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WENN ANPASSUNGSFÄHIGKEIT GEFRAGT IST

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Nicht immer ist die Definition eines Begriffes, die auf Wikipedia zu finden ist, so einfach und treffend, dass man sich sofort etwas darunter vorstellen kann. Auch die Erklärung für den Begriff »Anpassungsfähigkeit« (mit seinen Synonymen Adaptivität, Adaptabilität oder Flexibilität) klingt etwas hölzern:

»Als Anpassungsfähigkeit (…) wird die Fähigkeit eines Lebewesens oder einer Gesellschaft zur Veränderung oder Selbst­organisation bezeichnet, dank der auf gewandelte äußere Umstände im Sinne einer veränderten Wechselwirkung zwischen (kollektiven) Akteuren untereinander (…) oder ihrer Umgebung gegenüber reagiert werden kann. Es ist die Fähigkeit, sich auf geänderte Anforderungen und Gegebenheiten einer Umwelt einzustellen.«

Tag für Tag müssen wir bei ganz alltäglichen Gelegenheiten unsere Anpassungsfähigkeit unter Beweis stellen: Wer den Wecker überhört hat, muss sich beeilen, um doch noch pünktlich in der Schule zu sein. Wer den Bus verpasst hat, muss auf den nächsten warten oder einen anderen nehmen. Wenn auf meinem gewohnten Weg zur Arbeit eine Baustelle eingerichtet wurde, muss ich einen Umweg fahren. Für die einen sind eben erwähnte Situationen überhaupt kein Problem, andere fühlen sich extrem gestresst.

Warum wir Veränderungsbewusstsein ins Treffen führen, wird spätestens dann klar, wenn es um größere Anpassungsleistungen geht, die nicht immer freiwillig erbracht werden. Auf Süßigkeiten zu verzichten, weil der Arzt dazu geraten hat, fällt, je länger die erwünschte Abstinenz dauert, oft schwer – vor allem, wenn sich der erhoffte gesundheitliche Erfolg nur langsam einstellt. Oft gelingt eine Umstellung des Lebensstils erst dann, wenn die Folgen unseres Tuns gravierend sind. Jemand, der eine nichtalkoholische Fettleber oder Diabetes Typ 2 aufgrund seiner Fehlernährung entwickelt hat, riskiert nicht nur seine Gesundheit, sondern auch sein Leben, wenn er damit unbeeindruckt weitermacht.

Das Bewusstsein für eine notwendige Veränderung zu entwickeln, erscheint einfach, wenn Handlung A ganz eindeutig zu Konsequenz B führt. Doch die Corona-Pandemie hat uns eindrucksvoll vor Augen geführt, was passiert, wenn mögliche Folgen nicht eindeutig festzulegen sind. Wurden im ersten Lockdown noch alle einschneidenden Regeln von den meisten Menschen befolgt, so kamen mit zunehmender Dauer der Pandemie immer mehr Zweifel auf. Wissenschaftliche Erkenntnisse wurden angezweifelt, Verschwörungs­theorien begannen zu kursieren … Doch wir wollen hier keine Corona-Diskussion vom Zaun brechen, sondern vielmehr beispielhaft erläutern, dass es für eine persönliche Veränderung eine gewisse Einsicht braucht.

Warum sprechen wir an dieser Stelle nicht von Veränderungswillen? Weil dieser Begriff im Zusammenhang mit schweren Lebenskrisen einen zynischen Beigeschmack bekommt. Als hinge es allein von unserem »Willen« ab, ob wir von Krankheit, Tod oder finanziellem Ruin verschont bleiben. Menschen in ausweglosen Situationen fehlt oft schlicht die Möglichkeit, etwas zu verändern, und wir wollen gar nicht in die Nähe davon geraten, jemandem deshalb den Willen dazu abzusprechen. Zudem haben wir beide am eigenen Leib erfahren, was es bedeutet, seine Fähigkeit und zu einem großen Teil seinen Willen zur Anpassung durch Krankheit zu verlieren. Depressiv zu sein bedeutet nicht, ständig traurig zu sein, wie landläufig oft gemutmaßt wird. Eine Depression wirkt sich körperlich und seelisch aus, raubt einem jegliche Kraft und Perspektive (doch dazu später mehr).

