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PROLOG Dienstag, 3. September 1974

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IM KALTEN SPRÜHREGEN des frühen Abends passiert Peter Kappe ein gelbes Schild mit einer Warnung in ungelenkem Deutsch.

HALT! Hier wird geschossen!

Darunter ein paar kyrillische Buchstaben, die er nicht lesen kann. Dahinter ein Truppenübungsplatz der Roten Armee.

Kappe ist dienstlich in Hamburg gewesen, keine große Sache, aber jetzt geht es nach Hause. Er nimmt die Fernverkehrsstraße 5 über Lauenburg, die Transitstrecke nach West-Berlin oder Berlin (West) – der eine sagt so, der andere so. Auf den Verkehrsschildern des Arbeiter-und-Bauern-Staates heißt es sogar Transit Westberlin. Himmelsrichtung und Name in einem Wort, als sei das Westliche ein Merkmal, das dieser Stadt vor allem anderen anhaftet.

Kappes Name ist unauffällig genug, sein Privat-Pkw auch. Der Blick des DDR-Grenzers an der Kontrollstelle Lauenburg / Horster Damm streift nur müde über das Olivgrau des behelfsmäßigen Personalausweises. Dann winkt er den in die Jahre gekommenen beigegelben Opel Rekord durch.

Es ist jedes Mal wieder da, dieses Transit-Gefühl. Als wäre Kappes Wagen eine Sojus-Kapsel in einer fremden Galaxie. Als würden die Richtungsschilder ihm einen Weg zum Notausgang weisen.

Er muss daran denken, wie er vor drei Tagen seiner Frau Sarah gesagt hat, dass das Landeskriminalamt Hamburg ihn angefordert habe. Nur für eine Gegenüberstellung. Den Hamburgern sind ein paar Leute ins Netz gegangen, die sich nach einer Großrazzia am Bahnhof Zoo verdünnisiert hatten. Normale Polizeiarbeit. Aber Kappe hat genau gewusst, was dieser Blick seiner Frau bedeutete. Auch die Geste, mit der sie die Kleine an sich gepresst hat.

In der Dämmerung blockiert ein LPG-Trecker mit Mist vor ihm die F5. Es riecht nach Abgasen und Landwirtschaft. Die Straße führt durch kriegsversehrte Ansiedlungen. In engen Kurven rutscht Kappes Wagen über feuchtes Kopfsteinpflaster. Streckenweise fährt sich die F5 wie eine Dorfstraße. Er erhascht Blicke in leere Schaufenster, sieht mürrische Menschen mit Atemfahnen und Dederon-Einkaufsnetzen zusammenstehen und im trüben Licht der Betonmasten schweigen, Jugendliche, die rauchen und Westautos begaffen. Hühner scharren im Graben. Das Leben in diesem fremden Land kommt Kappe auf viel zu persönliche Art nahe.

Dann ist es endgültig Nacht über der Straße. Kappe fährt gerne in die Dunkelheit hinein. 248 Kilometer Nacht bis Berlin. Er folgt nur noch dem Lichtkegel seiner Scheinwerfer. Kasernen, Neubaublocks und Alleebäume ziehen vorbei. Entgegenkommende Wagen blenden auf und ab. Um das Rauschen der Reifen auf dem Landstraßenbeton zu übertönen, schaltet Kappe das Radio an. Erst findet er nur Frequenzknistern, dann ein Lied von den Puhdys, Wenn ein Mensch kurze Zeit lebt. Regenmusik. Kappe ist erst 33, er kann Nazareth oder Gary Glitter trotzdem nichts abgewinnen. Dieses Hysterische im Rock, das ihm eine Zeit lang erfrischend erschien, kommt ihm nun aufgesetzt vor. Die Stones hat er seit dem lächerlichen Waldbühnen-Konzert abgehakt. Ein Musiker, der bei einem Liveauftritt versagt, ist kein Musiker. Also hat Kappe nach dem Umzug seine Blue-Note-Scheiben wieder rausgekramt. Aber wenn er im Osten leben würde, würde er wohl auch die Puhdys hören.

