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KAPITEL 2:

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Meine Wünsche als Kind


«Die Natur hat nicht vorgesehen, unser Leben vorzubestimmen. Wir sind frei, es zu gestalten.»

Träumen war für mich als Kind etwas Wunderschönes. Ich konnte mir die kühnsten Abenteuer ausmalen und in diesen Geschichten aufgehen. Es reichte für mich, die Augen zu schließen und das Gedankenspiel zu starten. Am wohlsten fühlte ich mich, wenn ich ganz für mich allein in der Natur war. Ich ließ mich irgendwo nieder und begann, die Wunschgeschichte in meinem Kopf zu gestalten. Wenn etwas nicht passte, spulte ich zurück und veränderte die Grundlagen. Es waren keine Helden- und auch keine großen Erfolgsgeschichten, sondern einfach ganz gewöhnliche Abenteuer eines Kindes, das die Welt entdecken will. Es gab aber auch Vorstellungen, über deren Ursprung ich auch heute noch rätsele. Eines war jedoch bei all diesen Träumen und Wünschen da: der Bezug zur Natur und vor allem zu den Bergen.

Am Seil über Firne

Ich vermute, dass bereits meine Großeltern einen wesentlichen Grundstein für meine Freude an den Bergen gelegt haben. Sie liebten es, als Stadtbewohner in der freien natürlichen Umgebung der Schweiz unterwegs zu sein und den Wald wie auch die Berge zu bewandern. Mir sind die legendären Frühlings- und Sommerwanderungen über Schneefelder am Seil und das Erklimmen von Alpen und Bergen noch gut in Erinnerung. Das Ziel war immer, draußen zu sein. Sogar bei wunderschönen Alphütten haben es meine Eltern vorgezogen, mit Windjacke und Wolldecke auf der Terrasse den bereits abgekühlten Tee zu trinken, als sich ins Innere der gemütlichen Stube zurückzuziehen.

Wo immer wir ein Stückchen Schnee entdeckten, haben wir es betreten. Im Rucksack hatte mein Vater oft kleine Firngleiter dabei. Dies sind sehr kurze Ski, die mit Wanderschuhen genutzt werden können. Oben am Schneefeld angekommen wurden die Wanderschuhe mit Riemen am Ski festgezurrt und schon konnte ich auf dem Schneefeld heruntersausen. Elegant sah es natürlich nicht aus. Es war ein Abenteuer: keine Stöcke, Skier ohne Kanten, noch dazu vereister Schnee und keine Ahnung, wie ich bremsen sollte. Die Schneefelder lagen oft in einer steilen Nordflanke mit minimaler Sonneneinstrahlung, sonst wäre der Schnee schon lange weggeschmolzen. Dieser Segen war auch ein Fluch. Die erreichbare Geschwindigkeit war sehr hoch und das Ende abrupt: Meistens waren dort Felsen oder große Steinbrocken, die frei von Schnee waren. Die schnelle Suche nach Auswegen wurde zur Überlebensfrage. Waren die Skier nicht dabei, so haben wir uns einfach auf die Regenjacken gesetzt und sind auf dem Po hinuntergesaust. In der Ferienzeit war es üblich, dass wir mehrere Tage unterwegs waren und in SAC-Hütten oder bei Bauern im Stroh übernachtet haben. Damals war das Klohäuschen einer unserer beliebtesten Berghütten noch 20 Meter vom Haupthaus entfernt. Das Sitzbrett mit Loch stand über einer kleinen Felswand. Wenn dann eine Windböe zum falschen Zeitpunkt nach oben stieg, konnte man das Geschehen hautnah mitfühlen.

Aussicht bis ans Ende der Welt

Ich bin mir heute sicher, dass in meiner Kindheit der Heidi-Film aus dem Jahr 1978 mit den idyllischen Szenen von der Alp seinen Beitrag zu meiner Begeisterung für die Berge geleistet hat. Es gab für mich nichts Schöneres, als auf eine Anhöhe zu steigen und die Weitsicht zu genießen. Als Kind hatte ich dank dieser Aussicht die Möglichkeit, meine kleine Welt aus der Vogelperspektive zu betrachten und neue Horizonte zu entdecken. Ebenso half es mir, eine Karte im Kopf zu gestalten und mich damit im Gelände zu orientieren. Noch heute bin ich dieser Fähigkeit sehr dankbar. Bei noch so dichtem Nebel oder Schneegestöber fand ich bisher immer den richtigen Weg ins Tal zurück.

