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Die Aufgabe der Politik

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Münzen haben üblicherweise zwei Seiten oder Gesichter: eine idelle und eine nominelle. Und auch viele andere Dinge haben zwei oder auch mehr Gesichter oder sogar, wie ein Kristall, unzählige Facetten, je nachdem, aus welchem Blickwinkel man sie betrachtet. Manche Gesichter sind gut erforscht oder liegen offen zutage, während andere nicht in Erscheinung treten, sei es, weil sie nicht beachtet werden, weil sie unsichtbar sind, weil sie sich vor dem Licht verbergen, weil sich niemand mit ihnen auseinandersetzen möchte, weil sie gut versteckt werden, weil ihre Wahrnehmung das eigene Selbstverständnis in Frage stellen könnte, oder was sonst der Gründe mehr sind.

Auch die Politik hat mehrere Gesichter: ein öffentliches Gesicht, das mit seinen offensichtlichen und standardisierten Lippenbekenntnissen einer Maske gleicht, und das Gesicht, das die Menschen hinter dieser Maske erahnen und oft fürchten. Und dann gibt es da noch ein inneres, ein ideelles Gesicht, das fast unsichtbar ein vernachlässigtes Dasein fristet, also das weithin unbekannte andere Gesicht der Politik.

Das Wort Politik leitet sich von dem griechischen Wort polis ab, und polis bedeutet nicht Polizei, sondern steht für Stadt (oder in der heutigen Zeit mehr für den Staat) oder Gemeinschaft. Was die Politik antreibt, ist aber weniger der Staat als Ausdruck der Gemeinschaft, also von Gemeinsamkeit und Verbundenheit, als vielmehr der Staat als eigenständiges Konstrukt, das sich über die Gesellschaft als große Gemeinschaft erhebt, und in dem sich die verschiedenen Politikauffassungen austoben können: Machtgier, Führungsanspruch, Ordnungswut, Regelsucht, Staatssupremat ... Mit Hilfe dieser Werkzeuge nimmt die Politik für sich in Anspruch, die Ordnung der Welt im Großen wie im Kleinen und selbst in Winzigkeiten zu gestalten.

Die Folge davon ist, dass die Politik sich anmaßt, Entscheidungen nicht nur über die Köpfe derjenigen hinweg zu treffen, die ihr Wirken mehr oder weniger autorisiert haben, was an sich nicht so tragisch wäre, wenn sie zu wirklichem Fortschritt führen würden, sondern auch ohne ausdrückliches Mandat und gegen den Willen der Bevölkerung durch Herbeiführen von Kriegsgründen und das Anzetteln von Kriegen, seien es nun selbstgeführte oder fremdgesteuerte Kriege oder sei es auch, dass sie durch Agitation, Demagogie oder massive Fehlinformation ein Mandat erschwindeln, wie es zum Beispiel bei 09/11 und dem Krieg im Irak und in Afghanistan deutlich sichtbar war. In solchen Fällen ist das fehlgeleitete Eigenleben der Politik unübersehbar. Die Politik erfüllt nicht ihre Aufgaben, sondern definiert sich diese selbst, und so kommt es, dass in großen Teilen der Welt Hunger herrscht, Wassermangel, Gewalt, Imperialismus, Umweltzerstörung, Krieg, Trennung, Hass und Intoleranz, statt der Bemühung um globale Einheit, Weltfrieden und umfassenden Wohlstand in einer blühenden Welt, was alles Folge von wachsendem Bewusstsein wäre.

Eine andere Folge des fehlgeleiteten Selbstverständnis der Politik, aber auch einer – vielleicht sogar bewusst – verdummten Gesellschaft ist, dass das Leben, und nicht nur dessen rechtlicher Aspekt, immer komplizierter wird. Es gibt Subventionen auf regionaler, nationaler und internationaler Ebene, Ausgleichszahlungen, Kilometerpauschalen, Freibeträge, Steuern für dies, Steuern für das, versteckte Steuern, Umschichtungen, Umschichtungen der Umschichtungen, verschleierungstaktische Umbenennung altbekannter Phänomene, Paragrafen, Zusatzparagrafen, Änderung zur Änderung der Änderung und jede Menge Versuche, eine größere gefühlte oder objektive Gleichbehandlung oder -misshandlung zu erreichen, was nicht zuletzt auch auf eine stetig steigende Klagewut enttäuschter, entsetzter, frustrierter, vereinsamter oder im Anspruchsdenken gefangener Bürger zurückzuführen ist. Es gibt also im Extremfall Menschen, die dem Staat mehr oder weniger komplett die Verantwortung für ihr gesamtes Leben in die Hand gegeben haben (oder welche die staatliche Reglementierungswut dahingehend interpretieren) und solche, die der Meinung sind, der Staat solle sich auf ein Mindestmaß an Aktivität und Einflussnahme beschränken oder dass man auf einen Staat im Zweifelsfalle auch gänzlich verzichten könnte.

