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Die Stimmen waren nicht zurückgekehrt. Die Nacht war hereingebrochen und ich fror. Es war unmöglich zu sagen, welcher Temperatursensor diese Alarmdaten an mein Gehirn meldete, da von der Hautoberfläche lediglich der Kopf, die Ohren und der Hals sendebereit waren, abgesehen von den seltenen Schmerzerlebnissen meiner Rückenpartie. Im Gesicht empfand ich lediglich ein Gefühl von Frische, das angenehm und nicht bedrohlich war. Der Himmel war klar und die Sterne funkelten in ihrem kühlen, weißen Licht. Mist!

Die Temperatur würde unter den Gefrierpunkt fallen. Wie sollte ich meinen Körper warmhalten? Ich schluckte den Kloß in meinem Hals hinunter. Vielleicht waren meine Extremitäten bereits steif gefroren und wären selbst im unwahrscheinlichen Fall, dass mein Nervensystem rebootete nicht mehr zu retten.

Oh bitte! Kaum hatte ich eine deprimierende Erkenntnis verdaut, da lauerte schon eine weitere um die nächste Ecke.

Ich konnte verstehen, dass Menschen aus der Hoffnungslosigkeit einen Weg wählten, den man nur alleine gehen konnte. Den Weg der Schlange, die im Nichts der Wüste verloren ging, ohne eine Spur zu hinterlassen. Vielleicht war dieses Nichts etwas anderes als ein Ort der Hoffnungslosigkeit. Sie war das Paradies der Schlangen.

Ich könnte meinem Leben durch eigene Hand ein Ende setzen aber nur, wenn ich wenigstens eine von ihnen noch kontrollierte. Mir wurde schmerzlich bewusst, dass ich diese Option gar nicht mehr hatte.

Es wäre unendlich frustrierend, sich in einer krüppelfeindlichen Welt zu bewegen, wenn man mich denn gegen meinen Willen fände. Und irgendwann würde das Schweigen unerträglich über ein Leben, das keine Schnittstelle mehr mit dem vertrauten Alltag hatte. Spätestens dann brachen die Brücken ab, denn Brücken konnten nur kompatible Welten verbinden, von denen sie jeweils ein Teil sein mussten.

Warum sollte jemand über eine Brücke eine Welt betreten, in der eine fremde Sprache gesprochen wurde, und die eine Wüste war voller Schlangen?

Ja, vielleicht gab es ein paar Menschen, die so eine Brücke überschritten aus Abenteuerlust oder Mitleid. Der Grund spielte keine Rolle. So oder so würden sie die Krankheit ihrer vollkommenen Gesundheit einschleppen, die für die Eingeborenen der Wüste tödlich wäre, nicht tödlich für den Leib, sondern tödlich für die Seele. Spätestens dann drängte sich unweigerlich die Frage für sie auf, welchen Unterschied es noch machte, ob sie am Leben waren oder nicht.

Ich schüttelte den Kopf, wenigstens in Gedanken. So wollte ich nicht enden. Sie sollten mich nicht finden. Nicht so.

Es sei denn, der Schmerz in meinem Rücken bedeutete eine winzige Hoffnung auf Genesung.

Die Dunkelheit schaltete die Augen auf stand by und leitete die Energie in die Ohren um. Die Geräusche des Waldes drangen in mein Bewusstsein. Es raschelte im braunen Laub und das Murmeln des Baches zu meiner Rechten bildete einen beruhigenden Kontrapunkt zur kleinen Nachtmusik der sich im kühlen Wind wiegenden Bäume. Da waren sicher Mäuse unterwegs, auf der Suche nach etwas Essbarem.

„Etwas zu essen wäre jetzt auch nicht schlecht“, dachte ich mir und bemerkte erstaunt, dass meine Speicheldrüsen die entsprechende Software starteten. Ich hatte eine Bruchlandung in der Unendlichkeit des Nordschwarzwaldes hingelegt, die meine kleine Propellermaschine nie wieder verlassen würde, und ein grünes Lämpchen an meinem zerbeulten Instrumentenbord signalisierte, dass das abgerissene Fahrwerk ordnungsgemäß ausgefahren und verriegelt sei.

