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Warum wir im Pflegebereich mehr über Depressionen wissen sollten

In der Pflege haben wir es oft mit depressiven Menschen zu tun. Mindestens 10 % unserer Pflegekunden werden unter dieser Krankheit leiden, einige davon unerkannt. Und weil es ab dem 60. Lebensjahr eine große Zahl von Neuerkrankungen an Depressionen gibt (Involutionsdepression - auch Altersdepression genannt), ist dieser Prozentsatz in der Altenpflege noch höher.

Da wir keine Ärzte oder Psychotherapeuten sind, gibt es für uns nicht den besonderen Rahmen einer Visite oder einer therapeutischen Sitzung, in dem wir depressiven Menschen ausschließlich begegnen. Wir begegnen diesen Menschen jeden Tag - und in der Langzeitpflege verbringen wir einen Teil des Alltags mit ihnen.

Ein solcher Kontakt ist nicht ohne Komplikationen. Beschreiben schon erfahrene Psychotherapeuten depressionstypische Probleme bei der Interaktion mit ihren Patienten, welche unerwünschte emotionale Reaktionen beim Therapeuten hervorrufen können, treten solche Reaktionen erst recht bei einem Kontakt auf, der keinen therapeutischen Rahmen hat und zudem doch wesentlich öfter stattfindet als die Begegnung mit einem Arzt oder Psychotherapeuten.

Ich muss feststellen, dass ich mich meinen Bewohnern im Pflegeheim anders nähere als meinen Patienten in der psychotherapeutischen Heilpraxis. Im Pflegeheim habe ich als Betreuungsassistent keine therapeutische Zielsetzung. Hier ist es meine Aufgabe, den Bewohnern als Alltagsbegleiter in verschiedenen Situationen zur Verfügung zu stehen und mit ihnen Beschäftigungen (wie: Basteln, Gedächtnistraining, Lieder singen…) zu veranstalten. Der nicht vorhandene psychotherapeutische Rahmen und die nicht vorhandene psychotherapeutische Zielsetzung machen eine unerwünschte emotionale Verstrickung mit depressiven Pflegekunden wahrscheinlicher.

Die Pflege und Betreuung depressiver Menschen kann eine große emotionale Herausforderung für uns sein, ohne dass wir das immer bemerken müssen. Nicht selten schieben wir die unerwünschten Gefühle beiseite, weil wir Wichtigeres zu tun haben und fühlen uns dann manchmal am Abend schlapp und verstimmt, ohne dass wir immer wissen, woher es kommt.

Ein kleines Experiment

Ich möchte Sie bitten, sich für eine sehr kurze Zeit an eine sehr unangenehme, seelisch belastende Situation in Ihrem Leben zu erinnern:

 einen schweren Liebeskummer

 an eine schwere und schmerzhafte Trennung

 den Tod eines geliebten Menschen

Es können auch andere Ereignisse sein wie der Verlust eines Arbeitsplatzes, der Ihnen sehr viel bedeutet hat. Wichtig ist, dass dieses Ereignis Sie in eine tiefe Verzweiflung gestürzt hat.

Und jetzt stellen Sie sich vor, dass Sie jeden Tag mit einem solchen Gefühl aufwachen, dass Sie eine solche Verzweiflung täglich erleben müssten, auch ohne dass ein „besonderer Grund“ dafür vorliegt. Und wie bei einem schweren Liebeskummer macht Sie ein sonniger Tag, an dem Sie viele glückliche Menschen sehen, noch unglücklicher.

Stellen Sie sich vor, könnten sich über nichts mehr freuen oder hätten sogar den Eindruck, dass Sie gar keine Gefühle mehr haben.

Stellen Sie sich vor, dass Ihre Freunde versuchen würden, Sie aufzuheitern und nichts helfen würde - egal was Ihre Freunde alles versuchen.

Vielleicht würde Ihnen Ihre Verzweiflung albern vorkommen. Niemand kann wirklich verstehen, was Sie empfinden, Sie haben keinen wirklichen Grund für Ihre Gefühle, es gibt keinen sinnvollen Auslöser für Ihre Verzweiflung und nichts - keine Freunde, keine Ablenkung - kann Sie aus diesem schwarzen Strudel befreien.

Eine depressive Patientin von mir, bei der Krebs festgestellt wurde, erzählte mir einmal, dass sie unter der Depression mehr leiden würde als unter der Krebsdiagnose.

Traurige Zahlen

Vielleicht bekommen Sie bei diesen Gedanken eine Ahnung davon, was für eine schlimme Krankheit die Depression ist. Zwischen 10 und 15 % der Erkrankten unternehmen einen Selbstmordversuch - das ist der vierfache Prozentsatz verglichen mit der durchschnittlichen Bevölkerung. 50 % der Menschen mit einer Depression sollen - vermutet man - keinen Arzt aufsuchen und leiden im Stillen. Von den restlichen 50 % suchen etwa 3/4 nicht den Psychiater sondern den Hausarzt auf, wo etwa die Hälfte der Depressionen nicht erkannt werden.1

Nach diesen statistischen Daten zu urteilen, wird der größte Teil aller Depressionen nicht erkannt und demzufolge auch nicht entsprechend behandelt.

Um das noch mal etwas dramatischer aus einer anderen Quelle zu formulieren: von den Menschen mit einer schweren Depression erhalten nur 26 % eine angemessene Behandlung2.

Als Pflegende und Betreuende sind wir von ärztlichem Handeln abhängig und haben auf dieses - von sauberer Dokumentation einmal abgesehen - keinen Einfluss. Trotzdem möchte ich darüber schreiben, weil ich denke, dass mehr Kenntnisse über Depressionen uns in unserer täglichen Arbeit eine große Hilfe sein können.

Da ich sowohl als Heilpraktiker für Psychotherapie als auch als Betreuungsassistent in einem Pflegeheim arbeite, habe ich das Privileg, Menschen mit einer Depression sowohl von der medizinisch-therapeutischen Seite als auch von der pflegerisch-lebenspraktischen Seite aus kennenzulernen. Ich erlebe die Kombination dieser beiden Perspektiven als ein großes Geschenk.

Ich werde Ihnen in diesem Kapitel von wirklichen Menschen erzählen - wirkliche Erlebnisse mit ihnen schildern. Diese Erlebnisse werden - so hoffe ich zumindest - die Krankheitslehre nicht so trocken erscheinen lassen. Ich möchte, dass Sie diese heimtückische Krankheit gut verstehen lernen und erfahren, was Sie im Umgang mit depressiven Pflegekunden beachten sollten.

Vor allem werde ich mich auf eine Bewohnerin konzentrieren, die ich Ihnen als Frau X vorstelle.

Es ist mir lieber, Ihnen einen Menschen präsentieren, der unter dieser Krankheit leidet, als mir aus verschiedenen Patienten ein „typisches“ Bild zusammen zu montieren.

Depression und Pflege

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