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VIER

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Wenige Stunden später weckte jämmerliches Jaulen von jenseits der Straße. Es musste gegen 9.00 Uhr sein, genau die Zeit in der der zottelige Labrador von Gegenüber seine Alphatierchen zu einem Spaziergang zu animieren pflegt. Das passte hervorragend zu dem Kater, der sich hinter meiner Denkerstirn breit gemacht hatte. Es war ein kühler Frühlingstag, die Sonne stand niedrig am Himmel, die ersten Schwalben machten vor dem Fenster Jagd auf vorwitzige Insekten. Der Hund hatte aufgehört zu bellen und friedliche Stille machte sich breit. Eigentlich ein Morgen geschaffen für gute Laune, Frühstück im Bett, Croissants mit viel Marmelade, aber die Stiche in der Magengegend erinnerten mich düster daran, dass ich wohl nicht mehr allzu viele Tagesanbrüche würde feiern können. Nun ja, Krümel im Bett mag ich nicht, Croissants machen nur dick und für gute Laune gab es bei Licht betrachtet auch nicht viel Anlass. Ich warf eine Aspirin und zwei Malaaxil ein, in der Hoffnung, dass die Schmerzen auch dieses Mal wieder rasch verschwinden würden, und überlegte, wie ich den Tag beginnen sollte. Joggen gehen? Man sagt ja, Sport fördere die Abwehrkräfte des Körpers. Aber bei meinen bisherigen Trainingsprogrammen hätte ich dann ein Anrecht auf ein Alter von mindestens 102 Jahren haben müssen. Wozu also die Quälerei? Kurz bevor ich mich endgültig dem Selbstmitleid hingeben konnte, wurde mir bewusst, dass ich ja Damenbesuch hatte. Höchst attraktiven Damenbesuch sogar, der mir im Übrigen noch 200 Piepen für nicht erbrachte Dienstleistungen schuldete. Was soll’s? Wenn man es mal objektiv betrachtete, hatte ich gestern einen kinoreifen Abend verbracht, einschließlich Schlägerei, Verfolgungsjagd und Schusswaffengebrauch. Da war der Preis doch wohl angemessen. Kann man zynischer sein?

Ich riet dem Kerl im Spiegel, aus dem Dreitagebart einen Viertagebart werden zu lassen, um von den müden Augen und den hängenden Mundwinkeln abzulenken. Mein Gott, ich sah genauso scheiße aus, wie ich mich fühlte. Dann gab ich mir einen moralischen Fußtritt und sah zu, dass ich ein vernünftiges Frühstück auf den Tisch bekam. Was eine ordentliche Herausforderung darstellt, wenn der Kühlschrank leer ist. Also machte ich mich auf in die Stadt. Ich wollte schon den Hummer aus der Garage holen, als mich der zerschossene Seitenspiegel daran erinnerte, dass ein so ausgefallenes Fahrzeug heute wohl besser den Blicken verborgen bleiben sollte. Stattdessen ging ich davon aus, dass mir mein Freund Paco nicht nur die Garage, sondern sicher auch einen seiner vielfältigen fahrbaren Untersätze leihweise zur Verfügung stellen würde. Da Paco abwesenheitsbedingt nicht widersprechen konnte, suchte ich an den naheliegenden Stellen nach den Fahrzeugschlüsseln und wurde nach ein paar Minuten schließlich fündig. An einem Bord mit der sinnfälligen Aufschrift „Llars“ hingen zwei Paare, die sich rasch als Schlüssel für den Quad und den Mini-Cooper erwiesen. Für den Quad war es mir zu kalt, also nahm ich den Mini und düste die kleinen Straßen von meiner Urbanización hinunter in die Stadt. Auf Höhe des Friedhofs – wie passend – verpasste eine der in Spanien so beliebten Asphaltschwellen mir einen Schlag in den Unterleib und dem Mini einen halben Achsenbruch. Danach versuchte ich gesitteter zu fahren, auch wenn das hieß, alle 50 Meter auf 30 km/h herunterzuschalten, um der nächsten banda sonora angemessen guten Tag sagen zu können. Der Hummer hätte diese Art der Geschwindigkeitsregulierung glatt ignoriert. Ich liebe fette Autos.

