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Kapitel 2

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Deirdre schloss für einen kurzen Moment die Lider. Die Explosion ihrer kleinen Überraschung hatte sie geblendet. Neugierig, wie sich ihre Erfindung auswirkte, öffnete sie blinzelnd die Augen.

Wie erhofft lag das Drachenwesen lang gestreckt im blutdurchtränkten Schnee. Nicht weit von diesem entfernt sah sie weitere tote graue Leiber von dessen Artgenossen. Ebenfalls vergangen durch ihr außerordentlich effektives Geschenk. Ihr stolzes Lächeln verflog schlagartig, als sie die leeren menschlichen Hüllen tapferer San-Hüter daneben erblickte.

Was die Magierin weitaus mehr irritierte, waren die verbliebenen fliegenden Ungeheuer, die abgelenkt wirkten. Ihre knöchernen Schädel richteten sich zu einem Flecken, der vermutlich außerhalb des Zentrums des Ortes lag. Wie gepeinigt neigten sie in diesem Moment die Köpfe.

Einzig die drachenartigen Wesen hörten etwas, das sie dazu veranlasste sich von ihnen abzuwenden. Und dann gewahr Deirdre donnerndes Getrappel, das selbst weit entfernte Äste von Tannen zum Erzittern brachte. Celena, die Tochter der Tousards stürmte auf ihrem Rappen in ihre Richtung. Hinter ihr folgte eine Rotte von tobenden und schnaufenden Derkoys. Mit einem Blick erfasste die Magierin die Lage.

Sebyll lag weiterhin bewusstlos unter dem Baum und konnte ihr nicht beistehen. Der Hund, der zu einem riesigen weißen Schattenwolf mutierte, verstrickte sich in einem verbitterten Kampf mit zwei der Drachenwesen. Und die verbliebenen lebenden San-Hüter verstreuten sich in alle Himmelsrichtungen.

Sie durfte nicht mehr zögern. Jedes weitere Zaudern konnte tödlich verlaufen, auch wenn das Gezücht weiterhin abgelenkt schien. Sie nahm ein paar ihrer explosiven Wurfgeschosse und ließ sie in die Taschen ihres Umhangs verschwinden.

Ihre rechte Hand reckte sich dem am nächsten stehenden Derkoy entgegen. Eine feurige Säule stob dem fliegenden Ungeheuer entgegen. Es schreckte das verdorbene Tier mehr ab, als dass das Feuer seine graulederne Haut anschmorte. Es genügte jedoch, der heran preschenten Reiterin ein Signal zu geben.

Knapp unter den fauchenden Schlägen und zischenden Peitschenhieben der Drachenschwänze wegduckend, stürmte die junge Kriegerin längsseits zu Deirdre. Ihre Hand fuhr hinab. Sie packte den Arm der Zauberin und schwang sie mit aller Kraft hinter sich auf das Flammenross.

Während des hektischen Ritts machte Deirdre die Verfolger aus, die zunächst nur zu zweit, dann zu dritt und schließlich gar zu fünft ihnen hinter jagten. Mit steifen Fingern und ungelenkt aufgrund der Erschütterungen des hastigen Galopps, fischte die Magierin nach einen ihren neuartigen Explosivgeschosse.

»Das ist es«, sprach sie bestimmt.

»Was immer ihr vorhabt, handelt rasch«, bellte Celena vor ihr, worauf sich die Zauberin zu einem feinen Lächeln durchrang. Das Lächeln erstarb augenblicklich, als sie des grünlich schimmernden Schwertes ansichtig wurde. Jenem Schwert, geschmiedet aus dem Stein eines gefallenen Sterns. Ein Zaudern erfasste sie, dass wie ein Bann auf ihr lag und sie nicht mehr losließ. »Das Schwert aus Stein«, wisperte sie.

»Was?« keuchte Celena, während das Flammenpferd tiefer in den Wald hinein galoppierte.

Ungebremst in seiner Geschwindigkeit sprintete Feuerwind zwischen den mächtigen, rindenbewehrten Riesen der Pflanzenwelt hindurch. Sicher sprang das Tier über Stock und Stein, umgestürzter Bäume und Vertiefungen des Bodens.

Wie eine vielhäuptige, sündige Schlange, bestehend aus unseligen Abkömmlingen einstmals stolzer Wesen, schlängelten sich die Derkoys durch den Forst hinter das schnelle Pferd her. Sie zermalmten im Wege stehende Bäume, fegten Äste hinfort und zerrieben Steine unter ihren Klauen zu Staub.

Aus dem Bann des Schwertes befreit, warf Deirdre endlich eine ihrer neuen Zauberkugeln hinter sich und harrte dessen Wirkung.

Es ließ nicht lange auf sich warten. Die Detonation zersplitterte jahrhundertlang gewachsenes Holz und zeriss die Hydragleiche Meute. Drei von den Verfolgern überlebten die Explosion. Verletzt durch die ins Fleisch getriebenen Holzsplitter, hielt es sie nicht davon ab, umso zorniger hinter ihrer Beute herzujagen. Rasend vor unbändiger Wut teilten sich die übrig gebliebenen Bestien auf und flankierten Feuerwind.

Das Ross des Feuers wieherte verängstigt auf. Es ahnte wohl, das es als einen kleinen Happen im Magen der Bestien enden könnte, nachdem die Zauberin mit ihren beiden letzten Wurfgeschossen ihr Ziel verfehlte.

Als Celena die Himmelsschneide zog, wisperte Deirdre kurzerhand drei Worte der Schneide entgegen. Unmerklich blitzte die Klinge auf, bevor sie von der Hand der Kriegerin geführt, klaffende Wunden in dem nebenherlaufenden Ungetüm schlug. Die wütenden Hiebe Celenas brachten eines der Drachenwesen zu Fall.

»Nehmt die Zügel«, kreischte die Kriegerin hinter sich, bevor sie während des rasenden Galopps von dem Pferd auf das zweite Drachengezücht hinübersprang. Die Spitze ihrer scharfen Schneide versank in den Nacken des Ungetüms, sobald Celena auf dessen Rücken aufkam. Schmerz aufbrüllend verlangsamte es seinen Lauf, stolperte und stürzte mitsamt seiner unfreiwilligen Last zu Boden.

Deirdre befahl dem Feuerross, einige Schritte weiter stehen zu bleiben. Mit Entsetzen in den Augen sah sie gerade, wie Celena sich das Blut des Derkoys vom Mund abwischte, welches sich über sie ergossen hatte.

