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Kapitel 2: Susanne und ihr Sohn Florian

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Susanne war neugierig auf Johann. Sein freundliches Gesicht mit den Lachfalten um die Augen und seine zurückhaltende, höfliche Art hatten ihr gut gefallen. Auf dem Weg zu ihrem Auto, das sie in der Tiefgarage beim Theater abgestellt hatte, gingen ihr einige Fragen durch den Kopf: Was er wohl für eine Position bei der Firma Linder hat? War er verheiratet oder ist er es noch? Einen Ehering trug er nicht. Hat er Kinder? Wie wird er reagieren, wenn ich meine gescheiterte Ehe mit Horst und meinen Sohn Florian erwähne?

An ihrem Haus angekommen versuchte sie möglichst wenig Lärm zu machen. Weil das Garagentor quietschte, parkte sie in der Auffahrt zur Garage. Mit gedämpften Schritten ging sie in ihre Wohnung, steuerte auf Florians Zimmer zu, öffnete die Tür einen Spalt und war beruhigt. Er schlief fest. Florian war ihr Ein und Alles. Sie verwöhnte ihn liebevoll, so als wolle sie wieder gut machen, dass sie die Ehe mit seinem Vater aufgelöst hatte.

Müde streckte sie sich am Morgen in ihrem Bett. In der Nacht war sie nach der ersten Schlafphase aufgewacht und erst nach Stunden wieder eingeschlafen. Sie hatte an Johann gedacht, an Männer und Sex, war bei Horst, ihrem Ex-Mann, hängen geblieben, und der schwirrte ihr auch jetzt im Kopf herum.

Auf Horst war sie gestoßen, als sie mit ihrer Freundin Petra durch Indien reiste, mit dem Rucksack vier Monate lang kreuz und quer durch Pracht und Not: Hier das Taj Mahal, die Krönung muslimischer Baukunst, und dort in Lumpen gehüllte, ausgemergelte Menschen, die am Straßenrand verrecken. (Ihr Reisetagebuch zeigte, wie sie mit dem Wort ‚verrecken‘ gekämpft hatte. Zuerst hatte sie sterben geschrieben und in Klammern verhungern, verdursten hinzugefügt. Später hatte sie erkannt, dass diese Worte zu schwach waren, um das Elend auszudrücken. Sie hatte sie durchgestrichen und verrecken darüber geschrieben.)

Genau genommen war die Indienreise Petras Idee, sie war die Abenteurerin. Von ihrem Vater, der in jungen Jahren von Italien nach Deutschland gezogen und bald darauf dem natürlichen Charme einer Mannheimerin erlegen war, hatte sie den Nachnamen Polo geerbt. Petra Polo, dieser Name schien sie zu Reisen und Abenteuern zu verpflichten, auch wenn es als eher unwahrscheinlich galt, dass sie mit Marco Polo verwandt war. Jedenfalls meinte das ihr Onkel, ein Geschichtslehrer, der die Ahnenreihe ihrer Familie erforscht hatte.

Während sie in Freiburg auf das Staatsexamen büffelten, kam Petra ihr immer wieder mit Indien: „Wir sitzen hier in einem Elfenbeinturm, wissen nicht, wie die Menschen in anderen Kulturen und anderen Religionen leben.“ Petras Worte hatte sie auch nach siebzehn Jahren noch deutlich im Ohr. „Wenn wir einmal über den Tellerrand hinaus schauen wollen, dann ist das nur direkt nach dem Studium möglich, später sind wir in der Tretmühle von Beruf und Familie gefangen.“

Ja, das hatte sie genauso gesehen. Aber da waren auch noch ihre Eltern. Die Frage, wann sie Mama und Papa in ihre Reisepläne einweihen könnte, trug sie wochenlang mit sich herum und suchte nach einer günstigen Gelegenheit. Schließlich rückte sie in der positiven Stimmung ihrer Examensfeier mit ihrem Wunsch heraus. Sie hatte mit starkem Widerstand gerechnet, war dann überrascht gewesen, als kein Widerstand kam. Sie hätten in ihrer Jugend selbst gern eine solche Reise gemacht, doch leider den richtigen Zeitpunkt verpasst, hatten ihre Eltern mit traurigen Augen erzählt. Genau genommen habe es nur einen möglichen Zeitpunkt gegeben, hatte ihr Vater präzisiert, direkt nach seiner Meisterprüfung.

„Ich habe wunderbare Eltern“, murmelte sie vor sich hin und räkelte sich wohlig in ihrem Bett.