Was mich in dieser Höhe mit Aussicht neben den Bergen noch mehr begeisterte, war die Sicht in den Himmel. Je mehr Himmel, desto besser. Das war für mein Träumen ein wichtiger Schlüssel. Er bot die grenzenlose Weite meiner Vorstellungskraft und Möglichkeiten, die doch im Rahmen meiner kindlichen Vorstellung blieben. Wo andere von ihrem Beruf oder ihrer Familie träumten, schwebte mir ein Leben in dieser urchigen, unberührten Natur vor. Im Alter von 10 Jahren schrieb ich diesen Traum in Bezug auf die Berge sogar in Form einer Geschichte in ein kleines blaues Heft. Mit der geschwungenen Handschrift eines Primarschülers beschrieb ich darin das Schicksal meines Lebens. «Ich erblinde in meinem jungen Leben in der Schule und ziehe als 19-Jähriger in ein Bergdorf mit Alpwirtschaft auf 1230 m ü. M. Dort lebe ich mit meiner Freundin und einem Bernhardiner als Holzverarbeiter in den Bergen.» Bis auf das Bergdorf und die Höhenmeter hat die Geschichte nichts mit meiner jetzigen Realität zu tun. Ich musste erst etwas älter werden, um in die Berge zu ziehen. Meinen Beruf habe ich dann doch nicht der Schreinerei gewidmet und einen Hund besitze ich bis heute nicht. Ganz besonders freut es mich, dass ich noch heute den Ausblick auf die Bergwelt mit beiden Augen genießen darf, farbig und klar. Trotzdem war dieser Wunsch nach den Bergen tief in mir verankert. Wenn ich mich in dieser Geschichte nur auf das Zutreffende fokussiere, so liege ich mit meinem heutigen Wohnsitz auf der Grimmialp mit 1230 m ü. M. gar nicht mal daneben.

Gewitter vom Feinsten

Gerade in den Bergen zeigte sich die Naturgewalt von ihrer kräftigsten Seite. Ein spezielles Highlight waren dabei Gewitter, die mich als Kind richtig aufgeladen haben. Während andere Familien sich bei einem Gewitter ins Haus zurückzogen, haben meine Eltern Stühle genommen und das Schauspiel am Himmel mit uns Kindern draußen bestaunt. Das Zählen der Sekunden zwischen Blitz und Donner zur Bestimmung der Entfernung des Gewitters wurde zum Familienspiel. Diese Helligkeit des Lichtes und die Wucht des Knalls elektrisierten jede Zelle meines Körpers. So heftig, dass ich mich noch heute an mehrere dieser Erlebnisse aus meiner Kindheit gut erinnern kann.

Entstand während des Wanderns ein Gewitter, verging der Spaß. Eispickel weglegen und nicht unter einem Baum stehen ergab ja Sinn – doch konnte ich mir nicht vorstellen, dass man dem unkontrollierten Einschlag eines Blitzes irgendwie bewusst ausweichen konnte. Nicht nur wegen des Wetters lag Spannung in der Luft; in der Familie gab es bei diesem Wetter manchmal Unklarheit wegen der Sicherheit. Das Wandern wurde dann stillschweigend mit raschen Schritten fortgeführt. Da solche Veränderungen nicht nur Temperaturschwankungen, sondern auch Hagel mit sich brachten, war immer für Abwechslung gesorgt.

Sehr eindrücklich waren für mich die Wetterwechsel. Der Regen zog mit den Wolken weiter und das Sonnenlicht strahlte in die feuchte Wetterwand hinein. Wenn sich dann ein Regenbogen zeigte, waren Nässe und Kälte schnell vergessen. Die Farben und die schönen Ringe strahlten wie ein Torbogen über das Land, der mit dem Regen weiterzog. Was sich die Natur hier wieder ausdachte! Wie mit einem großen Pinsel voller Wasserfarbe wurde das Wolkengrau mit allen Tönen des Lichtspektrums überstrichen. Jeder Bogen war einmalig; mal durchgehend oder nur bis zur Hälfte, mal mit einem Doppelbogen oder nur mit vereinzelten Farben. Ein Wunder, das mich jedes Mal zum Staunen brachte.

