Читать книгу Warum Kompromisse schließen? - Andreas Weber - Страница 6

Оглавление

2 Lieber keinen Kuchen als einen halben

Ich habe mit meiner Frau eine Meinungsverschiedenheit. Es geht um die Frage, ob wir stolz darauf sein dürfen, wie weit es die Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg geschafft haben, in einer Gesellschaft anzukommen, in der nicht nur Prinzipien geritten werden, sondern Menschen den Ausgleich suchen und Unterschiede tolerieren können. Inwieweit also wir Deutschen uns mit unserer Bereitschaft zu Kompromissen brüsten dürfen.

Meine Frau ist in Italien aufgewachsen. Sie kam während des Studiums nach Berlin. Sie beschloss zu bleiben, weil sie die Menschen hier als flexibler und weniger von vorgefassten Meinungen geprägt erlebt als ihre Landsleute jenseits der Alpen. Meine Frau findet, dass die Kompromissfähigkeit in Deutschland ausgeprägt ist. Und stößt damit bei mir auf Skepsis.

Schließlich – ich sagte es schon – liebe ich das südländische »leben und leben lassen«. Was ist mit den deutschen Hausnachbarn, die klingeln, damit ich die Fußmatte rechtwinklig zur Tür ausrichte? Was mit dem Satz: »Ordnung muss sein«? Mit dem mit Lineal gezogenen Doppelstrich, den die Mathelehrerin meiner Tochter aus Prinzip unter dem Rechenergebnis sehen wollte? Ich – und viele andere – ertragen so etwas mit leiser Scham. So richtig stolz auf die Erfolge dieser Kultur in der Kunst des Kompromisses vermag ich noch nicht zu sein.

Meine Frau kann das schwer fassen. Noch weniger, dass deutsche Freunde sofort dagegenhalten, wenn sie von ihrer neuen Heimat zu schwärmen beginnt. Warum so ein Schwarz-Weiß-Denken?, fragt sie. Warum von einem Extrem ins andere fallen und nicht das Gute und das Schlechte gleichermaßen sehen, in einem Mosaik, das beides enthält?

Nun, zwölf Jahre lang haben die Deutschen der Welt in die Ohren gebrüllt, was für eine überlegene Rasse sie seien. Seitdem machen sie sich klein, reden ihre Erfolge schlecht und finden, dass es keinen Grund zum Feiern gebe. Dafür fahren sie lieber außer Landes. Nach Italien etwa. In dieser Haltung bin auch ich ganz und gar kompromisslos. »Echt deutsch«, findet meine Frau.

In Deutschland ist der Kompromiss ein heikles Thema. Noch immer haben wir nicht unseren Frieden mit ihm geschlossen. Zugegeben, als Gesellschaft sind wir inzwischen erheblich kompromissbereiter als noch vor ein paar Jahrzehnten. Aber die praktische Handhabung der »Intelligenza« fällt uns nach wie vor schwer, woran mich der Disput mit meiner Frau erinnert.

Gerade in Deutschland hatte Kompromissbereitschaft lange Zeit einen schlechten Ruf. Ein gesetztes Ziel nicht konsequent anzupeilen und umzusetzen, galt als Schwäche oder sogar Schande. Unsere Kultur war über weite Strecken ausgesprochen kompromissfeindlich, und möglicherweise lassen sich manche politischen Verhakungen von heute noch mit diesem Erbe erklären.

Aus der deutschen Kultur stammen jedenfalls einige der perfidesten Vertreter der Kompromisslosigkeit. Andererseits hat sie auch die vielleicht fantasievollste Werberin dafür hervorgebracht, dass ein aktives Suchen der Gemeinsamkeiten den Kern politischen Handelns ausmacht: die Philosophin Hannah Arendt. Das entgegengesetzte Extrem finden wir im Staatsrechtler Carl Schmitt, der in den 1930er-Jahren zum Stichwortgeber der Nationalsozialisten wurde, ehe sie ihn kaltstellten.