* * *

Belothar wich all sein Witz und sämtliche dumme Sprüche, die in seinem Hirn lagerten, als er Lutek bewegungslos im Schnee liegen sah. Sein Schild entglitt ihm aus der Armschlaufe und fiel zu Boden, indes seine Klinge matt in der rechten Hand hing.

Er fühlte sich in diesem Moment wahrlich nicht als Sieger. Es war eher, als habe man ihm einen Dolch zwischen seine Rippen gebohrt. Sieg konnte man es nicht nennen, mehr eine schlappe Niederlage, die er sobald nicht verkraften konnte.

Mit einem leisen Aufschrei stürzte er zu dem am Boden liegenden hin. Er kniete sich nieder und drehte den fuchsrot behaarten um.

Panik machte sich in ihm breit, als er das kalkweiße Gesicht gewahrte. In flachen Stößen drohte Lutek sein Leben auszuhauchen.

»Nein! … nein!«, brüllte der Jungkönig und blickte Hilfe suchend zu den Näherkommenden.

Lutek durfte nicht sterben. Er war für ihn nicht mehr als ein Kampfgefährte, doch er war der Geliebte der Frau, welcher sein Herz gehörte. Er durfte nicht einfach dahingehen. Nicht weil er der Sohn des göttlichen Schöpfers selbst war, sondern weil er ebenso für Celena wichtig war.

»Verdammt! Kann denn niemand etwas tun? Er stirbt!«

Belothar blickte zu den anderen auf. Bestürzung darüber konnte man in ihrer aller Gesichter erkennen. Einzig Jeamy schüttelte ihre Starre ab. Das Grauen flackerte in ihren Augen, als sie sich neben Belothar hinkniete.

Sie schüttelte ihr Haupt und ihre Stimme schwankte.

»Es geht mit ihm zu Ende, wenn …« Sie sprang hoch und wirbelte zu Terzios herum, dessen bärtiges Antlitz eine ungewöhnliche Härte aufwies. Furcht und Sorge um das Leben seines Sohnes zerfurchten seine Stirn. Er ließ sich schweigend zu ihm nieder und legte seine Hände auf die Brust des jungen Mannes.

»Ich kann das Unvermeidliche nur hinauszögern«, krächzte er mit einem zögerlichen Kopfschütteln.

»Ihr müsst … ihr müsst es versuchen!«, erwiderte Jeamy.

Die rechte Hand weiterhin auf den Körper seines Sohnes liegend, strich sich Terzios mit der anderen müde über sein Gesicht. In seinen trüben Augen flackerten erschütternde Erkenntnis und verbitterte Verzweiflung, während er murmelnd Worte von sich gab. Er schloss seine Lider. Nach einiger Zeit der Stille und Ungewissheit stand er ruckartig auf.

»Der Geist Wilnas ist ein wertvoller Gefährte. Er kann jedoch nur die Glut eines Lebensfunken anhauchen und den Glauben an das Leben zurückgeben. Doch Leben schenken vermag er nicht und es liegt auch nicht in meiner Macht.« In Terzios Augen glomm Traurigkeit, ja gar Resignation auf. »Einzig und allein … einzig eine Formel kann helfen. Die Formel der Schöpfung.«

»Formel von was? Was soll das heißen?« Belothars Stimme schien sich überschlagen zu wollen. »Hier liegt euer Sohn im Sterben und ihr könnt nichts dagegen unternehmen?«

»Majestät, manchmal ist der offensichtliche Weg nicht unbedingt der Förderlichste.«

Weise Worte, die ihm in diesem Moment nicht nützten, dachte sich der Jungkönig. Er schaute auf Lutek, den er in seinen Armen hielt. Der Rothaarige schien von Augenblick zu Augenblick kraftloser.

* * *

Wie Feuer brannte das warme Blut, welches ihr in den Mund gespritzt war, auf der Zunge. Sich in Erinnerung rufend, was dem jungen Soldaten in den unterirdischen Gängen des Tempels widerfuhr, wischte sich Celena erschrocken mit dem Handrücken über den Mund. Das brennende Gefühl verschwand einen Lidschlag später. Dafür schmeckte sie fahlen metallischen Geschmack des verdorbenen Blutes. Wie erstarrt stand sie und wartete auf das unsagbar schmerzliche Ende ihres Lebens. Nichts geschah. Das Derkoyblut hatte keine Wirkung bei ihr. Sich darüber bewusst werdend, streckte sie entschlossen die blitzende Klinge dem einzig verbliebenen Flugwesen entgegen, das sie wütend angrunzte.

Ihr dunkles langes Haar flatterte im Wind, der durch die entstandene Schneise hindurch wehte. Eine verirrte Schneeflocke landete auf dem Schwert aus Sternenerz.

Der Koloss, dem sie rittlings ihr Schwert in den Nacken getrieben hatte, hauchte mit einem gurgelnden Laut aus seiner Kehle endgültig seinen letzten Atemzug aus. Kurz schielte sie auf das nun leblose Tier neben sich, während sie ihre beinahe ebenmäßigen Lippen zu einem Strich zusammenpresste. »Was bist du?«, knurrte sie dem lebenden Flugtier zu. Vor ihr, getrennt von einem halb geborstenen Stamm einer eben noch himmelshohen Tanne fauchte das letzte Ungeheuer als Antwort erneut auf. Es stampfte hin und her, als wollte es eine Schwachstelle seiner Gegnerin ausmachen.

Celena blickte entlang der gleißenden Schneide dem Feind entgegen, welcher plötzlich aufzuglimmen begann. Sein Leuchten tauchte den umgebenden Wald in einen grünbräunlichen Farbton. Die Kriegerin erinnerte sich an die Worte Luteks, die dieser in den Tunneln des Tempels ausgerufen hatte. »Ich stehe hier als die rechte Hand der Vergeltung.« Das hatte er laut ausgesprochen. Gleich darauf überkam ihr die Erkenntnis dieser Worte. Es war das kurze Aufflackern uralten Wissens aus längst vergangener Zeit.

All die Wege, die durch die Dunkelheit und Schatten glitten. All die Pfade, die tiefer und tiefer in das Herz von verderbter Finsternis hinab stießen. All das konnte ebenso in das Licht des Tages hinein führen.

Die Sonne hatte sie niemals wirklich gesehen. Nicht ein einziges Mal hatte sie ihre warmen Strahlen tatsächlich auf ihrer Haut genossen. Denn diese verbarg sich hinter dickflüssigem Nebel des Verfalls.

Die Sterne aber leuchteten. Wie jetzt, da sie sich schimmernd auf der Schneide des Schwertes widerspiegelten.