Kappe ist, was sich in trotziger Umdeutung der prekären Rumpfexistenz dieses Fleckchens Erde einen freien West-Berliner schimpft. Er hat ein Jahr im Wendland gelebt, dann ist er freiwillig zurückgekehrt. Er müsste eigentlich Selbstbewusstsein und Schwung haben, sich auf sein stolzes Zuhause freuen, dieses Leuchtfeuer der Freiheit, dieses Schaufenster des Westens. Auf Frau und Tochter müsste er sich freuen. Aber zu Hause gibt es Diskussionsbedarf. Nur ist Kappe zu feige, das Problem anzusprechen. Und das, obwohl er als Laberbulle beim Diskussionskommando des Referats MEK 5 in Krisenkommunikation geübt ist. Er ahnt, dass Sarah nicht mit sich über ihren neuen, mit Wochenend- und Nachtschichten verbundenen Arbeitsplatz im Rudolf-Virchow-Krankenhaus verhandeln lässt. Aber wohin mit dem Kind?

Das Puhdys-Lied ist zu Ende. Der Radiomoderator kündigt ein Interview mit Jürgen Sparwasser an, dem Torschützen der DDR-Fußballnationalmannschaft, die am 22. Juni im Hamburger Volksparkstadion die sogenannte BRD 1:0 besiegt hat.

«Das war kein normales Spiel», erzählt der DDR-Stürmer. «Es kommt die 78. Minute, ein Abwurf von Jürgen Croy auf die rechte Seite. Erich Hamann läuft mit dem Ball über die Mittellinie und schlägt diesen wunderbaren Diagonalpass über vierzig Meter auf die linke Seite. Eigentlich bin ich bescheuert gewesen, überhaupt loszulaufen. Da warteten vier gegnerische Spieler auf mich: Berti Vogts, Horst-Dieter Höttges, Bernd Cullmann und Sepp Maier im Tor. Es ist wahrscheinlich eine Frage des Instinkts, es trotzdem zu tun. An und für sich wollte ich den Ball mit der Brust nehmen, aber ich habe ihn direkt auf die Nase bekommen. Doch genau das verschaffte mir den entscheidenden Vorteil vor Höttges.»

Sparwasser machte das Tor. Weltmeister wurde trotzdem die BRD. Aber dieser Sieg im direkten Vergleich ist einzigartig und historisch. Kappe gönnt den Menschen im Osten den Augenblick des Triumphs.

Sparwasser redet weiter, doch Kappe ist mit seinen Gedanken woanders. Fußball interessiert ihn nicht mehr. Früher ist er ab und an mit seinem Vater und seinem Großonkel ins Stadion gegangen. Aber er ist Jahrgang ’41, ein Kriegskind. Nichtigkeiten wie Sport regen ihn nicht mehr auf, seit er Familie hat. Politisch interessiert es ihn aber als West-Berliner, dass Paul Breitner mit Jürgen Sparwasser das Trikot getauscht hat. Es wäre schön, wenn sich die sportliche Entspannung auch in einem politischen Tauwetter niederschlagen würde. Diese harsche Belagerungsatmosphäre in West-Berlin frisst an Kappe. Auch dass man nicht mal eben zum Weihnachtsbaumschlagen ins Umland fahren kann. Er hofft, dass es nie wieder Krieg geben wird. Erst seitdem er sich bei der Kripo jeden Tag mit Gewalt konfrontiert sieht, begreift er, wie sehr ihn der Krieg geprägt hat.

Kappe klemmt sich die Thermoskanne zwischen die Knie, schraubt mit einer Hand den Deckel ab und trinkt sich eine angenehme Wärme ins Blut. In knapp vier Monaten ist Weihnachten. Wenn er über das Politische hinaus noch einen Wunsch frei hätte: Es wäre schön, wenn Sarah nicht jede Nachtschicht machen würde, die auf ihrem Dienstplan steht. Das zusätzliche Geld erleichtert einiges. Aber eigentlich brauchen sie es nur für die neue, große Wohnung. Drei Zimmer in Charlottenburg mit Balkon und Kinderzimmer, Wundtstraße 11, erster Stock. Gleich bei seinen Eltern um die Ecke.

Im Sommer 1973, nachdem Kappe den Kripo-II-Lehrgang beendet hatte und zum Kriminalkommissar zur Anstellung ernannt worden war, waren Sarah, Tabea und er aus der kleinen, günstigen Zwei-Zimmer-Neubauwohnung an der Lindauer Allee in Reinickendorf nach Charlottenburg umgezogen. Gehobener Polizeidienst beim Landeskriminalamt – das war schon was. Und da Kappe Akademiker ist, hatte die Behörde auf das normalerweise auf diese Ausbildung folgende Praktikum mit einer einjährigen Rotation in verschiedenen Dienststellen verzichtet. Er wurde zunächst beim Referat M, KI MII verwendet, das für Sittlichkeitsdelikte zuständig ist. Als Psychologe kamen ihm dort seine Kenntnisse in Gesprächsführung bei Vergewaltigungs- und Missbrauchsopfern zugute. Nach einer Anstandsfrist hatte er sich für die Mordkommission beworben. Seither sinniert Kappe darüber, ob das richtig war. So nahe am eigenen Vater, der bei der MK 1 nebenan sitzt. Ist er angekommen? Oder wäre er als klinischer Psychologe glücklicher? Nein. Ein Psychologe, der einen Patienten behandelt, wirkt immer nur auf diese eine Person. Ein Polizist, der einen Verbrecher verhaftet, wird zumindest bei Täter und Opfer wirksam. Das sind schon mal zwei.