Für Schmitt bestand der Grundcharakter des Politischen in der Aufspaltung zwischen Freund und Feind. Politisches Handeln war für ihn alles, was das Aktionsfeld klar in »schwarz« und »weiß«, in »wir« und »die anderen« unterteilte. Je klarer die Frontstellung markiert wurde, desto eindeutiger würden die Konfliktpartner erkennen, was sie zu tun hatten, um ihr Anliegen durchzufechten. Schmitt fasste das Ziel politischen Handelns demgemäß so auf, dass es darum gehe, Polaritäten bewusst zu verschärfen und die jeweils andere Seite konsequent zu bekämpfen.

Diese Haltung hatte die kulturelle Praxis der Deutschen schon vor Schmitt geprägt. In den Augen des Politikwissenschaftlers und Militärhistorikers Andreas Herberg-Rothe konsolidierte sie sich im preußischen Soldatenstaat, wo sie von einem seiner maßgeblichen militärischen Strategen, dem General Carl von Clausewitz, zu einem Ethos der Kriegsführung systematisiert wurde. Für Clausewitz war der Krieg »die bloße Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln«.2 Das ist eine Sichtweise, der zufolge Unterschiede in den jeweiligen Interessen nicht anders als durch eine Konfrontation aufgelöst werden können. Rational handelt somit, wer alles dafür tut, den unvermeidlichen Kampf als Sieger zu beenden. Dass es noch eine andere Umgangsweise mit unterschiedlichen Bedürfnissen geben könnte, wird gar nicht erwogen.

»Es existieren grundsätzlich zwei Formen des politischen Handelns«, sagt Herberg-Rothe. »Eine der beiden ist das Gewalthandeln, dem es darum geht, sich durchzusetzen, immer auch mit Brutalität.«3 Das Gewalthandeln verachtet den Kompromiss als unpolitisch. Für diese Tradition stehen Clausewitz, Schmitt und natürlich auch der politische Dämon Adolf Hitler. Dessen Auffassung, wenn das deutsche Volk nicht die Weltherrschaft erringe, dann solle es ausgelöscht werden, bezeichnet die äußerste Konsequenz des Gewalthandelns. Ihre Kurzformel lautet: »Sieg oder Untergang«. Wie auch jene Behauptung, die uns im Populismus wieder begegnet: »Wer nicht für mich ist, ist gegen mich.«

Der zweite Pol politischen Tuns ist für Herberg-Rothe das »Zusammenhandeln«.4 Ursprünglich hat diesen Begriff die Philosophin Hannah Arendt geprägt. Im Zusammenhandeln liegt für Arendt der Horizont aller menschlichen Bemühungen.5 Demnach haben wir als Menschen ein grundsätzliches Bedürfnis, in Gemeinsamkeit zu agieren. Wir gewinnen diese Gemeinsamkeit, indem die Vielzahl der einzelnen Interessen bestehen bleibt – und nicht dadurch, dass wir diese gewaltsam homogenisieren oder aber deren Gegensätze verschärfen. Das Politische besteht für Arendt – und darin unterscheidet sie sich diametral von Schmitt – im aktiven Herausarbeiten dessen, was uns verbindet.

Sprachgeschichtlich entstammt das Wort »Kompromiss« einer solchen Haltung: Es bezeichnet ein Versprechen in Gegenseitigkeit, gebildet aus der lateinischen Vorsilbe cum, »miteinander«, und promissum, »Versprechen« (das wir auch im englischen Wort promise wiederfinden). Im alten Rom schlossen Streitparteien einen Kompromiss, indem sie einander versprachen, die je andere Position anzuerkennen.6 Dieses Versprechen war möglich, weil die Kontrahenten akzeptierten, dass zwar gegensätzliche Interessen zwischen ihnen standen, dass aber zugleich fundamentale Gemeinsamkeiten sie miteinander verbanden. Das Versprechen, das »cum-promissum«, beruhte letztlich auf der Anerkennung der gemeinsamen Menschlichkeit.