Über Stock und Stein

Bereits als kleiner Junge wurde ich von meinem Umfeld mit Steinen beschenkt. Zu dieser Zeit hatte mich ein geschliffener Achat sehr verzaubert. Vermutlich war er der Auslöser meiner Begeisterung für Steine und Kristalle. Wo Freunde Abzeichen, Fanartikel oder andere künstliche Dinge sammelten, war ich auf der Suche nach einzigartigen Steinen. Mein größter Ansporn war jedoch nicht die Sammlung, sondern das Finden. Ich verbrachte Stunden, wenn nicht sogar Tage in Bachbetten, Felsgrotten oder Geröllhalden. Immer auf der Suche nach einem einmaligen Stück Stein.

Es ging mir nicht um den größten Kristall oder um die vollständigste Versteinerung; es waren mehr die Einzigartigkeit der Fundstücke und ihr Entdecken, was sie auszeichnete. Meine Eltern schenkten mir in frühen Jahren einen Strahlerhammer und durften dann im Schneckentempo mit mir jeden Stein beim Aufstieg umdrehen und die Fundstücke im Rucksack herumtragen. Meine Strahlerzeit wurde jedoch von ihnen beim gemeinsamen Wandern immer stärker eingeschränkt, damit wir doch noch einige Meter in Richtung Gipfel vorwärtskamen. Das war natürlich nicht in meinem Sinne und so begab ich mich oft allein in steiniges Gelände, um diese Steine zu entdecken. In dieser Zeit träumte ich immer mehr von Abenteuern in abgelegenen Gebieten, unterwegs mit einem Geländefahrzeug mit Seilwinde und Schaufel. Ich wollte unbekannte Orte befahren und die Natur in den abgelegensten Gebieten entdecken. Die Seilwinde wurde dabei zum Symbol für dieses Abenteuer, deshalb mussten meine Spielautos diese ebenfalls vorweisen können.

Die weiße Jahreszeit

Im Winter war der Schnee das Hauptelement unserer Familie. Alte Fotos zeigen bereits meine Großmutter in jungen Jahren, wie sie mit Skiern und Fellen unterwegs war – und dies noch zu Zeiten, in denen Rock und Kopftuch anstelle von Helm und Hightechkleidern Mode waren. Schneeketten an Autoreifen zu montieren gehörte bei uns zur Routine im Winter wie bei anderen das Anziehen von Handschuhen. Das Wegrutschen der Hinterräder im Schnee hatte für uns nichts mit Gefahr zu tun, sondern gehörte dazu, um die Kurven der Bergstraßen schwungvoll zu bezwingen. Genauso ging es beim Skifahren weiter: Eine Piste war Luxus und man nahm sie mit Dankbarkeit an. Mit den Skiern durch tiefen Schnee zu stapfen gehörte ebenso zum Alltag. Oft war der Muskelkater in den Armen größer als in den Beinen, da es nur mit der Schubkraft der Stöcke weiterging.

Bereits in frühen Jahren meiner Kindheit wurden schlechte Sichtverhältnisse im Skigebiet als Vorteil bewertet, da wir die Piste dann für uns allein hatten. Wenn ich heute Skifahrer höre, die sich über den kalten Wind beschweren, muss ich oft schmunzeln, denn das Gefühl von Frostbeulen und hart gefrorenen Wollhandschuhen oder Socken hat sich mir tief eingeprägt.

Zur Bewegung in freier Natur gehörte der unübliche Standort der Verpflegung. Ich möchte nicht behaupten, dass es nie vorkam, dass wir bei Schnee in einem Berghaus saßen; doch kann ich mich an kein Mittagessen in einem Bergrestaurant im Skigebiet erinnern. Die erlebten Momente in der Natur hingegen sind mir sehr präsent. Es war für uns ganz normal, dass die Familienkarawane die Piste verließ und durch den Pulverschnee oder Brucharst eine Spur zu einem Felsband stampfte. Schöne Aussicht, Sonnenplatz und windstill – das waren die Kriterien meiner Eltern. Dann wurde versucht, im Hang irgendwie eine gerade Bank aus Skiern zu basteln, auf die man sich, gepolstert mit den kalten Handschuhen, setzte. Selbst gedörrte Früchte, Nüsse sowie Brot, Landjäger und Schmelzkäse bot die Speisekarte aus dem großen Rucksack an. Manchmal gab es auch eine Grapefruit, wobei jegliche Berührung mit dem Saft bereits ein Gefühl von Gefrierbrand auslöste. Die Schokolade als Nachspeise hat dabei nie gefehlt. An Pommes frites oder Spaghetti mit Tomatensauce zu denken, war hier fehl am Platz. Einzig der warme Tee vermochte etwas Luxus herbeizuzaubern. Der Standort für unsere Pause und die Abgeschiedenheit waren von höherer Wichtigkeit.