Laut lachte die junge Tousard auf. Sie begriff.

Er war niemals weg gewesen. Der Höchste der Götter hatte seine Augen stets besorgt auf die Seinen gerichtet. Die Sterne. Und jener Himmel über ihr war voller Sterne. Doch wenn die Sonne von den trüben Schlieren des Wahnsinns verhüllt war, wieso leuchteten die Sterne weiterhin? Er. Er hatte den Vorhang des Verfalls geöffnet, um seine Botschaft zu senden. Aber niemand hörte ihm zu oder sah hinauf. Mit Ausnahme von Lutek. Er hatte zu Estrellia und Afalach, dem Stern und seinen Soldaten hinaufgeblickt.

In diesem Moment wusste Celena, dass sie das Richtige tat.

»Ich bin der Spross des Schöpfers«, brüllte sie dem Flugmonster entgegen. »Ich bin dein Untergang. Deine Vernichtung!«

Kein Schritt wollte sie weichen. Keinen Fingerbreit Boden wollte sie diesen Unseligen überlassen. Denn dies war das Land ihrer Väter. Jene Urahnen, die das Grauen über sie brachten, als sie das Nest dieser Wesen aufstöberten. Daher musste dieses Ding vor ihr durch ihre Hand ausgelöscht werden.

Der Derkoy schien ihre Gedanken zu erraten. Augenblicklich sprang das noch junge Tier, welches sie um ein zweifaches überragte, auf sie zu. Celena wich einige Schritte zurück, während die Himmelschneide das Monstrum streifte. Dem geifernden Maul entkam sie um Haaresbreite. Rasch wandte sie sich dem Drachenwesen wieder zu.

Alle vier Beine versteift, versuchte es seinen Lauf abzubremsen und schlitterte durch den tiefen Schnee. Nicht weit von ihr entfernt kam es zum Stillstand. Aus der tiefen Einritzung seiner Flanke quollen dicke Blutstropfen in den weißen Untergrund. Fauchend drehte es sich zu ihr um. Heißer Atem brodelte der jungen Kriegerin entgegen.

Während sie versuchte, der Hitze auszuweichen, hatte das halbwüchsige Wesen den Abstand verringert. Das einsetzende Schnappen, des mit scharfen Zähnen besetzten Maules konnte sie mit dem Schwert abwehren. Mit einem weiteren Streich der Klinge bescherte sie dem Wesen einen zweiten tiefen Schnitt in das graue Fleisch. Der Derkoy schwang wutentbrannt seinen Kopf zu ihr herum. Diesmal war es ihr nicht möglich, auszuweichen. Der harte Schädel rammte gegen ihren Brustkorb, sodass der jungen Frau augenblicklich die Luft aus der Lunge gepresst wurde. Celena taumelte nach Atem schnappend gegen den Stamm hinter sich. Erneut schmeckte sie Blut. Es war ihr Eigenes, welches ihr Mund füllte. Gleichzeitig fühlte sie Schwäche. Nicht die Wucht des Schlages war es, die sie kraftlos wirken ließ. Etwas anderes griff nach ihrer Stärke.

Benommen schüttelte sie den Kopf.

Es durfte nicht sein. Sie hatte den Erzgott, einen jenen der alten Urgötter, die sich dem Bösen verschrieben hatten, erschlagen. Dieser niedere Abkömmling sollte nicht ihr Tod sein. Schon gar nicht als Kind des Schöpfergottes. Nicht hier und nicht jetzt.

Mit äußerster Willenskraft erhob sich die Adelstochter. Zittrig in den Knien stand sie schwächelnd auf den Beinen, die Himmelsschneide in ihrer Rechten. Aus ihrem Mundwinkel tröpfelte Blut. Entschlossen zu siegen, spuckte sie den roten Lebenssaft aus und zog endgültig ihr zweites Schwert. Ihre Muskeln drohten zu versagen, als sie beide Klingen keuchend anhob.

»Mit Zorn erhebe ich die Hand, denn mein ist die Macht, die vernichtet«, murmelte sie.

Kaum beendete sie ihre Worte, griff das Drachenwesen erneut an.

Deirdre, die in sicherer Entfernung auf Feuerwind saß, stockte der Atem. Nicht wie erwartet wich Celena dem Untier aus. Im Gegenteil, sie stemmte ihren Fuß gegen den Stamm hinter sich und stieß sich mit all ihr verbliebener Kraft ab.

Der faulig riechende Atem des Monsters, welcher es siegesgewiss aufriss, stieg der Kriegerin in die Nase. Ihre beiden Schwerter von sich gestreckt schoss sie auf den Derkoy zu. Sie verfehlte die Kehle, doch schaffte sie es, in ihrer Entschlossenheit einer der Vorderklauen abzutrennen. Aufbrüllend vor Schmerz suchte das junge Gezücht humpelnd den sicheren Abstand.

Durch die Energie ihres Absprungs rollte Celena durch das rotgesprenkelte Weiß des Winters. Die eine Klingenspitze gegen das Flugtier gerichtet, federte sie mit dem anderen Schwert ihren Schwung ab. Hockend, ein Knie auf den gefrorenen Boden abgestützt, kam sie zum Stillstand. Verbissen beobachtete sie ihren Kontrahenten, der von Schmerz gepeinigt zornig einen neuen Angriff anstrebte.

Ein schrilles Pfeifen hielt es davon ab. Unentschlossen blickte das Ungetüm zu Celena und dann in Richtung des Rufes. Ein zweites lang gezogenes Pfeifen brachte es zur Besinnung. Knurrend und fauchend zog sich der Derkoy humpelnd zurück.

»Genau! Lauf schnell zu deinem Meister, bevor ich …«, keuchte sie Blut spuckend hinterher. Ein stechender Schmerz in Rippenhöhe ließ die Kriegerin aufstöhnen. Die eine Klinge fallen lassend, presste sie ihre Hand in die Seite. Entkräftet sackte die Adelige in sich zusammen.

* * *

Dünne Rauchfahnen stiegen von eingeäscherten Hausruinen in die frostige Luft empor. Das halbe Dorf lag unter verkohlten Balken, dazwischen verstümmelte, leblose Körper. Roter gefrorener Lebenssaft der getöteten vermengte sich mit dem Weiß des Schnees zu einem rosafarbenen aufgeweichten Untergrund. Nur das Blut der erschlagenen Derkoys wurde schwärzlich und hinterließ mattdunkle Flecken.