Vielleicht liegt die größte kulturelle Veränderung, die sich in Deutschland in den letzten siebzig Jahren vollzogen hat, im – zumindest angestrebten – Abschied vom Gewalthandeln und der damit verbundenen Kompromissfeindschaft. Wie sehr das gelungen ist, muss sich angesichts des Neuerstarkens von Anbietern radikaler Lösungen allerdings noch erweisen.

Was das Verhältnis zwischen Kompromiss und Wirklichkeit angeht, so ist das Abendland in zwei Traditionen gespalten. Man könnte die eine als die platonischkatholische bezeichnen, die andere als die romantisch-protestantische. Für die platonisch-katholische Sichtweise ist die Welt »hinieden« selbst bereits ein Kompromiss. Das Reale ist Abklatsch einer idealen Welt (Platon), das Jammertal, das wir in Erbsünde durchschreiten, mit der wir uns, so gut es geht, arrangieren müssen. Wir sind als Irdische also immer schon kompromittiert. Im Arrangement mit dem Kompromisshaften aller Existenz gilt es, das Eintrittsrecht in die Welt der Ideale, die nach dem Tod im Paradies auf uns wartet, nicht zu verspielen.

Die andere Traditionslinie glaubt hingegen, dass das Paradies nicht nur im Jenseits zu finden ist, sondern sich schon hier auf Erden einrichten lässt. Erlösung gibt es – wenn man hart genug kämpft – bereits in diesem Leben. Diese Haltung findet vielfach das Kompromisslose – das reine Ideal – in der Schönheit der Natur. Die Schönheit aber will immer wieder errungen werden. So wie die Natur oft voller Leiden ist und das Ideale gleichsam nur zaghaft aus ihren Blüten hervorleuchtet, ist für diese Auffassung die reale Welt vor allem ein Schauplatz des Kampfes und der Mühsal. Darum gilt es, aufrecht für das Gute einzustehen. Sich zu arrangieren, Kompromisse einzugehen heißt nach dieser Sichtweise, die Möglichkeiten einer Vervollkommnung der irdischen Verhältnisse auszuschlagen. Der Sieg wird durch beherztes (Gewalt-)Handeln im Hier und Jetzt errungen, nicht im Jenseits. Wer Kompromisse macht, ist dem Kampf nicht gewachsen.

Aus dieser zweiten Quelle speist sich ein gutes Stück unserer nationalen Kultur. Von der tragischen Figur des Michael Kohlhaas bei Kleist, der – ungerecht behandelt – Gerechtigkeit um jeden Preis sucht und sich mit keinem Arrangement zufriedengibt, bis zum »Hier stehe ich und kann nicht anders« des als Ketzer geschmähten Martin Luther auf dem Wormser Reichstag 1521 vor Kaiser Karl stößt man allenthalben auf eine Moral des Ganz-odergar-nicht.

Das Gewissen spielt – wie in Luthers Ausruf – bei der Umsetzung des Guten auf Erden eine wichtige Rolle. Es stellt im Protestantismus die jedem Menschen zugängliche Offenbarung des göttlichen Willens dar und steht damit sozusagen dauerhaft auf Empfang für Kompromisslosigkeit. Das Gewissen befähigt uns, diesen Willen im Diesseits umzusetzen, wenn wir uns dabei nicht auf Halbheiten einlassen.

Ein guter Wille ist der irdische Stellvertreter des Idealen, ja mehr noch: In ihm manifestiert sich das Ideale selbst in urwüchsiger Kraft. Das hat sich auch in der Ethik des protestantischen Philosophen Immanuel Kant niedergeschlagen, die der kalabrischen Bürgermeisterin bei ihrem Kampf gegen die Mafia so gut gefiel. Laut Kant geht es bei der moralischen Beurteilung eines Verhaltens nicht um dessen Folgen, sondern darum, ob die Gesinnung richtig war, also kompromisslos moralisch. In dem Fall darf es dann zur Not auch – natürlich aufrecht! – in den Untergang führen.

