Читать книгу Alia am Ort der Wunder - Annette Mierswa - Страница 9

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Als Alia am nächsten Tag Papa alleine besuchte und tatsächlich sein Zimmer gleich wiedergefunden hatte, war er nicht da.

„Dein Papa wird gerade durchleuchtet“, sagte Theo, der in seinem Bett lag und Zeitung las.

„Dauert das lange?“ Alia setzte sich auf den freien Stuhl neben Theos Bett.

„Das kommt darauf an, wie viele Patienten vor ihm dran sind.“

„Können die Ärzte dann den Krebs sehen?“

„Genau. Und dann überlegen sie, welche Medikamente sie Jochen geben.“

Jochen war der Vorname von Papa. Es war merkwürdig, wenn jemand ihn so nannte, den Alia selbst kaum kannte.

„Medikamente? Warum?“

„Na, damit der Krebs stirbt.“

„Du meinst die blöden kranken Zellen.“

Theo zog die Augenbrauen in die Höhe, dichte, buschige Balken.

„Genau. Du bist ja gut informiert.“

„Hast du auch Krebs?“


„Allerdings. Und was für einen. Den blöden Zellen gefällt es so gut bei mir, dass sie sich dauernd vermehren und richtig Spaß zu haben scheinen. Zuerst waren sie nur da“, er zeigte auf seinen Bauch, „dann fanden sie es da auch ganz gut.“ Er klopfte auf seine Brust. „Und inzwischen haben sie überall kleine Haufen gebildet.“

„Das ist aber nicht gut.“

„Nein, für mich nicht. Für die blöden Zellen schon. Jetzt müssen wir mal sehen, wer stärker ist.“

„Und wenn die Zellen stärker sind?“, fragte Alia.

„Dann … ja, dann kann ich wohl nicht zu eurem Fest kommen.“

Theo blickte an die Wand, auf die Stelle, an der Alia gestern einen Nagel eingeschlagen hatte. „Sag mal, was ist mit meiner flotten Biene?“

„Oh“, sagte Alia. „So schnell hab ich noch keine gefunden.“

„Es muss auch nicht unbedingt eine Biene sein, meine Deern. Such mir einfach was Schönes aus. Nur keinen Krebs. Vielleicht was Buntes.“

Papa kam herein. Er war ganz blass, aber als er Alia sah, leuchtete sein Gesicht ein wenig.

„Die Sonne geht auf“, sagte er. Alia stürmte auf ihn zu und schlang ihre Arme um ihn. Dann trat sie einen Schritt zurück und sah ihren Papa von oben bis unten an.

„Wo versteckt sich dieser Krebs? Haben sie ihn gefunden, beim Durchleuchten?“

Papa zuckte zusammen.

„Oh, Mama hat …“ Er brach ab, setzte sich auf die Bettkante und klopfte neben sich, damit Alia sich dort hinsetzte. Dann legte er eine Hand auf seine Brust. „Da drin.“

„Wie groß ist er?“

„Ungefähr so groß wie ein Amselei.“

Alia wusste genau, wie groß so ein Ei war. Sie hatten im letzten Frühling ein Nest vor dem Küchenfenster gehabt. Ein Amselei war viel kleiner als ein Hühnerei und grün, mit grünbraunen Sprengseln. Alia starrte auf die Brust ihres Vaters. Da war gar nichts zu sehen und doch sollte da etwas sein. Es hieß Krebs, war kein richtiger Krebs, konnte aber wehtun und sollte umgebracht werden. Sie legte ihre Hand auf Papas Brust. Sie konnte nichts Besonderes fühlen, nur die Haut und ein leichtes Beben vom klopfenden Herzen.