Ich vermute, dass es zur Zeit meiner Großeltern noch gar keine präparierten Skipisten gab. Auf diese Weise wurde diese Prägung an uns weitergegeben. Abseits der Piste hieß für uns nicht Gefahr, sondern Gewichtsverlagerung nach hinten, damit die Skispitzen irgendwie aus dem Schnee schauten. Aus meiner heutigen Betrachtung scheint mir frischer Pulverschnee neben der Piste auf sicherem Gelände immer noch sicherer als die hartgepressten und vereisten Pisten. Die Geschwindigkeit ist angepasst; der Untergrund dämpft jeden heftigen Schlag; die Gefahr einer Kollision mit einem anderen Skifahrer ist minimal. Wer jemals wie wir als Kinder Stunden damit verbracht hat, Skier nach einem Purzelbaum irgendwo im Schnee zu suchen, fährt bedachter.

Spuren im Schnee

Unser schöner Wohnort am Murtensee hatte einen kleinen Makel: Im Winter hing wegen der Feuchtigkeit des Sees und der abgesunkenen kalten Luft der Nebel über dem Seeland. Die Sonntagsspaziergänge wurden mystisch und wir haben nur noch vereinzelt Menschen im Wald angetroffen. Durch das düstere Licht fühlte sich die Luft noch kälter an, als sie bereits war. Wenn es möglich war, fuhren meine Eltern über die Nebelgrenze, um dort das Sonnenlicht zu ergattern. So wie sich zuvor der Wald als Spielwiese angeboten hatte, war es nun der Waldrand. Er wurde von dem winterlichen Licht der tief stehenden Sonne bestrahlt, was ein Glitzern des Frostes und Schnees auf den kargen Feldern erzeugte. Die Feuchtigkeit des absinkenden Nebels hüllte kurz vor dessen Auflösen die Äste und Zweige in einen weißen märchenhaften Eiszauber. Sie sahen aus wie das zarte Wurzelwerk eines Keimlings, der die weißen dünnen Wurzeln in den dunkelblauen Himmel empor wachsen ließ.

In dieser Phase meiner Kindheit hatte mir mein Vater angeboten, an den Sonntagen mit ihm auf Skiern die Berge zu besteigen. Es war die Zeit, als meine älteren Schwestern die Familienausflüge nicht mehr so interessant fanden und meine Zwillingsschwester sich lieber anderweitig beschäftigte. Ich war nicht immer hellauf begeistert, sonntags schon um 5 Uhr aufzustehen, um irgendwo in die Berge zu fahren. Und doch habe ich es bei passenden Schneeverhältnissen gern gemacht. Bei diesen Ausflügen war der Weg das Ziel. Einen Berg zu erklimmen war schön, doch freute ich mich ebenso auf das Besteigen eines schönen Kammes mit einer tollen Abfahrt. Wenn trotz der frühen Tageszeit bereits andere Tourenskifahrer vor uns eine Spur gelegt hatten, blieben wir auf Distanz. Bei passender Gelegenheit änderten wir das angestrebte Ziel und stampften eine neue Spur in eine andere Richtung.

Mein Vater und ich konnten stundenlang hintereinander herlaufen, ohne ein Wort zu sagen. Ich denke, dass es für uns beide richtig war. Durch die Bewegung im Freien waren wir miteinander verbunden. Das allein sprach schon Bände. Der Anblick der Schneelandschaften und der weißen Berge war für mich überwältigend. Hatten wir uns entschieden, eine Spur zu legen, gab es keine äußeren Einflüsse, die uns aufhalten konnten. Bei hoher Lawinengefahr haben wir einfach kleinere Hänge gesucht und sind mehrmals hochgestiegen und wieder hinuntergefahren. Oder wir gingen einen Waldrand entlang und verzichteten auf lange Abfahrten. Gerade in den Voralpen war dieses Alternativprogramm bei solchen Bedingungen einfach machbar. Ich konnte den Alltag hinter mir lassen und einfach tief durchatmen.