Horst hatte in Berlin Medizin studiert und in seiner Doktorarbeit die zunehmende Verbreitung tropischer Parasiten in Deutschland untersucht. Die Geschichte, wie er zu einem Praktikum nach Südindien kam, hatte sie mehrmals gehört. Er hatte sie ihr erzählt, und sie war dabei, wenn er sie anderen erzählte. Sie klang immer gleich: Während er in Berlin seine Erkenntnisse zusammenschrieb, habe er im tropenmedizinischen Institut einen Vortrag von Professor Rao, einem Gast aus Mysore, gehört. Die geschilderten Fallstudien aus Südindien hätten seinen Horizont gewaltig erweitert. Seine eigene Arbeit sei ihm auf einmal stümperhaft vorgekommen.

Nach dem Vortrag hätten zunächst einige deutsche Professoren den indischen Kollegen umringt und mit ihm gefachsimpelt. Er habe in der Nähe auf seine Chance gewartet. Als Professor Rao einen Augenblick allein gelassen um sich blickte, sei er auf ihn zugegangen, habe ihm von seiner Doktorarbeit erzählt und ihn gefragt, ob er ein Praktikum bei ihm machen könne. Der Inder habe ihm mit freundlicher Miene zugehört und geantwortet, er solle seinen Lebenslauf und die englische Zusammenfassung seiner Dissertation an sein Institut in Mysore schicken, dann könne er in Ruhe eine Entscheidung treffen. Bezahlen könne er ihn nicht, dafür müsse er selbst sorgen, ein Stipendium beantragen. Und dann kam in Horsts Erzählung ein Satz, der ihr im Gedächtnis geblieben war, weil sie ihn blöd fand: „Ich muss wohl nicht erwähnen, dass Professor Rao mich annahm, denn sonst hätten wir uns in Mysore nicht begegnen können.“ Natürlich nicht, und sie hätten sich auch nicht getroffen, wenn der Deutsche Akademische Austauschdienst ihm ein Stipendium verwehrt hätte.

Nachdem er sich in Mysore eingelebt und mit seinen Studien über tropische Parasiten begonnen hatte, machte Horst wahr, was er sich in Berlin vorgenommen hatte: An einem Tag in der Woche begleitete er eine Krankenschwester, die mit der regionalen Sprache Kannada und den Sitten vertraut war, in die umliegenden Dörfer und half ihr die Armen medizinisch zu versorgen.

Er trug die gleiche Kleidung wie seine indischen Kollegen, ein kragenloses Hemd, dreiviertellang und darunter eine lange Hose, beide aus heller, ungefärbter Baumwolle. Auf dem Kopf ein weißes Schiffchen und an den Füßen Flip-Flops. Er hatte sich für dieses Outfit entschieden, nicht weil er sich gleich machen wollte, vielmehr weil er der Ansicht war, dass diese Kleidung sich für das dort herrschende Klima am besten eignete. Sie war das Produkt einer jahrhundertelangen Selektion; auch in der Kleidung galt Spencers survival ft he fittest, davon war er überzeugt.

Ein Ausrutscher hatte Susanne zu Horst geführt. Sie war in Mysore auf unebenem Gelände mit ihrem rechten Schuh in eine Bodendelle geschlittert, war gestürzt und mit einer Platzwunde am linken Knie aufgestanden. Zwar hatten sie Desinfektionsmittel und Verbandsmaterial in ihrem Gepäck, aber die Wunde sah so schlimm aus, dass Petra ihr davon abriet, selbst herumzudoktern. Mist! Sie fragte die erste Einheimische, die ihnen entgegenkam, nach der Adresse eines Arztes. Kurz angebunden sagte die nur „Hospital“ und wies mit der Hand in eine Richtung.

Ein indischer Junge, der sie beobachtet hatte, kam unaufgefordert näher und erklärte in lautem Ton, er kenne den Weg zum Hospital, sie sollen ihm folgen. Susanne schaute dem mageren, ungefähr zwölf Jahre alten Jungen ins Gesicht und wandte sich dann mit einem fragenden Blick an ihre Freundin. Der sehe ehrlich aus, meinte Petra. Darauf lächelte sie den Jungen an und sagte „okay“ und „thank you“.

Mit dem kleinen Fremdenführer vorneweg erreichten sie nach wenigen Minuten das Krankenhaus. Es war ihr klar, dass der Junge sich für seinen Dienst ein Trinkgeld erhoffte. Die Frage war, wie viel? Ob fünf Rupien genug seien, fragte sie Petra. Die nickte; sie solle es mit diesem Betrag versuchen und sehen, wie der Junge reagiere. Er strahlte, also war es eher zu viel.

