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Einleitung

von Jost Schneider

Was ist ein Roman?

Ob in den gängigen Bestseller-Listen, in den privaten und öffentlichen Büchersammlungen oder in den Belletristik-Regalen der Medienkaufhäuser: Überall dominieren seit vielen Jahrzehnten nicht etwa Hymnen oder Balladen, Trauerspiele oder Schwänke das literarische Angebot, sondern ganz eindeutig Liebes-, Kriminal-, Geschichts- und Gesellschaftsromane.

Sowohl die populären als auch die kanonisierten Schriftsteller sind fast durchgängig Romanverfasser. Nur in seltenen Fällen kann sich ein Autor (wie z.B. Celan oder Jandl) im literarischen Betrieb etablieren, ohne mindestens einen bedeutenden Roman veröffentlicht zu haben. ‚Literaturrezeption‘ ist heute also fast gleichbedeutend mit ‚Romanlektüre‘. Der Roman ist die Gewinnergattung der Gegenwart.

In diesem Buch wird nachgezeichnet, wie es zu einem solchen Triumph des Romanes kommen konnte. Denn erst um 1800 beginnt der Aufstieg dieser Prosa-Langform, die bis dahin sowohl im literarischen Betrieb als auch in der theoretischen Poetik und Ästhetik ein Schattendasein gefristet hatte. Es ist faszinierend, über die Jahrhunderte hinweg das Wechselspiel von Publikumserwartung und Gattungsentwicklung zu verfolgen, aus dem sich nach und nach der Roman als dominierende Größe herausschält.

Der Roman wird hier in Übereinstimmung mit der im gleichen Verlag publizierten Einführung in die Roman-Analyse (Schneider 32010, S. 8–11) als schriftlich fixierter, relativ umfangreicher, fiktionaler Prosatext in einer nicht nur Gelehrten verständlichen Sprache definiert. Dabei hat das letztgenannte Definitionsmerkmal der Gattung ihren Namen verliehen: Der Ausdruck ‚Rorman‘ bezeichnete ursprünglich ein nicht in der lateinischen Sprache des Gelehrtenstandes, sondern in der romanischen Volkssprache verfasstes, mithin im Prinzip jedermann verständliches Werk. Damit ist ein wesentliches Spezifikum dieser Gattung schon im Namen hervorgehoben: Der Roman richtet sich nicht bloß an bestimmte Bildungs- und Gesellschaftseliten, sondern zielt auf Allgemeinverständlichkeit und Massenwirksamkeit. Welcher anderen literarischen Gattung könnte man attestieren, über inzwischen zwei Jahrhunderte hinweg mit Erfolg ein solch ambitioniertes Ziel verfolgt und derart viele Untergattungen ausdifferenziert zu haben, dass praktisch für jedes Lesebedürfnis ein passendes Angebot existiert? Vom Geisterroman in Groschenheftform bis zum experimentellen philosophischen Roman, vom pornographischen Roman bis zum pädagogischen Jugendroman reicht die Spannbreite dieser Gattung, und für eine Gattungsgeschichte wie die vorliegende bedeutet dies, dass auch die von der heutigen Literaturkritik und -didaktik minder wertgeschätzten und nicht kanonisierten, aber jeweils zu ihrer Zeit viel gelesenen Bestseller mit berücksichtigt werden müssen.

Die Periodisierung berücksichtigt aus rein pragmatischen Erwägungen die in Schule und Hochschule nach wie vor verbreiteten, traditionellen Epochenbegriffe wie z.B. ‚Barock‘, ‚Aufklärung‘ oder ‚Realismus‘, folgt aber ansonsten den Prinzipien der funktionsanalytischen Literaturgeschichtsschreibung (Schneider 2004). Am Ende unserer drei historischen Hauptkapitel finden sich deshalb relativ ausführliche Hinweise auf die wichtigsten Unterhaltungsromane des jeweiligen Zeitalters.

Die wichtigsten Studien über den Roman

Die beiden wirkungsmächtigsten Dichtungstheorien Europas, die von der Antike bis in die Frühe Neuzeit hinein als unbestrittene Basis jeder Art von Poetik und Literaturästhetik galten, waren erstens die Schrift Von der Dichtkunst (gr.: Peri poietikes) des griechischen Philosophen Aristoteles (4. Jh. v. Chr.) und zweitens das gleichnamige Werk (lt.: De arte poetica) des römischen Dichters Horaz (1. Jh. v. Chr.).