Bei dem einzigen französischen Bäcker im Ort kaufte ich Baguette, Croissants und eine barca, eine Blätterteigpastete mit Schokoladenfüllung und vermutlich 5000 Kalorien, ein. Ausgeglichen wurde der gesundheitlich bedenkliche Auftakt mit frischer Ananas und Melone. Als Montse schließlich kurz vor Mittag aus dem Bett kroch und im Bad verschwand, hatte ich ein Frühstück bereitet, wie es einer Prinzessin Ehre erweisen würde, einschließlich frisch gepresstem Orangensaft und schwarzem Kaffee, der die Konsistenz von Schmieröl hatte und vermutlich einen eben solchen Geschmack aufwies, da ich von Kaffeekochen definitiv keine Ahnung habe. Das Frühstück begann mit beredtem Schweigen. Nach alter Journalistenmanier hielt ich den Mund und wartete darauf, dass Montse den ersten Schritt tat. Fast zehn Minuten lang starrten wir jeweils imaginäre, weit entfernte Punkte an. Meine Schöne war mit ihren Gedanken ganz offensichtlich Lichtjahre weit entfernt unterwegs.

„Erde an Montse: bist Du da oder im Weltall verschollen?“

Offensichtlich hatte sie die Sprechfunkanlage eingeschaltet, denn auf einmal lächelte sie mich zärtlich an, nahm meine Hand und küsste mich auf die Wange.

„Danke. Danke, dass Du mich aus der Scheiße geholt hast. Danke, dass Du Deinen Kopf für mich hingehalten hast. Danke, dass ich diese Nacht bei Dir bleiben durfte.“

Ich strich ihr zärtlich über den Kopf und küsste sie auf die Stirn.

„Gern geschehen. Na ja, was hätte ich denn auch sonst tun sollen?“

„Abhauen zum Beispiel. Warum wegen einer Nutte, die Dich auch noch um Deinen Spaß betrogen hat, Kopf und Kragen riskieren.“

„Stimmt. Wäre eine Möglichkeit gewesen.“

„Und warum hast Du es nicht getan?“

Die Frage hatte ich mir auch schon gestellt. Reines Rittertum? Humanistische Erziehung? Volltrunkenheit? Schon möglich. Wahrscheinlicher aber war wohl, dass ich mich Hals über Kopf in diese schöne junge Frau, die mir gänzlich unbekannt war, verschossen und daher rein testosterongesteuert reagiert hatte, als hätte ich wirklich noch Zeit für eine neue Beziehung. Das konnte ich ihr aber wohl schwer erklären. Also versuchte ich es mit einer meiner berüchtigten lockeren Sprüche.

„Weil ich doch keine Prinzessin in den Klauen des Bösen zurück lassen kann. Das hat mir jedenfalls mein Vater einmal beigebracht.“

Montse lächelte – das war zumindest eine freundlichere Reaktion als ich es sonst gewohnt war. Gewöhnlich lösen meine Sprüche eher gequältes Lächeln oder Augenverdrehen aus.

„Na, dann danke ich Deinem Vater für Deine gute Erziehung.“

Mit langsamen Kreisen bestrich sie gerade ihr drittes Croissant mit Erdbeermarmelade, während ich nicht einmal ein erstes Stück Baguette verdrückt hatte. Danach betrachtete sie das Ergebnis nachdenklich, als wolle sie die Zahl der Kalorien scannen. Das Ergebnis fiel zu Gunsten des Croissants aus – entweder hatte Montse die letzten drei Wochen nichts mehr gegessen oder sie gehörte zu den beneidenswerten Geschöpfen, die essen können, so viel und was sie wollen, ohne ein Gramm Fett anzusetzen. Ich jedenfalls gehöre nicht dazu. Gutes Essen und Trinken haben bis jetzt einen wichtigen Part in meinem Leben eingenommen und nur regelmäßiges Lauftraining hat dazu beigetragen, dass ich nicht aus dem Leim gegangen bin. Dem dritten Croissant folgte die Hälfte der Blätterteigpastete.

