, fehlte ihm die Kraft zur Gelassenheit. Wahrscheinlich hatte auch die Nahrung Einfluss auf seine Befindlichkeit, doch er aß viel zu wenig, um darüber Genaueres herausfinden zu können. Konzentriertes Arbeiten war noch immer nicht möglich, und der bloße Gedanke, sich wie früher entspannt und heiter seinen Gedanken am Schreibtisch hingeben zu können, glich einer Utopie, doch es gelang ihm nun immer öfter, sich wenigstens für ein oder zwei Stunden an seinem Schreibtisch aufzuhalten, um die dringendsten Arbeiten durchzuführen.

Am Ende der vierten Woche nach der Trennung hatte er es zum ersten Mal gewagt, den ganzen Sonntag daheim zu bleiben. Es war schon Nachmittag, als das Telefon schellte.

Sabrina war am Apparat. Die Welt um Ralf verschwand sofort.

„Ich will zurückkommen“, sagte sie ohne Umschweife, und als er sprachlos blieb und nichts mehr sagen konnte, fügte sie mit Wärme und Freundlichkeit in der Stimme hinzu: „Schatz, es ist vorbei, ich komme wieder nach Hause. Du kannst mich morgen abholen. Ich muss heute Abend nur noch Manuel meinen Abschied schonend beibringen.“

Er vermochte noch immer nichts zu sagen. Sein Kopf war wie leergefegt.

„Bist du dir auch ganz sicher?“ fragte er schließlich.

„Ja. Hundertprozentig.“

„Gut, ich komme morgen gegen neunzehn Uhr in den Laden und hole dich ab. Und bitte, überleg es dir nicht wieder anders.“

„Nein, du kannst dich auf mich verlassen. Und wenn du willst, kannst du für unseren Hochzeitstag etwas Schönes vorbereiten.“

„Das mache ich. Ich freue mich so. Und glaub mir: alles wird gut.“

„Bis morgen, Ralf.“

„Bis morgen, meine Liebe.“

Als er aufgelegt hatte, war seine Stimmung gekippt. Was er nicht mehr zu hoffen gewagt hatte, war eingetreten, sie würde heimkehren. Irgendein deus ex machina hatte den Gang der Handlung verändert.

Er nahm sich eine Flasche Grappa aus dem Schrank und lief nach nebenan zu Klaus-Peter und Birgit, um den beiden die Neuigkeit zu erzählen.

Sie empfingen ihn freundlich, holten die Schnapsgläser aus dem Schrank und stellten Kekse auf den Tisch. Was die gute Nachricht jedoch betraf, blieben sie skeptisch.

„Sie kommt also zurück“, resümierte Birgit, als sie Ralfs Bericht gehört hatte. „Das erstaunt mich, wenn ich an das denke, was sie mir vor der Trennung erzählt hatte.“

Ralf hätte gerne gewusst, was Sabrina erzählt hatte, doch weil er sich sicher war, dass das keinesfalls etwas Freundliches hatte sein können, fragte er nicht nach.

„Männer kommen zurück“, sagte Klaus-Peter, während er drei Schnaps einschenkte. „Wenn Frauen aber gehen, ist die Liebe meistens zu Ende. So war es auch bei meiner Frau gewesen.“

Klaus-Peter war als Fleischermeister im gleichen Jahr nach Overath gekommen, in dem auch Sabrina und Ralf das Haus bezogen hatten, und was Ralf derzeit erlitt, hatte Klaus-Peter gleich nach seinem Umzug erleben müssen. Seine Frau, mit der er ein alteingesessenes Fleischereifachgeschäft übernommen hatte, wurde der Plackerei überdrüssig und brannte durch. Sie verließ Klaus-Peter nach einundzwanzig Ehejahren wegen einer Urlaubsbekanntschaft und zog zurück nach Köln. Klaus-Peter blieb alleine in Overath und erlebte den Niedergang des Geschäftes, den Rinderwahn, die Hühnerpest und welche Katastrophen in diesen turbulenten Jahren auch immer über die Fleischereifachwelt hereingebrochen waren.

Nun hob er das Glas und blickte Ralf an, der sich unbehaglich fühlte und sich gar nicht sicher war, ob er hören wollte, was Klaus-Peter nun sagen würde.

„Auch meine Frau kam mehrfach zurück“, fuhr Klaus-Peter fort. „Aber am Ende ist sie auch immer wieder gegangen, und schließlich ist sie für immer in Köln geblieben.“ Klaus-Peters gutmütiges Gesicht war ernst und traurig, diese Wunde würde für den Rest des Lebens nicht mehr geschlossen werden.

„Na ja“, wandte Birgit ein. „Das muss ja nicht immer so sein.“ Sie war eine herzensgute Frau in den Vierzigern, die sich auch nach zwei gescheiterten Ehen ihre mädchenhafte Ehrlichkeit bewahrt hatte. Nach zwei Jahren Einsamkeit hatte das Schicksal dem Fleischermeister Klaus-Peter die alleinstehende Birgit zugeführt, die nach einer kurzen, aber intensiven Phase der Freiung zusammen mit Mister Meier, einem irischen Wolfshund, und Miss Ellie, einer Schäferhündin, zu Klaus-Peter gezogen war.