Nervös tänzelnd schritt der Rappe mit seiner doppelten Last zwischen den qualmenden und blutigen Überresten in Richtung des Zentrums der Ortschaft. Sie steuerten direkt auf den Pulk von Überlebenden zu, in deren Mitte Deirdre den Jungkönig erblickte. Er saß am Boden und hielt einen Mann in seinen Armen.

Kaum kam Feuerwind zum Stillstand, rutschte Celena mit verklärtem Gesicht und verschwommenen Blick zur Seite. Die von eisiger Luft steifen Finger der Zauberin fanden keinen Halt, den Sturz der Kriegerin abzufangen. Hart schlug Celena auf der eisverkrusteten Erde auf.

Kräftige Männerhände schoben sich unter ihre Achseln und wuchteten die Frau in die Höhe. Sie fühlte den starken Griff, der sie aufrecht hielt. Ihr Blick schärfte sich zunehmend. Da erst sah sie, wen Belothar in seinen Armen hielt. Unfassbar richteten sich ihre Augen auf den am Boden liegenden und ihr Herz schien plötzlich im Gleichtakt mit Luteks Herz zu schlagen. Jeder weitere Schlag wurde kraftloser. Sie spürte, wie das Leben aus dem Körper ihres Geliebten entwich und mit ihm auch das ihre. Ihre plötzliche Schwäche beim Kampf mit dem Derkoy hatte mit dem zu tun, was hier vor sich ging. Langsam verstehend kroch die Erkenntnis durch den nebelumhangenen Verstand.

Ein Schwächeanfall brachte ihren Leib zum Erzittern. Es verursachte einen pulsierende Pein, ausgelöst durch die gebrochenen Rippen. Schwer atmend, den Mund halb geöffnet, tropfte frisches hellrotes Blut heraus.

Kaum ihres Verstandes mächtig wollte sie vorwärtsgehen. Doch anstatt voranzuschreiten, taumelte sie, obwohl von Händen gestützt, einen Schritt zurück. Im selben Moment, da sie sich entfernte, schwand ihre Kraft zunehmend.

»Ihr müsst zu ihm! Geht zu ihm!« vernahm sie dumpf die Stimme der freien Magierin. »Er stirbt! Und ihr mit ihm, wenn ihr nicht zu ihm geht.«

So sehr sie sich bemühte, dieser Stimme zu folgen, sie schaffte es nicht. Eine unsichtbare Macht drückte sie hinunter, ließ sie nicht mehr aufstehen. Das Gewicht ihrer Rüstung wurde schwerer und schwerer, zog sie unerbittlich hinab. Celena sank in die Knie.

Irgendwo in der klirrenden Kälte vor ihr spürte sie flüchtig einen warmen Hauch, der sie anzog. Es war ein Sog, ein Zerren einer unsichtbaren Hand, welche sie bewog, nicht aufzugeben. Sie stierte ins Leere, dorthin wo sie die geisterhafte Hand sah und versuchte sich aufzurichten. Der Versuch misslang.

»Gebt nicht auf!«, flüsterte es in ihr. War es ihre eigene innere Stimme? Oder war es beginnende Halluzination?

Rasender Schmerz holte sie aus ihren verschwommenen Gedanken. Stöhnend begann sie, zu kriechen. Ihre Finger krallten sich durch den Schnee in den harten Boden. Mit größter Kraftanstrengung zog sie sich vorwärts. Entrückt, ohne zu wissen warum, wehrte sie jegliche Hilfe der Umstehenden ab. Dabei hörte sie dumpf Deirdres Stimme, die irgendwelche uralten Worte summte. Vor ihren geistigen Augen stieg Nebel auf. Milchige Schwaden durchzogen von altvorderen Magie, beschrieben augenblicklich eine Gasse, die zu Lutek führte.

Der schon zuvor unerträgliche Schmerz in ihrer Seite wurde heftiger. Doch er war anders. Es war nicht der Pein, der ein Entrücken aus der weltlichen Sphäre verursachte. Vielmehr schienen sich ihre gebrochenen Rippen eigenständig zu bewegen und sich selbst zu heilen. Mit jedem Stück Boden, den sie auf den Weg zu ihrem Gefährten eroberte, richtete sich ein weiterer Knochen in ihr. Das Pulsieren des Lebensmuskels wurde augenblicklich kräftiger. Ihre Sinne klärten sich und ihr Körper gehorchte ihren Befehlen. Sie stemmte sich auf die Knie. Das anfängliche Schwindelgefühl ignorierend taumelte sie auf die Füße.

Mit ihrem ersten Schritt nach vorne vernahm sie vor sich einen lauten Seufzer. Lutek krümmte sich in den Armen Belothars. Gleichwohl formte sich ein Bild in Celenas Bewusstsein.

Lutek lehnte im Türrahmen eines Hauses und lächelte ihr zu. Sie hauchte ihm zur Begrüßung einen Kuss auf die Wange, bevor sie die häusliche Wohnstatt betrat, in der ihr erwartungsvolles Lachen entgegenströmte. Ein befreiender Schrei holte sie aus dem Bildnis in das Hier und Jetzt zurück. Lutek hatte ihn ausgestoßen. Mit jedem weiteren Schritt, den sie auf ihren Liebsten zu trat, strömte ihre Stärke zurück. Und je näher sie ihm kam, umso kräftiger wurde auch ihr Gefährte. Atemlos blieb sie vor ihm stehen. Wie von tagelanger Anstrengung ermüdet, sackte sie neben ihm zu Boden. Ihre Augen hefteten sich in die Seinen, der sie blinzelnd anblickte. Unbeholfen schälte sich Lutek aus der Umarmung des Königs, setzte sich auf und rutsche nahe zu Celena hin. Von alldem erschöpft, fühlte sich die junge Frau plötzlich leer und schläfrig. Sie spürte, wie der Rotschopf unter ihre Schultern griff, sie ein wenig anhob und ihr Haupt in die Beuge seines Armes legte. Seine zärtlichen Worte hörte sie nicht mehr. Nur schwarze, traumlose Leere umhüllte sie. Mitten in der Dunkelheit aber leuchtete ein kleines Licht. Eine leuchtende Knospe, die sich die Finsternis gebar und sie hatte es dort gepflanzt.

* * *

Dieses Schachspiel vor ihr war nicht nur ein schwarz-weiß kariertes Brett. Es war mehr! Es war das Universum. Seine Ansammlung von Regeln, erzählten Geschichten. Man musste nur den Weg der Züge zurückverfolgen. Und stets sollte man auf die Erzählungen hören, denn nur ein Narr würde sie ignorieren.