Klirrende Kälte

Für Skitouren war schönes Wetter eine angenehme Abwechslung, jedoch keine Bedingung. Meinem Vater zufolge gab es den frischesten Pulverschnee bei fallendem Schnee. Auf mein Argument, dass eine vernünftige Sicht das Skifahren vereinfachte, wollte er nicht eingehen. Bei fehlender Sicherheit oder einer schwierigen Lagebeurteilung brach er selbstverständlich den Ausflug ab. Wir stapften des Öfteren durch Schneegestöber, ohne einen anderen Menschen oder ein mögliches Ziel sehen zu können. Die Vorfreude erfuhr bereits ihren Härtetest, wenn die kalten, starren Skischuhe ein Anziehen verweigerten. Doch je öfter wir bei diesen Bedingungen unterwegs waren, desto mehr Freude kam in mir auf. Im dichten Schneefall, wenn man kaum ein paar Meter sah, fühlte ich mich wie in einen sanften Kokon aus Schneeflocken gehüllt. Ich konnte stundenlang zusehen, wie Schneeflocken tanzend vom Himmel fielen und die Landschaft verzauberten. Die Geräusche wurden noch dumpfer und nach einigen Schritten merkte ich gar nicht mehr, dass mein Vater vor oder hinter mir lief.

Es war sehr meditativ. Während andere in meinem Alter noch im Bett lagen oder sich in ihrem Zimmer beschäftigten, genoss ich die Zeit der Stille und Kälte in der Natur mit meinem Vater. Die wenigen Worte zur Orientierung – «Hiä oder dört?» – «Nei, vorne rächts» – und zum Bestaunen der Schönheit – «Schön. Hä?» – «Jaaa.» – reichten uns als Tagesgespräch völlig aus. Wenn dann noch der Wind dazukam und durch jede kleine Lücke der Kleidung wehte, spürte ich die Gänsehaut unter meinen Kleidern. Gefrorene Nasentropfen sowie Tränen um die Augen verzierten das ganze Gesicht. Wenn der Wind von hinten bergaufstossend wehte, hatte ich das Gefühl, nicht vorwärtszukommen. Wehte er talabwärts, kam ich erst recht nicht weiter. Doch all dies war egal. Es war einfach dieser einzigartige Moment in der Natur, der zählte – an diesem Ort, ohne Sicht nach vorn oder hinten, oben oder unten. Alles sah gleich aus. Ein Gefühl, das sich mit dem Eindruck von all den vielen Schneeflocken, dem kalten Wind und der Stille tief in mir verankert hatte.

Kristallklare Luft

Beim Loslaufen auf einer Skitour hatte mein Vater die Angewohnheit, nur durch die Nase zu atmen. Er meinte, dass diese Atmung ein natürlicher Regler für die maximal erlaubte Anstrengung und Geschwindigkeit sei. Sobald man den Mund öffnen müsse, sei man zu schnell oder laufe nicht richtig. Vor allem im Winter, wenn wir oft vor Sonnenaufgang in sehr kalten Gegenden unser Auto abstellten und uns aufmachten, war diese Technik sehr lohnenswert. Die Luft wurde dadurch in der Nase vorgewärmt und bereitete der Lunge weniger Schwierigkeiten. Das langsame Loszotteln war zwar nicht immer motivierend, doch konnte ich auf diese Weise im Halbschlaf hinterherstapfen.

Ich entdeckte in dieser Welt des Schnees meine tiefe Verbundenheit mit der Ruhe. Mein Vater strahlte eine souveräne Gelassenheit aus und ich konnte mich ganz auf ihn verlassen. Mit diesem Gefühl von Leichtigkeit und der Monotonie unserer Schritte auf dem Schnee genoss ich die Stille der Tour. Es war dieses Nichts – die feinen, zarten Schneekristalle schluckten die üblichen Geräusche. Sogar das Rauschen eines Baches wurde erst in unmittelbarer Nähe gut hörbar. Diese Stille war für mich eine sehr berührende Umgebung. Es fiel mir leicht, meine Geschichten im Kopf zu formen und blumig auszuschmücken. Dabei entstanden Zukunftspläne und Vorstellungen, die mich sogar emotional bewegten und mein Herz in dieser Kälte mit Wärme durchströmten.