„Allerdings kann ich auch Sabrina nicht mehr verstehen“, fügte sie hinzu. „Wenn eure Ehe so schlimm gewesen war, wie sie es mir immer erzählt hat, dann kann sie jetzt unmöglich zurückkommen. Und wenn sie nicht so schlimm gewesen ist, dass sie jetzt schon nach wenigen Wochen zurückkommen kann, dann hätte sie gar nicht auf diese Weise gehen dürfen.“

„Jede Geschichte ist anders“, sagte Ralf, dem die Vorbehalte von Klaus-Peter und Birgit nicht entgingen. „Kommt, lasst uns einen trinken und haltet mir die Daumen.“

Angetrunken und glücklich kam Ralf am späten Abend nach Hause. Der Druck auf Brust und Magen hatte sich gelockert, auch die Angst vor der Nacht war verschwunden, und er schlief tief und fest bis weit in den nächsten Morgen.

Doch schon am nächsten Morgen begann ihn die Befürchtung zu quälen, Sabrina würde anrufen und ihre Rückkehr wieder absagen. Bei jedem Telefonklingeln fuhr er zusammen und hoffte inständig, dass sie es nicht sei. Doch sie meldete sich nicht, und wie vereinbart fuhr er gegen Abend nach Wipperfürth, um sie abzuholen.

Doch schon als er das Geschäft betrat, erwartete ihn eine böse Überraschung. Er brauchte kein Wort von ihr zu hören, um zu erkennen, dass sie ihre Meinung geändert hatte.

„Ich weiß nicht, ob wir das richtig machen, ich weiß nicht, ob ich zurück kann, selbst wenn ich es wollte“, jammerte sie, während sie ihm einen flüchtigen Begrüßungskuss gab.

Ralfs Mund war sofort wie ausgetrocknet, er konnte kaum sprechen. Stattdessen nahm er sie in die Arme, doch sie war eine steife, kalte Puppe, die sich nicht rührte. „Was redest du da? Lass uns erst einmal nach Hause fahren.“

Als sie zu ihrem Wagen gingen, sah er, dass sie ihren alten und verschrammten Polo gegen einen schmucken Fiesta eingetauscht hatte, ein gepflegtes und blitzblank poliertes Fahrzeug, mit dem sie ihm so zögerlich hinterherfuhr, als wolle sie am liebsten wieder umkehren. Vor dem Haus in Overath weigerte sie sich, den Wagen hinter Ralfs Fahrzeug in die Garage zu stellen. Alle sahen es, und Ralf schämte sich vor den Nachbarn dafür, wie entschieden sie den Parkplatz für ein fremdes Auto einzig und allein unter dem Aspekt aussuchte, jederzeit und sofort wieder nach Wipperfürth zurückfahren zu können.

Als sie kurz darauf in der Bergischen Pfanne eine Kleinigkeit aßen, gab sie sich verschlossen wie eine Auster, sagte kein Wort und stocherte lustlos im Essen herum.

Ralf war ratlos. Nun war sie wieder da, und doch nicht da. Er wollte sie nicht bedrängen und schwieg auch seinerseits, so dass die Stimmung fast unerträglich wurde.

Schließlich berührte er sie am Arm und sie zuckte zusammen.

„Nein, bitte fass mich nicht an.“

„So kommen wir nicht weiter“, erwiderte Ralf, während er seine Hand zurückzog. „Wollen wir nicht reden? Vielleicht können wir das, was geschehen ist, vergessen, ich wäre bereit dafür.“

„Aber ich nicht“, gab sie sofort zurück. Ihre Apathie war dabei, in Feindseligkeit umzuschlagen. „Ich kann nichts vergessen.“

„Was habe ich denn eigentlich so Schreckliches verbrochen, dass du bei Nacht und Nebel mit zwei eilig gepackten Taschen aus dem Haus laufen musstest? Kannst du mir das einmal sagen?“

„Dass du das nicht weißt, sagt mir alles. Dass du das nicht weißt, zeigt mir, dass es keinen Sinn hat.“

Ralf hob die Hände. „Sinn hat es nur, wenn wir beide nach vorne blicken und uns ändern. Ich habe dir doch gesagt, wo ich meine Fehler sehe. Vielleicht kannst du dich auch ein wenig ändern, und dann schaffen wir es.“ Er hasste sich für diese windelweichen Sprüche, doch er wusste, dass sie sofort aufstehen und das Restaurant verlassen würde, wenn er etwas anderes sagen würde.

„Ich brauche mich nicht zu ändern“, zischte Sabrina. „Immerhin gibt es jemanden, der mich so liebt, wie ich bin.“

Ralf fühlte, wie sich die Verzweiflung wieder in ihm ausbreitete. Aber er wollte nicht aufgeben. „Ich bin bereit mich zu ändern“, wiederholte er. „Ich habe für meine Fehler in den letzten Wochen reichlich gebüßt. Willst du denn das nicht wenigstens anerkennen?“

„Was passiert ist, war die gerechte Strafe für dein saumäßiges Verhalten im letzten Jahr unserer Ehe. Das hast du verdient! Ja, wenn ich ehrlich bin: ich habe ich dir diesen Schmerz gegönnt, denn du hast während unserer Ehe auch nicht nach meinem Schmerz gefragt.“

„Ich kann mich nicht daran erinnern, dich betrogen zu haben.“

„Betrogen vielleicht nicht - vielleicht sage ich, denn wer weiß das schon? Aber meine Verlassenheit war dir nicht einmal ein Achselzucken wert. Es war die Hölle für mich. Ich lief monatelang weinend mit dem Hund durch den Wald, weil ich nicht weiter wusste vor Verzweiflung, und du hast nichts gemerkt.“

Ralf schob den Teller von sich, er bekam keinen Bissen mehr herunter. „Ich habe durchaus bemerkt, dass etwas nicht stimmte. Aber das war nicht alleine meine Schuld, und außerdem hatten wir vereinbart, im Urlaub über alles zu reden. Weißt du das nicht mehr? Zwei Tage vor dem Urlaub bist du ohne Warnung abgehauen.“

„Zu Recht bin ich abgehauen. Aber Manuel verlasse ich jetzt zu unrecht. Dass er nun leidet, ist ungerecht. Das hat er nicht verdient.“

Pause. Ralf schloss die Augen.

