Читать книгу Abrechnung am Meer - Biljana Fenzl - Страница 4

2. Kapitel

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Drei Monate später saß Nika auf einer Bank an Bord einer weißen Fähre. Neben sich einen Rollkoffer und einen großen Wanderrucksack. Unter Deck war die Luft so stickig, dass sie nach draußen geflohen war. Nun ließ sie den Fahrtwind an ihren zusammengebundenen Haaren zerren. Die Sonne stand hoch. Ohne den Wind wäre es schon angenehm warm. Hier oben fröstelte Nika. Sie zog ihre mit rosa Blümchen verzierte Strickjacke vor der Brust zusammen. Das tiefe, dunkle Blau des Meeres breitete sich vor ihr aus. Auf der Oberfläche tanzten funkelnde Sterne über die Wellen. Nika blinzelte und sah auf ihre Schuhe. Es war zu grell, um den Blick lange auf das Glitzern zu richten. Sie hatte ihre Sonnenbrille unter der Kleidung im Koffer verstaut. Hätte sie sie bloß aufgesetzt. Dann hätte sie in Ruhe auf die See starren können. So musste sie sich von Touristen anstarren lassen, die sich an ihr vorbeidrückten, um das Schiff zu erkunden. Nikas pinke Augenbrauen erregten Aufmerksamkeit. Kleine Kinder zeigten mit Fingern auf sie und äußerten Vermutungen über eine schlimme Krankheit. Nika grinste. Als ihr Magen zu knurren begann, stand sie auf und griff nach ihrem Gepäck. Es war sowieso nicht ihr Ding, lange ruhig herumzusitzen. Sie hatte nicht zu Mittag gegessen und beschloss, sich einen Kaffee und ein Croissant an der winzigen Bar im Innenraum zu holen. Auf dem Weg dorthin hörte man lediglich die Rollen ihres Trolleys auf dem Metallboden, die mit dem Motorengeräusch der Fähre wetteiferten. Drinnen roch es muffig. Nika verging der Appetit. Der Hunger blieb. Sie sprach schnell und wiederholte ihre Bestellung noch zweimal. Dann hielt sie endlich das Gewünschte in der Hand. Sie balancierte Gepäck, Kaffee und Hörnchen zügig nach draußen. In einer Nische stellte sie ihren Koffer ab und setzte sich darauf. Gierig schlang sie das Croissant herunter. Für den flüssigen Wachmacher ließ sie sich mehr Zeit. Notgedrungen. Beim ersten Schluck verbrannte sie sich Zunge und Gaumen. Sie fluchte leise vor sich hin. Der Beginn ihres neuen Lebens lief nicht gerade perfekt. Aber sie bereute es nicht, gekündigt zu haben. Es war, als löste sich ein festsitzender Knoten in ihrem Inneren. Ihr letzter Tag in der Redaktion war eine Erleichterung. Endlich atmete sie wieder durch. Nicht einer ihrer Kollegen verstand ihren Entschluss. Gekannt hatte sie keiner richtig. Es war nicht deren Schuld. Nika baute einen Schutzwall um sich auf. Umgekehrt hatte sie auch nicht großes Interesse an den Arbeitskollegen gezeigt. Der Abschied von ihnen und von Deutschland fiel ihr nicht schwer. Es war in Ordnung, auf der Fähre zu sein. Sie ließ die Dinge auf sich zukommen.

Kaum hatte Nika diesen Gedanken zu Ende gedacht, sah sie einen Schatten näher rücken. Es mutete wie die Insel an, die für die nächsten Monate ihr Zuhause sein würde. Neugierig sah sie es sich genauer an. Nika schoss so schnell von ihrem Koffer hoch, dass der heiße Kaffee ihr über die Finger schwappte. Sie presste die Kiefer aufeinander. Ein Fluch zischte zwischen ihren Zähnen hervor. Sie musste sich angewöhnen, ruhiger zu werden. Mit ihren Schnellschussaktionen verletzte sie sich nur selbst. Sie schüttelte die nasse Hand aus und stellte den Pappbecher auf den Boden. Mit der anderen Hand wischte sie noch einige Male über die feuchte, brennende Stelle und beließ es dabei. Sie blickte in Fahrtrichtung. Vor ihr türmte sich Karstgestein auf. Der grau-weiße Berg wurde immer größer, je näher sie kamen. Er strahlte in der Sonne. Die Insel sah kahl und verlassen aus. Nika fröstelte.

Um sie herum begann ein geschäftiges Treiben. Touristen begaben sich zurück zu ihren Autos und Bussen. Nika würde zu Fuß von Bord gehen. Sie hievte ihren Rucksack auf den Rücken und nahm den Griff des Rollkoffers in die Hand. Die Knöchel ihrer Finger traten weiß hervor. Ihre Zähne knirschten aufeinander. Sie wuchtete ihr Gepäck die Metalltreppe hinunter zum Autodeck. Unten presste sie ihren dünnen Körper dicht an die Wand. Die Fahrzeuge standen so nah beieinander, dass die Menschen beim Besteigen gezwungen waren, eine artistische Schlangennummer zu vollführen. Wenn die Blechlawine losrollte, wollte Nika nicht mitgerissen werden. Mit Blicken suchte sie nach einem sicheren Weg aus dem Schiffsbauch. Sie sah wie die Landungsklappe sich langsam senkte und dahinter der Fährhafen zum Vorschein kam. Es hatte zum Übersetzen keine andere Möglichkeit gegeben, sie hatte die Autofähre nehmen müssen. Ein leichter Ruck durchzuckte das Schiff, als es an der Landungsstelle andockte. Nika wartete, bis alle Fahrzeuge das Deck verlassen hatten. Dann ging sie sicher von Bord. Die Rollen ihres Trolleys kratzen über den Asphalt. Das Geräusch war so laut, dass sie die Schritte hinter sich nicht hörte. Erst als ein Pulk Touristen Nika überholte, wurde ihr klar, dass es sich um Tagesausflügler handelte. Keiner hatte Gepäck dabei, viele trugen Kameras um den Hals. Sie waren ihr auf der Fähre nicht aufgefallen. Vermutlich hatten sie es sich im Gastraum gemütlich gemacht. Bei dem Gestank? Na, vielleicht waren ihre Nasen nicht so empfindlich wie Nikas. Sie folgte der kleinen Gruppe zum Tickethäuschen des Fährhafens. Dort parkte ein Insel-Bus. Nika lockerte ihren Griff und entspannte die Kiefermuskulatur. Der Bus würde sie und die Touristen über das Land verteilen. Das Transportproblem löste sich somit von selbst. Nika hob ihren Koffer in den Bus und stieg ein. Sie suchte sich einen Platz, legte den Trolley unter den Sitz und stopfte den Rucksack zwischen ihre Beine und die Lehne des Vordersitzes. Der Fahrer lief durch den Bus, verteilte und kassierte die Fahrscheine. Nika zog ihren Brustbeutel heraus. Das war zwar nicht die modernste, aber immer noch die sicherste Methode Ausweis und Geld sicher zu verwahren. Der Busfahrer erkundigte sich nach Nikas Ziel. Sie nannte den Ort und bezahlte in Kuna, der Landeswährung. Der Chauffeur nahm hinter dem Lenkrad Platz und der Bus fuhr an.

Die ersten Kilometer sah man nichts, außer karstigem Gestein links und rechts. Kaum Vegetation. Dazwischen schlängelte sich die Straße. Es sah bizarr aus. Nika hatte vergessen, wie karg die kroatischen Inseln wirkten. