Читать книгу Artgerechte Partnerhaltung. Das Geheimnis glücklicher und beständiger Liebe - Andreas Winter - Страница 9

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Der „Gute“ für eine Partnerschaft

Partnerschaft ist kein Pflichtprogramm. Vielleicht haben Sie das immer gedacht, aber Sie müssen nicht unbedingt Ihr Bett und Ihr Leben mit jemand anderem teilen. Wenn Sie es trotzdem tun, tragen Sie damit ein Stück weit die Verantwortung für das Gefühlsleben eines anderen Menschen. Ihr Partner kann nicht einfach alles an sich abprallen lassen, was von Ihnen kommt, zum einen wollen Sie das bestimmt nicht und zum anderen sind Sie selbst wahrscheinlich nicht immun gegen seine Meinung, sein Verhalten, seine Stimmung und vor allem seine Schwächen und Ängste. Daher lohnt es sich einmal, einen Blick auf Ihre Partnerschaftsmotivation zu werfen.

Was wollen Sie eigentlich von Ihrem Partner?

Es heißt ja, „Gegensätze ziehen sich an“. Aber auch „Gleich und Gleich gesellt sich gern“. Was denn jetzt? Ich glaube, dass beide Sinnsprüche ihre Berechtigung haben. Sind Sie der Typ Mensch, der im Partner sein Spiegelbild sucht und sich wohlfühlt, wenn das Gegenüber genauso tickt wie Sie? Die Musik, die der andere hört, die Bücher, die er liest, und die Filme, die er guckt, die Reiseziele, die Klamotten und auch der Arbeitsplatz könnten bei einem Klonschaf nicht gleicher sein? Das ist nicht schlimm – es sei denn, der andere ändert sich im Laufe des Lebens. Dann gute Nacht.

Oder orientieren Sie sich an einem „Großen“, der Sie beschützt und den Sie dafür bewundern, dass er Ihnen alles Mögliche voraushat? Einen mindestens zehn Jahre älteren Papa oder eine Mama mit Reife, Geld und Lebenserfahrung? Bewundern Sie jemanden, dem Sie zeigen können, wie lieb, klug und fleißig Sie sind? Erhoffen Sie sich von ihm dafür stets Anerkennung und verachten im Gegenzug alles Jüngere?

Auch das ist nur ein klein wenig pathologisch und kann ein Leben lang halten, solange Ihr Liebster weiterhin Angst vor ebenbürtigen Partnern hat. Falls er sich jedoch aus diesem Muster heraus entwickeln sollte, wird bald eine Stelle im Haus frei – und zwar Ihre.

Vielleicht ist es aber auch genau umgekehrt, und Sie stehen auf jemanden, den Sie beschützen, versorgen und behüten können? Jemanden, der zu Ihnen aufschaut, von Ihnen lernt und dessen Sicherheitsbedürfnis Sie erfüllen können. Auch das ist okay, wenn Ihr Partner Peter Pan gleicht und niemals erwachsen werden will.

Dumm ist nur, dass Sie sich offenbar gern mit unreifen und hilfsbedürftigen Selbstwert-Zwergen umgeben – lassen Sie das bloß nicht Ihre Mitmenschen wissen, denn das sagt eine Menge über Sie aus. Aber auch das ist okay, solange Ihr Leben eine Steintafel bleibt, auf der sich niemals etwas ändert.

Es mag aber auch sein, dass Sie den Kampf brauchen, einen Sparringspartner, den Sie dreimal die Woche so richtig in Grund und Boden ringen können und danach das Gefühl haben, Ihre Liebe wäre unerschütterlich. Gehören zu Ihrem Liebesalltag Streit, Provokation, Szenen und vielleicht sogar Sabotageakte? So etwas wie: Sie machen Ihrem Mann extra viel Knoblauch ins Abendessen – genau dann, wenn er am nächsten Morgen ein wichtiges Gespräch mit seiner liebreizenden Kollegin zu führen hat.