Sie freute sich mit ihm, wenigstens solange, bis sie in die Eingangshalle trat. Dort wimmelte es von Menschen, von großen und kleinen Patienten und deren Angehörigen, und die Luft roch fett nach Schweiß und Wunden. Mit ihren blonden Haaren und ihren hellen, blaugrauen Augen zog sie stierende Blicke auf sich. Das war ihr unangenehm. Sie beneidete Petra, die mit ihren braunen Augen und braunen Haaren auf die Inder weniger exotisch wirkte. Aber ihre helle Erscheinung hatte den Vorteil, dass eine der Inderinnen an der Rezeption sie bemerkte und, nach Rücksprache mit ihren Kollegen, zu sich winkte. Na dann los. Mit viel „sorry“ und „excuse me“ und reichlichem Körperkontakt bahnte sie sich einen Weg durch die gaffende Menge.

Petra rief ihr nach, sie werde draußen auf sie warten, drinnen würde sie es nicht aushalten.

Wie sie ihr helfen könne, fragte die Inderin. „Disinfection“ sagte sie und deutete auf die Wunde an ihrem Knie. Durch die vielen Menschen und den Lärm war sie so verwirrt, dass sie keinen vollständigen Satz heraus brachte. Die Inderin bewegte ihren Kopf hin und her. Das war gut, denn diese Geste bedeutete in Indien ja. Ja, sie würde hier verarztet werden. Die Dame schien zu überlegen, wie sie vorgehen solle. Schließlich verlangte sie in strengem Ton ihren Reisepass und schrieb ihre persönlichen Daten in zwei oder drei Bücher. Danach rief sie eine Krankenschwester herbei und trug ihr auf, die Weiße zu dem weißen Arzt zu führen.

Sein Anblick - groß, athletisch, in einem weißen indischen Gewand - traf sie wie der Hieb eines Boxers. Ihm sei es ähnlich gegangen, gestand er ihr später. Wärme habe seinen Körper durchströmt, als er in ihre strahlenden Augen blickte. Mit Freude entdeckten sie, dass sie beide aus Deutschland kamen.

Das Bild, wie sie in ihren olivfarbenen Bermuda Shorts auf dem Behandlungsstuhl saß, hatte sie auch nach vielen Jahren noch deutlich vor ihren Augen. Auf seine Frage, ob sie gegen Tetanus geimpft sei, antwortete sie „ja, natürlich“ und kramte ihren Impfpass hervor.

Die Wunde sei weniger schlimm als sie aussehe, sagte er in einem beruhigenden Tonfall; er müsse sie reinigen und desinfizieren, das würde kurz weh tun. Und so war es dann auch. Sie spürte einen brennenden Schmerz, der sich aber schnell in ein wohliges Kribbeln verwandelte, ausgelöst durch die sanfte Berührung seiner Hände, als diese mit einem Heftpflaster die Wunde bedeckte.

Sie bedankte sich für die Behandlung und für die Pflasterstücke, die er ihr zum Wechseln zuschob, fragte dann, wie viel das kosten würde.

Das sei privat und gratis, sagte er und fügte lächelnd hinzu, dass er sie zum Essen einladen möchte.

Auch noch heute, viele Jahre später, schlug ihr Herz schneller, wenn sie an diese Episode dachte. Sie sei zusammen mit einer Freundin hier, erklärte sie ihm mit einer Miene, die ihr Bedauern nicht verbarg. Dann lade er die Freundin auch ein, antwortete er ohne zu zögern, und verabredete sich mit ihr für sechs Uhr am Eingang des Hospitals.

Mit wackeligen Knien war sie zu Petra gelaufen und hatte ihr freudig erregt von dem deutschen Arzt berichtet. Er habe sie beide zum Abendessen eingeladen und wolle sich mit ihnen in zwei Stunden hier am Eingang treffen.

Petra, die gerne selbst die Fäden zog, tat sich schwer, wenn andere für sie entschieden. Sie rümpfte ihre Nase und gab ihre ablehnende Haltung nur zögernd auf. „Petra verdirb mir bitte nicht diesen Abend“, hatte sie in ernstem Ton gesagt, „er ist ein super Typ und wird bestimmt auch dir gefallen.“

Später, als sie Horst gegenüber saßen und mit ihm redeten, seine positive Ausstrahlung und seine ruhige, auf die Menschen eingehende Art wahrnahmen, fand auch Petra, dass Horst ein besonderer Mensch war. Er hatte sie in ein Restaurant geführt, das bekannt war für ein gutes Tandoori chicken und eher auf moderate Art würzte. Scharf genug für ihren Geschmack. Zu trinken gab es Kingfisher, ein in Bangalore gebrautes Bier. Das Hühnchen kam mit Reis, Joghurt und gebratenen Bananen. Einfach köstlich. Was für ein Unterschied zu dem Gericht von Linsen und Reis, das Petra und sie am Abend zuvor in einer offenen Garküche gegessen hatten.