Veränderung und Anpassung gelingen dann am schnellsten, wenn man keine Alternative mehr hat. Bei einem einschneidenden traumatischen Lebensereignis hat man keine Wahl. Als unsere Tochter nach ihrem Suizidversuch auf der Intensivstation lag, mussten wir unseren Alltag nach dieser neuen Situation ausrichten. Wir besuchten Nina jeden Tag, wobei es nur sehr reglementierte Möglichkeiten dazu gab. Wir organisierten die Betreuung der jüngeren Kinder, sagten Arbeitstermine ab, holten uns mentale Hilfe bei ÄrztInnen und TherapeutInnen, um diese dramatische Zeit durchzustehen. Gemeinsam fühlten wir uns bei den Besuchsterminen am sichersten, denn jeder Tag, jede Stunde konnte eine neue Hiobsbotschaft für uns bereithalten.

Dennoch wurde nach den ersten Wochen klar, dass wir so nicht weitermachen konnten. Unsere anderen Kinder brauchten uns ebenfalls als Eltern, gerade in dieser schweren Zeit. Und zwar nicht nur am Abend oder zwischen den Klinik­terminen, sondern den ganzen Tag über. Sie brauchten uns nach der Schule, bei gemeinsamen Unternehmungen oder für den ganz normalen Alltag. Wir organisierten uns also als Familie ein weiteres Mal neu, teilten die Besuchstage bei Nina auf, wobei auch ihre Großmutter einen Tag fix und Freundinnen oft einzelne Tage übernahmen. So konnten wir für alle unsere Kinder da sein, sowohl als Elternpaar als auch einzeln. Wir waren uns bewusst, dass diese Veränderung notwendig war, und wir hatten auch die Möglichkeit dazu. Weil wir Unterstützung hatten, weil wir es uns finanziell leisten konnten, weil wir uns den beruflichen Alltag selbst einteilen konnten, weil wir keine lange Anfahrt zur Rehaklinik auf uns nehmen mussten. Wir waren uns dessen bewusst und dankbar dafür. Manch andere Familie hätte diese Möglichkeit der Veränderung wohl nicht gehabt.

Doch nicht nur im Tun, auch im Denken liefen weitere Anpassungsleistungen ab. Obwohl wir uns damals hinsichtlich der Krankheit Depression bereits erfahren glaubten, war uns das Schlimmste passiert. Unser ältester Sohn und Alex selbst hatten diese Krankheit bereits überwunden gehabt und waren wieder gesundet. Als unsere Tochter ebenfalls eindeutige Symptome einer Erkrankung zeigte, hatten wir schnell reagiert und psychiatrische Hilfe geholt. Dennoch war das Thema Suizid an sich ein Tabu geblieben. Wie sich nun dieser neuen Realität stellen? Das Schrecklichste, das, woran zu denken man sich stets verboten hatte, war geschehen.

Wir hätten das Thema Suizid auch weiterhin als Tabu verschweigen, Ninas Zustand mit einem Unfall erklären und uns vor der Wahrheit verstecken können. Doch es war uns wichtig, unseren Zugang zu diesem schwierigen Thema zu verändern. Es wurde uns bewusst, dass eine Veränderung lebenswichtig sein kann. Bis zu Ninas Suizidversuch waren wir der Meinung, wir dürften das Thema ja nicht erwähnen, um unsere Tochter nicht auf die Idee zu bringen, sich in ihrer Ausnahmesituation etwas anzutun. Auch bei unserem Sohn hatten wir das direkte Ansprechen damals vermieden, waren aber froh, dass es die Ärztin in der Klinik für uns übernahm. Heute wissen wir: Niemand, der an Depressionen leidet, wird durch das Ansprechen von Suizidgedanken erst auf die Idee gebracht. Im Gegenteil: Suizidgedanken kommen von ganz alleine, und ein Ansprechen kann für den Betroffenen eine enorme Erleichterung, ja mitunter lebensrettend sein.

Wie es uns als Eltern gelungen ist, Worte für das bis dahin Unaussprechliche zu finden, haben wir ausführlich in unserem Buch »Mut zur Klarheit« beschrieben. Das Geschehene nicht nur in der akuten Situation zu meistern, sondern auch langfristig positiv in sein Leben zu integrieren – darum wird es in den nächsten Kapiteln dieses Buches gehen. Anpassung verstehen wir in diesem Zusammenhang als eher kurzfristige Reaktion auf einen äußeren Umstand, während sich das Veränderungsbewusstsein auf eine längerfristig angelegte Beeinflussung der persönlichen Situation bzw. des persönlichen Erlebens bezieht.