Situationskomik zum Heulen. Hatte Antoine auch geheult? Bestimmt. Aber dann kam der kleine Prinz und lenkte ihn von seinem Elend ab. Wo war er jetzt, wenn ich ihn am dringendsten brauchte?

Ich Idiot. Antoine hatte ihn erschaffen mit der Kraft seiner Fantasie. Alle Achtung. Er war in seiner Situation genau wie ich zum Passivisten verdammt gewesen. Dennoch war er uneingeschränkter Herrscher über seinen Verstand geblieben. Dort war er frei und nicht gestrandet. Es gab immer diesen Ort, an dem man seine Opferrolle verlassen konnte, an dem man zum Aktivisten wurde und die Würde des Menschen zurückgewann, der seinen Lebensweg aufrecht ging in die Richtung, die er selbst gewählt hatte.

Sollte ich mir auch einen kleinen Prinzen ausdenken? Sollte ich mir einen Pinocchio schnitzen, ihm Leben einhauchen und ihn alles lehren, was ich wusste, bis er schließlich in meinem Kopf ein Eigenleben führte? Ein perfekter Gesprächspartner meiner Selbstgespräche.

Ich kicherte in mich hinein, und ein erneuter Hustenanfall zwang mich zur Ruhe.

Ein weiteres unbekanntes Geräusch riss mich aus meinen Gedanken. So dicht am Fluss musste es Ratten geben. Ein Schauer lief mir über den Rücken, zumindest projizierte mein Gehirn etwas an diesen Ort, das sich so anfühlte. Ratten waren Allesfresser und ich könnte sie nicht vertreiben. Das Rascheln kam näher. Ich spürte einen Luftzug an meinem rechten Ohr. Etwas beschnüffelte mich. Ein Schwall faulen Atems drang mir in die übersensible Nase.

Etwas umrundete mich, berührte meine Haare und verschwand in Richtung Flussufer. Ich hoffte, dass der Nager in mir kein kostenloses, kaltes Buffet sah, zu dem er gerade ein paar Freunde einladen ging. Ich verdrängte den Gedanken, denn ich könnte ihre Entscheidung ohnehin nicht beeinflussen.

Es raschelte schon wieder, diesmal in den Büschen links am Hang. In das Murmeln des Wassers mischte sich eindeutig das Wühlen einer Schnauze, unterbrochen von einem Schnüffeln und Niesen.

Ein Wildschwein! Waren die gerade in der Brunftzeit oder hatten sie schon Junge?

Das Tier kam näher. Es hatte wahrscheinlich meinen Angstschweiß gewittert. Fraßen Wildschweine auch Menschen? Ich wäre eine leichte Beute und eine hübsche Energiereserve für den Rest des Winters. Anstelle des Schweins würde ich nicht lange überlegen. Ein weiterer Schauer lief mir über den Rücken, ohne dass ich es auf eine vertraute Weise spüren konnte, und ließ selbst meinen unerschütterlichen Galgenhumor verstummen. Ich erinnerte mich daran, gelesen zu haben, dass es bei der Mafia üblich war, Verräter hungrigen Schweinen zum Fraß vorzuwerfen, wenn man ihnen einen besonders grausamen Tod bereiten wollte. Ich beruhigte mich damit, dass dieses Wildschwein ja nun nicht extra gefastet hatte in Erwartung des Festmahles, das überraschend auf seinem Streifzug lag.

Es stupste mein linkes Bein an.

„Lass das! Ich muss absolut still liegen“, krächzte ich in Richtung des nächtlichen Besuchers. Das Tier hatte offenbar verstanden und trottete nach seiner eher oberflächlichen Untersuchung davon. Wollte es ebenfalls ein paar Freunde dazu holen mit der aufregenden Neuigkeit:

„He, da liegt ein riesen Schinken regungslos am Bach und das Verrückteste ist, der spricht unsere Sprache“.