„Wenn der Krebs nicht stirbt, stirbst du dann?“ Sie erschrak selbst, als sie das fragte und sah ihren Papa an, als habe sie ein schlimmes Schimpfwort ausgesprochen. Er presste die Lippen zusammen und riss die Augen auf. Das war merkwürdig. Alia hatte befürchtet, er würde schimpfen und einen roten Kopf bekommen. Aber er sagte lange gar nichts. In seinen Augen war etwas sehr Beunruhigendes: ein graues Geheimnis, das manchmal kurz aufblitzte und kleine Regenwolken hinterherschickte. Es gab Geheimnisse, die waren wunderbar und spannend, wie kurz vor Weihnachten, wenn Alias Eltern Dinge in einer Kiste unter dem Bett versteckten und sie am liebsten hineinsehen wollte. Aber es gab auch Geheimnisse, die waren düster und machten ihr Angst. Wie damals, als Kakadu, Alias Meerschweinchen starb, während sie in der Schule war. Da hatten ihre Eltern auch so geguckt: Geheimnisblitze mit Regenwolken. Bis sie ihr endlich erzählten, dass Kakadu nun im Meerschweinchenhimmel wäre und es ihm gut ginge. „Woher wollt ihr das wissen?“, hatte Alia geschrien und Papa hatte geantwortet: „Das wissen wir einfach.“ Und dann hatte er gesagt, dass sie sich ein neues Meerschweinchen aussuchen durfte. Alia war sehr wütend geworden, weil man Kakadu doch nicht einfach ersetzen konnte. Sie war in ihr Zimmer gerannt, hatte die Tür zugeschlagen und war eine Stunde lang nicht mehr herausgekommen. Sie hatte gehört, wie Mama und Papa sich stritten und in ihr Tagebuch geschrieben: „Kakadu ist tot.“ Später hatte sie die Seite herausgerissen und in tausend Fetzen zerteilt. Ja, so ein Geheimnis war unheimlich. Alia spürte schon, dass etwas schlimm war, während ihre Eltern noch so taten, als sei nichts passiert. Papa lächelte durch die graue Geheimniswolke hindurch.

„Der Krebs hat keine Chance, denn ich habe die beste Krankenschwester der Welt.“ Er streichelte Alia übers Haar. Und da hatte Papa wirklich etwas Dummes gesagt. Denn Alia war ja nun mal keine Krankenschwester. Also hatte der Krebs doch eine Chance. Das war alles so verwirrend, dass Alia plötzlich weinen musste. Und das war auch dumm, denn sie wollte Papa doch fröhlich machen.

„Also Jochen, da muss ich mich jetzt mal einmischen“, sagte Theo, „denn das war nicht die Antwort auf Alias Frage.“ Er sah Alia an. „Du hast das nämlich richtig erkannt: Der Krebs muss sterben, sonst stirbt dein Papa. Aber der bekommt hier eine sehr gute Behandlung und die wird den Krebs hoffentlich kleinkriegen. Dass Jochen so eine tolle Deern als Tochter hat, hilft ihm natürlich. Denn dann macht es noch mehr Spaß weiterzuleben.“

Papa und Alia hatten die Luft angehalten. Nun bekam Papa doch noch den roten Kopf und blickte Theo entsetzt an. Aber Alia hörte auf zu weinen, denn sie war nicht mehr verwirrt. Sie musste Papa keine Spritze geben. Das würde Nora machen, die echte Krankenschwester. Alia war einfach Papas Tochter. Und das fühlte sich ganz richtig an.

„Das ist gut.“ Sie lächelte Papa an. „Dann sollten wir Nora auch zu unserem Fest einladen.“

Nun schien Papa verwirrt. „Ja“, sagte er, sah dabei aber immer noch zu Theo, der ihm zuzwinkerte. Die Tür ging auf und Nora kam herein.

Alia sah sofort, dass sie ein Pflaster um einen Finger hatte.

„Ah, die kleine Dekorateurin“, sagte Nora.

„Was ist das?“

„Das ist jemand, der Räume schmückt und umgestaltet.“

Das gefiel Alia – Dekorateurin. Sie sah sich um und dachte, dass es noch mehr zu tun gab. Der Raum sah so nackt und kahl aus. Das würde sie ändern. Sie war hier also nicht nur Papas Tochter, sondern auch die Dekorateurin.