„Es war so schön, jemanden zu haben, der mir zuhörte und mit dem ich reden konnte“, sagte sie, während sie den Teller an den Rand des Tisches schob. „Das ist auch etwas, was mit dir unmöglich war. Dein hochgestochenes Geschwafel war am Ende kaum noch zu ertragen. Dr. Sani vorne, Dr. Sani hinten, und alles nur heiße Luft, kein Quäntchen Gefühl, du furztrockener Kopfmensch.“

Ralf schwieg, griff in die Jackentasche und zahlte.

Als sie nach dem Essen heimfuhren, rechnete er damit, dass sie noch am gleichen Abend nach Wipperfürth zurückkehren würde. Tatsächlich stieg sie sofort in ihr Auto, kramte ihr Handy aus der Tasche und rief in Wipperfürth an.

Ralf ging ihr nach, öffnete ihre Wagentüre, weil er den Augenblick seiner Niederlage sehen und hören wollte. Er hatte die Empfindung, dass hier etwas geschah, das er sein Leben lang nicht vergessen würde.

„Mein Gott, mein Gott“, wiederholte sie immer wieder, während ihr Gesprächspartner am anderen Ende der Leitung ununterbrochen sprach.

„Nein!“ rief sie. „Nein, tu das nicht. Wenn du das tust, siehst du mich nicht wieder!“

Ende des Gespräches.

„Was ist passiert?“ fragte er.

„Manuel ist dabei, seine ganze Wohnung kurz und klein zu schlagen. Er ist vollkommen betrunken und außer sich.“ Sabrina war fassungslos, aber auch alarmiert. Sie war in ihrem Leben von betrunkenen Männern schon zu oft geschlagen worden, um nicht über solche Exzesse zu erschrecken.

Sie überlegte einen Augenblick und schüttelte den Kopf. „Er ist ein Chaot, es geht nicht anders.“ Sie griff zu ihren Taschen, die noch immer auf dem Rücksitz lagen, und folgte ihm ins Haus.

In der Nacht lag Ralf wie ein Aussätziger neben ihr, während sie sich sofort verkrampfte, sobald er sie auch nur zufällig berührte. Mal weinte sie über den Liebeskummer, den der verlassene Manuel nun ertragen musste, mal klagte sie über heftige Schmerzen im Unterleib, gerade so, als sei ihre Krankheit noch immer der sicherste Schutzwall gegen jede Zudringlichkeit von seiner Seite.

Immerhin versprach sie ihm beim Frühstück, sich übermorgen zum Hochzeitstag ins Romantikhotel einladen zu lassen. Und als Ralf das Haus verließ und in die Schule fuhr, rief sie ihm hinterher: „Fahr vorsichtig!“

Zwei Tage später fuhren Ralf und Sabrina in strömendem Regen zur Feier ihres Hochzeitstages zum Romantikhotel „Haus Platte“ ins Sauerland. So eisern sie auf körperlichen Abstand achtete, so unverkennbar hatten sich ihre Umgangsformen gemäßigt: in den letzten beiden Tagen hatte sie sich weder ungeduldig noch reizbar gezeigt, sie hatte höflich geantwortet, und wenn sie etwas nicht verstanden hatte, fragte sie nach, was sonst nicht ihre Art war. Zweimal hatte sie ihn sogar angelacht, so dass in ihm die Hoffnung keimte, die Übernachtung im Romantikhotel würde die Wende bringen.

Tatsächlich ließ sich auch alles gut an. Das Zimmer im „Haus Platte“ war groß, das Vier-Sterne-Menü ausgezeichnet, doch als Ralf nach dem Essen auf dem Zimmer die Flasche Champagner öffnen wollte, stieß er auf eisige Ablehnung. Sie zuckte zusammen, wie eine gequälte Raupe, als er nach ihr griff.

„Ich kann einfach nicht“, wimmerte sie. „Bitte, versteh das. Es ist unmöglich.“

Inzwischen war es Mitternacht im Romantikhotel geworden. Der Hochzeitstag ging zu ende, draußen hob ein Sturm an, und die Blätter der Bäume vor dem Hotel rauschten wie eine schaurige Begleitmusik zu dem Trauerspiel, das sie in ihrem Zimmer erlebten.

Sabrina wischte sich die Tränen von den Wangen und blickte ihn an. Sie hatte sich wieder beruhigt und schien nun entschlossen, zu sagen was Sache war. „Ich will dir nichts vormachen und ganz offen sein“, begann sie. „Dass mit uns beiden sexuell jemals wieder etwas laufen könnte, halte ich für ausgeschlossen. Wenn du auf irgendeine Frau scharf bist, dann tu dir keinen Zwang an.“

Ihre großen braunen Augen waren mit einer Mischung aus Mitleid und Neugierde auf Ralf gerichtet, als erwarte sie, dass er nach diesen Worten sofort Hotel und Bett verlassen und das unwürdige Hochzeitstagsgewürge beenden würde. Ralf senkte den Kopf und drehte sich um. Dann ging er in seiner Verzweiflung ins Badezimmer und verschaffte sich mit der Hand Erleichterung, so dass er wenigstens in der Nacht einige Stunden schlafen konnte.