„Ich habe nachgedacht. Über das, was Du gestern gesagt hast.“

„Hm, ich sage viel, wenn der Tag lang ist.“

„Naja, dass man mir den Scheiß mit den geheimen Informationen abgenommen hat.“

„Und?“

„Vielleicht hast Du Recht und die Lebensversicherung ist doch nicht so viel wert, wie ich gedacht habe.“

Zustimmendes Grunzen meinerseits.

„Ich meine, vielleicht haben sie mir bisher geglaubt und ändern jetzt ihre Meinung. Und morgen steht dann jemand im Supermercado hinter mir und rammt mir ein Messer in den Rücken. Vielleicht suchen sie jetzt schon die ganze Gegend nach mir ab und stehen in ein paar Minuten vor Deiner Tür.“

Unwillkürlich musste ich nach draußen schauen. Auf der Straße schlich langsam ein silbergrauer Seat entlang, bog dann aber in die Tiefgarage ein und verschwand darin. Es war einer meiner Nachbarn. Paranoia ist offensichtlich höchst infektiös.

„Sortieren wir mal die Fakten: Du bist mit einer Reihe höchst brisanter Informationen abgehauen. Offensichtlich hat man Dich geschnappt, aber das Material nicht gefunden. Korrekt?“

„Correcto. Ich habe es nicht einmal bis zum Bahnhof von Montpellier geschafft. Als ich aus dem Taxi stieg, haben mich zwei von Philippes „Freunden“ gepackt und in ein Auto mit laufendem Motor gezerrt.“

„Und dann?“

„Haben sie mich zum Essen eingeladen. Nein, irgendwo auf einem Parkplatz haben sie angehalten, mir ein paar Ohrfeigen verpasst, meine Sachen durchwühlt und als einer seine Pistole herausholte und den Schalldämpfer aufsetzte, habe ich gedacht „das war’s jetzt wohl“.

„Und dann hast Du die Sache mit den Informationen und Deinem Freund, der darüber wacht, erfunden.“

„Was anderes fiel mir nicht ein, ich war gerade etwas in Hektik“ gab Montse sarkastisch zurück.

„Das Verrückte dabei ist: wenn sie das Buch gefunden und seinen Inhalt erkannt hätten, wäre ihnen bewusst gewesen, dass Deine kleine Geschichte nicht stimmt.“

Tienes razón. Stimmt. Dann wäre ich nicht hier, sondern würde inzwischen irgendwo an der Autobahn vergammeln.“

„Immerhin haben sie Deiner Geschichte wenigstens soweit geglaubt, dass sie Dich nicht sofort umgelegt haben.“

„Schön, dass Du der Sache jetzt auch etwas Positives abgewinnen kannst.“

„Warum glaubst Du, hat man Dich an die Russen verschachert? Die ETA hat doch bestimmt genug Möglichkeiten, Gefangene zu verstecken.“

Sí, claro. Aber glaub mir: die Russen haben viel Erfahrung damit, wie man mit Frauen umgeht und sie gefügig macht.“

„Haben Dich die Kerle wirklich, nun ja, ich meine …?“

Völlig falsche Frage, Sensibilitätsfaktor null. Montse biss sich auf die Unterlippe und schwieg. Schließlich antwortete sie:

„Du meinst, ob ich die Beine breit gemacht habe. Ich glaube nicht, dass Dich das etwas angeht.“

„Entschuldige, das war eine ziemlich dumme Frage. Aber um bei Deiner Geschichte zu bleiben, hättest Du doch den großen Unbekannten regelmäßig anrufen oder informieren müssen, dass es Dir gut geht, damit er die Sachen nicht zur Polizei schickt.“

„An diesem Punkt waren wir wohl noch nicht angekommen.“

„Wenn Du telefoniert hättest, hätten sie über die Nummer den Kontakt ermitteln und dann ausschalten können. Wie sollte das alles laufen?“

Jetzt wurde Montse langsam wütend.