„Nun muss ich deinen Vater wieder an diesen Beutel anschließen.“ Nora zeigte auf einen mit gelblicher Flüssigkeit gefüllten Plastikbeutel, der an einer Stange hing. „Da ist seine Medizin drin.“

Alia trat zur Seite. Papa schob die Decke von seiner Brust, zögerte kurz, sah Alia an, seufzte und schob dann sein Hemd zur Seite. Und da war direkt auf der Brust eine abgeklebte Stelle, aus der eine Kanüle herausstand. Alia erschrak. Die hatte sie gar nicht bemerkt.

„Da kann man das Medikament hineinleiten. Das ist besser als am Arm“, erklärte Papa. Er hatte eine Falte zwischen den Augenbrauen. Alia sagte nichts. Sie starrte auf die Stelle, an der Papa nun eine Wunde hatte. Sie war mit einem großen Wundpflaster abgeklebt. So ein Spezialpflaster hatte sie auch in ihrer Tasche, von Tammis Mutter. Es war vor allem für Wunden von Operationen. Nora steckte das Ende eines dünnen Schlauches, der zu dem Beutel führte, in die Kanüle an Papas Brust.

„Das soll da alles rein?“, fragte Alia und zeigte auf den prall gefüllten Beutel.

„Ja, genau“, antwortete Nora.

„Was ist das denn?“

„Na, die Medizin, die deinen Papa gesund machen soll.“

„Und den Krebs tot?“

„So ist es.“

„Und warum hast du Handschuhe an? Die Wunde ist doch gar nicht offen?“

„Die habe ich in diesem Fall zu meinem Schutz an.“

„Warum?“

„Weil man die Flüssigkeit besser nicht abbekommen sollte.“

„Warum denn nicht?“

„Weil sie ein bisschen giftig ist“, sagte Nora ungeduldig.

„Giftig?“ Alia starrte Papa an. Der seufzte schon wieder. „Warum denn giftig? Die geht doch direkt in Papa rein. Das darf doch nicht giftig sein!“

Wieder ging die Tür auf. Ein Mann in einem weißen Kittel kam herein und ging auf Papas Bett zu.

„Na, Sie sehen ja richtig rosig aus“, sagte er zu Papa. Als er Alia sah, verzog er das Gesicht zu einem breiten Lächeln. „Oho, du bist sicher die kleine Prinzessin Anja?“

„Alia. Und eine Prinzessin bin ich auch nicht.“ Sie las den Namen auf seinem Schild: Dr. Willi Wallander.

Er lachte. „Alia, genau. Für deinen Papa bist du doch bestimmt eine Prinzessin, oder?“

„Nein, eine Haselmaus.“

Er lachte noch lauter. Alia fand das gar nicht lustig.

„Sind Sie ein Krankenbruder?“

Nun schmunzelte er nur noch. Dafür lachte Theo jetzt.

„Nein, du Haselmaus, ich bin ein Doktor“, antwortete Doktor Wallander.

Also das ging gar nicht, dass ein fremder Mann Haselmaus zu ihr sagte. Aus seinem Mund klang das wie eine Beleidigung.

„Und du bist die Kleine, die den Nagel in die Wand geschlagen hat, oder?“ Doktor Wallander zeigte auf die Stelle an der Wand, wo der Nagel immer noch herausstand.

„Genau, ich bin die Dekorateurin.“ Sie stemmte die Hände in die Hüften.

Der Doktor grinste. „So, das macht dir also Spaß.“

„Ich mache es, weil Papa dann fröhlich ist und weil ihn das gesund macht. Von Ihrem Gift halte ich überhaupt nichts. Das macht doch bestimmt alles tot, nicht nur den Krebs. Der ist doch in Papa drin.“

„Alia.“ Papa sagte ihren Namen leise und ganz liebevoll.

Doktor Wallander lachte nicht mehr. „Oh, da hast du aber etwas falsch verstanden. Das Gift, wie du es nennst, macht zwar auch ein paar gesunde Zellen von deinem Papa kaputt, aber vor allem die Krebszellen. Anders bekommt man diese Biester nicht da raus, verstehst du?“

„Aber man kann doch niemanden mit Gift gesund machen. Man …“ Sie tippte dem Arzt auf den Arm. „Könnte man nicht einfach etwas anderes nehmen?“

„Ja, ein Lebenselixier! Da wär ich auch sehr dafür!“ Theo drückte Alias Hand. Er hatte eine riesige, faltige und ganz warme Hand, mit lauter dunklen Punkten darauf.

Doktor Wallander sah die beiden abwechselnd an, schloss einen Moment die Augen und nickte dann.


„Gut, ich werde sehen, was sich machen lässt. Aber bis ich das Elixier habe“, er sprach das Wort aus wie eines, das er gerade erst gelernt hatte, „setzen wir die herkömmliche Methode fort.“

„In Ordnung“, sagten Theo und Papa wie aus einem Mund. Alle drei nickten sich verschwörerisch zu. Dann verließ der Arzt mit Nora das Zimmer.

„Also die sind ja komisch“, sagte Alia, „haben ein Lebenselixier und geben euch Gift.“

„Allerdings“, antwortete Theo, „die spinnen, die Onkologen.“

„Was ist ein Onko … loge?“

„Das ist ein Arzt, der nur dafür da ist, Krebse wegzumachen.“

„Dann ist er so was wie ein Jäger?“

Nun lachte Theo wieder. Und auch Papa lächelte.

„Ja, so ähnlich. Ein Krebsjäger, genau. Das ist gut.“

Alia schob sich neben Papa aufs Bett und kuschelte sich an ihn.

„Papa, kann ich mal Tammi mitbringen?“

„Ins Krankenhaus?“

„Hm.“

„Wollt ihr nicht lieber draußen spielen? Es ist doch so langweilig hier.“

„Find ich nicht.“

„Und vielleicht wird es Theo zu viel.“ Er blickte hilfesuchend zu Theo hinüber.

„Nein, ich finde es wunderbar, wenn ein wenig Leben in der Bude ist.“

Schon wieder seufzte Papa. „Da bin ich wohl überstimmt.“

„Danke, Papa.“

Ein junger Mann in weißen Klamotten kam herein. Er trug Badelatschen und auf seinem Kopf hatte er eine Art Papierhaube. Eine pechschwarze Locke hing über seine Stirn wie ein riesiger Angelhaken. Das sah komisch aus.

„Hallihallo, wie ist die Stimmung heute?“ Er wedelte mit einer Pappschale durch die Luft.

„Wer sind Sie denn? Der Bademeister?“, fragte Alia. Theo lachte schon wieder.

„Ich bin Omar und du kannst gerne du sagen.“ Er beugte sich zu ihr herunter und lächelte.

„Aber du bist doch höchstens ein Opa.“

Omar lachte.

„Nein, Omarrrrr, mit R am Schluss. Das ist ein Männername. Kommt aus dem Arabischen und heißt soviel wie lange leben.“

„Das ist toll. Bist du Arzt?“

„Nein, ich bin Krankenpfleger. Arzt wäre super.“

„Warum heißt es nicht Krankenbruder?“

„Gute Frage. Krankenbruder klingt eigentlich viel schöner.“

Omar hatte ein lustiges Gesicht mit einer großen Nase und so weiße Zähne, dass sie blitzten, wenn die Sonne darauf fiel. Alia mochte ihn sofort. Und dass sein Name lange leben bedeutete, war genauso ein gutes Zeichen wie eine Wolke, die wie ein Glücksschwein aussah. Vielleicht würde es ja doch noch ein besonders gutes Jahr werden, mit dem tollsten Fest, das es je gegeben hatte.

„Kannst du nicht Arzt sein und meinen Papa gesund machen?“


„Oh, das wäre Doktor Wallander sicher nicht so recht.“ Er zwinkerte. „Aber ich helfe ja mit, deinen Papa gesund zu machen, okay?“

Alia nickte.

„Und Theo auch.“ Sie sah zu Theo hinüber, der seine wilden Augenbrauen hochzog und sie anblickte wie Opa damals, als Alia ihm ein Bild von seinem Lieblingsbaum gemalt hatte, den er nicht mehr besuchen konnte. Theo sagte zwar nichts, aber Alia fühlte trotzdem etwas Schönes.