Wenn sie sich nur mit mir unterhalten wollten, kein Problem. Gesellschaft hatte ich gerne, aber bitte zivilisiert und jeder brachte sein Knabberzeug selbst mit.

Mir war schwindelig wie nach zu viel Alkohol. Woher kam diese idiotische Euphorie. Ich lag hier vom Hals ab gelähmt und wartete auf mein Ende.

Nein, ich sollte dankbar sein. Euphorie war zehnmal besser als Depression. Doch Letztere lauerte hinter jedem Baum und jedem Busch und würde mich anfallen, wenn ich am wenigsten darauf vorbereitete wäre. Es machte mir Angst. Ich konnte nicht wegrennen und müsste dem Ansturm der Mächte der Finsternis alleine mit meinem flackernden Fünkchen Leben entgegentreten. Warum hatte ich mir nie Gedanken über den Tod gemacht? Warum machte sich kaum jemand Gedanken über den Tod? Er gehörte zu den wenigen Gewissheiten jedes Lebewesens.

Für alles machten wir Pläne. Wenn wir ängstliche Menschen waren, dann sogar einen Plan B, falls Plan A scheiterte. Wir waren Idioten. In den Tod rannten wir mit absoluter Gewissheit aber mit der Dämlichkeit von Lemmingen.

Konnte man den Tod planen, konnte man ihn erträglich machen, indem man die große Spanne von friedlichem Entschlafen bis Bei-lebendigem-Leib-von-einem-Wildschwein-verspeist-werden zu Lebzeiten durchspielte?

Ich war in der privilegierten Position, dies jetzt tun zu können. Etwas spät und doch nicht zu spät.

Ich wollte nicht sterben! Eine Stinkwut kochte in mir hoch. Meine Situation war grotesk. Ich sollte nicht hier sein. Das hier gab es nicht wirklich. Man starb oder aber nicht. In diesem Punkt war die Natur digital. Entweder oder, aber nicht dieses Auf-Raten-sterben.

Andrerseits war der Restkosmos ein analoges Ding. Er kannte unendlich viele Graustufen. Er war chaotisch und erlaubte einen komplett anderen Gang aller Dinge, wenn sich nur die Parameter der Gegenwart minimal änderten. Darin lag die eigentliche Freiheit, die in der Singularität des Jetzt steckte. Ja, ich hätte mit der Entscheidung, auf der Couch liegen zu bleiben, nicht nur mein Leben grundlegend geändert, sondern den Lauf der ganzen Welt.

Warum sollte also die Natur ihre Gesetze ändern, wenn es um das Sterben ging?

Vielleicht hatte ich eine falsche Vorstellung gehabt. Vielleicht hatte ich ja überhaupt keine Vorstellung gehabt. Verdammt!

Nun war ich fünfundvierzig Jahre alt geworden und hatte es nicht geschafft wenigstens ein paar Minuten ernsthaft ein paar Gedanken auf die wichtigste Sache der Welt zu verwenden, die mit tödlicher Gewissheit irgendwann eintraf.

Die Bibel ermahnte die Menschen immer wieder, daran zu denken, dass der Herr käme wie der Dieb in der Nacht.

Ich hatte mir in der idealistischen Zeit meiner Jugend vorgenommen, Mönch zu werden. Warum hatte ich den Plan aufgegeben? Zum einen wäre ich an diesem schicksalsschweren Morgen mit meinen Mitbrüdern zum Chorgebet in der Kirche gewesen, anstatt mit dem Fahrrad durch den Wald zu rasen, und zum anderen hätte ich mein Leben im Bewusstsein der eigenen Vergänglichkeit gelebt und gestaltet. Ich hätte nie eine Familie gehabt, doch im Angesicht meines Todes war nun die Familie, die ich zurücklassen musste, der größte Schmerz, den ich mir vorstellen konnte. Als Mönch könnte ich einfach loslassen, weil es nichts loszulassen gäbe. Für ihn wäre das Sterben ein friedliches Entschlafen.