Andersherum: Sie als Mann sehen es als beziehungsbelebend an, wenn Sie Ihre Frau, eine Ex-Bulimikerin, hin und wieder mit Blick auf den Bauch fragen, ob sie schwanger ist oder einfach nur eine altersbedingte Bindegewebsschwäche hat. Und vielleicht denken Sie verschmitzt, ein bisschen Necken kann ja nicht schaden, derweil Sie die Kotzgeräusche aus dem Badezimmer überhören. (Menschen machen solche schlechten Scherze entweder, um sich am Partner zu rächen oder weil sie ihn in seiner Stärke völlig überschätzen bzw. selbst Minderwertigkeitsgefühle haben.)

Vielleicht ist der Grund Ihrer Partnerschaft auch der, dass Sie partout nicht allein sein können bzw. wollen und sich irgendeinen Menschen halten, weil Sie einfach nur totale Angst vor Trennung haben.

Oder sind Sie der absolut Verständnisvolle, der für alles eine Entschuldigung hat und vor lauter Harmoniesucht schon vor langer Zeit seinen Stolz beerdigt hat – direkt neben Ihrer Ausstrahlung und Ihrem eigenen Willen. Dafür sind Sie aber der einzige Mensch, mit dem es Ihre bessere Hälfte länger als drei Jahre ausgehalten hat. Das ist doch Liebe, oder?

„Nein!“, sage ich. Jetzt werden Sie mich vielleicht hassen, aber: Das sind alles Beziehungen und keine Partnerschaften. Der Unterschied besteht darin, dass eine Beziehung danach trachtet, eine gewisse Stabilität herzustellen, und eine Partnerschaft diese Stabilität von allein erzeugt. Das bedeutet: Eine Beziehung ist meist ein Abhängigkeitsverhältnis, welches sich auflöst, wenn es seinen Zweck erfüllt hat, derweil eine Partnerschaft der Zweck an sich ist. Die Quittung für diesen Selbstbetrug bekommt man meist erst dann, wenn man schon fast zu alt ist, um auf dem Markt wirklich noch etwas Passendes zu finden, denn dazu gehört Zeit. Ich habe in meiner Beratungspraxis sehr viele Menschen erlebt, die sich nicht darüber im Klaren waren, warum genau sie mit ihrem Partner zusammen waren und nach dem Coaching etwas, sagen wir, gelassener mit dem anderen umgehen konnten, sich allerdings dann auch bald trennten, denn oftmals schlägt dann auch die Stunde der Wahrheit. In den Folgewochen zeigt sich dann immer, dass eine Partnerschaft mit Liebe viel stressfreier ist als eine Abhängigkeit.

Also denken Sie bitte kurz nach:

Was erhoffen Sie sich von Ihrem Partner und warum?

Wünschen werden Sie sich Eigenschaften wie Loyalität, Gemeinsamkeit, Solidarität und Liebe im abstrakten Sinne. Im konkreten Sinne mag das dann so etwas wie Ehrlichkeit, Zuverlässigkeit, guter Sex, Zärtlichkeit, Gewaltfreiheit, Kinderliebe, Familiensinn, Treue usw. sein. Aha! Erwischt! Sie wollen eine Partnerschaft wie jeder andere auch. Aber leben Sie auch bereits in einer, oder hoffen Sie darauf, dass es endlich einmal eine wird? Und: Wer von Ihnen beiden hat nun eigentlich das große Defizit, das vom anderen ausgeglichen werden soll?

Lassen Sie mich Ihnen ein paar weitere Fragen stellen:

→ Warum gibt es so viele nette und attraktive Menschen, die partnerlos und einsam sind?

→ Wieso gibt es einige Menschen, die immer wieder an den falschen Partner geraten?

→ Wieso beteuert ein Mensch seinem Partner seine Liebe und wird dann in einem Eifersuchtsanfall gewalttätig?