Es gab viel zu fragen - woher, wohin, weswegen? - und viel zu erzählen - die prächtigen Bauwerke, die schönen Landschaften, die Vielfalt der Sprachen und Kulturen. Geradezu zwanghaft tauschten sie ihre Eindrücke aus und versuchten Unfassbares, wie die extreme Armut der meisten Menschen, zu verarbeiten. Frauen, Männer, Kinder, die von der Hand in den Mund lebten, sich hungrig schlafen legten und hofften, am nächsten Tag als Tagelöhner mit Steine schleppen beim Straßenbau ein paar Rupien zu verdienen und sich dann Reis mit Linsen kochen zu können.

Sie waren noch drei Tage in Mysore geblieben, wo sie in einer auf Rucksacktouristen spezialisierten Pension logierten. Tagsüber besuchten sie Sehenswürdigkeiten - den Jaganmohan-Palast und den Sri-Chamundeshwari-Tempel mit der Statue des Stiers Nandi, dem Reittier Shivas, fünf Meter hoch aus einem Monolith gemeißelt. Gigantisch lag er da, mit frischen Blumen geschmückt und von unzähligen Affen umgeben, frechen Makaken, die ständig versuchten, von den Touristen etwas Essbares zu stibitzen.

Die Abende verbrachten sie mit Horst. Er lud sie zu sich ein, in ein zum Hospital gehörendes mehrstöckiges Gebäude, in dem er ein bescheidenes Zwei-Zimmer-Apartment bewohnte. Sie saßen in der Küche und schauten ihm zu, wie er eine Art Pulao für sie zubereitete: Reis und Erbsen kochte, beide in einem Sieb abtropfen ließ, sie dann in eine Pfanne mit Olivenöl gab und zusammen mit Eiern und Gewürzen briet. Durch die Küche flogen fremde Gerüche, die Nase und Gaumen auf das Essen vorbereiteten.

Was das für Gewürze seien, die so gut röchen, fragte sie ihn. Geheimnis-voll lächelnd antwortete er, es sei eine lokale Gewürzmischung, so weit er wisse, seien Pfeffer, Zimt, Nelken, Thymian, Zwiebeln, Ingwer und Koriander darin enthalten.

Das Essen roch nicht nur verlockend, es schmeckte auch lecker. Er sei ein sehr guter Koch, lobte sie ihn, und Petra fügte überschwänglich hinzu, dafür hätte er einen Stern verdient.

Nach dem Essen gingen sie in ein kleines Theater, in dem eine Künstlergruppe aus Kerala zu der Musik von Sitar und Tabla klassischen indischen Tanz vorführte. Zwei Musiker, die wie Vater und Sohn aussahen, setzten sich in bunt bestickten Gewändern auf die Bühne und bearbeiteten mit leidenschaftlicher Hingabe ihre Instrumente, der Ältere zupfte die Sitar und der Jüngere schlug die Tabla. Sie bereiteten den Rahmen für die Kunst der drei Tänzerinnen, die einzeln oder zu zweit auftraten und sich im Lauf des Abends abwechselten. Den Anfang machte eine stark geschminkte, nicht mehr ganz junge Tänzerin. Barfuß, in einem farbenfrohen Sari, den sie wie eine Hose um ihre Beine gewickelt hatte, betrat sie von der Seite die Bühne und tanzte im Rhythmus der Musik mit allem, was sie hatte: Den Beinen, den Füßen, den Armen, den Händen, den Fingern, dem Kopf, den Augen. Susanne war begeistert. Unruhig ruckelte sie auf ihrem Stuhl herum, stupste Petra an und flüsterte ihr zu „das ist faszinierend“. Petra nickte und lächelte; sie kannte Susannes Liebe zum Tanz. Und diese Liebe wollte heraus. Es dauerte nicht lange, bis sie sich von den Tänzerinnen mitreißen ließ und versuchte, deren Bewegungen nachzumachen. Horst schmunzelte, er freute sich über ihr fanatisches Interesse an dieser Kunst.

Am Ende der Vorstellung lockte die Leiterin der Tanzgruppe Susanne mit einem Lächeln zu sich und gestand ihr, dass sie beobachtet habe, wie sie den Tänzerinnen mit Augen und Händen gefolgt sei, ob ihr die indische Tanzkunst gefalle.

Ja, sehr, erwiderte sie, das sei neu für sie, gerne würde sie mehr darüber erfahren, ob sie ihr ein Buch, eine Anleitung empfehlen könne.

Gewiss, sagte die Inderin und nannte ihr das Standardwerk Indian Dancing Art. Das Gespräch endete abrupt, weil andere Besucher sich um die Leiterin drängten. Da war nichts zu machen, nicht einmal danke sagen konnte sie.