Lo siento, aber an dem Teil des Plans hatte ich noch zu arbeiten. Ich weiß auch, dass die Sache löchrig wie ein Schweizer Käse ist, aber immerhin hat es gereicht, dass ich noch am Leben bin.“

„Und ich möchte, dass das noch lange so bleibt.“

Montse schaute mich nachdenklich an und lächelte dann.

„Danke, Jan.“

„Möchtest Du meinen Rat?“

Sie nickte.

„Mit Deiner List hast Du Dir ein wenig Zeit erkauft. Die Gangster waren entweder sehr dumm oder sehr schlau, Dich nicht umzubringen. Wahrscheinlich ist, dass sie erst Anweisungen von oben haben wollten, für den Fall, dass an der Sache etwas dran ist. Deshalb hat man Dich an die Russen zur Verwahrung gegeben.“

Montse hatte die Knie auf ihrem Stuhl angezogen und hielt sie mit den Armen umschlungen. Sie nickte.

„Das Problem ist, dass alles was Du an Beweisen und Informationen in Händen hast, eine geringe Halbwertszeit hat.“

„Wieso das?“

„Ganz einfach. Du hast eine Liste der sicheren Häuser und Sprengstofflager – die gibt man auf oder verlegt sie. Die Namen der Hierarchie: interessant, vielleicht weiß man jetzt nach wem man sucht, aber man weiß deshalb nicht, wie die Verbrecher aussehen und wo sie sich verstecken. Die ausgespähten Ziele: das ist noch am interessantesten, aber wenn es der ETA hier zu brenzlig wird suchen sie sich irgendwo anders neue Opfer; daran fehlt es ihnen ja nicht.“

„Du meinst, sie brauchen nur etwas Zeit, um sich neu zu organisieren, und dann …“

„… kannst Du Deine Listen auch in der L’Avanguardia abdrucken lassen. Nur dass es niemanden mehr interessieren wird.“

„Mit anderen Worten: meine Lebensversicherung ist für den Arsch.“

„Sagen wir es so: heute ist sie noch was wert, wie es morgen aussieht weißt Du nicht, übermorgen, naja, übermorgen brauchst Du einen anderen Plan.“

„Plan B liegt auf der Hand – ich muss hier weg.“

„Wahrscheinlich wäre es das Beste. So schnell und so weit wie möglich.“

Montse dachte eine Weile nach und verdrückte dabei den Rest der caña. Wenn Angst und Hunger konkurrierende Elementartriebe des Menschen sind, hatte hier klar Letzterer die Oberhand.

Zwischen zwei Bissen murmelte sie:

„Kuba.“

„Kuba?“

„Da spricht man Spanisch und ich habe Verwandte in Havanna. Außerdem hat Philippe immer von der sozialistischen Revolution geschwärmt, da ist es doch vernünftig, wenn ich mir das mal in der Realität ansehe.“

„Apropos Philippe. Was ist mit ihm?“

Montses Miene verfinsterte sich.

„Ich weiß es nicht und um ehrlich zu sein, ich will es auch gar nicht wissen. Nachdem ich versucht hatte, mich abzusetzen, wird man ihn wohl nicht mehr für zuverlässig halten. Wahrscheinlich wird er irgendwo in einem Wäldchen mit einer Kugel zwischen den Augen vermodern. Aber noch wahrscheinlicher ist, dass er weniger Glück gehabt hat. Die ETA hat ihre eigenen Methoden mit Verrätern abzurechnen – und solchen, die sie dafür halten.“

Irgendwie verspürte ich kein gesteigertes Interesse, die näheren Details zu erfragen – jedenfalls nicht während des Frühstücks. Also wendete ich mich praktischeren Fragestellungen zu.

„Also gut: Wie geht es weiter?“

„Zunächst muss ich mir etwas Geld beschaffen.“

„Beschaffen …?“ Ich dehnte das Wort wie ein Gummiband.

„Na klar, Du weißt schon. Ab in die nächste Bank, Strumpfmaske, Pistole im Anschlag, alle hinlegen – Überfall, 2 Millionen in die Handtasche packen, mit dem Fahrrad zum Airport und ab nach Havanna. Ein Kinderspiel – habe ich schon oft gemacht.“

An meinem säuerlichen Gesichtsausdruck war abzulesen, dass ich mich ausgiebig verarscht fühlte – und das ist etwas was ich wirklich nicht ausstehen kann. Montse begriff, dass sie den falschen Ton erwischt hatte.