→ Weshalb boomt die Branche der Partnerschaftsvermittlung, obwohl die Erfolgsquote in Bezug auf dauerhafte Beziehungen erschreckend niedrig ist?

→ Vielleicht haben Sie schon von Menschen gehört, die jahrelang in einer festen Beziehung lebten und von jetzt auf gleich ohne ersichtlichen Grund Reißaus nahmen. Wie soll das gehen, wenn Liebe doch angeblich ein Band fürs Leben ist?

→ Warum gibt es auch heute noch Menschen, die ihr Leben lang verheiratet sind, während viele Ehen schon nach kurzer Zeit geschieden werden? Und wieso macht eine Ehe allein noch keine glückliche Partnerschaft?

→ Warum fällt es einigen Menschen so schwer, sich endgültig zu trennen, obwohl die Beziehung von Streit und Misstrauen geprägt ist?

Und nun die Antwort: weil konfliktfreie Zwischenmenschlichkeit an Reife gebunden ist und erlernt werden muss. Wie eine Fremdsprache. Beziehungs- oder Liebesfähigkeit und Sexualität sind nicht automatisch perfekt, reifen nicht von ganz allein. Sie führen ohne Training nicht zur erfüllten Partnerschaft, sondern werden durch unsere kindlichen Erfahrungen beeinflusst. Erlebte Konflikte mit Eltern und Geschwistern verhindern oft echte Liebe. Menschen versuchen unterbewusst, durch ihren Partner einen alten Konflikt mit einem Elternteil, mit Bruder oder Schwester zu lösen, oder suchen in ihrem Partner etwas, das dieser gar nicht erfüllen kann, weil er oder sie gar nicht gemeint ist.

Hinzu kommt: Viele Menschen haben solch starke Minderwertigkeitsgefühle, dass sie sich selbst nicht mehr bedingungslos annehmen – und sich somit erst recht nicht auf andere einlassen können. Auch die Liebe zu sich selbst muss erlernt werden, um ein wertvoller Lebens- und Liebespartner zu sein. Je nachdem, von welchen Vorbildern wir lernen, leben, lieben – oder leiden wir.

So erklärt sich plötzlich das Unerklärliche. Alle oben gestellten Fragen werden beantwortet, wenn man weiß, dass die soziale Komponente der Beziehungsfähigkeit die biologische überwiegt. So etwa, warum eine Frau, die einen gewalttätigen Vater hatte, sich unbewusst einen gewalttätigen Mann sucht – weil sie gelernt hat, dass ein solches Verhalten offenbar zu einem durchsetzungsfähigen Mann gehört. Nicht selten suchen sich solch traumatisierte Frauen auch einen überaus sanften und „lieben“ Mann und provozieren ihn so lange, bis er gewalttätig wird – nur um unbewusst die Gewalt des anderen kontrollieren zu können. Auch die Abkehr von einem Mann und die Hinwendung zu einer Frau kann die Folge einer maskulinen Gewalterfahrung sein. Jetzt wird klar, weshalb eine attraktive Frau jahrelang erfolglos auf Partnersuche ist und plötzlich den „Richtigen“ findet. Nachdem sie den psychologischen Grund ihrer Isolation verarbeitet hat, hält sie nicht mehr länger nach einem Vaterersatz Ausschau, sondern ist offen für einen Partner auf Augenhöhe. Nun ist es nicht weiter verwunderlich, warum sehr viele Menschen lieber für Sex Geld bezahlen, anstelle sich auf das Abenteuer einer auch sexuell gleichberechtigten Partnerschaft einzulassen. Isolation in einer Beziehung ist meist kein Pech, sondern die Folge einer tief sitzenden Angst.