„Natürlich“, sagte Omar und hielt eine Hand an seine Schläfe, wie zu einem militärischen Gruß. Dann richtete er sich wieder an Papa und Theo. „So die Herren, ich sehe, Sie sind gut versorgt. Falls Sie noch etwas brauchen, rufen Sie nach mir. Ich löse Frau Pfeiffer ab.“ Er ging hinaus.

„Der ist aber nett“, sagte Alia. „Den laden wir auch ein.“

Plötzlich war Papa ganz müde. Er hatte die Augen schon halb geschlossen.

„Ich muss ein bisschen schlafen, ja?“ Dann war er eingeschlafen. Das hatte Alia noch nie erlebt, dass Papa so schnell einschlief. Sie sah ihn lange an, aber er machte die Augen nicht mehr auf.

„Das Schlafen ist sehr gut“, flüsterte Theo. „Da arbeitet der Körper am Gesundwerden.“

„Ach so“, sagte Alia, aber es machte ihr trotzdem Angst. Traurig war sie auch ein bisschen, denn eigentlich wollte sie doch mit Papa über das Fest sprechen, über ihre neuen Ideen. Sie wollte gerne irgendetwas Arabisches einbauen, für Omar. Aus den arabischen Ländern kannte Alia nur Die Märchen aus 1001 Nacht. Darin würde sich doch bestimmt etwas finden lassen. Plötzlich hatte Alia furchtbaren Durst. Auf Papas Tischchen stand nur ein einziges Glas. Sie hielt es in die Höhe. Da war etwas Gelbliches drin.

„Das darfst du nicht trinken!“, sagte Theo laut. Und dann leise: „Da sind Vitamine für deinen Papa drin. Die braucht er. Du kannst auf den Flur gehen, da steht ein Wagen mit Getränken und Obst. Davon darfst du dir nehmen, so viel du willst.“

Alia stellte das Glas wieder auf Papas Tischchen und ging aus dem Zimmer. Sie sah den langen Flur hinauf und hinunter. Hier müsste auch einmal eine Dekorateurin etwas tun, dachte sie. Der Quietscheboden war grau, die Wände weiß, die Lampen leuchteten grell. Es gab ein einziges Bild an der langen Wand, von einem Birkenwald. Das war’s. In einiger Entfernung entdeckte sie den Rollwagen. Eine Frau ohne Haare stand davor. Sie war noch viel jünger als Papa. Alia ging auf sie zu.

„Warum hast du die abrasiert?“, fragte sie die Frau. Die starrte sie einen Moment lang an, blickte erst böse, dann freundlich.

„Die habe ich nicht abrasiert, die sind ausgefallen.“ Die junge Frau nahm eine leere Tasse und hängte einen Teebeutel hinein.

„Aber Haare fallen doch nicht einfach so aus, außer vielleicht wenn man alt ist.“ Alia zog an einer ihrer eigenen Locken, die sich nicht löste.

Nun beugte sich die Frau zu Alia herunter.

„Sag mal, wer bist du denn? Und was machst du hier?“

„Ich heiße Alia und mein Papa wird hier gesund gemacht. Ich helfe den Ärzten dabei, und Omar.“

Die Frau lächelte.

„Ich bin Lisa. Ich werde hier auch gesund gemacht.“


„Hast du auch Krebs?“

„Ja, auf dieser Station haben alle Krebs.“

Alia hatte plötzlich einen Kloß im Magen. Was, wenn der Krebs nun doch ansteckend ist, dachte sie und machte einen kleinen Schritt zurück. Sie blickte den Gang entlang. Es gab mindestens 20 Türen. Wenn hinter jeder Tür zwei Menschen waren, dann gab es hier 40 Krebskranke. Gerade ging eine der Türen auf und Omar kam mit einer alten Frau heraus, die er stützte. Sie hatte auch keine Haare und schob einen rollenden Ständer mit einem Beutel dran neben sich her. Alia sah in die andere Richtung. Auch da stand plötzlich ein älterer Mann ohne Haare am Fenster. Alia wurde übel. Warum hatten die alle keine Haare mehr? Würde sie auch ihre Haare verlieren, wenn sie Papa oft besuchte? Hatte Omar die Haube auf, damit seine nicht ausgingen? Sie ließ Lisa einfach stehen, rannte den Flur entlang und stürmte in Papas Zimmer.