Würde Gott mir verzeihen, dass ich mein Leben so leichtfertig aufs Spiel gesetzt hatte? Gab es ihn und ein Jenseits, wenn das hier vorüber wäre?

Die Tränen rannen mir über das Gesicht. Ein heißer Schmerz in meinem rechten Oberschenkel unterbrach meine Trauer. Der Kämpfer in mir erwachte wieder zum Leben. Ich wollte nicht sterben und ich würde nicht sterben, sondern vollständig genesen und wenn ich Jahre darum kämpfen müsste.

Sie waren zurück. An meinem rechten Bein zerrte etwas. Irgendwie spürte ich eine Spannung in meiner Nackenmuskulatur, die mich zu diesem Schluss zwang. Ich hatte Turnschuhe und eine gefütterte Radlerhose an, durch die sie sich erst mal durcharbeiten müssten. Dann kamen noch die Socken und die lange Unterhose.

Schuhe und Hose waren aus synthetischem Material und schwer zu verdauen. Ratten, die im Wald lebten, sollten eigentlich auf eine Bioernährung achten und synthetisierte Erdölprodukte ablehnen. Der Galgenhumor gab mir einen Teil meiner Energie zurück.

Es raschelte aufgeregt um das Ende meines Körpers herum, das so weit weg war wie der Mond. Es waren mindestens drei, nein, vier Tiere. Eines näherte sich von links und raste schließlich mit etwas leuchtend Weißem durch mein Gesichtsfeld. Es dauerte einen Moment bis mir klar wurde, dass es ein Schnürsenkel war.

„Ersticke dran, du Scheißvieh!“, zischte ich wütend. Ein scheußlicher Schmerz erreichte mein Gehirn. Er kam eindeutig von meinem kleinen Finger der linken Hand. Eigentlich ein Grund zur Freude, doch dann wurde mir schlagartig bewusst, dass ein Handschuh links in meinem Gesichtsfeld lag. Er musste mir bei meinem Sturz abgerissen worden sein. Sie hatte also meine verwundbarste Stelle gefunden. Ich war ein Held wie Siegfried, und eine scheinbar unbedeutende Kleinigkeit würde mich das Leben kosten wie ihn. Eins der Biester biss zum zweiten Mal in meinen kleinen Finger. Der Schmerz schwoll an, und plötzlich zuckte meine Hand. Ich war so verblüfft, dass ich meine Angst für einen Augenblick vergaß.

Auch wenn es nur ein Reflex war, der über mein Rückenmark lief, die Ratte wertete es als Gefahr und huschte davon. War das ein gutes Zeichen gewesen? Ich dachte fieberhaft nach. Der Kniescheibenreflex funktionierte auch bei Querschnittsgelähmten. Gab es einen ähnlichen Reflexbogen an der Hand? Das Zurückziehen des Armes, wenn man auf die heiße Herdplatte fasste, geschah unwillkürlich, doch ich wusste nicht mehr, ob das Gehirn irgendwie beteiligt war. Logisch war es beteiligt! Der Schmerzreiz hatte mein Gehirn erreicht und die Bewegung ausgelöst. Irgendein altes Kabel hatte den Betrieb wieder aufgenommen. Konnte es den Rest des elektrischen Netzes defibrillieren, damit es neu startete?

Mein Herz schlug mir bis zum Hals. Eine weitere Welle unbändiger Wut überflutete meinen Körper mit Adrenalin und verursachte ein Kribbeln in meinem Nacken. Die Frage war, ob die Ratten schneller waren als das Booten meines Nervensystems.