Nun, einen absolut gerechten Staat gibt es nicht und wird es wohl auch nicht geben. Wenn man von dieser Annahme und diesen Beobachtungen der realen Politik und der tagtäglichen Wirklichkeit ausgeht, dann wird aber klar, dass es so auf Dauer nicht weitergehen kann. Die gegenwärtige Lage ist ein einziges Flickwerk, mag die politische Beschreibung davon auch noch so großsprecherisch und idealisierend klingen. Und man kann auch nicht davon ausgehen, dass die Untertanen in aller Welt das alles ewig mitmachen.

Als im 18. Jahrhundert die französische Revolution ihren blutigen Anfang genommen hatte, hatte sie nicht nur ein paar nachwachsende alte Zöpfe abgeschnitten, sondern ihr Programm und ihre Hoffnung für die Welt knapp und prägnant in drei übersichtlichen und leicht verständlichen Worten formuliert: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. An die Verwirklichung des ersten Punktes, der Freiheit, hat sie sich auch gleich ohne Zögern gemacht, zumindest auf der äußerlichen Ebene, denn das schien der drängendste und einfachste Punkt zu sein. Die Gleichheit hat sie dann per Verordnung, einem Mittel der Unfreiheit, verfügt und nie richtig durchsetzen können, was sicherlich auch an der oberflächlichen Deutung des Begriffs der Gleichheit lag, denn auf dieser oberflächlichen Ebene gibt es keine Gleichheit; es gibt nur eine uniformierende Gleichbehandlung. Und die Brüderlichkeit war ohnehin nie mehr als ein pathetisches und poetisches Element, ein abstraktes Konzept von etwas, das sich durch die Verwirklichung von Freiheit und Gleichheit wie von selbst einstellen müsste. Die Brüderlichkeit war immer das Stiefkind der Revolution, weshalb diese auch so blutig verlaufen ist. Die Revolution wäre damals erfolgreicher verlaufen, wenn mehr Gewicht auf die Brüderlichkeit gelegt worden wäre, oder die drei Bestandteile zumindest als gleichwertig angesehen worden wären.

Heute ist die Welt komplexer geworden, und es scheint so, als könnte man mit diesem Schlachtruf von einst nichts mehr bewegen, geschweige denn eine Erneuerung in der Lage der Welt und des Politikverständnisses anzetteln. Dabei wären diese drei Bestandteile des Mottos der französischen Revolution durchaus geeignet, die Probleme der heutigen Welt zu bewältigen, wenn man sie nur richtig verstehen würde. Statt dessen stellt sich die Frage, wie lange die Menschen, die bisher nur leicht unzufrieden alles hingenommen haben, die immer unhaltbarer werdenden Zustände auf dieser Welt und die Verantwortungslosigkeit der Politik und der sie betreibenden Politiker noch tatenlos mitansehen werden. Die Welt schreit jedenfalls lauter als je zuvor nach umfassenden und durchgreifenden Änderungen, nicht nach unverbindlichen Verlautbarungen und einem weiteren Wust an Zusatzparagrafen. Mit den Mitteln der gegenwärtigen Politik und dem damit zusammenhängenden Politikverständnis sowie mit dem grassierenden Imperialismus scheint dies allerdings kaum machbar.

Wir brauchen dafür eine neue Revolution. Und diese neue Revolution muss durchaus nicht so ablaufen, wie die französische vor einem viertel Jahrtausend, obwohl ein solcher Verlauf natürlich auch möglich ist. Und wie damals liegt dieser Verlauf auch heute nicht nur in der Hand der aufbegehrenden und unzufriedenen Masse, sondern auch ganz wesentlich in der Hand der herrschenden Kaste. Der Impuls, der Wunsch nach Veränderung ist da, und durch Verständnis, Erkenntnis und Zusammenarbeit kann man diesem Impuls eine Form und einen Elan geben, der ihn zu einer machtvollen und tiefgreifenden Revolution Aller für Alle macht statt zur Revolution Vieler gegen Einige. Noch ist Zeit, wirkliche Veränderungen in Gang zu bringen, aber die Uhr tickt bereits.