Lange vor Morgengrauen wachte Ralf wieder auf und blickte auf Sabrinas abgewandten Körper im Hotelbett. Wieso war diese Frau für ihn den Inbegriff des Glücks und der Erfüllung? Er spürte, dass er von einer Art Wahnsinn ergriffen war, von einer Verhexung durch die Vergangenheit, die ihm die Gegenwart auf lange Zeit vergällen würde. Die glücklichen ersten drei Jahre ihrer Ehe steckten ihm wie ein Messer im Körper, während für sie nichts anderes zählte als die Erinnerung an die letzten achtzehn Monate, die der derzeitigen Krise vorausgegangen waren. Wir unterscheiden uns nicht durch unseren Charakter, sondern durch die Zeit, die in uns steckt, dachte Ralf.

Nach einem quälend langen Tag, an dem nur der reichlich ausgeführte Hund seine Freude hatte, kamen sie am frühen Nachmittag wieder nach Hause. Kaum in Overath angekommen begann sie die finale Aussprache. „Ich gehe zu Manuel zurück. Ich kann nicht anders“, sagte sie, während sie im Schlafzimmer ihre Taschen packte.

Ralf saß auf dem Bett und beobachtete, wie seine Frau ihren endgültigen Auszug vorbereitete. „Du wirfst das Beste weg, was Du in deinem Leben je gehabt hattest“, sagte er bitter. „Wie kannst du nur am Montag anrufen und deine Rückkehr ankündigen, um dann ein paar Tage später schon wieder zu verschwinden? Das bricht mir das Kreuz. Ich weiß nicht, wie ich das überstehen soll.“ Er hätte sich anspucken können für seine Worte, die Stunde des Selbstmitleides war gekommen.

„Ich kann nicht anders“, wiederholte sie und begann zu weinen.

„Du kannst nicht anders, weil du mich körperlich auf Abstand hältst“, widersprach Ralf. „So wie du deine Rückkehr gestaltest, habe ich keine Chance.“

Nach einer kurzen Pause hörte er sich zu seiner Überraschung sagen: „Aber gut. Wenn es denn nicht anders geht – dann geh! Aber schlaf noch einmal mit mir. Dann gebe ich dich frei.“

Sie blickte ihn überrascht an, wobei er nicht sicher war, was sie mehr interessierte – sein Wunsch, der weit über alles hinausging, was er in diesen Tagen von ihr hatte erhalten können, oder die Aussicht, auf diese Weise mit seinem Einverständnis und ohne eine große Szene verschwinden zu können.

Jedenfalls widersprach sie nicht sofort, so dass Ralf nachsetzte: „Ich weiß nicht, wieso ich so empfinde, ich weiß nur, das ich diesen Tag anderes nicht überstehen werde. Lass unsere Ehe nicht einfach so zu Ende gehen, indem du einfach abhaust. Schlaf noch einmal mit mir, das ist das richtige Ende, der würdige Ausklang unserer Ehe.“

Sie schwieg und weinte leise, dann kam sie ans Bett und entkleidete sich.

Ralf empfand weder Verlangen noch Erregung, er kam sich vor wie ein Verdurstender, der keinen anderen Wunsch mehr hegt, als in den nächsten Minuten einen Schluck Wasser zu erhalten. Zugleich spürte er in sich auch den Wunsch, durch diesen verzweifelten Akt die Nostalgie, die ihn quälte, zu zerstören. Doch sie war liebreizend und makellos wie immer, als sie sich auszog und sein Glied massierte, ehe sie es in ihre Scheide führte. Und was noch schlimmer war: sie hatte sich zum Gefallen ihres neuen Geliebten die Schamhaare abrasiert, so dass er auf ihr nacktes Geschlecht blickte und bei dem Gedanken erschauderte, das sie das für einen anderen getan hatte.

Er hatte sich während des Verkehrs körperlich nicht völlig unter Kontrolle, doch er spürte, wie sie sich während des Zusammenseins veränderte. Ihre physische Abwehrhaltung war dabei zusammenzubrechen, ihr Gesicht rötete sich, als sie sich rhythmisch auf ihm bewegte und sagte: „Komm noch nicht.“

Er aber kam, und es war, als ergieße sich ein großer Teil seines Schmerzes in ihren Körper. Schlagartig ging es ihm besser, seine Atemzüge wurden tiefer, die Klammer um seine Brust war verschwunden. Seine Fingerspitzen berührten ihre Haut, und sie wehrte sich nicht mehr, ohne ein Wort zu reden, lagen sie eine Weile nebeneinander und sprachen kein Wort. Dann stand sie auf und begann sich anzuziehen. Während sie sich im Schlafzimmer schminkte und Ralf im Bett lag, begann sie sie von ihrem Besuch bei einer Wahrsagerin zu erzählen, die ihr eine große Ehekrise und ihre anschließende Überwindung vorausgesagt hatte. Was sollte das bedeuten? Einen Augenblick sah es so aus, als würde sie ihre Taschen wieder entleeren und bleiben, doch dann raffte sie sich auf und fuhr zurück nach Wipperfürth.