Unbeeindruckt stierte sie darauf.

Ihr Bluthund leistete gute Arbeit, denn seine Verblendung war ein machtvoller Quell, der ihr zu Diensten war. Trotzdem mangelte es all diesen Figuren an Regeln und Zügen. Ja, es mangelte ihnen an der Gunst dessen, was man Schicksal zu nennen pflegte.

Nicht die Figur hatte den Willen dazu, sondern der Spieler, der die Steine bewegte. Und auch dieser mochte hinter dem gigantischen Brett, welches die Welt darstellte, von Zeit zu Zeit wechseln. Mal bewegte der eine seine Figuren, mal der andere. Jeder dieser Darstellung konnte aus dem Schatten seiner Existenz als willfähiger Krieger auf dem Schlachtfeld des Lebens hervortreten. Gar selbst zu einem Spieler werden. Niemand konnte es vorausahnen.

Er, ihr Gegenspieler, hätte diese Erkenntnis zu seiner eigenen machen können. Vielleicht hatte er es. Nicht aber vor langer Zeit, als er dachte, jeder Stein im Spiel müsste sich seinem Willen beugen. War er weiser geworden? Wer wusste das schon!

Es war unbedeutend.

Mit jedem Augenblick, der verstrich, wurde sie stärker. So wie er.

Ihre Stärke kam jedoch nicht von der Liebe einiger wenigen Auserwählten. Sie zog ihre Kraft aus den Tiefen der Welt. Ihre Energie sog sie aus den Kriegen und dem Mord, dem Hass und der bigotten Heuchelei der Wesen an der Oberfläche. Und nicht zuletzt war sein Zorn eine überquellende Kraftressource, die sie unbemerkt anzapfte.

Der Springer war vorgerückt. Die Bauern standen als unerschütterlicher Wall vor ihm. Würde er den alles entscheidenden Zug machen?

Sie ergriff ihren schwarzen Läufer und setzte den gegnerischen König schach. Es war einer ihrer wertvollsten Untertanen. Mochte er dankbar sein, ob ihrer Gnade. Der weiße Läufer würde diese vielleicht nicht kennen. Fair. Gerecht. Geduldig. War dies der Verborgene auf der anderen Seite? Geduldig, sicherlich. Gerechtigkeit und Fairness, die waren ihm fremd.

* * *

Aus ihrem tiefen Schlummer erwachend, schlug Celena die Augen auf. Sie fühlte sich gerädert. Nicht wie jemand der geruht und geschlafen hatte. Es war ihr eher, als ob sie auf tief verschlungenen Pfaden über weit entfernte Gestirne gewandert sei.

Mit ihren Lidern klappernd gewahrte sie verschwommen und verschlafen ein bärtiges Gesicht über ihr. Neben diesem, unklar das jungenhafte Antlitz Belothars, der besorgt dreinschaute. Träumte sie noch immer oder war das Bartgesicht tatsächlich Kommandant Nacud?

»Was! Nac …«

Ihr Blick schärfte sich. Sichtlich erleichtert stellte sie fest, dass es nicht das Gesicht Nacuds war, welches auf sie herabschaute. Es war das Gesicht des älteren Hüters, der ihr mit schläfrig wirkenden Augen entgegenblinzelte.

»Langsam«, raunte Terzios. »Nicht so schnell junge Frau. Ihr müsst eure Kräfte sparen.

»Lutek?« Ruckartig setzte sich die Kriegerin auf, verzweifelt das Gesicht suchend, dass sie eigentlich erwartet hatte.

»Ein Glück! Ihr habt es überlebt. Hattet ihr geträumt?«, fragte Belothar.

Celena runzelte ihre Stirn. Ihr beschlich das seltsame Gefühl, das Weitere nur zu gut zu kennen.

War dies tatsächlich ein Traum gewesen? War Nacud nicht der Nacud, sondern Terzios, der in ihrem Traum nur der Ausdruck ihrer wilden Fantastereien wurde? War dieser nur eine Gestalt, der sie in den Illusionen des Schlafes einen anderen Namen gegeben hatte?

»Wo ist Lutek?«

»Wer?« Belothar hob fragend eine Braue.

Das konnte nicht sein. Unmöglich. Ihr Herz weigerte sich, für einen kurzen Moment weiter zu schlagen. Wie vom Blitz getroffen, rappelte sich die junge Frau auf, ignorierte die protestierenden Muskeln und starrte ungläubig den jungen Mann ihr gegenüber an. Mit bis zur Kehle hämmerndem Herzen gewahrte sie hintergründig Ruinen. Völlig konfus fuhr sie den König an. »Ihr wisst, von wem ich rede«, verzweifelte sie. »Lutek, Spion aus Osgosai. Rote fuchsfarbene Haare. Er hatte in Gerit verweilt.« Ihre Stimme drohte sich zu überschlagen.

Belothar hob und senkte die Brauen. In voller Abwehrhaltung neigte der junge Mann sein Haupt leicht zurück. Genauso tat er es stets, wenn er etwas zu hören bekam, was ihm nicht zusagte.

Sie spürte die Hand des alten Hüters auf ihrer Schulter.

»Es tut mir leid, wir wissen nicht, von wem ihr da sprecht. Während des Ritus träumt …«

Celena drohten abermals die Sinne zu schwinden. Es war alles ein Traum? Aus dummer Hoffnung heraus eine Sehnsucht geboren? Sie war demzufolge immer noch im Ordenstempel. Es konnte nicht sein.

Sie schüttelte den Kopf. Schnee, Kälte? Aber dort war es …

»Das ist nicht lustig! Es reicht!«

Eine ihr wohlvertraute Stimme wies die beiden Männer zurecht. Augenblicklich wirbelte Celena herum. Kristallblaue Augen strahlten sie an, wobei das böse Lächeln nicht dazu passen wollte. Es galt nicht ihr, sondern den beiden Spaßvögeln hinter ihr. Nun ernteten sie die Früchte ihres geschmacklosen Scherzes.

»Entschuldigt!«Terzios griente in seinen Bart hinein. »Es war einfach zu verlockend.«

»Verlockend?«, schimpfte Celena drauf los. »Verlockend ist es, euch jedes Barthaar einzeln auszureißen. Und ihr, Belothar. Euch wird das Lachen noch vergehen. Ihr werdet kein Auge zu machen können. Ich lasse mir von der Magierin irgendeine Formel geben. Nein, viel besser. Sie soll mir eine Puppe herstellen, die euch darstellt und jedes Mal wenn ihr schlafen wollt, steche ich mit Wonne hinein. Das wird ein Spaß!«

Celena war derart aufgebracht, das sie große Lust verspürte, diesen beiden Spaßvögeln für ihren Scherz, in den Hintern zu treten.