Kappe nimmt noch einen Schluck Kaffee. Solange er sich an dem heißen Getränk festhalten kann, wird vielleicht doch noch alles gut werden.

Linker Hand tauchen die trüben Lichter der Raststätte Quitzow auf. Es ist der einzige Halt zwischen West und West, im Nirgendwo hinter Perleberg. Kappe lenkt den Wagen von der Straße. Er muss rauchen. Er hat das Rauchen für sich entdeckt, als er für den Kripo-Lehrgang gelernt hat. Ein Mann muss ein Laster haben, das die Nerven beruhigt. Kappe kann besser denken, wenn er raucht. Und gegen das Zigarettenrauchen kommt ihm der gelegentliche Joint seiner Studientage wie ein Dauerlutscher vor. Ja, Rauchen soll ungesund sein. Aber nur wer gefährlich lebt, lebt ganz. Der Spruch gefällt ihm. Der ist von John Wayne oder so, aus irgendeinem Schundwestern.

Peter Kappe kann nicht im Auto rauchen. Nicht weil ihn seine Mutter zu gut erzogen hätte, sondern weil es im Auto noch nach Sarahs Parfüm riecht, irgendwie jung, irgendwie frei. Das soll so bleiben. Auch wenn die verzauberte Phase ungetrübter Anhimmelung in ihrer Beziehung seit einiger Zeit vorbei ist. Sarah arbeitet zu viel. Sie gibt das Kind zu oft bei Kappes Mutter ab. Sie haben zu selten Zeit füreinander. Er vermisst die Zweisamkeit. Gleichzeitig ärgert ihn, dass ihn das ärgert. Was ist los mit ihm? Wird er zum Spießer, seit er bei der Kripo ist? Wird er vielleicht sogar wie seine Mutter Gertrud, die jahrzehntelang an den Arbeitszeiten seines Vaters Otto herumgenörgelt hat? Um Gottes willen! Vielleicht wird diese Entwicklung von dem Bircher Müsli begünstigt, das er täglich frühstückt. Jedenfalls muss das aufhören. Der Diplom-Psychologe Kappe verordnet sich selbst Milde, Gelassenheit und Humor. Und eine Pause von zwei Zigarettenlängen.

Im Schaukasten des Mitropa-Restaurants hängt eine maschinengeschriebene Speisekarte: ein Glas Vollbier hell für 43 oder dunkel für 25 Pfennig, der Goldbroiler mit Gurkensalat und Salzkartoffeln für 5 Westmark. Frei konvertierbare Währung, wie es auf einem Schild heißt.

Kappe benutzt die Toilette. Den Vorraum ziert eine gelbe Blumentapete. Die Rohre aller Pissoirs liegen auf Putz. An den Siphons läuft eine rostige Brühe ab. Der Uringestank sticht. Kappe atmet flach. Er ist sehr groß und muss sich herunterbeugen, um im Spiegel über dem Handwaschbecken seinen Bartschatten und seine Augenringe anzustarren. Er trägt einen seiner schwarzen Rollkragenpullover und die taillierte, leicht ausgestellte Gabardinehose. Sein dunkles Haar ist zu lang. In einer Karfreitagsprozession würde er einen erstklassigen gepflegt verhungerten Jesus abgeben. Anscheinend schafft er es trotzdem nicht, West-Berlin durch sein Leiden zu erlösen.

Im Restaurant ist Kappe der einzige Gast. Er bestellt einen Bohnenkaffee. 75 Pfennig. Als der Kellner die Tasse bringt, hält Kappe ihm seine Schachtel Ernte 23 entgegen. Der Kellner steckt sich die Zigarette sofort an. Sie kommen ins Gespräch. Kappe fragt ihn, warum der Parkplatz voll und das Restaurant trotzdem leer ist.

«Die sin alle im Intershop», wispert der Mann. «Ham neujerdings urst ville Westjeld inne Tasche. ’ne Postmaschine vonne Amis is wohl nachts bei de Russen auf ’m Truppenübungsplatz Döberitz abjeschmiert, mit jede Menge D-Mark im Jepäck!»