Irgendwie spürten die Nager instinktiv, dass sie sich in einem Wettlauf gegen die Zeit befanden und zerrten in einer konzertierten Aktion an meinem rechten Hosenbein. Sie wollten die Hose herunterziehen, aber der enge Gummibund war nicht leicht zu überwinden. Hätte ich nur den Nylongürtel nach dem Waschen der Fahrradgarnitur wieder eingezogen. Er hätte die Hose unweigerlich an meinen Hüften gestoppt, aber jetzt merkte ich, dass das Gummi irgendwann diese Hürde überwinden würde, und dann war es eine Frage von wenigen Minuten.

Sie wollte meinen kleinen Finger abnagen. Das Biest gab nicht auf. Ratten hatten sicher deshalb Jahrmillionen überlebt, weil sie mangelnde Körpergröße mit einem hohen Maß an Unverschämtheit kompensierten. Sie würde sich nicht durch ein schwaches Zucken abhalten lassen. Im Gegenteil. Ein Opfer, das sich bewegte, musste noch frisch und besonders bio sein.

Es wurde Zeit, dass ich alle Konzentration in meine Gliedmaßen leitete, anstatt mich mit philosophischen Betrachtungen des Lebens zu verausgaben. Der Geist steckte im Körper, und wenn der Körper im Magen hungriger Tiere landete, war auch der Geist futsch.

Der römische Satiriker Juvenal hatte mens sana in corpore sano so locker von sich gegeben. Die Römer waren zu seiner Zeit bauchlastig geworden, und wenn sie nicht an einer fettinduzierten Zirrhose oder Diabetes starben, dann wurden sie von durchtrainierten Haussklaven niedergemetzelt, die weniger zu essen hatten und deshalb in corpore sano steckten. Damit ist aber eine wichtige Voraussetzung für mens sana erfüllt, denn plenus venter non studet libenter.

Ich war durchtrainiert, doch im Augenblick so weit von corpore sano entfernt wie die Erde vom Mond. Vielleicht war aber deshalb mein mens in einem noch viel erbärmlicheren Zustand, und so murmelte ich die Worte Juvenals in ihrem ursprünglichen Sinn gebetsmühlenartig vor mich hin, während ich die Augen geschlossen hielt und alle Sensoren meines Körpers abzufragen begann: Orandum est, ut sit mens sana in corpore sano.

Schon wieder ein scharfer Schmerz in einem Finger meiner linken Hand. Diesmal war er sehr viel heftiger und löste eine Reaktion aus, die die Ratte abermals in die Flucht schlug. Vielleicht konnte ich doch gewinnen. Sie würde zwar zurückkehren, doch ihr war nicht klar, dass sie mit jedem Biss mein Nervensystem dichter an die Schwelle der Reaktivierung brachte. Es musste so sein. Der Schmerzreiz war der Nervenimpuls, den die Evolution am besten abgesichert hatte, weil ihm die größte Bedeutung für das Überleben des Organismus zukam. Folglich musste man auf dieser untersten Ebene des Betriebssystems den Bootvorgang starten. Windows startete erst BIOS, dann DOS und schließlich das Fensterchenprogramm, dessen Einrichtung so viel Zeit in Anspruch nahm, dass man sich schon fragte, ob man seinen Text nicht besser von Hand geschrieben hätte. Ich hoffte inständig, dass nicht Bill Gates die Software meines Input-Output-Systems geschrieben hatte, denn sonst könnten sich die Ratten entspannt zurücklehnen.

Plötzlich hörte das Zerren an meinem Hosenbein auf. Nanu. Hatte die Flucht des Fingerlutschers auch die anderen in die Flucht geschlagen? Die Antwort auf meine unausgesprochene Frage folgte stande pede, wobei stande pede für mich nun wirklich nicht zutraf.