Diese innere Gelassenheit und Ruhe half mir speziell bei gefährlichen Übergängen im felsigen Gelände. Ich wusste in solchen Momenten, dass ein Rutschen mit den Skiern zum Absturz über eine Felswand führen und mein Ende bedeuten würde. Spürbar wurde es, wenn die Harscheisen an der Bindung keinen richtigen Halt im harten Eis fanden und dabei die Steilheit des Hanges zu einem Balanceakt wurde. In diesen Augenblicken war nicht an die Abfahrt zu denken, da die Kanten der alten Skier nicht einmal auf normalen Pisten richtig Griff hatten. Es war ein einzigartiger Zustand, in dem ich mich ganz auf mich zurückgeworfen fühlte. Ich wusste, dass mir hier und jetzt niemand helfen konnte und ich diesen nächsten Schritt allein wagen musste. Nur das Vertrauen in das Material und in den Untergrund konnte mir noch Halt geben.

Diese Ausflüge waren nicht vergleichbar mit anspruchsvollen hochalpinen Touren, wie sie viele andere vornehmen. Und doch möchte ich behaupten, dass das Gefühl von Abenteuer in mir dasselbe war. Ich hatte Urvertrauen und Mut, das Risiko auf mich zu nehmen und den nächsten Schritt zu wagen. Einmal, beim Kletteraufstieg auf den Gipfel mit den Skiern am Rücken, fanden meine Skischuhe auf dem von Eis zugedeckten Fels keinen Halt und Adrenalin schoss in mein Blut. Da lehnte ich mich zu stark nach vorn und begann abzurutschen. Mit den dicken Fäustlingen an den Händen fand ich keinen Halt am Fels und griff nach oben, wo ich mich im letzten Augenblick an etwas Hartem festhalten konnte. Es war ein Metallkreuz als Gedenkstätte für einen Bergsteiger, der hier am Gipfel vor Jahren abgestürzt war.

Oben auf der Bergspitze angekommen saß ich dann in tiefer Ehrfurcht und Demut gegenüber den schneebedeckten Alpen am nahen Horizont und versuchte, meinen Puls zu beruhigen. Auf den Gipfeln dieser Berge konnte ich von der Aussicht auf die Tiefen der Täler und die dahinter liegenden Bergfronten nicht genug bekommen. In Anbetracht dieser grenzenlosen Weite fühlte ich mich sehr klein. Da entstand in mir der sehnliche Wunsch nach einem Leben in den Bergen. Ich konnte mir bildlich vorstellen, wie ich täglich mit den Skiern durchs Bergdorf marschieren und bei jedem Wetter den Schnee und die Abfahrten genießen würde. Der Schnee als Lebenselixier und Grundlage für ein erfülltes Leben.

Reflexion zum Schnee

Ein Wassertropfen verwandelt sich bei Kälte und guter Luft in eine wunderschöne Schneeflocke. Diese fliegt sanft und leicht durch die Luft und verzaubert die Bergwelt, auf der sie landet. Ein Kind erlebt diese Leichtigkeit und Entfaltung, bevor sie ihm möglicherweise genommen wird. Ich erträumte mir meine eigene verzauberte Landschaft mit viel Glitzer und Reinheit. Dabei hatte ich den inneren Antrieb, das Starre und Vorgegebene zu überdecken und darauf meine eigene Welt zu formen und zu gestalten. Stelle dir folgende Fragen und beobachte, was dabei mit dir geschieht.

 In was wollte ich mich als Kind verwandeln?

 Wie stellte ich mir meine Traumlandschaft vor?

 Welche Stürme und Gewitter haben mich geprägt?

 Welche Berge und Hindernisse wollte ich erklimmen?

 Wo sah ich als Kind den schönsten Horizont meines Lebens?

 Was bedeuten für mich die weißen Berge?

 Wann bin ich zuletzt im frischen Schnee gelegen?

 Wie schmeckt eine frische Schneeflocke auf der Zunge?

 Wo habe ich das letzte Mal im Schneesturm getanzt?

 Wie erlebe ich den Winter mit dem weißen Schnee und dem blauen Himmel?

Heimweh Natur

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