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Beispiel 1: Gelassenheit inmitten von Hektik

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Die vermutlich häufigste Form der Gelassenheit im Alltag besteht darin, dass jemand inmitten von Hektik unaufgeregt bleibt, die innere Ruhe bewahrt und ausgeglichen reagiert.

Ein besonders eindrucksvolles Beispiel dafür, dass es auch in Krisensituationen möglich ist, gelassen zu bleiben, gibt der folgende Bericht, den einer der Passagiere geschrieben hat, der 1977 bei der Entführung der »Landshut« zusammen mit 90 weiteren Personen in Mogadischu fünf Tage lang von vier arabischen Terroristen als Geisel festgehalten wurde. Während dieser Zeit wurden die Passagiere und Besatzungsmitglieder rund um die Uhr von den bewaffneten Geiselnehmern bedroht; der Flugkapitän Jürgen Schumann wurde vor aller Augen erschossen, es gab Schein-Exekutionen und wiederholt wurden Geiseln misshandelt.

Fünf Tage als Geisel

»Sechs Monate sind vergangen, seit ich aus Mogadischu zurück bin. Was sich damals in den fünf Tagen und fünf Nächten an Ereignissen zutrug, kommt mir immer nur in einzelnen Episoden oder Gedankenkomplexen in Erinnerung. (…)

Gewisse Erfahrungen sind eben nur ganz selten und in ganz besonderen Situationen möglich. Und wer hat schon fünf Tage und fünf Nächte rund um die Uhr einen Pistolenlauf, zwei Handgranaten und – bei den Ultimaten zwei Sprengladungen vor Augen gehabt, brutale Misshandlungen von Frauen, Schein-Exekutionen und die Erschießung eines mit erhobenen Händen knieenden Menschen aus zwei Metern Entfernung miterlebt! Dem Mitempfinden derer, die nicht dabei waren, sind eben Grenzen gesetzt. (…) Es gibt etwas, das der Vermittlung an andere verschlossen bleibt, wenn sie nicht selbst schon einmal von der Grenze zwischen Leben und Tod zurückgekehrt sind:

Wie man – das unabwendbare Ende vor sich – an seine Angehörigen denkt (was war, was wird sein?); wie man – den Tod unmittelbar vor Augen – sein Leben überblickt (wie ist es gewesen?); was man – im Angesicht des Todes – über den Tod denkt (was mag wohl kommen?). Fragen in die Vergangenheit – Fragen in die Zukunft…

Doch bevor es zu diesen Fragen kam, war da zunächst die akute Gegenwart. Schon nach wenigen Sekunden ist mir klar, was hier vorgeht. Nachdem dann über den Bordlautsprecher die In-Gewaltnahme der Maschine verkündet ist und die Nichtbeachtung eines der gegebenen Befehle mit sofortiger Erschießung bedroht worden ist (»will be executed immediately«), nachdem die Stewardessen und die Passagiere aus der ersten Reihe der Touristenklasse ins Heck der Maschine getrieben worden sind, nachdem sie einzeln nach vorne befohlen, nach Waffen gefilzt und dann auf einen der freien Plätze dirigiert sind (die Maschine ist nicht voll ausgebucht), und nachdem wir nun alle angegurtet mit Händen über dem Kopf dasitzen, da besteht nun erstmals Gelegenheit, ruhige Gedanken zu fassen. Und ich denke nach.

Für die Beendigung dieses Abenteuers gibt es verschiedene Vermutungsvariationen, die aber im Wesentlichen auf zwei Möglichkeiten zusammenschrumpfen: glücklicher oder tödlicher Ausgang.

Über die Möglichkeiten des Überlebens nachzudenken, bringt jetzt nicht viel; auf welche Weise es auch immer gelingen mag, entscheidend ist dabei nur das Überleben, später kann man weiterdenken. Das ist bei der zweiten Möglichkeit anders, dann ist das Denken vorbei. Ob diese zweite Lösung, das physische Ende, durch Pistolenkugeln, Handgranaten, Sprengstoff, Bruchlandung, Absturz, Explosion oder durch Feuer erfolgt oder durch eine Kombination dieser Möglichkeiten, ist im Endresultat gleich: Es ist der Tod. Nur er, der über alle diese Variationen Dominierende, ist erwägenswert. Ich kann morgen durch einen Autounfall oder durch eine Krankheit sterben. Einen solchen Tod müßte ich hinnehmen. Was ist anders bei diesem Tod? Nichts, ich muß auch diesen akzeptieren.Daheim hatten sich alle meine Kinder – sonst vom Norden bis Süden in der Bundesrepublik verstreut – zu einem Krisenstab zusammengefunden und kurz vor Ablauf des allerletzten Ultimatums in einem Telegramm an den Bundeskanzler zur Rettung der Geiseln die Freilassung der Gefangenen gefordert. (…)