Noch in Mysore stöberte sie nach dem Buch Indian Dancing Art, fand es auch, gab es aber nach kurzem Durchblättern zurück. Das sei viel zu kompliziert für sie, erklärte sie dem Buchhändler, sie suche etwas für Anfänger. Darauf brachte er ihr ein Büchlein mit dem Titel Introduction to Indian Dance. Das war mehr nach ihrem Geschmack. Die Neugier brannte in ihr. Zurück in ihrem Zimmer setzte sie sich sofort auf ihr Bett und vertiefte sich in die Ausdrucksmittel des indischen Tanzes, solange, bis sie von Petra hörte, sie gehe ihr mit dem Indian Dancing langsam auf die Nerven.

Dann kam der letzte Abend. Petra blieb in der Pension, hatte Kopfschmerzen - vorgetäuscht, wie sie am nächsten Morgen zugab. Vorgetäuscht, um Susanne in ihrer aufkeimenden Liebe zu Horst nicht im Wege zu stehen oder um allein zu sein mit Filippe, einem Traveller aus Florenz, den sie am Nachmittag in der Pension getroffen hatte? Diese Frage blieb unbeantwortet.

Wahr ist, dass Susanne und Horst sich an diesem Abend näher kamen. Er hatte ihre Wunde untersucht, sie dabei sanft an ihrem Knie berührt, und wieder dieses wohlige Kribbeln in ihr ausgelöst. Dieser Mann hatte magische Fingerkuppen. Insgeheim wünschte sie sich, dass er nicht nur ihr Knie berühren würde.

Nach dem Essen legte Horst eine Schallplatte mit indischer Musik auf und rückte seinen Stuhl neben ihren. Er suchte ihre Hand und schob seine Finger zwischen ihre. Und dann passierte das, wonach sie sich gesehnt hatte: Er streichelte mit den Fingerkuppen seiner rechten Hand die Innenseite ihres linken Arms. Sie zitterte und schämte sich, weil sie ihre Erregung nicht verbergen konnte. Sie küssten sich zart, berührten sich, streichelten sich. Nein, er bedrängte sie nicht, er hatte seine Hände unter Kontrolle.

„Mein Praktikum läuft noch zwei Monate“, sagte er.

Und sie erwiderte: „Wir müssen morgen abreisen, um unseren Rückflug von Bombay nach Zürich zu erreichen.“

Sie gab ihm ihre Adresse. Er versprach, sie sofort nach seiner Rückkehr zu besuchen. Die Stimmung war traurig und mit Gefühlen überladen. Als er sie zum Abschied umarmte und eng an sich drückte, spürte sie etwas Hartes in seiner Hose. Ihn ermunternd rieb sie leicht ihr Becken daran. „Ich liebe dich“, sagte er. Sie schaute ihm prüfend in die Augen, bevor sie „ich liebe dich auch“ säuselte. Nach einem langen Kuss zogen sie sich aus und schliefen miteinander. Kostbare Erinnerungen.

Horst schrieb ihr mehrere feurige Liebesbriefe, die sie in gleicher Weise beantwortete. Von Indien aus bewarb er sich hier am Krankenhaus und bekam umgehend eine Stelle zugesagt. Allerdings war Tropenmedizin hier nicht gefragt, er musste sich auf Orthopädie und Sportmedizin spezialisieren.

Damals lebten ihre Großeltern noch, und sie wohnte bei ihnen hier in diesem Haus, im Dachgeschoss. Dort gab es vier Zimmer, eine Küche, ein Bad und ein WC - genug Platz für sie und Horst, und selbstverständlich wollte sie ihn bei sich aufnehmen, wenn er nun endlich zu ihr kommen würde.

Es sei nicht schicklich, dass sie da oben unverheiratet mit einem Mann zusammenleben wolle, hatte ihre Oma moniert und sich taub gestellt, als Susanne argumentierte, das sei heute anders als früher, neunzehnhundert-achtundsechzig seien mutige Frauen und Männer für mehr Freiheit auf die Straße gegangen. Sie liebte ihre Oma, wollte sie nicht vor den Kopf stoßen, aber sich auch nicht vorschreiben lassen, wie sie zu leben habe. Tagelang hatte sie die Frage, wie sie ihre Oma umstimmen könnte, durch ihren Kopf gewälzt und plötzlich glasklar gesehen, dass sie den Arzt in den Vordergrund rücken musste.

In der Küche, als sie das Abendessen vorbereiteten, hatte sie einen Arm um die Oma gelegt und gesagt: „Es wäre doch für dich und Opa gut, einen Arzt im Haus zu haben.“

Dieser Satz wirkte wie ein Virus. Innerhalb von wenigen Tagen weichte er die moralischen Bedenken der Oma auf. Und Horst sollte Oma und Opa nicht enttäuschen. Er kümmerte sich rührend um die Gebrechen der beiden Alten, ihre Gelenkschmerzen und den lahmenden Stuhlgang.