„Entschuldige. Während der Jahre in Montpellier habe ich regelmäßig Geld nach Hause geschickt. Wie ich meine Großmutter kenne, hat sie nichts davon ausgegeben, sondern alles für mich in Aktien und Immobilien angelegt.“

„Na, dann wollen wir hoffen, dass es keine Anleihen von Lehmann Brothers waren. Im Ernst: Was das Geld angeht …“

„Ja, ja, ich weiß, “ fuhr sie mir unwirsch ins Wort, „Keine Sorge. Du bekommst Deine 200 Bums-Euros wieder.“

„Kannst Du mir vielleicht eine Minute zuhören, ohne mich anzuschnauzen oder zu veralbern? Wenn ja, dann darfst Du zur Kenntnis nehmen, dass mich die Kohle nicht interessiert. Ich wollte Dir eigentlich nur sagen, dass ich Dir mit etwas Geld aushelfen kann, wenn Du … naja, wenn es halt knapp werden sollte.“

Es folgte betretenes Schweigen. Jeder von uns fixierte einen Punkt irgendwo 10000 Lichtjahre entfernt an und wartete darauf, dass der Klügere nachgibt. Und so kam es auch.

„Es tut mir leid, Jan. Das ist total lieb von Dir, vor allem wenn man bedenkt, in welchen Schlamassel ich Dich herein gerissen habe. Ich bin eine dumme Ziege, aber es ist halt so lange her, dass ein Mann einfach nur nett zu mir gewesen ist.“

„Entschuldigung angenommen. Ich verstehe schon, dass Du es nicht gerade einfach gehabt hast.“

„Du hast weiß Gott genug für mich getan und Deinen Hintern riskiert. Ich muss aber mit den Problemen und den Mist, den ich gebaut habe, selber klar kommen. Ich möchte Dich daher nur noch um einen letzten Gefallen bitten.“

Eine halbe Stunde später waren Montse und ich im Mini Cooper in Richtung Vilamaniscle unterwegs, in das kleine Dorf in der Sierra de Albera, in dem ihre Großmutter einen kleinen Hof betrieb. Unter den Sachen, die meine Ex-Frau zurückgelassen hatte, hatte sich ein buntes Strickkleid gefunden, dass Montse leidlich passte. Um ehrlich zu sein, fand ich es hinreißend, da es genau an den Stellen etwas knapp saß, die die Blicke eines normal empfindsamen Mannes als erstes anziehen.

Von Roses aus nahmen wir die Landstraße, die sich an den Hängen der Sierra entlang Richtung französische Grenze schlängelt. Der Himmel war mit Federwolken getupft und der erste Klatschmohn leuchtete in den Olivenhainen auf. Bis Vilajuega hing jeder seinen Gedanken nach, so dass ich um ein Haar die Ausfahrt in Garriguella verpasst hätte. Wir durchquerten den kleinen Flecken mit seiner turmartigen Kirche, ließen die Schildkrötenfarm rechts liegen und folgten der Beschilderung, die den Weg zum alten Kloster San Quirze de Colera weiß. Unser Ziel lag auf halber Strecke.

„Was wirst Du jetzt machen?“ brach Montse schließlich das Schweigen. Ich zuckte die Schultern.

„Ich weiß nicht. Abhängen, in den Tag leben, Jungfrauen aus Not retten, mal sehen. Ein paar Wochen bleibe ich noch hier.“

„Und dann.“

„Gehe ich an einen anderen Ort.“

„Deine Unabhängigkeit möchte ich haben.“

Unsere Ankunft auf dem Hof ersparte mir jeden Kommentar und das war auch gut so. Montse war erst vor wenigen Stunden in mein kümmerliches Restleben geplatzt, hatte es gut umgerührt und würde es heute wieder verlassen. Kein Grund, meine Lebensgeschichte mit ihr zu teilen – obwohl ich es gerne getan hätte.