„PAPA!“ Sie warf sich auf sein Bett und vergrub den Kopf in seiner Decke.

„Wer bist du denn?“ Das war nicht Papas Stimme! Das war eine furchtbar tiefe raue Stimme. Alia stob aus dem Bett und starrte den Mann an. Er war ganz dünn und faltig und schrecklich alt. Und er hatte KEINE HAARE. Alia schrie und rannte wieder aus dem Zimmer.

„PAPAAA!“, brüllte sie den Flur entlang. Es war wie in einem Albtraum. All die haarlosen Menschen starrten sie an. Keiner bewegte sich.

„Alia, was hast du denn?“ Omar stand plötzlich vor ihr und legte seine Hände auf ihre Schultern. Alia umschlang ihn und vergrub ihren Kopf in seinem Bauch, damit sie nicht sehen musste, was um sie herum geschah. Sie schluchzte laut.

„Papa! Wo ist Papa? Ich will meine Haare behalten. Und ich will zu Papa!“

Omar hockte sich vor Alia auf den Boden und sah sie an. Seine Augen waren ganz schwarz und warm, wie der Nachthimmel im Sommer.

„Dein Papa ist im Zimmer 314. Du warst in 313, das ist genau daneben. Und deine schönen langen Haare, die wirst du behalten, das garantiere ich dir.“

Nun beruhigte sich Alia ein wenig.

„Und Papas Haare?“

„Nun ja, für die kann ich nicht garantieren. Aber weißt du was? Falls er sie verliert, dann kommen wieder neue, wenn er gesund ist. Und die neuen sind meist viel schöner als die alten.“

„Kommen dann auch da Haare, wo jetzt keine mehr sind, oben auf dem Kopf? In der Mitte. Die sind schon ganz lange weg.“

Omar lächelte. Dann zog er seine Papierkappe ab und zeigte Alia seine Haare. Da fehlten auch welche in der Mitte.

„Guck mal, da kann man nichts machen. Das ist bei vielen Männern so. Hat gar nichts mit dem Krebs zu tun.“

„Hast du den Hut auf, damit nicht noch mehr ausgehen?“

Omar lachte und seine Zähne blitzten wieder.

„Nein. Das ist zur Hygiene, zum Schutz für die Patienten. Damit keine Haare und Krankheitserreger von mir in Wunden oder so kommen.“

„Kann ich auch so einen Hut haben? Wenn Papa eine Wunde hat, dann …“

„Ja klar. Bei deinem Papa im Zimmer ist ein Schrank. Da kannst du dir einen rausholen.“

Alia ging es wieder besser. Sie hatte immer noch Herzklopfen, aber um ihre Haare machte sie sich keine Sorgen mehr.

Sie klopfte an die Tür von Zimmer 314. Dann trat sie ein. Papa schlief immer noch. Und nun schlief auch noch Theo. Das war langweilig. Erst jetzt fiel ihr auf, dass Theo ebenfalls keine Haare hatte. Aber weil er wie ein Opa aussah und immer eine Schirmmütze auf hatte, war es ihr ganz normal vorgekommen. Sie öffnete den Schrank. Da waren viele spannende Dinge drin. Die Papierhüte sah sie als Erstes. Sie setzte einen auf und versuchte, ihre Haare darunter zu schieben. Aber es waren zu viele und sie waren zu lang. Im Schrank gab es außerdem noch blassgrüne Kittel und Pappschalen, Netze, verschiedene Plastikflaschen mit Flüssigkeiten und weitere Dinge, die Alia nicht kannte. Jemand klopfte und Mama kam herein.

„Meine Haselmaus.“ Sie nahm Alia in den Arm. „Was machst du denn da?“

„Ich wollte so einen Hut wie Omar, aber ich krieg die Haare nicht drunter.“

„Omar? Wer ist das?“

„Der hilft, Papa gesund zu machen.“

Mama blickte zu Papa.

„Die schlafen beide“, sagte Alia.