Er hatte damit gerechnet, dass es ihm am nächsten Morgen, nachdem Sabrina das Haus wieder verlassen hatte, nicht gut gehen würde, doch die Intensität des Schmerzes, der über ihn hereinbrach, sobald er die Augen öffnete, übertraf seine schlimmsten Befürchtungen. Jede Selbstkontrolle war wie weggewischt, auch die Erleichterung, die ihn nach dem Verkehr mit Sabrina beflügelt hatte, war dahin - stattdessen erfüllte ihn eine Übelkeit, so bitter wie ein Vorbote des Todes. Weder Joggen noch Telefonieren noch Arbeiten vermochten ihn abzulenken. Die Gedankenkontrolle versagte, und seine Erinnerung überschwemmte ihn mit Bildern und Reminiszenzen aus ihren schönsten gemeinsamen Tagen, durchsetzt mit Selbstmitleid und Wut, Rachefantasien und Angst.

Er erkannte, dass er nun noch viel tiefer erschüttert war als vor ihrer Rückkehr. Wie blitzschnell und vollständig sie sich schon kurz nach ihrem Verschwinden auf das Neue eingelassen hatte, als er noch an Abstand, Chance und Rückkehr glaubte, ging über seinen Verstand. Während er in der Türkei noch über seine eigenen Fehler gebrütet hatte, war sie schon damit beschäftigt gewesen, sich zum Wohlgefallen ihres neuen Geliebten die Scham zu rasieren. Sie war die untreue Kuh, die zu einem anderen Hirten gelaufen war, um sich ein neues Brandzeichen abzuholen. Einen eindringlicheren Beweis dafür, dass er sie verloren hatte, konnte es nicht geben.

Den ganzen Tag über brannte sein Herz wie ein Organ, das dabei war, mitten in seinem Körper langsam zu verenden. Doch er konnte das Haus nicht verlassen. Er musste seine Alltagsarbeit wenigstens auf einem minimalen Niveau erledigen, wollte er nicht riskieren, dass auch seine berufliche Existenz zusammenbrach. In seiner Unruhe baute er seinen Laptop mal im Garten, mal im Wohnzimmer auf, er versuchte, auf der Couch und auf der Galerie zu arbeiten, doch er brachte nur Murks zustande. Auch Helenes Nähe, die ihn zum Kaffee besuchte und es sich im Garten gut gehen ließ, konnte ihm nicht helfen. Helene schüttelte den Kopf, als sie Ralfs Unglück sah. „Was trauerst du um sie?“ fragte Helene. „Wer so einen grausamen Mund wie Sabrina hat, der kann andere Menschen nur unglücklich machen.“

Am Ende der ersten Woche bemerkte Ralf, dass sich die Erscheinungsform seines Schmerzes verändert hatte. Er war zu einer Faust geworden, die über ihm schwebte, zu einem Schub, der ihn in unplanbaren Abständen überfiel. Mal erwischte ihn der Schub schon in der Garage, mal am Autobahnkreuz Köln-Nord, mal kurz vor der Schule, dann wieder, wenn er den Klassenraum betrat und die Schüler nichtsahnend und lärmend ihre Plätze einnahmen. Noch nicht einmal der Unterricht vermochte ihn abzulenken. Die Trübsal legte sich wie Mehltau über seine Fragen und Reaktionen, er agierte wie in Zeitlupe, musste sich unablässig selbst über die eigene Schulter blicken und über die Belanglosigkeiten schämen, mit denen er seine Schüler traktierte.

Ralf wusste, dass er das Unglück wie ein Kainszeichen auf der Stirn trug, und jeder seiner Kollegen sah: der stolze Dr. Sani war schwer angezählt und würde möglicherweise bald k.o. gehen. Sogar die Schüler spürten, dass ihrem Lehrer ein unbegreifliches Unglück widerfahren war und duckten sich während des Unterrichts über ihre Texte. Ralf hatte während des Unterrichts das Fenster zum Hof geöffnet und überlegte, ob er sich nicht aus dem dritten Stock in die Tiefe stürzen sollte. Er verwarf den Gedanken wieder. Für den Tod würde es nicht reichen, allenfalls für den Rollstuhl. Das war keine Lösung. Außerdem war es lächerlich, sich wegen Sabrina das Leben zu nehmen. Sie hatte ihm den Dolch in den Rücken gestoßen, warum sollte er nun auch noch freiwillig sterben?

An diesem Nachmittag meldete er bei seinem Rechtsanwalt einen Termin wegen einer Scheidungsberatung an. Danach avisierte er dem Hauseigentümer die bevorstehende Kündigung und rief den Gartenmechaniker an, um zu erfahren, dass der Rasenmäher endlich repariert worden sei und das Gerät wieder einsatzfähig war.

Am frühen Abend meldete sich Karl Schneider, der robuste Broker, und fragte, ob Ralf zur Ü-30-Fete nach Köln kommen wolle. Derzeit gehe bei den Über-Dreißig-Jährigen in der „Kantine“ gewöhnlich die Post ab, da müsse man vor Ort sein und seine Chancen wahren. Ralf war müde, doch da er wusste, dass er noch lange nicht würde einschlafen können, sagte er zu.

Schon kurz nach zwanzig Uhr war die „Kantine“ brechend voll, aber die Frauen waren wie er selbst von der Einsamkeit gezeichnet. Es waren Kettenraucherinnen, Dürre und Dicke, Bohnenstangen und Pygmäen, Blöde und Aufdringliche, und keine war keine darunter, die Ralf nicht an Sabrinas kalte Schönheit erinnert hätte.