Kappe staunt gebührend. Von diesem Sterntaler-Märchen hat er noch nie gehört. Aber die Geschichten, die sich die Menschen zusammenfantasieren, gleichen sich doch auf der ganzen Welt.

Er geht noch kurz in den Intershop, um für seine Frau das Parfüm zu kaufen, Charlie von Revlon. Kappe mag den leichten Jasminduft. Er stellt sich vor, dass so Frauen riechen, die zu ihrem Glück keine Männer brauchen.

Die Schlange vor der Kasse ist lang. Der Mann vor ihm mit seiner militärischen Haltung und dem kurzgeschorenen weißblonden Haar sieht aus, wie Kappe sich einen Offizier der Volksarmee in Zivil vorstellt. Er schiebt einen randvollen Einkaufswagen. Alkohol, Zigaretten, Feinstrumpfhosen. Kappe hält etwas Abstand. Er sollte wieder eine Zeitung abonnieren. Auf dem Präsidium liegt ja immer nur der Berliner Blitz aus. Der Ostler an sich sei ein Bösewicht, will die konservative Boulevardpresse ihre Leser glauben machen. Das war schon bei Adenauer so, und das bleibt auch so. Ein klares Feindbild gibt noch dem tristesten Tag Struktur.

Ganz vorne in der Kassenschlange steht ein kleiner Junge in aufgetragenen kurzen Hosen. Das Kind hievt eine einzelne Konservendose mit Ananasscheiben neben der Registrierkasse auf den Tresen. Es ist eine prächtige Dose. Der Junge hat nur Augen dafür. Acht Scheiben Ananas, natursüß, mit Fruchtmark, handverlesen. Die Fruchtscheiben auf dem Etikett strahlen mit dem Gesicht des Kleinen um die Wette.

Die Kassiererin nennt den Preis. Der Junge zählt sein Westgeld. Ein Markstück, viele Groschen, das meiste Pfennige. Dann hört Kappe in der schäbigen Hosentasche nur noch das dumpfe Geräusch von DDR-Aluminium. Es fehlen zwanzig Westpfennige.

«Reicht nicht», sagt die Kassiererin. Es klingt barsch, und sie meint es barsch.

Ein vorwurfsvolles Scharren und Atmen geht durch die Schlange der Wartenden.

Die Kassiererin schiebt das Westgeld von sich weg. «Zurückstellen!», kommandiert sie.

Das Kind wird blass. Kappe greift nach seinem Portemonnaie.

Der Offizier tritt nach vorne. «Haben Sie kein Herz, Genossin?» Er lächelt, legt dem Jungen die Hand auf die Schulter und stellt die Ananas-Dose in seinen eigenen Einkaufswagen. Dann gibt er der Kassiererin einen der dunkelblauesten, neuesten 10-D-Mark-Scheine, die Kappe je gesehen hat.

Die Kassiererin hält den Schein gegen das Licht. Er ist am Rand verkohlt. Sie steckt den Zehner kommentarlos in die Geldschublade und knallt sie zu. Der Offizier zögert. Seine Geldbörse hat er noch in der Hand. Er öffnet den Mund, als wolle er die Kassiererin etwas fragen. Aber die blafft ihn an: «Weitergehen! Der Nächste!» Er gehorcht.

Peter Kappe tritt vor und zahlt das Parfüm mit einem Hunderter. Als er das Wechselgeld ins Portemonnaie steckt, sieht er, dass die Kassiererin ihm den angekohlten Zehner gegeben hat. Er will sich beschweren, doch da spürt er, dass er beobachtet wird. Der Offizier steht hinter einem Stapel Dujardin-Kisten und fixiert ihn. Es ist kein unauffälliger Blick, und er liegt wie eine schwere Hand auf Kappes Schulter. Unwillkürlich denkt Kappe: Flugzeugabsturz – Feuer – verkohltes Geld fällt vom Himmel. Er steckt sein Portemonnaie in die Hosentasche. Und macht ein Gesicht, als könne er kein Wässerchen trüben.

Als er mit feuchten Händen in seinen Opel Rekord steigt, fühlt er sich, als hätte er etwas im Laden gestohlen und wäre dabei erwischt worden. Eine unsichtbare Berührung kitzelt ihn zwischen den Schulterblättern. Wird er beobachtet? Die Nacht ist dunkel und regenschwer. Während der Transitfahrt schaut Kappe immer wieder in den Rückspiegel, aber es folgt ihm niemand.

Au revoir, Tegel

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