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Kapitel 3

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„Hallo Lissa. Hier ist Mama.“

„Hallo Mama.“

Eine Jugenderinnerung:

Das Telefon läutete. Melissa streckte sich und angelte danach, ohne sich vom Bett zu bewegen.

Es war ihre Mutter, die wissen wollte, wie die Klausur gelaufen war. Leider war Melissa so gar nicht zufrieden. Insgesamt kam ihr das Uni-Leben gerade ziemlich trist vor. Sie sehnte sich nach dem elterlichen Wohnzimmer, in dem sie immer Kind sein konnte. Einfach auf der Couch liegen oder in der Küche sitzen, während ihre Mutter das Abendessen zubereitete. Im Hintergrund würde wie immer das Radio laufen, der Klassiksender, und die Katze würde zwischen ihren Beinen herumstreifen, um ein Stück von dem köstlich duftenden Fleisch zu ergattern.

Dieses Gespräch, Jahre später, war anders.

„Lissa, die Oma liegt im Krankenhaus!“

Nach diesem kurzen Telefonat war Melissa sofort zu ihrer Großmutter gefahren. Oma Bettys Nierenwerte hielten die Ärzte auf Trapp. Kurzzeitig war ihr Zustand kritisch. Die Familie harrte an ihrem Bett. Bald ging es Betty etwas besser, doch von nun an war sie auf diverse Tabletten angewiesen. Nach weiteren zwei Wochen durfte sie das Krankenhaus verlassen. Melissa verbrachte ihre freie Zeit fast ausschließlich bei ihrer geliebten Großmutter, putzte oder kochte, während Betty dick eingepackt in ihrem Lieblingssessel saß.

An einem solchen Nachmittag war es, dass Oma Betty das Leben ihrer Enkelin entscheidend beeinflusste. Ob mit Absicht oder nicht, jedenfalls brachte die alte Dame den Stein ins Rollen, indem sie auf den massiven Eckschrank deutete.

„Liebes, bist du so gut und holst mir ein paar Bonbons? Ich habe solche Lust auf etwas Süßes!“

„Du Naschkatze! Du hast die Bonbons sicher extra dort gehortet, damit sie dir niemand wegisst und die Haushälterin sie nicht findet!“

Melissa stand auf und ging zum Wohnzimmerschrank. Darin fand sie die Glasschale mit den Bonbons.

„Hier Oma“, sagte sie und reichte ihr zwei Stück, „lass es dir schmecken!“

Bedächtig wickelte Betty das Bonbon aus seinem Papier. Fast zärtlich strich sie das knisternde Papierchen glatt. Die Alufolie glänzte golden. In weißer Schnörkelschrift stand der Produktname auf dem blass violetten Papier geschrieben: Mirabella.

Vor Melissas Augen blitzen Bilder auf. Unwillkürlich lachte sie leise auf. Ihre Großmutter blickte sie fragend an.

„Ach“, sie schüttelte den Kopf, „es ist nur… diese Bonbons habe ich früher immer mit Lin und Malou gegessen. Wir haben sie die Prinzessinnen-Bonbons genannt. Lange her.“

Bettys Blick war nun wach und aufmerksam.

„Caitlin und Marie-Luise!?“

Melissa nickte.

„Du hast keinen Kontakt mehr zu den beiden?“

Sie schüttelte stumm den Kopf. Eine Weile schwiegen sie beide. Dann begann die junge Frau der alten Frau von früher zu erzählen. Die Großmutter hörte zu und lächelte.

*

Zwei Tage nach Neujahr starb Oma Betty. Die Nieren hatten – trotz Medikamente – aufgehört zu arbeiten. Melissa saß zwischen ihren Eltern und heulte Rotz und Wasser. Trotzdem machten sie sich an die notwendigen Schritte. Alle informieren, Beerdigung planen, Hinterlassenschaft regeln.

Am Abend klappte Melissa ihren Laptop auf. Sie hatte einen Entschluss gefasst. Sie würde ihre zwei alten Freundinnen wiederfinden! Caitlin und Marie-Luise, genannt Malou. Sie waren seit der Grundschule ein festes Gespann gewesen, immer zu Dritt unterwegs, hatten alles miteinander erlebt: den Wechsel aufs Gymnasium, den ersten Freund und den ersten Sex, Partys, Drogen, Stress mit den Eltern, gute und schlechte Noten, einen gemeinsamen Mittelmeer-Urlaub, das Abitur. Dann das Studium. Sie waren in verschiedene Städte gezogen, jeder der dreien studierte etwas völlig anderes. Doch nach und nach war der Kontakt weniger geworden. Zuerst besuchte man sich noch regelmäßig, beziehungsweise traf sich am Wochenende bei den Eltern in der Heimatstadt. Aus den Wochenenden wurden Feiertage, an Weihnachten gingen sie mal zusammen frühstücken oder schlenderten über den kleinen Weihnachtsmarkt. Und schließlich war da gar nichts mehr.