Die Revolution damals hat das Konzept der Demokratie in Erinnerung gerufen und die Errichtung demokratischer Strukturen gefördert und gefestigt. Das war sicherlich ein Erfolg, aber was ihre eigenen Ideale anging, so hat sie versagt. Waren die Ideale also falsch oder ungeeignet als Mittel der Politik? Das mag wohl so den Anschein haben, aber die Menschen damals sind letztlich an dem gleichen Problem gescheitert wie die angewandte Atomphysik oder die moderne Industrie. Der Macht im einen wie dem Wissen im anderen Fall stand einfach ein ungenügendes Bewusstsein gegenüber. Wenn man sich auf ein wildes Pferd setzt, um es zu zähmen, so braucht man dazu Kraft und Können; wem diese Fähigkeiten abgehen, dem geht im besten Fall das Pferd durch, im schlimmsten Fall war es das letzte, was er in seinem Leben gemacht hat. Und darum haben wir jetzt abgeworfene Atombomben, ein riesiges Arsenal von Nuklearsprengköpfen auf aller Welt, verstrahlte Landstriche, Umweltverschmutzung, eine Klimakatastrophe, und innerhalb von vielleicht fünfzig Jahren haben wir Unmengen an unermüdlich vor sich hin strahlenden Atommüll angesammelt, der unsere Nachfahren auch in 100.000 Jahren noch unangenehm an uns erinnern wird, wenn es denn dann noch Nachfahren von uns geben wird.

Aber mit welchem Werkzeug soll die Politik uns nun aus der Klemme helfen? Was ist die wirkliche Aufgabe der Politik? Wie sieht das Selbstverständnis der Politik idealerweise aus? Lag die französische Revolution, die ja die Mutter der modernen Politik ist, mit ihrem Motto wirklich so daneben?

Versuchen wir zur Klärung dieser Fragen doch mal herauszufinden, wie man die Ideale der französischen Revolution denn heute interpretieren könnte.

Da hätten wir zuerst einmal die Freiheit. Damals bedeutete Freiheit ganz klar die Abschaffung aristokratischer Willkür und der Form von Sklaverei, die sich Leibeigenschaft nannte. Heute würden die meisten Menschen Freiheit dahingehend interpretieren, machen zu können was man will oder zumindest im Wesentlichen selbst über das eigene Leben bestimmen zu können, was dazu führt, dass für viele Menschen Geld und Besitz zum Inbegriff von Freiheit geworden sind. Freiheit in Form von Bewegungsfreiheit und Selbstbestimmung sind in den meisten Industrieländern ein fast selbstverständlicher Anspruch. Aber ist es tatsächlich so einfach, und ist es damit schon getan? Wie sieht es mit der Freiheit aus, wenn die Freiheit des Einen die des Anderen beschränkt (eine nie versiegende Quelle zunehmender Nachbarschaftskonflikte)? Offensichtlich ist Freiheit in der Form unbegrenzter Freizügigkeit kein verlässlicher Bestandteil der Politik, denn um jedem ein gewisses Maß an Freiheiten zu gewähren, müssen die Freiheiten auch für alle beschränkt werden. Und schon haben wir unser stetig komplizierter werdendes Netz an Geboten und Verboten, an Regeln und Gesetzen. Dabei sollte man doch eigentlich meinen, dass Freiheit ein einfacher und leicht verständlicher Begriff sei, den jeder verstehen und anwenden kann. Aber dem stehen verschiedene Faktoren gegenüber: Egoismus, Einfühlungsvermögen, Verständnis von Zusammenhängen, Einsichtsfähigkeit... Das sind einige Punkte, von denen das Ausmaß der Freiheit abhängig ist, das der Einzelne für sich beanspruchen kann.

Nun gibt es zwei, genaugenommen sogar drei Möglichkeiten, mit denen man zu individueller Freiheit gelangen kann: das Rechtswesen, die Verständnisfähigkeit und die Entdeckung innerer Freiheit.

Das Rechtswesen bietet ein fragiles Gleichgewicht, indem es versucht, zwischen dem Recht der Gemeinschaft und dem Individuum wie auch zwischen den Individuen zu vermitteln. Die so vermittelte Freiheit ist sehr grob, weil sie sehr pauschal ist und, wie schon erwähnt, immer wieder neue Unfreiheiten oder Ungerechtigkeiten auftauchen, die zu einer stetigen Nachbesserung, Verfeinerung und damit auch Kompliziertheit führen und dem Einzelnen nicht die für seine individuelle Entwicklung vielleicht nötige größere Freiheit einräumen können.