Spätestens Nietzsche macht dann den Willen auch ohne Gesinnung groß. In seinem Übermenschen Zarathustra wird alles Halbe, Zaghafte und gerade deshalb Menschliche als nicht lebenswert verhöhnt. Zentrum des Weltgeschehens ist der »Wille zur Macht«. Hier begegnen wir der Wurzel einer seelischen Eigentlichkeitspolitik (»Verwirkliche dich selbst!«, »Lebe wild und gefährlich!«), die uns im übernächsten Kapitel beim Nachdenken über die nötigen und die tödlichen Kompromisse in der Liebe erneut beschäftigen wird.

Nietzsches Pathos des Willens als Macht lässt eine eigentümliche Ambivalenz unserer Kulturgeschichte deutlich werden. Das sehr (preußisch-)deutsche Ideal, keine Halbheiten zuzulassen, spielt im Wirken mancher Intellektueller eine paradoxe Rolle, weil diese zwar Kompromisslosigkeit bekämpfen, sie zugleich aber selbst an den Tag legen. Das ist bei einem anderen philosophischen Leitgestirn des Öfteren der Fall, bei Theodor W. Adorno. Einerseits verurteilt er die spießbürgerliche »Eigentlichkeit«, das Beschwören einer heilen Welt, als Vorform des Faschismus. Andererseits schwingt in vielen von Adornos Sentenzen selbst ein ordentliches Maß an solcher Eigentlichkeit mit, die nur das Entweder-oder kennt und keine Grauwerte, wie etwa in dem einflussreichen Satz: »Es gibt kein richtiges Leben im falschen.«7

In der platonisch-katholischen Tradition ist das Leben im irdischen Tränental kein guter Ratgeber für die Gestaltung besserer Verhältnisse; zu kompromissbehaftet geht es hier zu, weshalb der klare Geist Ordnung schaffen muss. In der romantisch-protestantischen Überlieferung hingegen gilt es, auf die Gestalt der Schöpfung zu schauen, um zu verstehen, wie das Ideale eigentlich gemeint war. Die Natur ist das Gottgegebene und Ursprüngliche. Daraus folgten kulturgeschichtlich einerseits eine Verachtung der als künstlich verhöhnten Gesellschaft und andererseits eine Beschwörung der vorgeblich naturwüchsigen Lebensgemeinschaft.

Das betonte besonders der Begründer der Soziologie in Deutschland, Ferdinand Tönnies, am Ende des 19. Jahrhunderts. Er sah die Gemeinschaft als »ursprüngliche Wesensordnung«, die Gesellschaft dagegen als »willkürliche Organisationsordnung«.8 In dieser Tradition liegen die Wurzeln für die Verherrlichung von Natur und vorgeblichem Germanentum, wie wir sie dann bei den Nationalsozialisten beobachten. Wer die ursprüngliche, eindeutige Wesensordnung kompromittiert, hat nach dieser Denkweise nichts in der Gemeinschaft verloren.

In der deutschen Kultur war das »Zusammenhandeln« lange Zeit nicht nur als unnatürlich, sondern auch als schwach verschrien. Die Wirklichkeit wurde oft mit einer Natur identifiziert, die als Schauplatz eines erbarmungslosen Überlebenskampfes erschien, auf dem sich notwendig das Recht des Stärkeren durchsetzte. Wer das Richtige tun wollte, musste – nach dem geltenden Verständnis sozialer Regeln in der Natur – dem Rudel oder dem Clan den Vorzug geben. Und hatte unbedingt Sieger zu bleiben.