In beiden Schriften wird der Roman mit keinem Wort erwähnt. Das hängt erstens damit zusammen, dass die Gattungsbezeichnung ‚Roman‘ schlechterdings fehlte, weil man längere Prosatexte mit den Bereichen der Geschichtsschreibung und des religiösen Schrifttums assoziierte und keine literarische Gattung darin erblickte. Zweitens und vor allem galten solche längeren Prosatexte – besonders im Vergleich mit Versepen wie Homers Ilias oder Vergils Aeneis – als relativ kunstlos und deshalb als minderwertig. Von der Antike bis in das 16. Jahrhundert hinein wurde deshalb von der Poetik und Ästhetik das, was wir heute als ‚Roman‘ bezeichnen, entweder gar nicht oder nur ganz nebenbei thematisiert.

Von Rist (1668), Huet (1670) und Heidegger (1698) bis hin zu Neumeister (1708) oder Meier (1750) gibt es dann im 17. und 18. Jahrhundert erste Ansätze zu einer Poetik des Romanes. Aber erst im ‚langen 19. Jahrhundert‘ (Bürgerliches Zeitalter) entsteht in Gestalt der Werke von Blanckenburg (1774), Morgenstern (1819), Münzenberger (1825), und Mundt (1837) eine umfangreiche eigenständige Romantheorie, die dann im 20. Jahrhundert von prominenten Autoren und Ästhetikern wie Georg Lukács (1916), Thomas Mann (1940), Theodor W. Adorno (1954), Lucien Goldmann (1964) und Dieter Wellershoff (1979) weitergeführt und ausdifferenziert wird.

Neben diesen Romantheorien, über welche die oben genannte Einführung in die Roman-Analyse (Schneider 32010, S. 122–136) im Detail informiert, gibt es seit Entstehung der Literaturwissenschaft im 19. Jahrhundert eine genuin philologische Beschäftigung mit der Romangattung. Einige neuere und für Studierende besonders nützliche Werke der neueren Literaturwissenschaft, die sich mit dem Roman beschäftigen, seien hier kurz vorgestellt:

Das 1983 von Helmut Koopmann herausgegebene Handbuch des deutschen Romans ist zwar inzwischen in Teilen veraltet, kann aber immer noch als die vollständigste Gesamtdarstellung des Gegenstandes bezeichnet werden und sollte deshalb jedem Studierenden der Germanistik bekannt sein.

Hartmut Steinecke beschrieb zunächst in seinem 1984 publizierten Buch Romanpoetik in Deutschland. Von Hegel bis Fontane die Hauptzüge der Romandiskussion des 19. Jahrhunderts. Zusammen mit Fritz Wahrenburg publizierte er dann 1999 eine besonders empfehlenswerte Anthologie mit dem Titel Romantheorie. Texte vom Barock bis zur Gegenwart. Auszüge aus mehr als 100 Klassikern der Romantheorie sind darin abgedruckt und in prägnanter Weise erläutert.

Viktor Žmegač beschäftigt sich in seiner vielzitierten Studie Der europäische Roman. Geschichte seiner Poetik von 1990 hauptsächlich mit Romantik, Realismus, Naturalismus und Gegenwart. Ähnliche Schwerpunkte legt die 1993 publizierte Arbeit von Bruno Hillebrand mit dem Titel Theorie des Romans. Erzählstrategien der Neuzeit, in der jedoch die deutsche Romantradition ausführlicher behandelt wird. Eine zuverlässige Kurzdarstellung der von Hillebrand und Žmegač in sehr ausführlicher Form beschriebenen Theorien liefert das Buch Romantheorie von Matthias Bauer (1997).

Jürgen H. Petersen entwickelt in seiner Studie Der deutsche Roman der Moderne (1991) eine viel diskutierte Typologie der wichtigsten Romanformen. Er unterscheidet dabei zwischen ‚fundamentaltypischen‘ und ‚typus-kombinierenden‘ Romanen und liefert insgesamt die zurzeit empfehlenswerteste Überblicksdarstellung zur Geschichte des (kanonisierten) deutschen Gegenwartsromans.

Zuletzt sei hier noch auf ein für Studienzwecke sehr nützliches Nachschlagewerk hingewiesen, und zwar auf das von Frank Rainer Max und Christine Ruhrberg herausgegebene Romanlexikon in fünf Bänden (1998–2000). Es liefert zwar keine geschlossene Darstellung der Gattungsentwicklung, fasst jedoch jeweils in prägnanten Einzelartikeln das literaturwissenschaftlich gesicherte Wissen über alle kanonisierten deutschen Romane (und auch über die bekanntesten Versepen, Erzählungen, Novellen usw.) vom Mittelalter bis zur Gegenwart zusammen. Es bietet damit eine hilfreiche Ergänzung zur vorliegenden Kleinen Geschichte des deutschen Romans, die auf den ihr zur Verfügung stehenden Seiten keine katalogartige Auflistung aller bekannten Romane und Romanautoren geben möchte, sondern anhand einer Analyse epochentypischer Hauptwerke die Grundzüge der Gattungsentwicklung zu veranschaulichen versucht.

Kleine Geschichte des deutschen Romans

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