Als Eltern waren wir in der Lage, unseren Schicksalsschlag so zu meistern, dass wir während Ninas Wachkoma allem gerecht wurden, was uns damals wichtig war: Wir kämpften um Ninas Genesung, waren für unsere anderen Kinder da, gingen offen mit den Themen Depression und Suizid um, holten uns professionelle psychologische Hilfe, organisierten die beruflichen Belange so, dass sie mit den familiären Umständen vereinbar waren, und sorgten nicht zuletzt für persönlichen Ausgleich in Form von Sport und Kultur. Nach Ninas Tod ließen wir uns auf den Prozess des Trauerns ein und suchten gleichzeitig nach einem Weg, wieder in ein »normales« Leben hineinzufinden – ohne Klinikalltag und Überlebenskampf. Wir konnten beide das, was uns zugestoßen war, gut in Worte fassen: in persönlichen Gesprächen, bei Vorträgen, bei Interviews und auch in unserem zweiten gemeinsamen Buch. Unser Umgang mit dieser schweren Lebenskrise war und ist bis heute für viele Menschen vorbildhaft. Es tat gut zu hören, wie stark wir seien und wie gut wir das alles gemeistert hätten.

Vieles von dem, was wir hier bis jetzt beschrieben haben, würden ExpertInnen wohl unter dem Fachbegriff »Resilienz« zusammenfassen. Oft vereinfacht als psychische Widerstandskraft bezeichnet, hat uns unter den vielen in Facetten unterschiedlichen Definitionen von Resilienz diese am meisten angesprochen:

Resilienz (von Lateinisch resilire, »zurückspringen«, »abprallen«) oder psychische Widerstandsfähigkeit ist die Fähigkeit, Krisen zu bewältigen und sie durch Rückgriff auf persönliche und sozial vermittelte Ressourcen als Anlass für Entwicklungen zu nutzen.

Resilienz war auch während des Corona-Lockdowns in aller Munde. Auf allen Medienkanälen wurden Tipps gegeben, wie mit dieser völlig neuen Situation am besten umzugehen ist. Gleichzeitig war auch viel von einer sich verändernden Gesellschaft die Rede: Allgemeine Werte würden sich durch diese Krise verändern zu mehr Nachhaltigkeit und mehr Solidarität. Ob dem so ist, werden erst die nächsten Monate oder vielleicht sogar Jahre zeigen.

Was aber für uns ganz klar war, ist, dass es sehr von der jeweiligen sowohl persönlichen wie wirtschaftlichen Ausgangslage abhängt, wie gut man eine Krise wie diese bewältigt. In einem Haus mit Garten lässt es sich während der Quarantäne besser aushalten als in einer engen Wohnung ohne Balkon. Wer in der Vergangenheit Geld auf die Seite legen konnte, kann wirtschaftliche Einbußen leichter wegstecken als jemand, der jeden Cent umdrehen muss, um über die Runden zu kommen. Wer bereits Schlimmeres erlebt und dies gut überstanden hat, wird sich von Corona womöglich wesentlich weniger aus der Ruhe bringen lassen. Wer gelernt hat, wie er seine mentale Gesundheit stärkt, kann auch in Ausnahmesituationen auf diese Fähigkeiten zurückgreifen.

Warum wir uns dennoch nicht auf den Begriff Resilienz beschränken möchten, hat damit zu tun, dass wir das, was nach einer lebensverändernden Krise zur weiteren Lebensbewältigung notwendig ist, als viel komplexer und umfassender begreifen. Zudem klingt der Begriff sperrig und sagt für viele auf den ersten Blick wenig aus. In unseren Augen muss die kognitive Komponente, die bei der Resilienz oft im Vordergrund steht, um die körperliche und die emotionale Ebene erweitert werden. Wir selbst haben nach Meinung begleitender ExpertInnen in unserer Ausnahmesituation große Resilienz bewiesen, waren für viele ähnlich Betroffene Vorbilder.