Wütend trat sie einen Schritt auf sie zu. Die kühle Hand ihres Gefährten ergriff die ihre und hielt sie zurück. Ihr Zorn ebbte ob der Berührung schnell ab. Mit einem letzten Aufblitzen in den Augen drehte sie sich zu Lutek um. »Vergessen wir es. Vorerst!«, bellte sie nach hinten weg, während sie den Blick nicht von ihrem Liebsten lösen konnte.

»Ich würde viel lieber wissen wollen, was im Namen aller Götter passierte.«

Dunkel erinnerte sie sich an all die Verzweiflung und den langsam werdenden pumpenden Lebensmuskel in ihr. Sie erinnerte sich schwach an die Schmerzen, als sie auf Lutek zu kroch. Und je näher sie ihm kam, umso heftiger erwachten ihrer beiden Herzen zu neuem Leben. Noch jetzt hörte sie das Donnern und Trommeln in ihrer Brust, bis sie ins Leere hinüberglitt.

Vergeblich versuchte der alte San-Hüter sein schalkhaftes Lächeln von seinen Lippen zu verbannen, während er räuspernd in das Gesichtsfeld Celenas schritt.

»Mir ist es selbst nicht gänzlich klar, was sich genau abspielte«, versuchte er Antwort zu geben. »Ich vermute, dass zwischen euch beiden eine Verbindung besteht.« Er deutete ernstwerdend auf das Paar vor sich. »Mein Verdacht ist, dass euer beider Leben miteinander verknüpft ist. Wenn einer von euch leidet, leidet der andere ebenso. Es hat zumindest eines bewiesen. Ihr seid nicht unsterblich. Langlebig, aufgrund das ihr seiner Gnade teilhaftig geworden seid aber nicht unverletzbar.«

»Das Dorf? Was ist mit dem Dorf?« Unsicher und doch inbrünstig drückte Celena die Hand Luteks fester.

Der noch verbliebene restliche Schalk verschwand aus den Gesichtern der beiden Männer. Belothar schloss für einen Moment die Augen, um in sich zu gehen. Er öffnete sie einen Lidschlag später und lenkte die Seelenfenster mit plötzlich leerem Blick auf die grob behauenen Steine einer Ruinenmauer.

Die verbliebenen San-Hüter rasteten dort. Zwischen ihnen sah Celena, die dem Blick gefolgt war, die Zauberin geschäftig hin und herlaufen. Sie schien sich um die Verletzungen der Hüter zu kümmern. Hier und da hörte man ein Stöhnen herübertönen, wenn sie versuchte einen Knochen zu richten oder Wunden zu schließen.

»Die wenigen Bewohner, die sich retten konnten, sind geflohen. Ich hoffe nur, dass sie in Sicherheit sind. Nicht auszudenken, was aus ihnen …« Lutek stockte, seine Stimme drohte zu kippen. »Es war grausam. Diese Ungeheuer haben vor nichts haltgemacht. Männer, Frauen, Kinder und selbst Tiere …«Erneut brach er in seiner Erläuterung ab. »Welche Bestie macht so etwas?«

Es war eine berechtigte Frage. Belothar wollte sich dieser umgehend entziehen.

»Ich werde mich um das Wohlergehen aller kümmern und beim Kochen helfen«, meinte er verdrießt und machte Anstalten sich davonzuschleichen.

»Habt ihr vor, den kümmerlichen Rest unserer Gemeinschaft ins Jenseits zu befördern?« gluckste Terzios.

Moment Belothar!« Es war Lutek, der den König davon abhielt, sich einen weiteren Schritt von ihnen zu entfernen. »Ihr hattet jemanden verfolgt! Wer war es?«

Mit Neugier blickte er den jungen Regenten an, dessen Augen plötzlich leer und gebrochen wirkten. Er schüttelte widerwillig sein Haupt. Jeglicher tollpatschige Jux wich aus seinem Gesicht. »Nacud!« formte er tonlos seine Lippen.

»Unmöglich! Das ist nicht euer Ernst«, sprudelte es aus Celena heraus. »Er ist gefallen! Er ist tot!«

»Ha! Gefallen? Das wäre er, wenn er ein aufrichtiger Soldat gewesen wäre und kein armer Irrer.« Belothars Tonfall war voller Bitterkeit. Seine Züge nahmen sowohl Trauer als auch Zorn an. In seinen Augen erkannte man, das etwas in ihm zerbrach. »Diesem Wahnsinnigen war in Wahrheit jedes Mittel Recht, um seine Position zu untermauern.«

Diese Worte voller Bitterkeit überraschten Celena. Kamen sie doch von jenem Mann, der Kommandant Nacud stets als gut und ehrbar angesehen hatte. Als einen aufrechten Kämpfer gegen das Böse.

»Mitnichten rettete er euren Vater, Celena. Jedoch nicht deshalb, weil er eine Chance sah, dass er überleben würde«, fügte der Jungkönig im selben Tonfall hinzu.

»Woher?«

»Das ist …« Belothar schüttelte leicht sein Haupt. »Das ist nicht von Bedeutung. Eines ist mir inzwischen klar geworden. Es hieß, das Nacud das Einberufungssrecht selten einsetzte. Er brauchte es nicht. Die Lebensgeschichten der anderen Anwärter waren eurer nicht unähnlich, Celena. Erinnert ihr euch an den Neuling, den er nachhinein tötete? Er sollte zuvor gehängt werden. Nacud rettete ihn davor.«

Das klang all zu vertraut. Celena mochte sich nicht im Traum ausmalen, welche Schicksale andere erlitten, bevor sie auf Nacud trafen. Und dieser nutzte das Leid ihrer Familie aus. Als ihr Vater nicht mitspielte, berief er sich auf sein Recht der Einberufung, dem sich niemand widersetzen konnte.

Sie holte tief Luft angesichts der Tatsache.

»Ich verstehe nicht, wieso er diese Derkoys zu kontrollieren vermag«, gab sie ihre Überlegung bekannt. Zumal sie es nicht glauben konnte, da Nacud von seiner Mission geblendet immer gegen solche Wesen gekämpft hatte.

Belothar schwieg auf ihre Frage hin. Statt seiner ergriff Terzios das Wort.

»In dem Inneren der menschlichen Wesen verbirgt sich weitaus Grausameres. Schrecklicher, als es die Schatten der Finsternis je vermögen.«

»Thiamet sagte Ähnliches«, erstaunte sich Celena.