Immerhin wohnte Tatjana, eine Klassenkameradin von damals, nicht weit von Melissa entfernt. Tatjana war sehr vorbildlich im Pflegen von Freundschaften. Sie konnte ihr sicherlich eine Handynummer der zwei verschollenen Freundinnen nennen.

*

„Du glaubst nicht, wer gerade angerufen hat und mich nach einer Nummer gefragt hat!“ Tatjana Powlowna plumpste neben ihrem Mann aufs Sofa. Vor Aufregung waren ihre Wangen gerötet. „Du kennst doch Melissa Garner, oder?“

„Klar. Die stille Hübsche, die mit-.“

„-diesem Robert verheiratet ist, genau!“, vervollständigte Tatjana den Satz. „Ein ätzender Mensch.“

„Na na“, machte Dirk und schmunzelte. „Robert ist doch recht sympathisch. Nur, weil er dir das kommunistische Wirtschaftssystem erklären wollte.“

„An einem Samstagabend, an dem wir alle gemütlich essen waren!“, brauste Tatjana auf. „Da erklärt man kein kommunistisches Wirtschaftssystem! Vor allem nicht einer Russin! Aber er meint wohl, dass ich als Hausfrau und Mutter keine Ahnung von der Welt habe!“

„Aber von Wirtschaft verstehst du wirklich nicht viel“, neckte ihr Mann sie.

Sie knuffte ihn in die Seite.

„Du weißt, was ich meine! Ich finde, er ist ein Angeber.“

„Ich finde ihn sehr nett“, sagte Dirk, „aber was wolltest du mir denn jetzt eigentlich erzählen?“

„Lissa hat mich nach Caitlin und Malou gefragt! Die drei waren früher unzertrennlich – und jetzt haben sie keinen Kontakt mehr zueinander! Unglaublich, oder? Ich meine, die waren wie Pech und Schwefel! Es war schwer, in ihre Gruppe reinzukommen. Aber nach dem Abi haben sie sich scheinbar ziemlich schnell aus den Augen verloren. Das hätte ich echt nicht gedacht!“

Dirk zog seine Frau näher an sich. Er vergrub die Nase in ihrem duftenden Haar.

„Und du hast…?“

„Ich konnte ihr immerhin Lins Geschäfts- und Handynummer geben. Und von Malou hatte ich zumindest den Festnetzanschluss“, sagte sie stolz. „Wir haben ausgemacht, dass wir, wenn die beiden tatsächlich hierherkommen, ein kleines Wiedersehen-Treffen veranstalten!“

*

„Kommst du noch mit, was essen?“

Barbara sah sie fragend an.

„Entschuldige! Was meintest du?“

„Ich frage dich jetzt gerade zum dritten Mal, ob du mit uns essen kommst! Andrea und ich wollen noch zum Asiaten.“

Marie stand abrupt auf und streckte sich. Mit ihren Gedanken war sie ganz woanders gewesen. Zum Beispiel, ob sie morgen ihren Hausarzt anrufen sollte, um doch einen Test machen zu lassen. Und an Ernst, bei dem irgendwie alles so viel einfacher gewesen war. Dankbar nahm sie deshalb die Einladung an und folgte den Kolleginnen aus dem Büro hinaus.

„Ich sterbe schon vor Hunger!“, stöhnte Barbara, während sie sich umständlich den Mantel überzog. „Das Meeting wollte ja kein Ende nehmen!“

Andrea stimmte ihr zu. Andrea war klein, dick und hatte immer Hunger. Marie sagte nichts.

Tatsächlich bereitete der Gedanke an Essen ihr selbst eher Übelkeit. Die Alternative, nach Hause in ihre dunkle leere Wohnung zu gehen, war jedoch auch nicht verlockend. So hakte sie sich bei den anderen beiden unter und folgte ihnen zum China Wok.

Was sie nun dazu brachte, an die beiden anderen zu denken, war etwas ganz Profanes, etwas so Unauffälliges und Alltägliches, dass man ihm eigentlich keine große Bedeutung zugemessen hätte. Marie-Luise stutzte dennoch. Vor ihr, auf dem Bürgersteig, lag ein Bonbonpapier. Es war ein bisschen schmutzig, aber die Alufolie glänzte noch schwach golden. In weißer Schnörkelschrift stand der Produktname auf dem blass violetten Papier geschrieben: Mirabella.

Flüchtig blinkt eine Erinnerung in ihrem Kopf auf – Nachmittage voller Lachanfälle, essen in der Mensa, Pyjamapartys mit giggelnden Mädchen unter dicken Bettdecken. Und nebenbei immer Karamellbonbons. Aber nur die von Mirabella. Das waren die Prinzessinnen-Bonbons.

„Was ist los, Marie?“ Andrea war stehen geblieben und drehte sich zu ihr um. „Hast du was gefunden?“

„Nein nein, schon gut“, murmelte Marie und steckte das Papier in ihre Manteltasche.