Doch wie nachhaltig unsere Fähigkeit zur Anpassung ist, sollte sich erst in den Jahren nach Ninas Tod zeigen. Denn in Wahrheit begann für unsere Familie nach der Phase der allumfassenden Trauer bereits die nächste schwere Krise. Die Nachwehen des akuten Schicksalsschlages waren so massiv, so einschneidend, dass niemand in unserer (Kern-)Familie einfach zur Tagesordnung übergehen hätte können. Die »neue Normalität« – in Corona-Zeiten zum geflügelten Wort für eine Zeit der notwendigen Einschränkungen nach dem Lockdown geworden – gilt für uns ein Leben lang. Wie sich darauf einstellen? Wie mit dieser Schwere, mit diesen einschneidenden Erfahrungen weiterleben?

Viele unserer FreundInnen, auch jene, die uns in der Akutphase großartig unterstützt hatten, glaubten, mit Ninas Tod sei das »Schlimmste« quasi ausgestanden. Wir müssten uns nicht mehr um eine schwerstbehinderte Tochter kümmern, Nina selbst sei von ihren Qualen erlöst (was den Tatsachen entspricht), jetzt nur noch die notwendige Trauer und den Verlust verarbeiten (natürlich in ein paar Monaten), und dann ist alles wieder »normal«.

Nein, ist es nicht! Wir haben bis heute mit den Folgen unseres Schicksalsschlages zu kämpfen – psychisch und physisch. Gleichzeitig ist dieser Kampf aber auch ein Weg der Heilung, der nicht nur aktuelle, sondern auch ganz alte Wunden betrifft.

Dieser Weg hat ganz viel mit Anpassungsfähigkeit und Veränderungsbewusstsein zu tun bzw. lässt sich mit diesen beiden Begriffen gut umreißen. Mit jedem Jahr, das nach Ninas Tod vergangen ist, hat sich unser Erfahrungshorizont erweitert und der persönliche Zustand verändert. Es ist und war ein Prozess, der uns an den Punkt gebracht hat, dieses Buch nun zu veröffentlichen. Zu einem früheren Zeitpunkt wären wir noch nicht so weit gewesen, wie wir es jetzt sind. Und die Zukunft wird uns mit Sicherheit noch weiter verändern. Doch wir beide glauben, dass unser Dasein nun auf einem guten, tragbaren Fundament steht, so dass wir uns zu sagen getrauen: So kann es funktionieren, so kann es gelingen, nachhaltig zufrieden zu sein – egal, was war, egal, was noch kommt.

Wir werden die nächsten Kapitel dieses Buches in drei große Abschnitte unterteilen, die stellvertretend für je einen Teil unseres Weges stehen. Da ist zum einen der kognitive Zugang: Zu verstehen, was mit Nina passiert ist, was das alles mit uns macht, war einer der ersten Schritte auf dem Weg zur Krisenbewältigung. Das Verstehen-Wollen hält bis heute an, oft gibt es Zusammenhänge oder Erkenntnisse, die erst nach einer gewissen Zeit zugänglich sind. Ich hätte es zum Beispiel direkt nach Ninas Tod nie geschafft, ein Buch über Trauer zu lesen. Auch ein Seminar mit dem Thema »Tabu Suizid – Wir sprechen darüber« musste ich frühzeitig abbrechen. Dieses distanzierte wissenschaftliche Befassen mit einem für mich zutiefst emotionalen Thema war mir lange Zeit nicht möglich, obwohl ich gleichzeitig offen über beides sprechen konnte.

Zum körperlichen Zugang von Krisenbewältigung hatten wir bereits vor unserem Schicksalsschlag aus beruflichen Gründen gefunden – Alex als Skisprungtrainer und ich als AVWF-Trainerin. Auf Grundlage der von Ulrich Conrady entwickelten Audiovisuellen Wahrnehmungsförderung beschäftigten wir uns mit Stressregulierung und der Polyvagal-Theorie von Stephen Porges, die gerade im englischsprachigen Bereich bei immer mehr Therapieformen Beachtung findet.

Es geht um die Antwort unseres autonomen Nervensystems auf einen externen oder internen Reiz, der als Gefahr gewertet wird. Schaltet unser Körper in den Kampf- oder Fluchtmodus, so werden unbewusst blitzschnell bestimmte Prozesse eingeleitet: Unser Herz schlägt schneller, die Muskelspannung erhöht sich, das Blickfeld verengt sich. Chronische Anspannung oder ein extrem überforderndes Ereignis, das kämpfen oder flüchten unmöglich macht, führen hingegen zu einem Zustand der Erstarrung. Unser »Reptiliengehirn« wird aktiv und will uns mit dem energiesparenden Totstellreflex möglichst schadlos durch die Gefahr bringen.