Susanne und Horst begannen als Wohngemeinschaft, beide mit einem eigenen Zimmer. Nach wenigen Tagen sahen sie ein, dass getrennte Räume nicht viel Sinn machten, wenn sie Nacht für Nacht ihre Nähe suchten und zusammen in einem Bett schliefen. Sie richteten ein gemeinsames Schlafzimmer ein und ein Arbeitszimmer mit zwei Schreibtischen, ein Esszimmer und ein Wohnzimmer mit Couchecke, Bücherregal, Musikanlage und Fernsehgerät. Und sie teilten die Arbeiten auf: Horst kochte und spülte das Geschirr, sie kaufte ein, wusch und bügelte die Wäsche. Blieb noch das Putzen. Beide gehörten nicht zu den Menschen, die gerne schrubbten, wischten und saugten. Zu ihrem Glück konnten sie Elvira, die Putzhilfe der Großeltern, für diesen Job engagieren.

Ihr Leben in Sünde, wie ihre Oma es nannte und deswegen für sie um Vergebung betete, dauerte nur ein paar Monate. Sie und Horst waren von ihrer Liebe überzeugt, wollten eine Familie gründen. Nach der Hochzeit setzte sie die Pille ab. Ein Jahr später gebar sie einen Sohn. Wir könnten ihn Mysore nennen, hatte Horst vorgeschlagen. Sie hatte gelacht. Nein, Mysore klang ihr zu exotisch. Sie wollte einen Rufnamen, der keine lästigen Fragen herausforderte. Horst verstand ihr Argument. Sie entschieden sich für Florian und setzten Mysore an die zweite Stelle: Florian Mysore Edel.

Susanne du solltest jetzt aufstehen, ermahnte sie sich, blieb aber liegen, gefesselt von der Erinnerung an Horst. Sex mit Horst war grandios. Er war der erste Mann, der sie zum Schreien brachte. Was für Hände, muskulöse Pranken, die zupacken konnten, und zarte Fingerkuppen, die wie Seide über ihren Körper glitten.

Sie war süchtig nach seinen Händen. Ihre Schwäche nützte er schamlos aus, leistete sich Affären, im Kopf den Macho-Spruch: Die Eine habe ich sicher, dann sehe ich mich mal nach anderen um. Als sie ihn wegen seiner Untreue zur Rede stellte und fragte, was da ablaufe, wenn er angeblich Nachtdienst habe, reagierte er verstimmt und berührte sie zwei Wochen lang nicht. Das seien harmlose Liebeleien, behauptete er. Sie solle keinen Aufstand machen. Sein Herz gehöre nur ihr.

Sie verzieh ihm wieder und wieder. Dumm wie sie war, suchte sie eine Entschuldigung für seine Untreue, redete sich ein, dass es für einen Arzt vielleicht schwierig sei zu widerstehen, wenn Frauen sich an ihn heran- schmissen, ihn anhimmelten und sich untersuchen lassen wollten. Angehimmelt werden, das war es, wonach er gierte. Auch sie hatte ihn angeschwärmt, hatte versucht ihm alles recht zu machen, war auf jeden seiner Wünsche eingegangen. Aber mit den Jahren flaute ihre Bewunderung ab.

Über sein Kind mit Gabi, einer Krankenschwester mit vollem Busen und schmalen Hüften, die ihm bei seinen Operationen assistierte, wollte sie nicht hinweg sehen; es blieb nur die Scheidung. Wenn sie daran dachte, stieg noch heute Wut in ihr hoch: Dieser Scheißkerl! Er hat alles kaputt gemacht. Am liebsten hätte sie ihm seinen Namen zurückgegeben und wieder ihren Mädchennamen angenommen. Nur aus einem Grund tat sie das nicht: Sie wollte nicht anders heißen als ihr Sohn.

Mit viel Adrenalin in der Blutbahn rollte sie sich aus dem Bett, zog ihren Morgenmantel an und schlich in die Küche. Während sie das Frühstück für Florian und sich richtete, verflog ihr Zorn.

Florian hatte seine Mutter gehört und kam im Schlafanzug in die Küche geschlappt.

„Spielen wir heute Tennis?“

„Guten Morgen. Ja, Sabine und Lea kommen auch.“

Im Tennis-Club Schwarz-Weiß 1963 war Susanne seit ihrer Jugend Mitglied, Florian seit zwei Jahren. Noch vor ein paar Monaten, im Winter in der Halle, hatte sie im Spiel mit ihm die Oberhand behalten, doch in letzter Zeit verlor sie immer öfter, war der wuchtigen Spielweise des mittlerweile ein Meter neunzig großen und zweiundachtzig Kilogramm schweren Jünglings nicht gewachsen. Um das Spiel für ihn interessant zu halten, hatte sie schon mehrmals ihre Freundin Sabine zusammen mit deren siebzehnjähriger Tochter Lea zu einem Doppel eingeladen. Wenn Susanne mit Lea gegen Sabine und Florian antraten, war das Ergebnis offen und das Spiel spannend. Einmal spielten sie jung gegen alt; kein guter Einfall, wie sich schnell herausstellte, denn Lea und Florian fegten Susanne und Sabine mit sechs zu null und sechs zu eins vom Platz.