Mit der Verständnisfähigkeit ist es schwieriger und einfacher zugleich. Sie ist im Grunde genommen eine Form der Bewusstseins­entfaltung, ein Wachsen von Erkenntnis. Dabei geht es nicht um eine Vermehrung schulischen Wissens, sondern um ein stetig zunehmendes, vorurteilsfreies Verständnis nicht nur des menschlichen Seins. Es geht darum, dass der Mensch ein bewusstes Wesen wird, das die Dinge nicht einfach nur als gott- und justizgegeben hinnimmt, sondern sie zu verstehen sucht, das die Interdependenz zwischen ihm, anderen Individuen, der menschlichen kleinen und großen Gemeinschaft und die Abhängigkeiten von und in der Natur nicht als Herausforderung, sich durchzusetzen begreift, sondern als Teil eines Zusammenspiels, als Einladung zur Teilnahme am universalen Tanz. Der Mensch muss seinen Platz in der Welt entdecken und bei maximaler innerer Entfaltung Teil des Miteinanders in der großen Gemeinschaft werden, statt weiterhin seine egoistische Ich-Will-Haltung zu kultivieren. Freiheit ist dann keine rücksichtslose Freiheit mehr, die von Gesetzen abgesichert ist, sondern die Freiheit, die man sich und anderen als natürliche Selbstverständlichkeit zugesteht, die Freiheit, die aus Anteilnahme, Harmonie und Verständnis entsteht.

Die Freiheit hat aber noch einen weiteren Aspekt, der auch mit der Verständnisfähigkeit zusammenhängt, aber letztlich tiefer reicht. Das beginnt mit der Freiheit der Gedanken. Man sollte meinen, das wäre keine große Sache, denn da niemand in die Gedanken eines anderen hineinsehen kann, kann man dort auch nicht in seiner Freiheit beschränkt werden. Das ist zwar, mechanistisch betrachtet, wahr, aber wenn man erst gelernt hat, genauer hinzusehen, sieht man, dass diese Vorstellung die pure Illusion ist. Es gibt – falls überhaupt – kaum einen Menschen, der in seinem Denken wirklich frei ist.

Das fängt damit an, dass das Denkwesen geprägt ist von dem, was man in seinem Leben erlebt hat. Jemand, der ein privilegiertes Leben geführt hat, wird viele Dinge anders beurteilen, als jemand, der in einem Slum aufgewachsen ist oder im afrikanischen Busch. Darum ist jeder Mensch gefangen in seinen Ansichten und Prägungen. Wirkliche Freiheit würde in diesem Zusammenhang bedeuten, dass man in der Lage wäre, alle möglichen Standpunkte einnehmen und verstehen zu können und ohne Vorlieben und Abneigungen eine jegliche Fragestellung zu betrachten und zu entscheiden. Wenn man Vorurteile gegen Schwarze, Juden oder Schwule hat, wird man Vorschlägen und Ideen, die von diesem Personenkreis kommen, eher skeptisch gegenüberstehen und nicht die Vorschläge selbst sehen, losgelöst von der Person. Wenn man Sklave von Vorlieben und Abneigungen ist, welcher Couleur auch immer, so ist man nicht frei. Wenn man eine Meinung teilt, weil sie von einer angesehenen Person geäußert wurde, so ist man nicht frei. Ja, selbst wenn man seine Meinung auf Schulbücher stützt, ist man nicht frei. Was heute wahr ist, kann sich morgen als falsch herausstellen. Auch wenn unsere Entscheidungen unterschiedlich ausfallen, je nachdem, wie wir geschlafen haben oder in welcher Stimmung wir uns gerade befinden, so sind wir unfrei.

Freiheit bedeutet, über den Dingen zu stehen, nicht von ihnen bestimmt und beeinflusst zu werden. Wirkliche Freiheit ist also keine Frage von äußeren Umständen, sondern eine Frage des Bewusstseins und kann kaum jemals erlangt werden. Freiheit ist immer relativ. Eine Freiheit, die wir uns heute erkämpft haben, mag uns morgen, im Licht eines gewachsenen Bewusstseins, bereits als Gefängnis erscheinen. Freiheit mag für wahrlich Erleuchtete vielleicht ein Zustand sein, für alle übrigen Menschen ist Freiheit etwas, das man sich jeden Augenblick neu erarbeiten muss. Freiheit drückt sich progressiv in einem stetig wachsenden Bewusstsein aus. Die Erlangung von Freiheit ist Bewusstseinsarbeit, Bewusstseinsforschung.