Löst sich eine potenzielle Gefahrensituation schnell wieder auf, dann gelingt es einem anpassungsfähigen Organismus, sich genauso rasch wieder zu beruhigen, wie er sich zuvor erregt hat. Bleibt eine prekäre Situation aber über längere Zeit bestehen, dann verharrt unser Gehirn in erhöhter Alarmbereitschaft. Dies war für viele Menschen während des Lockdowns deutlich zu spüren. Jeden Tag musste man sich auf Neuerungen einstellen, während die Lage insgesamt im Ungewissen blieb. Angst erhöhte bei vielen zunächst die Anpassungsfähigkeit, bei manchen führte sie aber auch ganz schnell zur Erstarrung.

Diese ständige Alarmbereitschaft kostet den Körper viel Energie, zumal auch Schlafqualität und Erholungsfähigkeit sinken. Wie lange dieser Zustand aufrechtzuerhalten ist, hängt ganz von den individuellen Ressourcen und den äußeren Umständen ab. Was folgt, ist eine Phase der Erschöpfung und im besten Fall der notwendigen Regeneration. Während wir in den ersten Wochen des Shutdowns rege Betriebsamkeit entwickelten – das Haus gründlich durchputzten, im Garten neue Beete anlegten, unsere Social-Media-Kanäle bedienten –, setzte irgendwann bleierne Müdigkeit ein.

Wem wollten wir mit unserer übertriebenen Geschäftigkeit etwas beweisen? Durften wir es uns nicht erlauben, in dieser Ausnahmesituation müde zu sein? Als Nina im Wachkoma lag, verdrängten wir bewusst 13 Monate lang alle Hinweise unseres Körpers, dass es Zeit wäre, sich zu erholen. Die Hoffnung auf Genesung ließ uns durchhalten und ein immenses Arbeitspensum zwischen Klinik, Beruf und der restlichen Familie bewältigen. Genauso wie Alex jahrelang mit extrem wenig Schlaf ausgekommen war, als er auf dem Weg zum erfolgreichen Skisprungtrainer fast rund um die Uhr gearbeitet hatte. Dieser Raubbau an der eigenen Gesundheit machte sich erst später bemerkbar, als ihn die Erkrankung unseres ältesten Sohnes in die Erschöpfungsdepression führte.

Das Bewusstsein, dass es einer Veränderung bedurfte, kam also sehr spät und war zu dieser Zeit auch nicht nachhaltig. Wir beide hatten längst verlernt, auf die Bedürfnisse unseres Körpers zu hören. Mehrere Bandscheibenvorfälle bei Alex, immer stärker werdende Migräneattacken bei mir waren dank starker Schmerzmitteln als Signale immer noch zu schwach, um nachhaltig gehört zu werden. Wir beide waren getrieben von dem Gedanken, etwas leisten zu müssen, egal ob im Beruf, als Eltern oder im Privatleben. Sich zu erholen war nur kurz erlaubt, entweder als Belohnung oder aufgrund unseres schweren Schicksalsschlages, dann musste es weitergehen. Diese ungesunden Verhaltensmuster waren (und sind es teilweise bis heute) unterfüttert mit für uns negativen Emotionen: Ich habe mich geschämt, faul vor dem Fernseher zu liegen. Alex fühlte sich wertlos, wenn er nicht beruflich arbeitete. An dieser Stelle wird der Zusammenhang mit dem emotionalen Anteil von Anpassungsfähigkeit sehr gut sichtbar.

Dass die Angst vor einem unbekannten Virus die Anpassungsfähigkeit eines Großteils der Bevölkerung maßgeblich beeinflusst, hat wiederum die Corona-Krise eindeutig gezeigt. Wie sehr die Menschen ihr Leben aber wirklich verändern wollen oder eben nicht, förderte erst ein erstes Abebben der Infektionen im Sommer 2020 zutage. Erster Widerstand gegen die Maßnahmen der Regierung wurde laut, Verschwörungsideologien fanden regen Zuspruch. Die Kluft zwischen denen, die ihr altes Leben ohne Einschränkungen trotz Covid-19 zurückhaben wollten, und jenen, die immer noch große Angst vor dem Virus hatten, wuchs bedenklich an.