Lea war hübsch und Florian nicht blind für ihren hüpfenden Busen und ihren runden Po. Er verknallte sich in sie, erkannte aber schnell, dass er mit seinen Gefühlen für Lea nicht allein war; nahezu die Hälfte der männlichen Jugend des Städtchens rannte hinter ihr her. Oh Lea! Sie hatte er vor Augen, wenn ihn nachts sein Testosteron plagte.

Geduscht und umgezogen gingen sie ins Restaurant des Tennisclubs, das, wie meistens am Sonntag um die Mittagszeit, gut besetzt war, besetzt mit Susannes Bekannten, so schien es, denn Sie wurde von einigen gegrüßt, grüßte zurück, hielt hier und dort ein Schwätzchen und brauchte eine Weile, bis sie Sabine, Lea und Florian zu dem reservierten Tisch am Fenster folgen konnte. Zum Essen wählten alle den Salatteller mit gegrillten Putenstreifen, Florian zusätzlich eine Portion Pommes frites. Dass Lea von seinen Pommes nahm, machte ihn glücklich. Aber dieses Glücksgefühl hielt nur kurze Zeit an, nur solange, bis Sabine erzählte, dass Lea für ein Jahr in die USA, an eine High-School in Nashville, gehen werde.

Das sei fantastisch, sagte Susanne und gratulierte Lea. Das werde ihr Leben bereichern. Sie sei ja sehr sportlich, das käme dort gut an. Und dann quoll eine Frage nach der anderen aus Susanne heraus: Wann sie fliegen werde? Wo sie in Nashville wohnen werde? Ob sie ein Stipendium bekommen habe?

Ende August werde sie losdüsen, antwortete Lea. Ihr Vater habe für sie einen Direktflug von Zürich nach Washington D.C. gebucht. Er werde sie dort am Flughafen abholen und im Auto mit ihr zu ihrer Gastfamilie nach Nashville fahren. Ein Stipendium habe sie beantragt, sei aber auf nächstes Jahr vertröstet worden, weil ihr Antrag für dieses Jahr zu spät eingegangen sei. Erleichtert fügte sie hinzu: Papa werde alles bezahlen.

Wenn es um die Ausbildung seiner Tochter gehe, greife er tief in die Tasche, erläuterte Sabine.

Um auch über ihren Sprössling etwas Neues zu berichten, erzählte Susanne, dass Florian zusammen mit seinem Freund Max ein Verfahren zur Nutzung von Windenergie in kleinen Anlagen entwickele und diese Erfindung bei der Stiftung Jugend forscht einreichen wolle. Sabine und Lea nickten Florian bewundernd zu. Aber mehr kam nicht. Über seine Ideen und Erkenntnisse wollten sie nichts wissen.

Mit Technik kann man bei Frauen nicht punkten, lernte Florian. Vielleicht sollte ich ein Gedicht schreiben, grübelte er, oder einen Rap. Meinen Rap. Ja, die ersten Zeilen hatte er schon seit Wochen im Kopf:

Unterdrückt, unterdrückt,

langsam werd‘ ich wohl verrückt,

bin alles andere als entzückt.

Mehr war ihm noch nicht eingefallen.

Am Nachmittag besuchte Florian seinen Vater und dessen neue Familie, mit seiner Halbschwester Moni, die ganz vernarrt in ihren großen Bruder ist. Kaum sei er in der Tür, erzählte er, schleppe sie ihre Bilderbücher an und wolle, dass er sie zusammen mit ihr anschaue und ihr den Text vorlese. Sie sei eine Klette.

Gabi, die neue Frau seines Vaters, akzeptierte er immer noch nicht, obwohl die sich seit Jahren bemühte, ihn zu verwöhnen, seinen Lieblings-kuchen, zurzeit Himbeertorte, zu backen, auf seine Interessen einzugehen und bei einem Zwist seine Partei zu ergreifen.

Zu seinem Vater hatte er ein gutes Verhältnis, traf ihn auch jede Woche im Leichtathletikverein, wo er Speerwurf trainierte und Dr. med. Horst Edel, selbst ein guter Speerwerfer, die Jugendabteilung medizinisch betreute.