Die Masia war sehr klein, sehr alt, machte aber einen ausgesprochen gepflegten Eindruck. Die Fensterläden waren frisch gestrichen, die Blumenkästen mit den ersten Geranien bepflanzt, so dass der Eindruck entstand, man sei in den Alpen. Ziegen weideten in einem kleinen Pferch neben der Scheune. Eine schwarzweiße Katze kuschelte sich an die Seite eines ebenso grauen wie alten Hofhundes unbestimmbarer Abstammung, der sich die Streicheleinheiten offenbar gerne gefallen ließ und träge mit dem dürren Schweif wedelte. Perfekte Idylle. Montse war noch nicht ganz aus dem Mini gestiegen, als die Tür aufflog, ein kleiner Blondschopf her­ausschoss und sich ihr in die Arme warf.

Abuela, Abuela, schau wer das ist! Montse ! Montse ist wieder da!

Montse ließ den Jungen an ausgestreckten Armen rotieren.

„Das ist Dani, mein Neffe“, erklärte sie mir ganz außer Atem.

„Und dann ist das sicher Deine Großmutter.“

Montse drehte sich um. Die Frau, die aus dem Haus getreten war und sich die Hände an einem Geschirrtuch abtrocknete, mochte sicher an die 80 Jahre sein. Trotz ihres Alters und der traditionellen schwarzen Tracht der Witwen hielt sie sich kerzengerade und ihre stolze Haltung ließ keinen Zweifel aufkommen, dass sie sich Respekt zu verschaffen wusste. Im Gegensatz zu Dani schien sich ihre Freude über die unverhoffte Wiederkehr der Enkelin in Grenzen zu halten.

„Ja, das ist meine Großmutter“ und der Unterton, mit dem Montse dies sagte, verriet, dass auch ihr bei diesem Familientreffen wohl nicht ganz wohl war. Ich hatte nicht vor, weitere Persönlichkeitsanalysen vorzunehmen und da ich zudem Abschiedsszenen hasse, sagte ich rasch:

„Tja, es scheint als würden sich unsere Wege hier wohl trennen.“

„Ja, das ist wohl so.“

„Sehen wir uns wieder?“

Montse lächelte mich an. Ich glaubte, ein bisschen Wehmut in ihrem Blick zu sehen. Ich hoffte es wenigstens.

„Nein, Jan, wohl nicht.“

„Hm. Du hast Recht. Versprich mir, dass Du in Havanna auf Dich aufpasst.“

„Versprochen“

Ich kramte aus meiner Jackentasche eine zerknitterte Visitenkarte hervor und gab sie ihr. Es war meine letzte.

„Hier. Ich bin noch eine Weile in der Gegend. Wenn Du Hilfe brauchst, ruf mich an. Die Nummer von meinem Movil steht ganz unten.“

„Klar, danke, das mache ich.“

Und wir wussten doch beide, dass sie es nicht tun würde. Wir gaben uns förmlich die Hand. Zwei Schiffe, die sich in der Nacht begegnet waren und jetzt jeder dem eigenen Kurs folgt. Nicht wie ein Mann und eine Frau, die noch vor wenigen Stunden zusammen um ihr Leben gerannt waren. Absurd. Ich wandte mich um und ging zum Wagen zurück. Gerade als ich die Tür öffnete und mich hinter das Steuer zwängen wollte, rief Montse:

„Jan!“

Ich drehte mich um und konnte gerade noch die Arme ausstrecken und sie auffangen. Es folgte der längste und intensivste Kuss meines Lebens.

„Danke. Danke für alles. Gott schütze Dich.“

Dann riss Montse sich von mir los, nahm Dani an die Hand und verschwand mit ihrer Großmutter im Haus, ohne sich noch einmal umzudrehen. Ich musste daran denken, dass der alte Mann derzeit mit anderen Dingen als meinem Schutz beschäftigt gewesen war, startete den Wagen und rollte mit knirschenden Reifen vom Hof. Ich schaffte es nicht einmal bis Garriguella, dann musste ich den Wagen anhalten und heulte wie ein Schlosshund.



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