Erst mal richtig kennenlernen

Ein Freund von mir sagte neulich: „Ich habe meine Traumfrau gefunden!“ Er schwärmte zehn Minuten lang von der intelligentesten, reflektiertesten, schönsten, verständnis- und liebevollsten Frau in seinem ganzen fünfzigjährigen Leben. „Ach?“, fragte ich. „Wann, wo und wie hast du sie kennengelernt?“ Und er (mit strahlendem Blick): „Gestern Abend in der Buchhandlung!“ Okay…gestern Abend…, dachte ich und fragte vorsichtig erneut nach. „Und wie?“ – „Na, ich fragte sie, ob sie einen Kaffee haben möchte.“ – „Ja und …?“ – „Sie sagte Nein!’“ – „Ja, und dann?“ – „Dann habe ich sie gefragt, ob sie Portugiesin ist, da hat sie aber auch Nein gesagt. Und sie sei verheiratet.“

Jetzt traf mich wirklich der Schlag! Und obwohl diese Anmache an Direktheit wohl kaum noch zu überbieten war, ergab sich daraus ein stundenlanges und intensives Gespräch, und die beiden wollten sich wiedertreffen, obwohl sie verheiratet ist. Allerdings ist so etwas meines Erachtens eher die Ausnahme. Für gewöhnlich klopft man an, bevor man eintritt.

Also: Was machen Sie, wenn Sie einem Menschen zum ersten Mal begegnen? Geben Sie ihm sofort Telefonnummer, Autoschlüssel, einen Kuss und Ihr Portemonnaie? Natürlich nicht! Sie „checken“ ihn zunächst. Erst einmal beschnuppern. Bis dahin bleibt man an der Oberfläche, tauscht sich thematisch über Dinge aus, bei denen man sich hoffentlich nicht auf den Schlips tritt: das Wetter, Musik, das Weltgeschehen oder bestenfalls noch Hobbys und gemeinsame Bekannte. Man will sich ja schließlich erst einmal kennenlernen.

Kennenlernen? Wie lange dauert das eigentlich? Ein befreundeter Iraner erzählte mir diesbezüglich einmal: „Wir Moslems sagen, bis man jemanden wirklich kennengelernt hat, hat man ein Kilogramm Salz miteinander gegessen.“ In zeitliche Dimensionen übertragen, heißt das – wenn Sie nicht gerade eine Salz leckende Ziege sind – in etwa sieben Jahre. Sieben Jahre dauert es übrigens auch, bis ein transplantiertes Organ vom Empfängerkörper entweder angenommen oder abgestoßen wird. Also scheint das „Kennenlernen“ irgendwie tatsächlich an diese Zeit gebunden zu sein. Aber das auch nur, wenn Sie viel miteinander zu tun haben, weder Scheuklappen noch ein Brett vor dem Kopf haben und überdies nicht in die bösen Fallen der Projektion und der verzerrten Wahrnehmung tappen, denn diese verhindern echtes Kennenlernen.