»Und sie hat verdammt recht, junge Tousard. Oh ja, sie muss es wissen. Sie kennt die Menschen nur zu gut.«

»Trotzdem frage ich mich, welchen Sinn Nacud damit hegt?«

Belothar blickte Celena aufgrund dieser Frage tieftraurig an. Wie jemand, der seinen Traum zerplatzen sah.

»Furcht!«, antwortete Terzios tonlos. »Sie ist eine mächtige Waffe in den Herzen und Köpfen derer, die hier in Hadaiman leben.«

Celena nickte verstehend. »Ich verstehe, um ihnen zu beweisen, dass die Anderen nicht besiegt wurden«, gab sie sich selbst die Antwort. »Wobei niemand behauptete, dass es nicht die "Anderen" gibt.« murmelte sie weiter, jedoch mehr zu sich selbst. Schließlich war sie es, die vorgeschlagen hatte, dass die Hüter weiterhin an der Front gegen die Feinde vorgehen sollten.

»Und aus diesem Grund seid ihr der Feind, die Gefahr der Hüter geworden.« Terzios hob seine Hand, Daumen und Zeigefinger fügten sich zusammen, als wollte er etwas zwischen ihnen zerquetschen.

»Ihr könntet die Herzen der Menschen dazu bringen, zu glauben. Zu glauben, dass der Schöpfergott wahrhaftig mit ihnen ist. Versagt ihr, während man die Hüter in die Schatten verjagt, gewinnt das Gezücht. Weder das eine noch das andere sollte sich erfüllen. Deswegen!«

Seufzend wandte sich Belothar ab. »Lasst uns nicht weiter darüber reden«, knurrte er missbilligend.

»Belothar, ich fürchte …«, versuchte Lutek unsicher einzuwenden, wurde aber von abwehrenden wedelnden Händen des Monarchen unterbrochen.

»Nein! Sagt nichts! Sonst schlägt es mir noch auf den Magen. Möchte jemand von dem Eintopf probieren. Ich habe einen Mordshunger.« Mit diesen Worten stiefelte er davon.

Ob es ein Scherz werden sollte, konnte Celena nicht herauskristallisieren. Und wenn, konnte sie ihrem Weggefährten nicht böse sein. Solange Belothar sich seine lahmen Witze erhielt, solange wusste sie, dass er nicht verzweifelte. Das war eben die Art des Jungkönigs mit Dingen klarzukommen. Dieser Mann, der davonstapfte, war mehr alleine, denn alle anderen. Selbst dann, wenn er ab und zu unsichere Blicke zu Sebyll warf. Hingegen sie wusste ihren Ruhepol stets an ihrer Seite.

Schwesterliche Fürsorge erfasste ihr Herz, als sie hinter den Regenten herblickte. Sie mochte alles verloren haben. Belothar aber hatte nie etwas sein Eigen nennen können. Stattdessen verlor er stets, was er in seiner Reichweite glaubte, denn ob all seiner Schwächen, war dieser Mann voller Liebe.

* * *

An der Schulter Luteks angelehnt, verfolgte Celena aufmerksam, ebenso wie ihr Geliebter, das Treiben in der alten Ruine. Ihre Gedanken waren nicht mehr als ein wirrer Haufen an Ideen, die keinen fassbaren Zusammenhang ergeben wollten.

Unweit von ihnen saß Belothar. Seine Blicke ruhten auf Sebyll. Celena bemerkte, wie er nachsinnend innehielt und sich seine Brauen zusammenzogen. Es schien, als müsse er innerlich schwere Entscheidungen treffen. Vielleicht waren es Entscheidungen, gleich einem steinernen Koloss, der ihm den Weg versperrte.

Ihre Blicke wanderten weiter. Irgendwo zwischen den anderen kauerte sicherlich der struppige Hund, der unbeeindruckt von allem Geschehen vor sich hin schlief. Niemand ahnte, wer tatsächlich die Fellnase war, welcher allabendlich sich Futter von den Hütern zusammen stibitzte.

Unwillkürlich musste sie innerlich lächeln.

»Es führt zu nichts«, ließ Lutek plötzlich verlauten.

»Was?« Celena schaute ihn erstaunt von der Seite an.

»Nachzudenken! Es führt im Augenblick zu nichts«, mahnte Lutek sie.

»Woher willst du wissen, was und ob ich nachdenke?«

»Ich kann es fühlen«, lachte er leise. »Zumindest fühle ich sie als ungeordneten Reigen von Menschen, die versuchen, im Takt der Musik zu tanzen. Jedoch nicht von rechts und links unterscheiden können.«

Der kaum zu bannende Akzent in Luteks Worten war unschwer herauszuhören.

»Sehr poetisch«, lächelte Celena.

Er antwortete ihr nicht. Stattdessen schob er seine Geliebte sanft von sich und erhob sich. Sachte ergriff er die Ihrige und zog sie zu sich in die Höhe. Etwas widerspenstig und irritiert folgte Celena der Aufforderung.

»Was soll das werden?«

»Es ist nichts Schlimmes! Ich möchte dir was geben und du gibst mir etwas«, antwortete der Fuchshaarige schmunzelnd. »Es ist mehr als ewige Dankbarkeit und Freundschaft. Du weißt, wovon ich spreche.«

Er griff zu einem kleinen Beutel, den er an seinen Schwertgürtel festgeknotet hatte.

»Oh, ich verstehe! Bin ich dir gefällig, dann werde ich nicht sterben.«

Spitzbübisch kräuselten sich die Lippen Luteks, als er in den Beutel griff.

»In etwa. Allerdings werde ich dir Wundervolles geben. Anschließend wirst du mir einen Gefallen erweisen. Doch vorher schließ deine Augen.«

Celenas Seelenfenster blinzelten ihn fragend an. Nach kurzem Zögern folgte sie seiner Anweisung. Sie senkte die Lider. Im nächsten Moment verspürte sie die Schärfe einer kalten Spitze an ihrem Hals. Ihr Atem wurde schneller, das Schlagen ihres Herzens heftiger. Sie mochte es nicht zugeben, nicht hier vor all den anderen um sie herum, doch es war erregend. Jeder noch so kleine Muskel spannte sich an, jedes Härchen an ihrem Körper stellte sich auf und ihre Lippen begannen zu beben.

Es war nicht die scharfkantige Spitze eines Dolches, was sie zuerst vermutete. Es war der Fingernagel von Luteks Zeigefinger, welcher über ihre Kehle hinauf zum Kinn bis hin zu ihren Lippen strich. Kurzweilig verharrte die Fingerkuppe, bevor sie zärtlich über den Amorbogen fuhr.