Einmal im Monat, wenn er sein Taschengeld bekam, hörte er von seinem Vater die Frage, wie es ihm in der Schule gehe, und gab immer die gleiche Antwort: Gut, keine Probleme. Er gehörte zu den Schülern, die im Unterricht aufpassten. Seine Mutter hatte ihm erklärt, dass er viel weniger zu Hause nacharbeiten müsse, also mehr Freizeit habe, wenn er sich in der Schule konzentriere. Ein guter Schüler war er nicht. Er interessierte sich für Mathematik, Physik, Chemie und Sport. In den anderen Fächern - den Muschi-Fächern, wie er sie nannte - arbeitete er nicht mehr als unbedingt nötig. Da konnte Susanne noch so viel reden.

Allein zurückgeblieben hatte Susanne Zeit sich auszuruhen und den fehlenden Schlaf nachzuholen. Als sie um vier Uhr aufwachte, kochte sie mit ihrer einfachen italienischen Espressomaschine, ihrer La Bomba, einen starken Kaffee. Mit der dampfenden Tasse setzte sich an ihren Schreibtisch. Sie liebte ihren Beruf, sah sich als Lehrerin mit Verstand und Herz, hart in der Lehre aber wohlwollend im Umgang mit den Lernenden. Sie schaute auf ihren Stundenplan und ging im Geist durch, welchen Stoff sie morgen in welcher Klasse zu unterrichten hatte. In der siebten Klasse unregelmäßige Verben in Englisch und indirekte Rede in Deutsch. Für beide Themen musste sie sich nicht groß vorbereiten. Sie hatte die Arbeitsbögen aus dem letzten Jahr. Die las sie jetzt durch.

Spannend waren sie nicht, die unregelmäßigen Verben, aber die Schüler mussten sie lernen. Um den Lernwillen zu steigern, griff sie seit Jahren zu Zuckerbrot und Peitsche, verpackte die Verben in kleine jokes (an elephant built a nest in a rhubarb tree, I saw the nest, the elephant sat there) und kündete für eine der nächsten Stunden einen Test an.

In der elften Klasse hing sie im Deutschunterricht bei Goethe und Faust, schon die sechste Stunde Goethe und Faust. Eine heikle Situation hatte sie in der letzten Woche zu bestehen: Als sie an die Textstelle Du fingst mit einem heimlich an, / Bald kommen ihrer mehre dran, / Und wenn dich erst ein Dutzend hat, / So hat dich auch die ganz Stadt/ kamen, meldete sich Sonja Futterknecht, eine selbstbewusste Achtzehnjährige, und sagte aufgebracht, dass sie diesen Text für einen frauenfeindlichen Mist halte, zumal von jemand wie Goethe, der nachweislich selbst Mädchen verführt habe. Beate Brehmer, Tochter eines Informatikprofessors, und andere Schülerinnen schlossen sich Sonja an.

Was sollte sie darauf erwidern? Sie hatte einen Moment nachgedacht und dann gesagt, das Wort Mist wolle sie im Zusammenhang mit Goethes Dichtung nicht hören. Frauenfeindlich, ja, aus heutiger Sicht könne man das so sehen wie Sonja, aber man müsse diesen Text im Spiegel jener Zeit verstehen. Frauen seien vor zweihundert Jahren nicht emanzipiert gewesen, und an eine sexuelle Revolution habe noch niemand gedacht, nicht einmal im Traum. Richtig zufrieden war sie mit ihrer Antwort nicht.

In der Pause waren Sonja, Beate und zwei andere Schülerinnen aufeinander zugegangen und hatten so laut debattiert, dass Susanne nicht weghören konnte: Dass bald mehrere dran kämen, wenn man mit einem heimlich anfange, sei eine infame Unterstellung. Und dann gleich zwölf, und dann die ganze Stadt, das sei doch krank.

Susannes Vorbereitung lief heute zäh. Sie ärgerte sich ein bisschen, dass sie immer wieder abschweifte - zu Johann. Er schien normal zu sein und vielleicht bereit, das Glück mit ihr zu versuchen. „Definitely perhaps“, sagte sie und lächelte. Als Englischlehrerin kannte sie diesen widersinnigen Ausdruck.

Wie wäre mein Leben verlaufen, wenn ich in Mysore nicht gestolpert wäre? Diese Frage hatte sie sich schon oft gestellt, hatte sie hin und her gedreht und war immer zum gleichen Ergebnis gekommen: Anders wäre es verlaufen, vielleicht besser, vielleicht schlechter. Ihren Ex-Mann Horst, diese treulose Wildsau, hätte sie nicht kennen gelernt, aber eben auch nicht den wunderbaren Sex mit ihm erlebt. Und Florian gäbe es nicht. Dafür vielleicht eine Tochter oder eine Tochter und einen Sohn. Bislang erspart geblieben war ihr ein gewalttätiger Mann. Sie verachtete Männer, die Frauen schlugen.

Ein zerrissenes Leben

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