Ich sehe was, was du nicht siehst: Projektion auf den Partner

Unser Gehirn ist zwar nicht dumm, aber faul. Es arbeitet ununterbrochen, aber nur so viel wie nötig. Unsere Abermilliarden von Nervenzellen beginnen bereits ab der dritten Schwangerschaftswoche, zu arbeiten und Umweltreize zu registrieren. Zu dieser Zeit – da weiß eine Mutter meist noch gar nicht, dass sie überhaupt schwanger ist – beginnt unser Herz zu schlagen, und unsere ersten Nervenzellen entwickeln sich. Mit Letzteren sind wir in der Lage, Neurotransmitter – das sind die chemischen Botenstoffe, die im mütterlichen Gehirn für Gefühle sorgen – zu registrieren. Allerdings gibt es in der Gebärmutter noch nicht allzu viele spürbare Erfahrungen – es ist für den Follikel immer einigermaßen gleich warm und gleich dunkel. Doch ab diesem Zeitpunkt ist der kleine Zellknubbel, der zweieinhalb Wochen später unser Nervenzentrum ist, bereits in der Lage, zu spüren, ob sich Stresshormone, Glückshormone, Schlafhormone oder etwa Drogen in seiner Umgebung befinden. Das Kind tritt in Interaktion mit dem mütterlichen Körper. Es beginnt, im weitesten Sinne, zu denken! Nach etwa weiteren sechs Wochen nennt man diesen kleinen „Haufen“ von Nervenzellen, der sich stetig weiterentwickelt, bereits „Gehirn“. Im Alter von etwa fünf Monaten bekommt das Kind sogar eine ganz genaue Vorstellung davon, ob es im Bauch willkommen ist oder etwa ungewollt. Es braucht sich lediglich beim mütterlichen Organismus bemerkbar zu machen, etwa indem es sich herumdreht oder von innen gegen Mutters Bauchdecke tritt. Das tut es ab diesem Zeitraum für gewöhnlich und bekommt darauf die Antwort seiner Mutter in Form von Neurotransmittern, die durch die Nabelschnur direkt zum embryonalen Gehirn rasen und ihm die gleichen Gefühle ermöglichen, die seine Mutter empfindet. Entweder sie freut sich, ihr Kind zu spüren, dann bekommt dieses einen Endorphinstoß, der als Glücksgefühl wahrgenommen wird, oder sie ist verzweifelt, weil sie gar kein Kind will; dann spürt der Embryo einen Adrenalinstoß. Dieses Stresshormon wird von einem Ungeborenen fast wie ein Stromschlag empfunden. Wenn das Kind diese Erfahrung ein paar Mal gemacht hat, schlussfolgert es, dass es offenbar eine ganz schlechte Idee ist, sich allzu deutlich bemerkbar zu machen.

Depressionen und Introvertiertheit nehmen somit ihren Ursprung bereits vor der Geburt, bedingt durch die sich zunehmend ausbildende Verschaltungsfähigkeit, „Intelligenz“ genannt. Und mit dieser Intelligenz ordnen wir unsere Welt. Wenn Sie also monatelang im Bauch Ihrer Mutter beispielsweise die Erfahrung machten, dass Vaters Stimme mit endorphinbedingten Glücksgefühlen einhergeht (Sie wissen ja nicht, dass es Mutters Gefühle sind), dann schlussfolgern Sie leichtfertigerweise, Ihr Vater würde Sie lieben – dabei war er lediglich in Ihre Mutter verliebt. Mit diesem Wahrnehmungsmuster werden Sie dann aber ein ganz langes Gesicht machen, wenn sich herausstellen sollte, dass Ihr Vater Ihnen nicht die „versprochene“ Beachtung schenkt. Denn nach der Abnabelung bleibt der gewohnte Endorphin-Kick aus, und Sie empfinden ein Aufmerksamkeitsdefizit.

Dieses Frustrationserlebnis übertragen Sie als Frau, wenn Sie Pech haben, auf alle künftigen Männer, die einem Vater-Muster entsprechen. Die tragische Folge kann sein, dass Sie nun in Ihrer Partnerschaft wie ein Luchs darauf lauern, dass Ihr Partner Sie ignoriert, nur weil Sie ein neuronales Muster hierfür angelegt haben. Dass er sich möglicherweise für Sie mehr interessiert als für jeden anderen Menschen, entgeht Ihnen dann leider. Auch die Suche nach einem deutlich älteren Partner, der dem Vater-Muster entspricht, gehört in diesem Zusammenhang erwähnt. Diese vorgeburtlichen Verknüpfungen habe ich mit meinem Team in den letzten Jahren sehr gründlich erforscht, und ich kann Ihnen sagen, dass nahezu alle ungelösten Dauerbaustellen im Leben eines Menschen auf embryonale Traumatisierungen zurückzuführen sind. Mit dem passenden psychologischen Werkzeug sind sie dann auch wieder lösbar.