Auch Schneider, mit dem er am Tresen stand, blickte missmutig in die Menge. Nach Hunderten von Affären in den letzten Dutzend Jahren, in deren Verlauf er manche Frau hatte gehen lassen, mit der er hätte glücklich werden können, war er zum Geliebten einer Ehefrau herabgesunken, zum Gespielen einer Lehrerin, die sich von ihm tagsüber beschlafen ließ, ehe sie am Abend, wenn ihr Mann nachhause kam, die brave Ehefrau markierte. Diese Frau war noch verdorbener als Sabrina, dachte Ralf, als er Karls Geschichte hörte. Sabrina hat wenigstens das Haus verlassen und die Karten auf den Tisch gelegt. Andererseits war sich Ralf inzwischen ziemlich sicher, dass die entscheidenden Annäherungen lange vor ihrer nächtlichen Flucht aus dem Haus geschehen waren.

Diese Eingebung, eine flüchtige Assoziation während der Erzählungen am Tresen, ließ ihn den ganzen Abend nicht mehr los. Sie verfolgte ihn bis in sein Schlafzimmer, wo er trotz aller Bemühungen Stunde um Stunde wach lag. Ohne sich dagegen wehren zu können, drangen die Bilder in sein Bewusstsein, vor denen er sich am meisten fürchtete. Er sah, wie sich Sabrina nackt in einem Bett räkelte und die Beine spreizte, ihr Liebhaber, dessen Gesicht konturlos blieb, rieb sein Glied an ihrer rasierten Scheide, ehe er es einführte. Er, wer immer es sein mochte, liebte sie zuerst von vorne und dann von hinten, ehe sie auf ihn stieg und ihn so ritt, wie sie früher ihn geritten hatte. Unvermittelt riss der Film, und er realisierte, dass er mit Krämpfen auf dem Boden lag. Ihm war speiübel, und es gelang ihm gerade noch, sich zur Toilette zu schleppen, wo er sich übergab.

Als er am nächsten Morgen, lange vor fünf Uhr erwachte, fühlte er sich zu schwach zum Laufen, und als er in den Spiegel blickte, erschrak er vor seinem Gesicht. Seine Wangen waren eingefallen wie bei einem Todkranken. Seine Augen glühten, die Haare lagen ihm strohig auf dem Schädel, und seine Haut war gescheckt und rissig.

„Mein Gott, sehen Sie beschissen aus“, meinte die Nachbarin Frau Droste trocken, als er sie an diesem Morgen vor der Garage traf. „Nehmen Sie es doch nicht so schwer. Das ist keine Frau wert.“

Ralf nickte und ging ins Haus zurück. Ihre Äußerung zeigte, dass sie es gut meinte, aber auch, dass das ganze Dorf bereits im Bilde war. Ihm war die Frau davongelaufen, und alle hatten es mitbekommen.

Nach der Schule fuhr er nach Wipperfürth, um endlich den Rasenmäher abzuholen. Sein Weg führte ihn an der „Oase“ vorbei, doch er widerstand dem Drang, anzuhalten und sich vor ihrer Türe auszuheulen. Sabrina war weder der warmherzige noch der mitleidige Typ. Sich vor ihren Augen zerschmettert zu präsentieren, wäre gänzlich sinnlos gewesen.

Daheim stürzte er sich in die Gartenarbeit, als hinge sein Leben davon ab. Er grub zwei Bäume um, rupfte das Unkraut aus den Fliesenmulden, versorgte den Boden mit Rindenmulch und brachte geschlagene zweieinhalb Stunden damit zu, den verwilderten Rasen auf Vordermann zu bringen. Am Ende sah der Garten so proper aus, dass Ralf hätte heulen können. Nun fehlte nur noch Sabrina, die mit Kaffee und Kuchen aus dem Haus trat und unter dem Apfelbaum den Tisch deckte. Seine Gedankenkontrolle drohte wieder zu versagen, und er begann so akribisch wie möglich den Rasenmäher zu säubern, wobei es ihm nur mit Mühe gelang, Verletzungen zu vermeiden. Denn auch mit seiner Feinmotorik stand es schon lange nicht mehr zum Besten. Er hatte sich schon zweimal empfindlich beim Brotschneiden verletzt, und nach seinen morgendlichen Nassrasuren glich er manchmal einem von schweren Kämpfen gezeichneten Krieger, der nach einer verlorenen Schlacht ins Badezimmer gekommen war. Auch seine wöchentlichen Tennismatches gegen Ulrich entwickelten sich zu regelrechten Desastern. Zwischen den Ballwechsel saß ihm Sabrina im Kopf, während des Aufschlages, musste er daran denken, wie und wie oft sie es in der letzten Nacht in Wipperfürth getrieben hatte. Er hätte heulen und das Racket in hohem Bogen davon schleudern können, stattdessen drosch er mit der Wut des Betrogenen die Bälle ins Aus. „Du bist vollkommen fertig“, bemerkte Ulrich. „Wenn das so weitergeht, müssen wir dich einliefern.“

„Blödsinn, für dich reicht es im Tennis noch allemal“, erwiderte Ralf und wusste, dass er Unsinn redete.

„Hast du noch etwas von ihr gehört?“ wollte Ulrich wissen.