Das Schnüffeln und Niesen war zurück. Der Herr des Waldes beanspruchte die Beute zuerst für sich. Irgendwie wusste ich die Ehre nicht zu schätzen. Vielleicht käme ein Puma dem Wildschwein in die Quere, dann ein Büffel dem Puma und schließlich ein trompetender Elefant dem Büffel, doch bei genauerer Betrachtung fielen mir keine Fressfeinde des Wildschweins im Schwarzwald ein. Die Würfel waren gefallen, wie hieß das gleich noch mal auf Latein?

Mein kleiner Finger links zuckte wieder als wollte er sagen: „Moment mal, ich habe eine Idee."

„Nur zu. Du bist doch näher an meinen Zehen dran als ich. Kannst Du nicht ein Machtwort sprechen und sie aus ihrem selbstgefälligen Dämmerschlaf reißen? Trau dich. Auch ein kleiner David kann eine Goliathaufgabe anpacken“.

Meine Verzweiflung wich einer wilden Entschlossenheit. Die Gefahr hatte ein Gutes. Sie erhöhte erneut den Adrenalinspiegel und blendete meine Angst vor dem Tod und vor dem Dasein des Krüppels aus. Da war auch noch die Angst, dass ich an diesem einsamen Ort sterben könnte, um vom Jenseits die Stimme des untersuchenden Arztes zu hören: „So ein Pech. Es war nur eine Prellung. Ein paar Minuten früher und wir hätten ihn wieder vollkommen herstellen können“.

Meine Angst war ein Gefängnis, aus dem ich nicht entrinnen konnte, weil hinter jeder Angst, die ich überwand, eine weitere Angst lauerte. Jede verzweifelte Option, die mein Gehirn konstruierte, endete wieder in Angst. Das war das eigentliche Todesurteil, nein, es war schlimmer.

Es machte keinen Sinn, Optionen und Fantasien durchzuspielen. Nur das Jetzt zählte. Hatte ich es immer noch nicht verstanden?

Doch wenn man vom Hals ab gelähmt war, dann wurde die Persönlichkeit reduziert auf die ratternde Mühle des Verstandes. Ein Verstand aber, der über alle Lebensenergie uneingeschränkt verfügen konnte, vergiftete die Seele.

Mens sana in corpore sano.

Vielleicht steckte ein tieferer Sinn in diesen Worten, als die Römer ihn dem Komiker Juvenal zugetraut hatten. Es war wichtig ein Gleichgewicht zu wahren zwischen Körper und Geist. Die zwei Pferde vor dem Karren des Logistikons waren jedes für sich in der Lage, den Wagen in Stücke zu reißen.

Wer den Verstand zu seinem einzigen Gott erhob, der verlor die Gegenwart, denn der Verstand haderte mit der Vergangenheit und projizierte eine verwirrende Anzahl möglicher Szenarien in die Zukunft, bis keine Energie mehr übrig blieb, um das Jetzt in die Hand zu nehmen.

Ein Mensch, der im Übermaß der Vitalität seines Körpers frönte, wurde nicht nur irgendwann bitter mit Falten und knackenden Gelenken konfrontiert, sondern verlor auch die Segnungen des Verstandes, die es zweifellos auch gab. Der Verstand konnte lernen. Nutzte man ihn sinnvoll, dann eröffnete er die Möglichkeit, Fehler nicht ständig zu wiederholen und mit dem zu enden, was man Weisheit nannte.

Ich wollte auch alt werden. Ich wollte weise werden und meinen Kindern und Enkeln etwas weitergeben. Ich wollte meinen Körper zurück, damit mein Verstand mich nicht in Stücke riss.

Sonst noch was? Nein, sonst fiel mir nichts Wichtiges mehr ein. Ich schämte mich für die vielen kleinen Probleme, die ich früher zum Anlass für ein ständiges Wehklagen genommen hatte. Wenn ich hier heil herauskäme, würde sich mein Leben von Grund auf ändern. Ich leistete im Stillen einen heiligen Schwur und stellte verzweifelt fest, dass wieder etwas an meinem Hosenbein zerrte.

Frau vor Sonnenuntergang

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