Mama nickte und flüsterte: „Weißt du was? Wir lassen sie schlafen und gehen nach Hause. Es ist schon spät. Ich schreibe Papa eine Nachricht und komme später noch mal.“

Alia nahm ihren Rucksack. Nachdem Mama ein paar Zeilen geschrieben hatte, verließen sie zusammen das Zimmer. Der Gang war leer. Und es war so leise, dass Alias quietschende Turnschuhe einen Höllenlärm machten.

Die frische Luft draußen tat gut. Eine Amsel zwitscherte laut. Alia musste an die Amseleier denken und an Papas Krebs.

„War es heute wieder lustig?“, fragte Mama.

Alia schüttelte den Kopf.

„Morgen gehst du wieder in die Schule. Und du brauchst Papa auch nicht jeden Tag zu besuchen, damit er gesund wird. Geh einfach hin, wenn du wirklich Lust dazu hast, ja?“

Alia nickte, sah dabei aber den Zaun an, den sie gerade passierten, und ließ ihre Finger über die einzelnen Sprossen gleiten.

„Das würde Papa jetzt auch sagen. Er freut sich, wenn du mit Tammi schöne Sachen machst, reitest oder schwimmen gehst oder ihm ein Bild malst. Das kann ich ihm dann mitbringen.“


Sie hatten das Ende des Zauns erreicht. Es folgte eine pieksige Hecke.

„Tammi hat übrigens schon drei Mal auf den Anrufbeantworter gesprochen. Ruf sie doch noch zurück.“

Alia blickte auf ihre Handinnenseite. Aus einem kleinen Kratzer perlte ein winziger Blutstropfen.

„Außerdem braucht Papa auch viel Ruhe. Er hat viel zu viel gearbeitet. Jetzt soll er sich einfach ausruhen. Dann wird er bestimmt wieder gesund.“

Alia hörte nicht mehr zu. Sie musste über so viels nachdenken: die Menschen ohne Haare; Omar, der lange leben hieß und keine Oma war; Theo, der noch gar keinen Besuch bekommen hatte; und natürlich Papa, der amseleigroßen Krebs in der Brust hatte und viel Liebe brauchte. Auch an Doktor Wallander musste sie denken und warum er der Arzt war und nicht Omar.

„Alia?“ Mama war stehen geblieben.

Alia sah sie an, mit einem Weit-weg-Blick. „Hm?“

„Was ist mit dir? Hat Papa dir was gesagt? Oder die Ärzte?“

„Ärzte?“ Jetzt hörte Alia wieder zu. „Sind es mehrere?“

„Ja, natürlich. Es gibt mindestens drei auf der Station.“

„Sind das alles Onto …, Onko …, also Krebsjäger?“

„Onkologen, genau.“

Das war gut. Dann war Doktor Wallander nicht der einzige Arzt. Vielleicht waren die anderen ja so wie Omar. Das wäre schön.

Alia rief Tammi am Abend nicht an. Sie war so voller verwirrender Gedanken – und da war auch Traurigkeit. Sie hatte jetzt keine Lust, über Pferde zu reden oder über das Tattoo der Lehrerin, über das seit letzter Woche die ganze Klasse sprach, oder über das Sozialprojekt in der Schule. Sie wollte nur an Papa denken. Warum hatte er Krebs? Mama und Papa hatten sich so komisch angesehen, als sie das erste Mal im Krankenhaus war. Die verschwiegen ihr doch etwas. Alia schlich in Papas Büro und setzte sich wieder auf den großen Schreibtischstuhl, der sich so toll drehte. Sie sah das Schweinewolkenfoto an. Da war alles noch gut gewesen. Danach hatte Papa sehr viel gearbeitet und war kaum zu Hause gewesen. Nicht einmal an Nikolaus war er da. Den ganzen Tag über steckte die Schokolade in seinen Schuhen. Alia hatte sich beschwert und Papa hatte gesagt: „Ich muss viel arbeiten, damit wir deine Reitbeteiligung bezahlen können und damit wir so schöne Urlaube machen können – und sogar für die warme Wohnung muss ich arbeiten. So ist das, meine Haselmaus.“ Wäre Papa vielleicht gesund geblieben, wenn sie nicht zum Reiten gegangen wäre? Alias Hals wurde ganz eng, sodass sie kaum die Spucke herunterschlucken konnte. In diesem Moment kam Mama herein.