Projektion ist also eine schlimme Sache. Fast jeder Lehrer in der Schule weiß davon ein Lied zu singen, dass die meisten Kinder davon ausgehen, dass er autoritär ist, nur weil er der Lehrer ist. Egal wie lieb und nett der arme Kerl ist (es erwischt hierbei eher die männlichen Kollegen als die weiblichen – warum das so ist, dazu später mehr), die Kids gehen reflektorisch davon aus, dass da vorn eine bösartige Spaßbremse steht und nicht etwa ein von den elterlichen Steuergeldern bezahlter Bildungslieferant.

Und Sie kennen das sicher auch: Nur weil Sie sich als Frau für die Arbeit etwas stylen, die Nägel lackieren und gepflegte Garderobe tragen, ziehen Sie sich möglicherweise die Missgunst Ihrer Arbeitskolleginnen zu. Man glaubt, Sie wären opportunistisch, falsch und wollten mit weiblichen Reizen Ihrer Karriere auf die Sprünge helfen. Dabei denken Sie weder in Konkurrenzen, noch wollten Sie jemanden demütigen. Im Gegenteil: Sie empfinden ein gepflegtes Äußeres als Wertschätzung den Kunden, Kollegen und der Geschäftsleitung gegenüber. Die Personen, die Ihnen argwöhnisch unterstellen, Sie wären eine falsche Schlange, haben möglicherweise in der Kindheit erlitten, wie jemand, der optisch angenehm auffiel, sich damit zugleich Vorteile erschlichen hat. Dieses Muster bleibt im Unterbewusstsein wie ein Radar aktiv und schießt auf alles, was den abgespeicherten Kriterien entspricht.

Und das alles nur, weil das Gehirn Energie sparen will, denn neue neuronale Verschaltungen anzulegen, „kostet“ mehr, als die vorhandenen zu nutzen – selbst wenn das Ergebnis totaler Blödsinn ist. Solange man mit diesem Ergebnis nicht totalen Schiffbruch erleidet, wird nichts geändert. Glauben Sie mir nicht? Dann zeige ich es Ihnen.

Lesen Sie bitte den folgenden Text. Er wird Ihnen zeigen, dass unsere Erwartungshaltung sogar ganz extrem unsere Wahrnehmung bestimmt. Dieser Text kursiert seit Jahren im Internet, so etwa bei www.spiegel.de. Die Ursprungsquelle ist mir leider nicht bekannt. Lesen und staunen Sie:

„Gmäeß eneir Sutide eneir elgnihcesn Uvinisterät ist es nchit witihcg, in wlecehr Rneflogheie die Bstachuebn in eneim Wrot snid. Das Ezniige, was wcthiig ist, ist, daß der estre und der leztte Bstabchue an der ritihcegn Pstoiion snid. Der Rset knan ein ttoaelr Bsinöldn sien, tedztorm knan man ihn onhe Pemoblre lseen. Das ist so, wiel wir nciht jeedn Bstachuebn enzelin leesn, snderon das Wrot als Gseatems.“

Sie konnten diesen Text lesen, weil bei zu erwartenden Wörtern die Reihenfolge der Buchstaben bis auf wenige Schlüsselpositionen für das Verstehen völlig unerheblich ist – wir machen uns unseren Text im Kopf selbst. Je öfter Sie den Text lesen, desto mehr glauben Sie, dass da stünde: „Gemäß einer Studie einer englischen Universität ist es nicht wichtig, in welcher Reihenfolge die Buchstaben in einem Wort sind. Das Einzige, was wichtig ist …“ usw. Doch das steht da nicht, wie Ihnen jeder Erstklässler, der Buchstabe für Buchstabe liest, beweisen wird. Wir können das Ganze noch übertreiben.

D3NN W3NN 513 D3N FOLG3ND3N T3XT 383NF4LL5 NOCH L353N, D4NN W1RD 1HN3N L4NG54M KL4R, D455 35 1HN3N VÖLL1G 3G4L 15T, W3N OD3R W45 513 VOR 51CH H483N, D3NN 513 53H3N NUR, W45 513 M1T 1HR3N 4UG3N 53H3N MÖCHT3N – UNG34CHT3T D3R R34L1TÄT.