Gefühle beeinflussen unsere Anpassungsfähigkeit. Angst lässt uns eher durchhalten, Wut verleitet zum Widerstand. Der Neid auf jene, die sich den Regeln widersetzen, produziert wiederum Zorn bei denen, die sich das nicht trauen (das Denunziantentum feierte während und nach dem Lockdown fröhliche Urständ). Dass unsere Tochter versucht hatte, sich umzubringen, führte bei mir zu starken Schamgefühlen, die bewirkten, dass ich mir klein und wertlos vorkam. Ich hatte sogar in dieser extremen Situation den Drang, es allen recht zu machen: Besucher zu empfangen, die so überfordert waren, dass ich sie stützen musste, anstatt umgekehrt. An das Pflegepersonal möglichst keine »Extra-Wünsche« zu stellen, um ja nicht als aufdringlich empfunden zu werden. Sich kluge Sprüche und Weisheiten von Menschen anzuhören, die in Wahrheit keine Ahnung hatten. In Gesellschaft von Freundinnen nicht (mehr) zu weinen oder über meine Trauer zu sprechen, um niemanden zu belasten oder die gute Stimmung zu zerstören.

Diese Liste ließe sich beliebig verlängern. Bei Alex verlagerte sich das Gefühl der Wertlosigkeit hingegen auf den beruflichen Bereich. Die Erschöpfung, die aus der monatelangen Überforderung durch unsere Situation resultierte, machte ihm Angst, dass er uns nicht mehr versorgen könnte. Obwohl wir finanziell abgesichert waren und uns beiden dank bisheriger Ausbildungen und Erfahrungen Möglichkeiten offenstanden, hatte er das Gefühl, nichts zu leisten. Während unsere Tochter noch im Wachkoma lag, war für diese Gefühle kaum Zeit, jeder Tag war geplant und eng durchgetaktet. Nach ihrem Tod und während der ersten Zeit der allumfassenden Trauer meldeten sich diese dafür aber mit größter Vehemenz.

Der Umgang mit diesen (und anderen) vermeintlich negativen Gefühlen veränderte sich: Versuchten wir sie anfangs zu verdrängen, so schafften wir es schließlich, uns ihnen mit therapeutischer Hilfe zu stellen. Nicht alle Emotionen hingen mit der akuten dramatischen Situation zusammen, manche hatten ihren Ursprung in frühkindlichen Prägungen. Diese Erkenntnis brachte nicht unbedingt eine Veränderung der Empfindungen, aber sie beeinflusste unseren Umgang damit zum Positiven.

Das Leben ist kein Wunschkonzert, heißt es oft so treffend. Immer wieder sind wir genötigt, Erwartungen und Vorstellungen, die wir einmal aus bestimmten Gründen getroffen haben, über Bord zu werfen. Freiwillig geschieht dies in den seltensten Fällen, denn Veränderung ist mühsam und braucht sehr viel Durchhaltevermögen. In einer schweren Krise kann ich mir allerdings nicht aussuchen, ob ich mich an sie anpassen will oder nicht. Wenn meine Firma aufgrund der Covid-19-Beschränkungen in Konkurs gegangen ist, muss ich mir eine neue Arbeit suchen – ob ich will oder nicht. Als unsere Tochter Nina nach ihrem Suizidversuch in der Intensivstation lag, mussten wir uns auf diese Situation einstellen – so schwer es auch war.

Als Nina im Dezember 2015 verstarb, kippte ich in ein tiefes Loch. Dreizehn Monate lang hatten wir alle Energien mobilisiert, um ihr und unseren anderen Kindern bestmöglich beizustehen, und nun war sie tot. Die ständige Anspannung fiel ab und hinterließ eine unendliche Leere. Alles schien umsonst gewesen. Ich stellte nicht nur die letzten Monate, sondern mein ganzes Muttersein, meine ganze Persönlichkeit in Frage. Und damit bekam alles, was geschehen war, einen Sinn: Es musste sich etwas verändern, und zwar tiefgreifend und langfristig. Unsere Beziehung stand auf dem Prüfstand: als Liebespaar, als Elternpaar, als Sohn und Tochter unserer Eltern.