„Hier bist du! Ich hab dich schon überall gesucht.“

„Wer macht denn jetzt Papas Arbeit?“ Alia hob einen Stapel ungeöffneter Briefe hoch und ließ sie wieder fallen.

„Das findet sich schon. Da musst du dir keine Sorgen machen.“

Aber Mama sah aus dem Fenster und lächelte nicht. „Ich muss jetzt einfach ein bisschen mehr arbeiten“, sagte sie leise. „Dann kommt Oma oder Tammis Mutter oder auch mal Bernd.“

Das war Papas Bruder. Der kam fast nie.

„Onkel Bernd? Der wohnt doch gar nicht hier.“

„Der kommt dann vielleicht für eine ganze Woche, wenn er sich freinehmen kann.“

Das war alles so beunruhigend und neu und gefiel Alia überhaupt nicht. Sie schwieg. Langstrumpf hüpfte auf Alias Schoß, kuschelte sich an ihren Bauch und schnurrte. Alia streichelte ihr übers Fell. Wenn Mama jetzt viel arbeitete, bekam sie dann auch Krebs? Alia streichelte Langstrumpf immer schneller. Die Katze hörte auf zu schnurren und maunzte erst leise, dann lauter, bis sie schließlich von Alias Schoß sprang und aus dem Büro verschwand. Mama drehte den Bürostuhl so, dass Alia sie direkt ansehen musste. Dann trat sie mehrmals auf den Hebel am Stuhlfuß. Mit jedem Tritt wurde Alia ein wenig höher gehoben. Sie wollte eigentlich ernst bleiben, aber jetzt musste sie doch ein wenig lachen. Auch Mama lächelte. Schließlich saß Alia so hoch, dass Mama sie gut umarmen konnte. Alia drückte sich fest an sie und schob ihre Nase in Mamas Bluse. Sie roch so gut nach Honig und Rosenblüten. Alia sog den Duft tief ein.

„Ich geh nicht mehr zum Reiten“, murmelte Alia in Mamas Bluse.

„Wie bitte?“ Mama schob sie von sich weg, um ihr in die Augen zu sehen. „Das machst du doch am allerliebsten.“

„Nein“, sagte Alia, „jetzt nicht mehr.“ Das stimmte zwar nicht, denn Alia liebte das Reiten. Aber Mama sollte nicht so viel arbeiten müssen und keinen Krebs bekommen. Mama schüttelte Alia sanft an den Schultern.

„Hör mal, du heckst doch was aus? Ist es, weil du lieber zu Papa gehen möchtest?“

„Nö.“ Alia wusste selbst nicht, warum sie Mama nicht die Wahrheit sagte. Vielleicht hatte sie Angst davor. Mama schien noch nicht bemerkt zu haben, dass Papa auch wegen Alias Reitunterricht krank geworden war. Oder wusste sie es schon? Da war doch dieses Geheimnis zwischen ihren Eltern. War es das? Wollten sie Alia nicht sagen, dass sie schuld war?

Sie sprang vom Stuhl.

„Wo willst du hin?“, fragte Mama.

„In mein Zimmer.“

„Hast du denn schon Tammi angerufen?“

„Nein, ich sag es ihr morgen.“

„Was sagst du ihr morgen?“

„Na, dass ich nicht mehr zum Reiten komme.“ Und damit stürmte sie aus dem Büro und in ihr Zimmer und schloss die Tür.

„Alia!“ Mama rief laut. Aber Alia antwortete nicht. Sie wusste auch gar nicht, was sie sagen sollte. Mama klopfte an die Tür.

„Alia“, sagte sie sanft.

„Ich muss gerade mal nachdenken“, erwiderte Alia.

„In Ordnung, aber über das Reiten sprechen wir noch.“

„Hm.“

„Ich hab dich lieb, soooooooo lieb“, sagte Mama durch die Tür und Alia wusste, dass sie die Hände weit auseinanderstreckte. Das tat gut. Sie holte Die Märchen aus 1001 Nacht aus ihrem Regal und las darin, bis sie einschlief.


Alia am Ort der Wunder

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