Ich wiederhole: Sie sehen nur, was Sie mit Ihren Augen sehen möchten – ungeachtet der Realität! Noch Fragen?

Es gibt eine Vielzahl von optischen Täuschungen, die uns ebenso zeigen, dass wir das sehen, was wir erwarten – und nicht das, was wir nicht kennen. So wird überliefert, dass die ersten Indianer die Schiffe der Konquistadoren nicht sehen konnten, weil sie für etwas so Ungeheuerliches kein Wahrnehmungsrepertoire hatten. Es soll Tage gedauert haben, bis der beobachtende Strandposten die riesige Santa Maria plus Begleitung optisch erfasste. In dem Buch „Bleep“1 finden Sie zwei Beispiele dafür, dass Wahrnehmung an Erfahrung geknüpft ist: Junge Katzen, die in einem Raum ohne vertikale Linien aufwuchsen, wurden nach einigen Wochen in eine „normale Umgebung“ gebracht und konnten keine Stuhlbeine sehen – sie liefen dagegen. Kleinflugzeuge, die auf einer Autobahn notlanden, werden oft nach dem Stillstand von Autofahrern gerammt, die zu Protokoll gaben, sie hätten kein Flugzeug gesehen. Die Ermittler der Versicherungen fanden heraus, dass Autofahrer einfach nicht mit Flugzeugen auf der Autobahn rechnen und sie deshalb nicht wahrnehmen können.

Wenn Sie noch immer nicht glauben, dass unsere sinnliche Wahrnehmung von unseren Erwartungen abhängt, dann machen Sie einmal folgendes Experiment: Sie setzen sich in eine Stadtwohnung, in der Sie bei geöffnetem Fenster den Autoverkehr hören können. Nun schließen Sie die Augen und stellen sich vor, das Rauschen des Autoverkehrs wäre das Rauschen der Wellen am Strand. Bauen Sie alle Geräusche in die geistige Strandszenerie ein. Man braucht keine trainierte, bildhafte Vorstellungskraft, um bereits nach ein bis zwei Minuten Urlaubsfeeling zu verspüren.

Und so „erfinden“ wir uns leider auch unsere Verliebtheit oftmals selbst, weil wir aufgrund von Erwartungen denken, unser Partner hätte bestimmte Eigenschaften, die wir für begehrenswert halten – dabei sind diese Erwartungen lediglich Muster aus Vereinfachungen unserer Erfahrungen.

Das Fatale am Kennenlernen ist: Je weniger Informationen wir von unserem Gegenüber bekommen, desto mehr Daten ergänzen wir aus unserem eigenen Repertoire. Das ist besonders verhängnisvoll, wenn wir beispielsweise durch das Internet jemanden „kennen“ lernen. Bei einer Begegnung vis-à-vis bekommen wir Millionen von Informationen, die wir alle gleichzeitig aufnehmen. So etwa allein bei der Stimme: den Klang, die Melodie, die Lautstärke, die Geschwindigkeit, die Tonhöhe, die Sprachrichtung – dazu kommen noch die Wortwahl, das Sprachniveau, die Grammatik und die Kommunikationskompetenz (also, ob man Sie ausreden lässt usw.). Weiter geht es mit den Augen: die Farbe, die Wimpernlänge, Wimpernfarbe, die Lidschlagfrequenz, die Blickrichtung, der Öffnungsgrad der Augen, die Pupillengröße, die Fältchen, die Tränensackbeschaffenheit. Sie registrieren Mund, Lippen, Nase, Kinn, Größe, Körperhaltung, Frisur, Bekleidung und und und. Im Internet-Chat haben Sie statt Millionen von Eindrücken nur ein paar elektronische Zeichen, die Wortwahl und die Antwortgeschwindigkeit – das war’s. Den Rest fügen Sie aufgrund Ihrer Erwartungen hinzu, verlieben sich bis über beide Ohren in Ihre eigenen Vorstellungen, und bis Ihnen dieser Irrtum auffällt, vergeht eine Ewigkeit.