»Öffnen«, wies er raunend an. Sie tat es.

»Mit dem hier ist es wie im Leben. Du weißt nicht, was dich als Nächstes erwartet. Koste davon, bevor es zu spät sein könnte«, hauchte Luteks Stimme in ihr Ohr.

Sie war bereit. So bereit sie für eine ungewisse Zukunft sein konnte. Was immer ihr Geliebter ihr in den Mund legen würde, mochte sie mit sattem Lebensmut erfüllen oder zu Tode verdammen. Sie war bereit, denn ihm vertraute sie und er konnte ihr vertrauen. Sie hatte ihn nie hintergangen, nie benutzt und sich Hingabe, Leidenschaft und immerwährende Liebe verdient.

Celena fühlte, wie er etwas in den Mund legte, während seine Finger weiterhin ihre Lippen liebkosten und beinahe nicht loslassen wollten. Und sie kostete ihre Zukunft.

»So soll es denn sein. Nun ist es zu spät. Zu spät! Dein Glaube, dein Vertrauen soll belohnt sein«, flüsterte Lutek.

Die junge Frau öffnete ihre Augen. Sie blickte direkt in das strahlende Blau des Osgosaianers. Vorsichtig schloss sie ihren Mund und erlebte den süßen Geschmack einer braunen Gebäckkugel. Genüsslich kaute sie die süße Überraschung hinunter.

»Ich bin nicht diejenige, die dich verfluchte«, sagte sie nach dem letzten Krümel, den sie hinunterschluckte. »Ich bin nicht Malaine. Was immer sie einst zu dir sagte, ich werde dich niemals …«

»… verraten«, sagte Lutek jenes Wort, welches sie nicht aussprechen wollte.

Sie nickte. »Niemals! Denn du hast mich gerettet.«

»Und du hast mich gerettet. Es gibt Geschichten über solche Liebe. Geschrieben von Menschen und Göttern gleichermaßen. Ich habe sie regelrecht in mich hineingesogen, als ich noch klein war. Nie dachte ich, sie könnten wahr werden. Wie konnten wir jemals annehmen, dass sie unwahr sind? Es ist …«

»Es ist der Glaube, der uns fehlt«, bestätigte Celena. »Malaine hatte nie wirklich an dich geglaubt, sonst hätte sie dich nicht verraten. Wilna hatte befürchtet, möge ihre Seele Frieden finden, es könnte zwischen uns beiden genauso enden.«

Versonnen strich sich Lutek über seine Haare. »Doch sie hatte gemerkt, dass sie falsch lag.« Er lächelte. »Du hast mir etwas gegeben, das ich glaubte, verloren zu haben. Vertrauen und Glaube. Ist das nicht seltsam? Mir, der ich vorgab, derart unerschütterlich zu glauben.«

Er seufzte auf. »Oh, hört diesen osgosainischen Spion, wie er um den heißen Brei herumredet. Wie ein dummes unerfahrenes, verliebtes Kind.«

Er ergriff Celenas Hand. »Und nun, nachdem ich dir etwas gab, bist du an der Reihe.«

Er zog die Adelige mit sich in Richtung einer kleinen steinernen Plattform. Dort angekommen legte er ihre Hand auf seine Hüfte und die Seinige fand den Weg zu ihrer Schulter. Ungeachtet der Blicke der anderen und ungeachtet dessen, was sich Schreckliches bis vor zwei Tagen zutrug, begann Lutek langsam seine Füße zu bewegen.

Ihre Beine, ihr ganzer Körper folgten der Bewegung einer unhörbaren Melodie. Ohne sich darum zu kümmern, dass man ihnen zuschaute, erhob sich unvermittelt Luteks Stimme. Er sang.

Auf dem steinernen Untergrund wiegten sich die beiden im Rhythmus der so fremden und doch vertrauten Gesangsmelodie. Nach einer Weile stimmte Celena leise in den Gesang Luteks mit ein, während sie ihre Tanzbewegungen mit langsamen Schritten fortsetzten.

Der Tanz, der langsam begann, wurde schneller und fließender. Wie zwei einstmals ruhig nebeneinander herplätschernde Bäche, die nun zu einem reißenden Fluss wurden. Sie verschmolzen zu einem einzigen Gewässer aus anmutiger Leidenschaft und wirbelnder Liebe. Gemeinsam flossen sie durch Täler und über Gestein dahin. Ihre Spuren im Boden der Historie und Zeiten hinterlassend, ließen sie sich nicht von Felsen und Dämmen aufhalten. Bis Lutek hinter Celena glitt und seine Arme um ihre Brust schlang. Er atmete schwer.

»In einer Rüstung tanzt es sich nicht einfach. Ich hoffe, wir können das irgendwann einmal wiederholen. Nur dann …«

»… dann in wunderschönem, fließendem Gewand aus Seide und leichtem Stoff«, beendete Celena schwärmend den Satz. Sie blickte ihm unsicher in seine Augen. Ihr lag etwas auf dem Herzen, wusste jedoch nicht, wie sie es sagen sollte. Sie gab sich einen Ruck.

»Du hattest recht Lutek. Er war immer in unserer Nähe.«

»Der göttliche Schöpfer?«

»Ja! Sieh hinauf zu den Sternen. Sie sind da und leuchten. Aber nie wirklich sah ich die Sonne. Sahst du sie?«

Er schwieg andächtig. »Nein. Wieso? Wieso habe ich es nicht erkannt?« wisperte er schließlich.

»Du hast es gesehen. Niemand anderes sah es je«, widersprach sie.

Er schüttelte sein rothaariges Haar. »Ich …«, begann er und stockte.

»Du hast geglaubt! Genau das sagtest du mir einmal. Erinnere dich!«

Abermals verfiel Lutek in Schweigen. Nach einigen Momenten der stillen Einkehr blickte er sie liebevoll an. »Ich danke dir. Danke das du es mir aufgezeigt und mich daran erinnert hast«, flüstere Lutek mit kaum hörbarer Stimme, worauf seine Umarmung inniger wurde.

Die Innigkeit wurde durch Gezeter gestört. Luteks Kopf fuhr herum und auch Celena folgte seinen Blicken. Kelthran war angekommen und er war nicht alleine. Bedachte man das zwergenartige Feuerrote, strampelnde und geifernde Etwas auf dem Rücken eines Pferdes.

Vermächtnis der Sünder Trilogie

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