„Nein. Die sehe ich niemals wieder.“

„Doch. Du siehst sie spätestens dann wieder, wenn sie mit ihrem Macker und dem Möbelwagen in Overath vorfährt, um ihre Sachen zu holen.“

Diese locker dahingeworfene Bemerkung ging Ralf den ganzen Nachmittag nicht mehr aus dem Kopf. Dass sie vor seinen Augen das Haus halbleer räumen und zusammen mit ihrem Geliebten ihre Kleider in großen Kisten heraustragen würde, wäre mehr gewesen als er hätte ertragen können. So war er fast froh, als er in Overath alle Parkplätze leer fand. Noch hatte sie fast alle ihre Sachen im Haus, was immer das auch bedeuten mochte.

Als er am nächsten Morgen aufwachte, war er schon darauf gefasst, sofort loslaufen zu müssen. Doch zum ersten Mal seit langer Zeit fühlte er sich relativ ruhig, als er die Katzen fütterte. Wenn er der Badezimmerwaage glauben durfte, hatte sein Gewichtsschwund aufgehört. Seit einer Woche hielt sich sein Gewicht bei 69 Kilogramm, das Gewicht eines tibetanischen Wandermönches kurz vor dem Nirwana.

Die Morgensonne erhob sich über dem Nadelwald, die Luft war so klar und rein, wie das Leben hätte sein können, wenn Sabrina ihn nicht verlassen hätte. Nach seinem Morgenlauf und einem flüchtigen Frühstück fuhr er nach Köln. Schon als er seinen Wagen im Parkhaus abstellte, spürte er, dass sich seine Stimmung schon wieder verdunkelte, und als er auf die Straße trat, war es ihm, als springe ihm der Schub geradewegs ins Gesicht. Er hätte zappeln können wie eine verrückt gewordene Marionettenfigur, er hätte schreien können wie ein Sterbender, doch er rannte mit dem Gesicht eines Gekreuzigten durch die Einkaufsstraßen, stolperte über seine eigenen Füße und stieß mit Passanten zusammen, die ihn rüde zurechtwiesen. Irgendetwas musste geschehen, wenn er nicht in der nächsten halben Stunde ohnmächtig zusammenbrechen wollte. Voller Unruhe und Not umkreiste er bei Karstadt eine bildschöne dunkelhaarige Frau, die sich am Krabbeltisch einige preiswerte Kochbücher aussuchte. Sie bemerkte sein Näherkommen und blickte ihn abwehrend an. Die Nachricht war klar: Mach dass du fortkommst, du Wrack!

Er lief durch die Schuhabteilung, wo er nur dicke Frauen sah, die ihre klobigen Füße in viel zu kleine Schuhe zwängten, passierte die Möbeletage, wo ihn all die glücklichen Ehepaare deprimierten, die ihre Aussteuer verplanten, ehe er in der Esoterikabteilung neben einer drallen Blondine zu stehen kam, die ein Buch nach dem nächsten in die Hand nahm.

„Sie suchen bestimmt ein geeignetes Geschenk für einen Esoterikfreund“, sagte er, ohne groß zu überlegen. Seine Stimme hörte sich an, als spräche er mit einem Blecheimer über dem Kopf.

„Ne, eigentlich suche ich ein Geschenk für einen historisch interessierten Freund“, gab sie zurück.

Mein Gott, wie unlogisch, dachte sich Ralf und merkte, wie er rasend wurde. Wenn sie etwas Historisches sucht, warum treibt sie sich dann in der Esoterikabteilung herum? Am besten wäre es jetzt, sie in die Sachbuchabteilung zu lotsen und ihr den neuen Scholl-Latour zu empfehlen. Doch sie machte nicht den Eindruck, dass er mit seiner Belesenheit vor ihr reüssieren konnte. Er war so leer und ausgebrannt, dass er nichts außer ein diffuses Grinsen zustande brachte und säuselte: „Aber ich suche ein Geschenk für eine Freundin mit großem Interesse an esoterischen Themen. Können Sie mir da vielleicht einen Rat geben?“

Die Blondine war kompakt, aber nicht schlecht gebaut. Etwas Entschiedenes ging von ihr aus, wahrscheinlich hatte sie daheim drei Kinder und einen Kerl sitzen, mit dem sie in den Ferien auf der Harley Davidson durch Arizona düste. Und nun belästigte sie ein Weichei wie Ralf mit diesem Esoterikscheiß. Sie hob den Kopf und blickte ihn kurz an, ehe sie das Gesicht wieder abwandte. Ralf schoss das Blut in den Kopf, denn er hatte in ihren Augen gesehen, was er für ein armes Würstchen war. Unglücklich und abgemagert, unwitzig und ängstlich schlich er durch die Gegend und belästigte stattliche Frauen, denen es vor Erscheinungen wie ihm nur gruseln konnte. Ohne ihn einer Antwort zu würdigen, wandte sich die Blondine um und ging.

Das war eine so schallende Ohrfeige, dass sie Ralf für einige Minuten betäubte. Beschämt und mit hochrotem Kopf verließ er den Ort seiner Schande, lief wie ein geprügelter Hund über Hohe Straße und Schildergasse und getraute sich nicht mehr, einer Frau in die Augen zusehen.