Vor einiger Zeit schrieben die Zeitungen über das jordanische Ehepaar Bakr und Sanaa Melhem, das sich im Internet einen heimlichen Flirtpartner suchte – anonym natürlich – und prompt an den eigenen Partner geriet. Als es zum Blind Date kam, flog die Sache auf, und anstelle eines Happy Ends endete die Ehe mit Scheidung. „Beide waren durch einen Ortswechsel für mehrere Monate getrennt. Und beide hatten anscheinend dieselbe Idee. Ein kleiner Flirt im Netz würde die Zeit des Wartens sicher schneller vorübergehen lassen. Bakr, der sich beim Online-Dating Adnan nannte, lernte bald eine interessante Frau kennen. Ihr Name war Dschamila. Dschamila war eine kultivierte, unverheiratete Frau und strenggläubige Muslimin. Bakr ahnte nicht, dass Dschamila in Wirklichkeit seine Ehefrau Sanaa war. Nach drei Monaten intensiver Flirts im Netz war es um die beiden geschehen. Man wollte für immer zusammenbleiben. „Adnan“ und „Dschamila“ hatte es voll erwischt. Bei einem ersten Treffen wollten sie die Sache klarmachen und ihre Verlobung besiegeln. Als Bakr bei diesem Rendezvous zu seinem Entsetzen in Dschamila seine Ehefrau erkannte, rief er in voller Lautstärke: ‚Ich verstoße dich, ich verstoße dich, ich verstoße dich!‘ – die traditionelle Scheidungsformel des Islam. ‚Du bist ein Lügner‘, antwortete Sanaa noch. Dann fiel sie in Ohnmacht“ (zitiert aus: http://flirt.stuttgarter-zeitung.de/newsletter/61/).

Was für eine tragische Geschichte! Man sieht: Wenn Partner ihre gegenseitigen Vorurteile außen vor lassen, können sie sich durchaus erneut ineinander verlieben. Hätten sich Bakr und Sanaa besser ganz bewusst um den Abbau ihrer Vorurteile gekümmert, wären sie heute womöglich in den zweiten Flitterwochen.

Dahingegen ist es relativ einfach, einen Menschen beim ersten Blick auf Herz und Nieren zu checken. Eigentlich sind wir „innerhalb von einer Sekunde splitternackt“, wie ich auf meinen Vorträgen immer demonstriere. Allein, wie unsere Körperhaltung ist, ob und welchen Schmuck wir tragen, den Modestil, die Frisur und die Gesichtsfältchen liefern Millionen von verwertbaren Daten. Wir sehen so aus, wie wir sind – selbst wenn wir uns verstecken, so kann man wahrnehmen, dass wir uns verstecken. Jeder von uns verfügt über Intuition. „Bauchgefühl“ nennt man das. Dieses wird uns zwar leider oft aberzogen, weil man uns einbläut, die unterbewussten Wahrnehmungen und Körpersignale wären nur Vorurteile. Man sollte natürlich ein Buch nicht anhand des Covers beurteilen, aber mit ein wenig Selbstvertrauen können Sie die oft brachliegende Fähigkeit der Intuition wieder kultivieren und trainieren. Damit sind Sie als Menschenkenner klar im Vorteil.

Betrachten wir also nun noch genauer das fremde Wesen an der Bar gegenüber (oder liegt es schon in Ihrem Bett?). Mit einer einzigen Frage können Sie nämlich eine Fülle von präzisen Informationen bekommen (welche meist die eigenen Eltern nicht hatten): Sie fragen einfach nach dem Sternzeichen.

Artgerechte Partnerhaltung. Das Geheimnis glücklicher und beständiger Liebe

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