Sich innerlich frei zu machen vom Joch der Aristokratie und der Gewohnheiten und der eigenen Beschränktheit wäre das eigentliche Freiheitsideal der französischen Revolution gewesen. Wenn die Menschen damals innerlich frei geworden wären, hätte es dieses Blutbad nie gegeben. Die Aristokratie hätte keine Macht mehr über freie Menschen gehabt und hätte vielleicht selbst den Weg in die Freiheit gefunden. Aber es fand nur ein winziges Bewusstseinswachstum statt, das mit Mord und Totschlag vor dem Rückfall bewahrt werden musste.

Der nächste Begriff des Mottos ist das Ideal der Gleichheit, das in dem Augenblick verraten wurde, als sich die Vertreter der Revolution über die übrigen Menschen stellten. Nominell sind in der westlichen Welt alle Menschen gleichgestellt, aber praktisch liegt die Sache etwas schwieriger. Gleichheit vor dem Gesetz ist zum Beispiel davon abhängig, wie gut und teuer der eigene Anwalt im Zweifelsfalle ist. Auch beim Zugang zur traditionellen Schulbildung gibt es Unterschiede. Eigentlich stößt man überall darauf, dass die Möglichkeiten der Menschen nicht immer gleich sind und praktisch auch nicht gleich sein können. Aber ist ein erhöhtes Ausmaß an Gleichheit eigentlich wünschenswert? Und was soll man unter Gleichheit eigentlich verstehen?

Man kann Gleichheit als Uniformität interpretieren und bekommt dann eine faschistoide Masse, bei der äußere Gleichheit zur Nivellierung von Gemütszustand und mentaler Flexibilität auf niedrigem Niveau führt. Das kommt zwar gewissen Ordnungs- und Regelungsfanatikern und unflexiblen Menschen entgegen, dürfte aber den Machern der Revolution nicht vorgeschwebt haben.

Gleichheit bedeutet nicht, dass jeder Mensch gleich ist, sondern dass jeder Mensch den gleichen Wert hat. Es mag alle Arten von Eliten geben, Arm und Reich, Dumm und Klug, Stark und Schwach, Weiß, Gelb, Rot, Braun, Schwarz – aber ganz grundsätzlich ist der amerikanische Präsident nicht mehr wert als ein afghanischer Opiumbauer oder ein irakischer Feldarbeiter. Er mag mehr Einfluss haben und größere Macht, aber wenn die drei zusammen auf einer einsamen Insel stranden, dann ist derjenige am wichtigsten, der die angetroffenen Ressourcen am optimalsten zu nutzen versteht, um das Überleben aller zu sichern. Der äußere Wert ist also relativ.

Was soll Gleichheit also bedeuten?

Wir sind gleich in dem, was einen Menschen ausmacht – im Streben nach Wahrheit, nach Entwicklung, nach Vollkommenheit. Dieses Streben ist in vielen Menschen verschüttet, mal schwach, mal umfassend, aber es liegt in der Natur des Menschen als Rasse, sonst hätten wir uns nie von der Entwicklungslinie abgespalten, die zum heutigen Affen führte. Wenn man Gleichheit fordert, dann ist das die Forderung, jedem Menschen die Möglichkeit zu bieten, dieses Potential, das in ihm steckt, bestmöglich auszuschöpfen.

Gleichheit bedeutet über die ursprüngliche rechtliche Gleichstellung hinaus, dass jeder Mensch das gleiche Recht auf Selbstverwirklichung hat, dass jeder Mensch in der Lage sein sollte, seine Fähigkeiten zur Entfaltung bringen, eine eigenständige und individualisierte Persönlichkeit zu werden.

Die Stärke einer geeinten Menschheit, die vielleicht im Verborgenen das Fernziel der Revolution gewesen war, steigt nicht mit der Gleichheit der Uniformität, sondern mit der Gleichheit der Individualisierung. Viele Menschen mit vielen verschiedenen optimierten Fähigkeiten, die Freude am Leben haben und ihre Ideale mit kraftvoller und offener Kreativität ausdrücken können, können mehr für eine hoffnungsvolle Zukunft tun, als es einem zigfachen an gleichgeschalteten Massenmenschen jemals möglich wäre.