Das politische Tagesgeschäft stand bis zum Ende des Naziregimes unter dem Generalverdacht, mit seinen Kompromissen gegen die »gesunde Gemeinschaft« und die »sittliche Ordnung« der Natur zu verstoßen. Der (monarchische) Staat galt hingegen als Hüter der göttlichen Ordnung. In der deutschen politischen Philosophie findet sich deshalb oft eine Unterscheidung zwischen dem (moralisch überlegenen) Staat als Inbegriff der von Kompromissen freien Gemeinschaft und dem (unmoralischen) politischen Handeln, das an ewigen Zugeständnissen krankt. Bei Hegel ist der Staat sogar die »höchste Idee des Sittlichen«. Es ist allerdings ein Staat, der seine Räson im Gewalthandeln sieht.

Diese Gemengelage mag auch erklären, warum sich deutsche Intellektuelle bis in die Weimarer Republik häufig als politikfern stilisierten – so beispielsweise Thomas Mann in seinen umstrittenen Betrachtungen eines Unpolitischen, die während des Ersten Weltkriegs erschienen. »Unpolitisch« zu bleiben verhieß Redlichkeit und Reinheit. Sollte eine solche Haltung vor allem dazu dienen, sich nicht »die Finger schmutzig zu machen«, so spielte sie doch immer dem Gewalthandeln in die Hände, das Kompromisse verachtet. Die Weimarer Demokratie war in Deutschland bei vielen – und beileibe nicht nur bei den Anhängern der politischen Extremisten – gerade deshalb so verhasst, weil sie leidenschaftliche Debatten entfesselte, in denen um Ausgleich zwischen den unterschiedlichen politischen Zielen gerungen wurde.

Historisch etablierte sich das Schwarz-Weiß-Denken und -Handeln über längere Strecken als stilbildendes Mittel deutscher Kultur. Von Winston Churchill stammt angeblich die Einschätzung, dass die Deutschen – politisch, aber auch kulturell – nur zu zwei Verhaltensweisen in der Lage seien: Entweder habe man sie auf dem Schoß oder an der Gurgel. Gerade bei den Angelsachsen stieß das germanische Ganz-oder-gar-nicht auf Kopfschütteln. So beobachtete der US-Kongressabgeordnete F. M. Butler schon im 19. Jahrhundert: »Die Deutschen nähren eine hoffnungslose Leidenschaft für das Absolute, unter welchem Namen und in welcher Verkleidung auch immer sie es sich vorstellen mögen.«9 Das Absolute ist per se kompromissfrei, sonst wäre es relativ. Auch ein anderer Angelsachse, der schottische Schriftsteller und Essayist Compton Mackenzie, konnte solcher Radikalität nichts abgewinnen. Er meinte: »Es ist für mich unvorstellbar, dass man es vorziehen kann, statt eines halben Stückes Kuchen gar keinen zu bekommen.«10

Ausgerechnet die pragmatischen, zu Arrangements bereiten Angelsachsen brachten die Kuchenmetaphorik jüngst wieder ins Spiel – allerdings um zu zeigen, dass nun sie es sind, die es nicht nötig haben, Kompromisse zu machen. »We can have our cake and eat it«, behauptete der spätere englische Premierminister Boris Johnson während der Kampagne für den Ausstieg Englands aus der Europäischen Union. Wir können alles haben, hieß das, auch gegen die Gesetze der Logik; Kompromisse sind nicht nur unnötig, sondern dämlich.

Der Brexit macht auch deshalb viele fassungslos, weil er sich als die Einführung der Kompromisslosigkeit in eine Kultur lesen lässt, die bisher die Welt und besonders die Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg die Kunst des Kompromisses gelehrt hat. Die meisten, die von Johnsons Kuchentrick hörten, hielten ihn für wirklichkeitsfremd. Sie waren überzeugt, er könne keinesfalls bei der Mehrheit der britischen Wählerschaft verfangen. Das war falsch.