Mich jedenfalls hat dieses Akzeptieren meines möglichen Todes in den Stand gesetzt, diese fünf Tage und fünf Nächte durchzustehen, ohne auch nur ein einziges Mal – (hier sehe ich die verständnislosen, wenn nicht gar ungläubigen Blicke vieler meiner Zuhörer vor mir) – ohne auch wirklich nur ein einziges Mal Angst zu haben oder gar in Panik zu verfallen. In einer Zuhörerrunde wurde mir vorgehalten, es sei doch unmöglich, dass ich keine Angst gehabt hätte; ich bildete mir das wohl im Rückblick bloß ein. Ich kann mir zwar vorstellen, dass man bei gewissen Situationen erst nachher erkennt, dass man Angst gehabt hat. Völlig undenkbar hingegen erscheint mir, dass man eine ausgestandene Angst vergessen könnte.

Es mag schwierig und für manchen unmöglich sein, zu erkennen, wie meine Entscheidung, mich mit meinem möglichen Tod abzufinden, mich für die ganze folgende Zeit verändert hat. Ich habe damit eine feste Basis gewonnen und vor mir eine undurchdringliche Schutzwand errichtet – wie eine Panzerplatte aus hochfestem Stahl –, hinter der ich mit meinem Ich und seinen Emotionen geborgen bin. Das gibt mir eine unvorstellbare Ruhe und Sicherheit. Kein Selbstmitleid, keine weiteren Betrachtungen über mich persönlich stören meinen Blick über diese Schutzwand hinweg; ich kann völlig nüchtern die Situation von einem Ereignis zum andern klar erkennen, analysieren, emotionslos beurteilen und mich so auf die jeweils gegebene Sachlage einstellen. Auch jede Möglichkeit, mein Leben doch noch zu retten, kann ich in jeder Situation sachlich durchdenken, ohne meine Basis, die Akzeptierung meines möglichen Todes, aufzugeben. Es ist ein mir neuer, meinem bisherigen Gefühlsleben entrückter Zustand. Ich kann sogar diesen vier Menschen, von denen jeder bereit ist, mir den Tod zu bringen, ruhig ins Auge sehen.

Zweites Ergebnis meines Nachdenkens: Aktivität ist zur Zeit ausgeschlossen, also Kräfte sammeln. Die für zwei Tage reichenden Herz- und Kreislaufdragees strecken, einfach statt je drei nur je eine pro Tag nehmen. Vor allem aber jede sich bietende Gelegenheit zu schlafen wahrnehmen. Ich lockere meine Muskeln (soweit die enge Sitzweise das zulässt), wende mein autogenes Einschlaftraining an und schlafe. Abgesehen von einer kurzen Unterbrechung durch Machmud wurde ich erst kurz vor der Landung in Rom durch im Bordlautsprecher verkündete Befehle geweckt. Geschlafen habe ich auch im folgenden immer wieder einmal, sofern nicht irgend etwas befohlen wurde oder der hasswahnsinnige Machmud irgendeine seiner Eskapaden ritt. Bis auf einen Schwächeanfall aus Sauerstoffmangel (die Klimaanlage war zum zweitenmal bei einer Außentemperatur von 50 Grad sieben Stunden lang ausgefallen) habe ich die Zeiten, in denen ich wach war, ›fit‹ durchgestanden. Und wie gesagt, ich konnte denen, die Herr über unser aller Leben und Tod waren, ruhig ins Auge sehen.« (aus: Die Zeit, 5. Mai 1978).

Dieses Beispiel veranschaulicht in eindrucksvoller Weise, was Gelassenheit auch in schwierigsten Situationen bewirken kann: nämlich große innere Ruhe, Wohlbefinden, Besonnenheit und körperliche Leistungsfähigkeit – gepaart mit der Fähigkeit zu nüchterner Analyse, differenzierter Wahrnehmung und optimaler Handlungsfähigkeit, wie der Rest des Berichts belegt. Grundlage dieser Gelassenheit ist es, »dem Schlimmen ins Gesicht zu schauen«, hier der Möglichkeit, bei dieser Geiselnahme zu sterben. Was das bedeutet, warum sich das so auswirkt, und vor allem, was sich tun lässt, wenn dies schwerfällt, darum geht es in diesem Buch.

Gelassenheit durch Auflösung innerer Konflikte

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