Es gibt Untersuchungen zur Hilfe in Notsituationen, die zeigen, dass Menschen, die sich vom Herdentrieb lösen können und sich in ihrem Handeln nicht von Reaktionen oder ausbleibenden Reaktionen ihrer Mitmenschen leiten lassen, sondern von ihrer eigenen Einschätzung der Lage hilfsbereiter sind. Das sind starke Persönlichkeiten, die von intoleranten Herdenmenschen oft als Exzentriker oder Quertreiber betrachtet werden; das sind Menschen, die sich auf dem Weg vom instinktgetriebenen Tiermenschen über den humanistischen Menschen zum wahren Menschen gemacht haben; das sind Menschen, die sich auf den Weg der Individualisierung gemacht haben.

Und es sind die Exzentriker, die Menschen, die sich in ihrem Denken und Fühlen von dem gelöst haben, was die Mehrheit der Menschen als künstliche Norm definiert hat, die mit ihrem politischen, technischen, sozialen, künstlerischen oder intellektuellen Geschick der Menschheit immer neue Fortschritte beschert haben und die dafür oft genug umgebracht wurden.

Der Staat mag vielleicht von einer gut geführten Masse getragen und aufrecht erhalten werden, aber er wird nirgendwo hinführen. Die Masse wird sich nie verantwortlich fühlen, wird nie einer Vision folgen, sondern immer gleichmäßig unzufrieden und folgsam sein und dem nächsten Demagogen Treue schwören. Ein Volk von Individualisten, von Menschen, die die gleiche Freiheit in sich tragen, wird immer wissen, wo es steht, und was noch vor ihm liegt und wo die Verantwortung des Individuums im Gesamtbild liegt, und es würde sich nie einem Tyrannen wie Hitler unterworfen haben – er hätte noch nicht mal eine Chance gehabt, bekannt zu werden.

Und wenn die Menschheit einmal wirklich aus lauter Individuen besteht, dann werden Regierungen in der heutigen Form nicht mehr denkbar und nicht mehr nötig sein – und das ist auch der Grund, weshalb alle Regierungen den mündigen, individuellen, rechtlich und in der Wertschätzung gleichgestellten Bürger fürchten und die Volksverdummung nach Möglichkeit fördern.

Der Teil des Revolutionsslogans, der nie auch nur ansatzweise verwirklicht wurde, der aber eigentlich der zentrale Punkt ist, aus dem sich alles andere ergibt, und der auch der machtvollste der drei ist, dieser Teil ist die Brüderlichkeit. In diesem Wort schwingt so etwas wie Kameradschaft und Freundschaft mit: Seid nett zueinander und alles wird gut. Das mag vielleicht etwas zynisch oder populistisch klingen, aber im Wesentlichen stimmt das.

Brüderlichkeit bedeutet, dass man sich um seinen Bruder, also seinen Mitmenschen und damit auch die Menschheit insgesamt sorgt, dass man ihnen selbstlos das Beste wünscht und sie fördert und sich dabei progressiv vom tierischen Erbe löst. Brüderlichkeit bedeutet Liebe, Zugetan-sein, aber nicht in Form trauter Zweisamkeit, sondern in Form einer Liebe, die darüber hinausgeht, einer Liebe zur Menschheit und ihrem Potential, eine Liebe zur Schöpfung und evtl. ihrem Schöpfer. Und wenn man an einen Schöpfer glaubt, dann ist das Universum samt dem Staubkorn namens Erde, Ausdruck der schöpferischen Liebe. Wir haben nur noch nicht die Fähigkeit entwickelt, sie zu sehen, denn man erkennt nur etwas, das man kennt, dessen Abbild man in sich trägt. Wenn jemand z.B. kein Gefühl für Musik hat, dann ist sie für ihn eine sinnlose Aneinanderreihung von Tönen, eine Kakophonie. Doch wer wirklich musikalisch ist, der hört Musik in jedem Rauschen der Blätter und des Windes.

Und genauso verhält es sich mit der Brüderlichkeit, mit der Liebe. Und das ist der eigentliche Urgrund aller Probleme auf dieser Welt. Es gibt nur wenige Menschen, die bereit sind, die Stufenleiter der Liebe in sich zu entdecken und sie zu erklimmen.

Zuunterst befindet sich der Wunsch nach Anerkennung und Liebe. Aus diesem Wunsch heraus begehen wir Taten, von denen wir glauben, dass ihre Größe und unsere Leistung uns die Anerkennung anderer eintragen werden. Die schlimmsten dieser Taten sind z. B. Eroberungs- und Bereicherungskriege.

Eng damit verwandt ist die Eigenliebe. Man sieht nur sich selbst und kümmert sich nur um das eigene Wohlergehen; das ist die Liebe des Egoisten, der Geld und Macht scheffelt, ausbeutet, die Welt zerstört und im Vorübergehen grausam ist und zum Erreichen seiner Ego-Ziele auch Kriege anstiftet. Diese selbstverliebten Egoisten sind das größte Problem auf der Erde, denn sie denken nur an sich und können nicht zusammenarbeiten und große Zusammenhänge erkennen.