Wer sich gegen Kompromisse wendet, dem geht es häufig nicht um die Lösung, sondern um das gute Gefühl, eben kein Zugeständnis gemacht zu haben. Das wird von vielen Menschen honoriert. Es ist eine Machterfahrung. Kompromisslosigkeit, und sei sie noch so absurd, führt dann zum Erfolg, wenn der Sinn des Handelns darin liegt, Macht zu demonstrieren, egal, was dabei alles kaputtgeht. Das haben die politischen Gegner von Populisten wie Johnson und Trump, aber auch die Kommentatoren mit meist liberalem Hintergrund noch nicht begriffen. Wenn der Kompromisslose Skandale verursacht oder gar Menschen über die Klinge springen lässt, schreckt das seine Anhängerschaft eben nicht ab. Im Gegenteil, es stärkt das Gefühl des »Wir gegen sie«. Wer diese anderen, diese »sie«, genau sind, spielt keine Rolle. Hauptsache, das »wir« bleibt sich treu.

In dieser Konstellation sieht der bereits erwähnte Politikforscher Herberg-Rothe ein Kennzeichen populistischer Bewegungen weltweit. Statt »Zusammenhandeln« im Sinne Hannah Arendts zu suchen, werde ein »Wir gegen sie«-Gefühl beschworen, das sich auf fiktive oder mythische Vorbilder stützt. Daher die Rückgriffe auf Ereignisse, bei denen dieses »Wir« einst bedroht war. Die bei den Brexit-Anhängern verbreitete Weltkriegsmetaphorik und die Beschwörung der kolonialen Vergangenheit sowie in den USA das »Make America Great Again«-Mantra Trumps erfüllen genau diese Funktion. Nicht anders sollte die Identifikation mit den Germanen in Hitlers zwölfjährigem Reich und die mit den Römern in Mussolinis Italien wirken: als Fiktion eines scheinbar historisch legitimierten »Wir«, dem dann »der Rest« gegenübergestellt werden konnte.

Das »Wir« allein zählt. Dieses »Wir« bedeutet per se Ausschluss der anderen, während der Kompromiss ein gegenseitiges Anhören verlangt. Das erklärt den Zombie-Charakter solcher Bewegungen und ihrer Protagonisten: Je stärker der Druck von außen wird, desto deutlicher akzentuiert sich das kompromisslose Wir. Daher leben solche Bewegungen von Konflikt, Zwietracht und Skandal. All das führt ihnen, anders als die politisch gemäßigten Widersacher glauben, Energie zu, statt ihnen Kraft zu rauben.

Der logische Endpunkt der Sucht nach Streit und Chaos ist der Krieg. Er ermöglicht eine zwingende, weil existenzielle und unaufschiebbare Sortierung in »wir« und »die anderen«, deren Sog sich im Ernstfall dann auch die Anhänger der Opposition nicht entziehen können. »Krieg ist organisierte Sprachlosigkeit«, sagt der Politikwissenschaftler Dieter Senghaas.11 Sprache hingegen macht den Kompromiss möglich. Wer miteinander spricht, erkennt das Gegenüber zumindest rudimentär in seiner Individualität an. Wer aber das Vermittelnde der Sprache ablehnt, zielt implizit auf Gewalt.

Das lässt sich der politischen Philosophie Carl Schmitts entnehmen, der behauptete, dass ein Konflikt, um lösbar zu sein, bis ins Extrem gesteigert werden müsse, sodass schließlich die eine Position die andere eliminiert. Für Hannah Arendt, das deutsche Genie des Kompromisses, wäre mit diesem Sieg das Ende der Menschlichkeit besiegelt. Sie befürchtet, dass »der unerschöpfliche Reichtum des menschlichen Gesprächs unweigerlich zum Stillstand kommen müßte, wenn es eine Wahrheit gäbe, die allen Streit ein für allemal schlichtet«.12

Warum Kompromisse schließen?

Подняться наверх