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DAS GLASHAUS I

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Im Zentrum der Stadt, auf einem der zahlreichen Plätze, ragte ein futuristisches Einkaufszentrum in den Himmel. Ein gläserner Pilzwald, bestehend aus Spiegeln und Stahl, prismatisch angeordnet, wie gewachsen, und zugleich streng einer Zweckmäßigkeit dienend.

André fand sich in den Spiegeln wieder. Zerstückelte Blechfahrzeuge huschten über die glänzenden Scheiben oder verdoppelten sich zu Giganten. Schemenhaft bewegten sich Leute darin, unförmig verbreitert oder verengt, bis sie wie Rauchsäulen aussahen, reduziert auf die Zeitspanne zwischen Erscheinen und Verschwinden auf den einzelnen Spiegelflächen.

„Ich weiß noch genau, wo ich bin“, dachte André. „Rue Clea“, las er auf einem Emailleschild. Mit einem Schlag hatte er die modernen Spiegelbauten hinter sich gelassen. Die Häuser waren aus dem letzten Jahrhundert, restauriert, saniert, gepflegt.

André spazierte, seine Hände nirgendwo haltend. Die Straße verengte sich bald. Zwei Männer in Trenchcoats tauchten vor ihm auf. André dachte nicht an sie. Auch nicht, als sie ihre Schritte verlangsamten.

In einem Schaufenster wurden leckere, handgemachte Pralinen dargeboten. In einem anderen Geschäft standen Haushaltsgeräte mit grauen Steckern auf Kunststoffdeckchen.

Die zwei Männer blieben nun nebeneinander stehen, aber André war weiterhin nicht beunruhigt. Dieser Sonntagnachmittag kam ihm einfach zu friedlich vor. Kein Auto war zu hören, alles schlummerte. Ein wenig Wasser floß zeitlos den Rinnstein entlang.

Und als André näher kam und den beiden ernst in die Gesichter sah, war ihm sofort klar, dass es ihm niemals gelänge, sich diese Visagen einzuprägen. Er versuchte, sich zwischen ihnen hindurchzuzwängen, presste, aber sie waren wie verschnürt. Plötzlich ließen sie ihn durch und er wäre fast vorwärts gefallen. Erleichtert atmete er auf und beschleunigte seinen Schritt. Er fand es geschickter, sich nicht umzudrehen. Aber ein dumpfer, knallharter Stoß in seinem Rücken, ließ ihn vor Schmerzen aufbrüllen. Außer Kontrolle sackte er in sich zusammen.

Als er aus der Ohnmacht wieder erwachte, fand er sich gekrümmt auf dem Gehsteig liegend vor. Er wand sich wie ein Wurm und seine Hände suchten den Sims in der Hauswand, an dem er sich umständlich hochzog. Zittrig stehend tastete er als erstes seinen Rücken ab, in panischer Angst, auf ein Messer oder zumindest auf eine blutende Wunde zu stoßen.

Er entdeckte aber nur eine ballgroße Beule über der linken Niere. Das erleichterte ihn und er richtete sich höher auf. Seine Augen fokussierten die Straße. Das Blut pochte dazu heftig in den Schläfen. Er untersuchte, ob ihm etwas fehlte. Aber nicht einmal das Geld war ihm entwendet worden.

Ohne Zeitgefühl und zu erschöpft eine Uhr zu erkennen oder sich nach der Uhrzeit zu erkundigen, setzte er sich auf die Eingangstreppe des Opernhauses und hoffte, noch rechtzeitig zu seiner Verabredung mit Catherine zu kommen.

Eine Vielzahl Leute saßen mit ihm dort, lungerten herum, verschnauften von einem Spaziergang oder warteten ebenfalls auf jemanden. Taxen hielten an, spien ihre Fahrgäste aus und fuhren wieder an. In der roten Eingangshalle verschwanden einige Pärchen in Abendgarderobe. Unmerklich hatte sich die Straßenbleuchtung eingeschaltet. Von Zeit zu Zeit hupte ein Bus. Zwei Mädchen standen zusammen vor der Treppe, flüsterten, kicherten, flüsterten erneut, blickten sich verstohlen an und begannen wieder von vorne.

Wie er mit Catherine in dieses Café geraten war - er wußte es nicht mehr. Eine einsetzende Übelkeit hatte ihn wieder klarer werden lassen.

„Und meinst du nicht, wir sollten das vorsichtshalber untersuchen lassen?“ fragte sie immer wieder, auf das Äußerste besorgt.

„Nein, nein“, erwiderte André und fand dabei kurz ihre cölinblauen Augen.

Die Wände des Cafés waren völlig verspiegelt. André, der mit dem Rücken zum Raum saß, sah alles, was hinter ihm geschah. Gequält malte er die Umrisse der Menschen auf dem Glas nach. Catherine bemerkte dies.

„Ich mag keine Spiegel“, sagte sie deshalb und setzte noch hinzu: „Sie machen mich so leer.“

„Leer? Wieso leer?“ fragte André.

„Alles, was ich darin sehe, sind Hüllen, die wie dicke Fledermäuse vor den Augen tanzen“, erläuterte sie und beide versuchten sie zu lächeln.

Ohne sich umzudrehen, deutete André dem Kellner an, zwei Wein zu bringen und beschäftigte sich mit einer verkehrt herumlaufenden Uhr in einem der Spiegel.

Catherine rauchte derweil eine französische Zigarette, blies den Rauch in großen Wolken zur Decke.

Gut gelaunt betrat Cioran das Café. Eine Tüte zur Begrüßung hin- und herschwenkend, bestellte er direkt an der Bar. Anschließend setzte er sich zu Catherine und André an den Tisch und wartete ungeduldig.

Der Kellner brachte die Getränke, stellte sie unhöflich ab.

„Ich habe heute eine Skulpturenausstellung gesehen“, sprudelte Cioran hervor.

„Arbeiten von Duchamp, Hausmann, Giacometti und auch die Pelztasse von Meret Oppenheim.“ Er machte eine kurze Pause, in der er tief Luft holte und seinen Brustkorb aufblies. „Ihr wißt, wie sehr ich dieses Objekt liebe, und so beschloß ich kurzerhand, sie mitzunehmen.“

André sah weiterhin entrückt in die Spiegel. Die Beule an seinem Rücken brannte, fühlte sich an, als könnte sie aufplatzen, wenn er die Rückenlehne traf. Catherine nippte am Wein, war Ciorans Geschichte ebenfalls nicht gefolgt und fragte nur mechanisch: „Was?“.

„Ja, ich habe es gemacht!“ rief Cioran nun. „Ich habe wirklich die Tasse im Pelz mitgehen lassen - samt der dazugehörigen Untertasse und dem Löffel! Ich habe sie geklaut! Versteht ihr? Einfach geklaut!“

Die Geräuschkulisse, des inzwischen gut besuchten Cafés, übertönte das Staunen der beiden.

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