Veränderungsbewusstsein bedeutet für uns, auch »erfolgreiche« Bewältigungsstrategien zu hinterfragen. Wer von einem Schicksalsschlag getroffen wird, hat keine Zeit, um zu reflektieren, wie und ob er »gesund« reagiert. Das Notfallprogramm, das dabei abläuft, ist oft ein uraltes, das häufig schon in der Kindheit angelegt wurde. Doch in der Krise nach der Akutphase ist es wichtig, sich die Zeit zu nehmen, um zu reflektieren. Was kann ich tun, um meine Anpassungsfähigkeit zu verbessern? Passen meine Bewältigungsstrategien auch in der aktuellen Situation noch oder stecke ich fest? Habe ich mich kognitiv zwar auf die Krise gut eingestellt, körperlich den Bogen aber weit überspannt?

Leider wird die mentale Gesundheit, die von der körperlichen nicht zu trennen ist, in Österreich immer noch sträflich vernachlässigt. Wenn man es sich nicht leisten kann, privat eine Therapie zu finanzieren, wartet man oft wochen- oder sogar monatelang auf ein kassengestütztes Angebot. Neben dem persönlichen Bewusstsein braucht es entsprechend Geld und Zeit, um eine Krise dermaßen nachhaltig zu bewältigen, dass man daran wachsen kann.

Mit der Aufhebung der Corona-Maßnahmen wird für viele weder die wirtschaftliche noch die psychische Krise vorbei sein. Aber auch wer gesundheitlich und finanziell verschont geblieben ist und nun darauf hofft, möglichst schnell wieder zur »alten« Normalität zurückkehren zu können, wird enttäuscht werden. Die Covid-Krise hat gesellschaftliche Wunden gerissen, die erst langsam und nicht ohne gemeinsame Anstrengung verheilen können. Die langfristige Bewältigung einer Krise kostet genauso viel Kraft wie die dramatische Zeit davor.

Hätten wir nach Ninas Tod »einfach« ein paar Monate trauern und dann mit der ganzen Tragödie abschließen sollen, um weiterzumachen wie zuvor? So wie uns nicht wenige unserer FreundInnen oder nahen Verwandten geraten hatten?

Das hätte bedeutet, dass vieles, was wir gerade als Persönlichkeiten in der akuten Phase gelernt und entwickelt hatten, in gewisser Weise rückgängig gemacht werden hätte müssen. Um es an einem Beispiel zu veranschaulichen: Hatte ich versucht, es in den ersten Monaten allen recht zu machen, so musste ich mit der Zeit lernen, mich zu wehren, z. B. dem Pflegepersonal deutlich und nachdrücklich zu sagen, wenn ich das Gefühl hatte, dass bei Nina etwas nicht stimmte. Ich musste des Öfteren für das Wohl meiner Tochter kämpfen. Umgekehrt machte Alex bald die Erfahrung, dass er mit seinem »Cheftrainer-Verhalten«, nämlich Dinge selbst in die Hand zu nehmen bzw. energisch einzufordern, nicht mehr weiterkam. Er musste in mancher Hinsicht diplomatischer auftreten.

Ich fühlte mich nach der ersten Phase der allumfassenden Trauer durch diese Erfahrung sehr gestärkt. Wenn ich so ein dramatisches Erlebnis wie Ninas Suizidversuch und seine Folgen überstanden hatte, dann müsste es mir doch gelingen, auch in meinem restlichen Leben bestimmte Dinge anders zu regeln. Ich wollte meinen Ärger nicht mehr hinunterschlucken, ich wollte meine negativen Gefühle nicht mehr ständig verdrängen, ich wollte sagen können, wenn mir etwas nicht passte. Gleichzeitig waren meine Energiereserven so leer, dass mir klar wurde, dass ich einen neuen Umgang mit meinen negativen Gefühlen lernen musste. Denn sie weiterhin zu verdrängen hätte nicht nur viel mehr Kraft gekostet, sondern auch bedeutet, dass ich mich als Persönlichkeit selbst verleugnet hätte.

Doch der Weg dorthin sollte länger dauern, als vermutet, davor gab es noch einige Schichten an erlerntem Verhalten, übernommenen Glaubenssätzen und verdrängten Kindheitserinnerungen abzutragen. Und das nicht nur als Einzelperson, sondern in einem Familiensystem: mit Kindern, die ebenfalls durch das Geschehene traumatisiert waren, und einem Partner, der ganz andere Bewältigungsstrategien und -geschwindigkeiten fuhr als ich selbst.

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