Eine gewisse, eingeschränkte Zusammenarbeit ist erst auf der nächsten Stufe, der bedingten Liebe, möglich. Diese Liebe ist geprägt von Misstrauen und Bedingungen. Auf diese Stufe gehören die meisten Zweierbeziehungen. Man liebt, anfänglich vielleicht sogar spontan, aber auf Dauer nur unter der Bedingung, wieder geliebt zu werden. Erlischt die Liebe des Partners, so erlischt auch die eigene. Auch mit dieser Form der Liebe ist eine geeinte Menschheit oder auch nur ein in sich geeintes Kommunalwesen nicht möglich, denn die Beziehungen untereinander sind geprägt von Misstrauen, Taktieren und vielen Bedingungen, die wichtiger erscheinen, als die große Vision, die ihnen ohnehin abgeht.

Erst die nächste Stufe der Liebe ist zukunftsträchtig, erst die nächste Stufe der Brüderlichkeit offenbart den wahren Humanisten. Hier ist man dem anderen zugetan ohne eine Gegenleistung zu erwarten und auch wenn man sie nie bekommt. Hier ist Liebe ein Wert an sich, und sie wächst und bringt Freude mit sich, je mehr man davon gibt. Wenn man frisch verliebt ist, gibt es manchmal Augenblicke, in denen sich die Liebe nicht auf den Partner fixiert, sondern nach außen geht und weit wird, um die Welt teilhaben zu lassen.

Eine Liebe, die einfach liebt, ohne Bedingungen, das ist wahre Brüderlichkeit. Wenn man so liebt, dann wünscht man sich das Beste für den Gegenstand der Liebe, und der Partner ist nur einer von vielen solchen „Gegenständen“. Je mehr die Liebe und die Brüderlichkeit wachsen, desto größer wird ihr Wirkenskreis, ihr Feld der Liebe und Brüderlichkeit: die Freunde, die Bekannten, das kleinere oder größere Lebensumfeld, die Landsleute und das eigene Land, den Kontinent, die Menschheit an sich, die Erde und das Leben auf ihr, das Sonnensystem, die Milchstraße und letztlich die ganze Schöpfung samt mutmaßlichem Schöpfer. Wenn man sich all dem zunehmend brüderlich verbunden fühlt, wenn man all dies in sein Herz aufnehmen kann, dann ist man auch in der Lage sämtliche Problemstellungen zunehmend global zu betrachten. Für wahre Brüderlichkeit gibt es keine Grenzen, denn Grenzen sind vor allem Machtmittel. „Teile und Herrsche“, sagte Machiavelli einmal, und die Geistesart, die sich darin ausdrückt, kümmert sich nicht um das Wohlergehen der übrigen Menschen, sondern nur darum, diese künstliche Aufteilung und Zersplitterung aufrechtzuerhalten und möglichst noch zu verstärken. Sie ist der direkte Gegensatz zur heilenden und verbindenden Brüderlichkeit und wird erbittert um ihre Vormachtstellung kämpfen.

„Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ hieß der Slogan, und der Schlüssel zu seiner Verwirklichung ist die vernachlässigte Brüderlichkeit, die Liebe. Nur in der Liebe ist wirkliche Gleichheit möglich, nur die Liebe schafft die Voraussetzung für die Entfaltung der Persönlichkeit und die Individualisierung. Und die Individualisierung und Entfaltung der Persönlichkeit bringt ganz natürlich das Bewusstseinswachstum mit sich, das in sich die Freiheit trägt.

Die französische Revolution hat die moderne Politik begründet, und das geheime, verborgene und bei Politikern gefürchtete wahre, innere Gesicht der Politik ist der Slogan, den sich die Revolutionäre auf die Fahnen geschrieben haben: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit oder moderner: Bewusstsein, Individualität, Liebe.

Manch einer wird vielleicht sagen, dass man damit keine Politik machen kann, dass sich daraus kein Programm, keine Aufgabe für die Politik ableiten lässt, denn diese Dinge kann man nicht per Dekret einführen. Das ist zweifelsohne richtig, denn diese Dinge müssen wachsen. Aber alles, was wachsen kann, kann man auch fördern. Und es reicht nicht, mit der Förderung an einem Punkt anzusetzen, sie muss integral sein, denn Bewusstsein, Individualität und Liebe sind letztlich miteinander verwoben, keines der drei steht für sich allein. Jeder Fortschritt, egal an welcher Stelle, hat Auswirkungen auf die anderen Punkte und stärkt diese.