Er war kurz davor, laut aufzuheulen, da klingelte das Handy. Es war Helene, die Gute, die ihn nicht vergaß, und die aus Düsseldorf anrief, um ihm einen gemeinsamen Abend vorzuschlagen. „Komm vorbei, du Trauerkloß, wir schauen uns einen Film an, saufen eine Flasche Wein und gehen dazwischen ein wenig futtern. Was hältst du davon?“

Wusste der Geier, was sie an einem Samstagabend dazu veranlasste, ihm ein solches Angebot zu machen. Wahrscheinlich lag Rudolf, ihr schwieriger Geliebter, wieder abgefüllt in der Nachbarwohnung.

„Großartig“, antwortete Ralf. „Ich wüsste nicht, was ich heute Abend lieber täte. Ich bin in einer guten Stunde bei dir.“

Er hatte inzwischen den Domvorplatz erreicht und setze sich für einige Minuten auf die Brüstung des römischen Atriums. Schwule Ledermänner, japanische Touristen, Liebespaare und Liebeskranke gingen vorbei, von der Frühlingssonne beschienen und den Geräuschen der Großstadt umtost, und er saß wie ein Kümmerling auf der Brüstung. Seine ganze Existenz lag in Scherben, sie war zu einem Puzzle sinnloser Aktivitäten verkommen, einem manischen Gemenge aus Joggen, Leiden, Frauenanlabern und Cabriofahren, das nur einem einzigen Zweck diente: dem Schmerz zu entgehen. Wie hatte ihn dieses Miststück nur derart hinter das Licht führen können? Warum hatte diese Dreckschlampe nicht mit offenem Visier gekämpft? Warum war sie nicht einfach nur in eine andere Wohnung gezogen, wenn sie Abstand gewinnen wollte? Aber nein, sie musste sich im Eiltempo die Scham rasieren und sich einen neuen Vögler zulegen, der die bodenlose Angst ihrer Seele mit seinem Schwanz ausstopfte. Saubiest, dachte er, als er den Domplatz verließ und zu seinem Wagen ging. Eines Tages werde ich dir das heimzahlen.

Als er bei Helene ankam, hatte sein Zorn weiter zugenommen. Ralf ließ es zu, weil er merkte, dass der Zorn den Schmerz zurückdrängte. „Dieses Dreckstück soll der Teufel holen“, brüllte er, als Helenes Wohnung betrat und sofort zum vollen Weinglas griff, mit dem sie ihn empfing. Er trank das Glas in einem Schluck leer und lief wie ein Tiger durch die Wohnung. „Ich wünsche ihr die Pest an den Hals“, schrie er und war kurz davor, das gute Glas an die Wand zu werfen. „Ich will sie im Dreck sehen, um ihr noch einen Tritt versetzen zu können“, geiferte er. „Ich will sie verrecken sehen, diese treulose Schlampe.“

„Ja, ja“, sekundierte Helene, die gut gestylt auf einem antiken Stuhl saß und seinen Wutausbruch beobachtete. „Lass´ alles raus, sag was dir einfällt. An welches Tier erinnert sie dich?“

„An eine Schlange, aber eine, die ihre Opfer nur von hinten angreift“, antwortete Ralf. „Nein, an eine Ratte, die im Verborgenen wühlt.“

„Wie sieht ihre Zukunft aus?“ rief Helene. „Los, sag es mir.“

„Sie wird in ein paar Jahren in einer Dachmansardenwohnung elend verrecken, einsam und pleite, weil keiner sich mehr für ihren Arsch interessiert“, schimpfte Ralf. „Die Haare werden ihr ausfallen und sie wird mit einer Glatze durch die Gegend laufen.“

„Wird sie noch Geld haben, sich eine Perücke zu kaufen?“

„Nein, natürlich nicht“, erwiderte Ralf und musste lachen.

Der Wein entfaltete seine Wirkung, der Auftritt hatte ihn entlastet, und er schlug Helene vor, etwas essen zu gehen. Nicht nur das Heulen, auch das Schimpfen half also gegen übermäßigen Schmerz, ganz abgesehen von Helene, die hübsch, heiter und ausgeglichen beim Italiener neben ihm saß. Vielleicht war sie die Antwort auf seine Not, doch sie war noch mit Rudolf involviert, und auch er war sich nicht ganz sicher, was er wollte.

Nach dem Essen gingen sie in ihre Wohnung zurück und sahen sich den Spätfilm an. In der Nacht schliefen sie im gleichen Bett, ohne dass irgendetwas geschah. Er lag hinter ihr und hielt sie in der Löffelchenstellung umfangen und war ein Baby, das nichts weiter wollte als Nähe und Geborgenheit. Als er mitten in der Nacht aufwachte, sah er Helene neben sich liegen, und es war keinerlei Schmerz in ihm. Er konnte frei atmen und es war ihm, als hätte er einen Bezirk betreten, in dem seine Not keine Macht mehr über ihn hatte.

Als er am nächsten Vormittag nach Hause kam, hatte ihn der Schmerz schon wieder eingeholt, und obwohl er sich elend und müde fühlte, blieb ihm nichts anders übrig, als seine Sportsachen anzuziehen und loszulaufen. Diesmal lief er die längste Strecke, die er seit Sabrinas Auszug jemals gelaufen war, und er merkte, wie der Druck mit jedem Schritt, den er sich vom Haus entfernte, nachließ. Er lief zunächst seine übliche Route durch ganz Overath, dann hinunter in das Tal von Unterbach, erreichte den Fluss, den See und das Waldrestaurant und lief die gesamte Durchgangsstraße zurück, bis er am Eingang des Hauses vor Entkräftung zusammenbrach.

Ende einer Ehe

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