„Dann bitte nicht weiter bummeln“, rief Barbara, „sonst breche ich hier auf offener Straße zusammen!“

„Garner.“

Eine Männerstimme.

„Hallo, mein Name ist Caitlin Smith. Ich würde gerne Melissa sprechen. Ist sie da?“

Während sie wartete, klopfte ihr das Herz bis zum Hals. Rascheln, eine leise Stimme, dann nahm jemand den Hörer auf.

„Ja?“

„Melissa? Hier ist Caitlin.“

Keine Antwort.

„Caitlin Smith.“

Wieder Stille. Dann etwas, was wie ein tiefes tiefes Seufzen klang.

„Hallo Caitlin. Wie schön von dir zu hören! Du hast also meine Nachricht auf dem Anrufbeantworter abgehört!“ Melissa klang heiser. „Erinnerst du dich noch an meine Oma?“

Caitlin erinnerte sich. Oma Betty. Na klar!

„Ja, natürlich! Wie geht es ihr?“

Ein kurzes Zögern in der Leitung, dann:

„Sie ist vorgestern gestorben.“

„Was?“

„Oma ist am Donnerstagabend gestorben. Sie war sehr krank, die Nieren...“

Caitlin merkte zu ihrer Überraschung, dass ihr die Tränen kamen. So lange her und doch erschütterte sie diese Nachricht. Mühsam riss sie sich zusammen.

„Melissa-.“

Ihre Stimme verlor sich. Beide schienen in alten Erinnerungen zu schweben. Oma Betty. Natürlich nicht wirklich ihre Oma, aber sie hatten sie immer so genannt. Caitlin und Malou hatten viel Zeit bei Betty verbracht. Manchmal hatte die alte Frau im Scherz behauptet, sie habe insgesamt drei Enkelinnen.

Ehe Caitlin sich versah, war sie fertig mit dem Studium gewesen, hatte zwei Jahre im Ausland gelebt. Zurück in Deutschland hatte sie schon bald die Agentur übernommen, geheiratet. Andere Freunde waren in ihr Leben getreten, manche gingen wieder, einige blieben. Und auf einmal war Oma Betty gestorben!

„Lin, ich dachte mir, es sei vielleicht schön, wenn wir drei uns wiedersehen... Meine Oma“, Melissas Stimme klang nun etwas kräftiger, „meine Oma hat nach euch gefragt und ich konnte nichts über euch erzählen! Das fand ich furchtbar. Deshalb habe ich ihren Tod als Anlass genommen…“

„Ach Lissa“, flüsterte Caitlin, „du Gute.“

„Naja, jedenfalls hatte ich die Idee, dich und Malou zu uns einzuladen. Vielleicht in der letzten Januarwoche für ein verlängertes Wochenende? Würdest du kommen?“

„Ja… ja, selbstverständlich!“

Sie besprachen noch ein paar Details, dann legten sie auf.

„Caitlin? Bist du noch am Telefon?“, rief Michael aus dem Wohnzimmer.

„Nein“, krächzte sie.

Dann kamen die Tränen.

Eine Jugenderinnerung:

Aber dass ihr nichts verratet!“, zischte Lissa.

Ihre Freundinnen schüttelten entschieden den Kopf.

Wir doch nicht!“, flüsterte Malou.

Wann soll es denn losgehen?“

Um siebzehn Uhr werden die ersten Gäste kommen. Bis dahin müssen wir alles vorbereitet haben!“

Oma Betty steckte den Kopf herein.

Was habt ihr denn da zu flüstern?“

Sie machten ein unschuldiges Gesicht. Lin grinste. Die Überraschungsfeier für Betty würde super werden!

Michael blickte vom Fernseher auf, als Caitlin hereinkam. Sie ließ sich neben ihn auf das Sofa fallen und streckte alle Viere von sich.

„Und? Wie war das Gespräch?“, fragte er neugierig.

„Melissas Oma ist vor einer Woche gestorben! Ich hatte Betty unheimlich gern! Ich musste eben echt weinen. Wie schön von ihr zu hören! Ich bin ganz durcheinander. Aber es tat gut, Melissas Stimme zu hören.“

Er zog fragend sie Augenbrauen hoch.

„Stell dir vor, Lissa wohnt wieder in unserer Heimatstadt! Dieses verschlafene kleine Nest, in dem wir aufgewachsen sind.“ Caitlin setzte sich auf, nun ganz lebhaft. „Sie hat geheiratet und ist mit ihrem Mann vor einigen Jahren wieder dorthin gezogen. Ich meine…“

Sie verstummte und schaute ihren Mann mit großen Augen an. Im Fernsehen begannen die Abendnachrichten. Michael machte den Ton noch etwas leiser.

„Es ist alles ganz merkwürdig“, sagte Caitlin versonnen, „alles ganz merkwürdig.“

Winterkinder

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