Wichtig ist zuallererst, dass man erkennt, dass sich etwas ändern muss, und dann, was sich ändern muss. Ohne diese Erkenntnis, die einem meist nicht zufliegt, sondern um die man sich bemühen muss, wird kein Schritt getan, und ohne ersten Schritt, gibt es keine Bewegung und damit keinen Fortschritt. Erst dann kann man darangehen, herauszufinden, was man tun kann. Wenn man diese notwendige Erkenntnis erst einmal erlangt hat, kann man beginnen, diese Aspekte in sich selbst mit Leben zu füllen und sich selbst auf den Weg zu machen, denn das lebendige Beispiel hat eine unvergleichliche Macht, und außerdem weiß man dann eher, wovon man redet. Dann kann man versuchen, andere an der Erkenntnis teilhaben zu lassen. Wenn man diese Erkenntnis verbreitet, schafft man damit ein Bewusstsein, eine vielleicht anfangs unterschwellige Bereitschaft für einen Wandel. Und das gilt nicht nur für Politiker, das gilt für jeden Bürger, denn genau genommen hat jeder Mensch Anteil an der Gemeinschaft, der polis und ist damit politisch. Damit schafft man eine Atmosphäre des Wandels.

Für den Politiker und den Staat, also die Gemeinschaft der Menschen, die er vertritt, gibt es natürlich noch weitere Möglichkeiten, etwas zu unternehmen. Gutwille, Fortschrittswille und Zusammenarbeit sind ganz natürliche Eigenschaften der menschlichen Natur, die nie wirklich gefördert wurden, eher im Gegenteil. Die Politik hat, auch wenn das gern bestritten wird, einen großen Einfluss auf die Medien. Um ein Bewusstsein zu schaffen, muss man die Problematik und die Lösungsmöglichkeiten immer wieder und in vielfältiger Form zur Sprache bringen. Und Drehbuchautoren sind nicht dumm; sie können neue Inhalte durchaus spannend unters Volk bringen. Die Menschen brauchen neue Helden, neue Spiele, neue Bücher, neue Musik, neue Begegnungsmöglichkeiten – aber nicht zwanghaft. Wir brauchen eine Kultur- und Bewusstseinsrevolution, die ohne Druck und Agitatoren von den Menschen getragen wird.

Zusammenarbeit, Gemeinschaftsgefühl, Verantwortung und liebevolles Miteinander sind Eigenschaften, die schon im Kindergarten vermittelt werden können. Je früher desto besser. Und die Schulen sollten Charakterbildung nicht länger überforderten und uninteressierten Eltern überlassen, sondern die Schüler zu kritischem, selbstständigen und zukunftsorientierten Denken ermutigen, ihre Individualität und Kreativität und das Verständnis globaler Zusammenhänge fördern. Junge Menschen sind die glühendsten Erbauer einer neuen Welt; man muss nur ihre Begeisterung und Liebesfähigkeit wecken, statt sie jeden Tag aufs Neue zur Ohnmacht zu verdammen.

Wir sind nicht ohnmächtig, wir können etwas tun. Es ist klar, dass das nicht von heute auf morgen geht. Das erfordert Zeit, und viele unflexible Menschen werden sich nicht beteiligen, sondern sich schlimmstenfalls gegen die neue Zeit stemmen. Aber langsam wird sich erst das öffentliche Bewusstsein ändern, dann das individuelle. Die Bedeutung von Kreativität und Individualität wird wachsen, und Individualität wird als Bereicherung der Gemeinschaft angesehen. Und aus Zusammenarbeit wird Freundschaft erwachsen, Liebe und Brüderlichkeit.

Wenn die Politik ihre wirkliche Aufgabe ernst nimmt, dann wird man nicht mehr von ihr brauchen, sondern man kommt mit immer weniger aus, auch mit weniger Gesetzen und weniger Regeln. Dann wird die Welt nicht feindselig getrennt bleiben, sondern freundschaftlich zusammenwachsen. Und um die Probleme zu lösen, die auf uns zukommen, ist globale Zusammenarbeit, ein wirkliches Miteinander unumgänglich.

Man darf niemals „zu spät“ sagen. Auch in der Politik ist es niemals zu spät. Es ist immer Zeit für einen neuen Anfang.

Konrad Adenauer

Politik – Eine Zukunft für die Zukunft

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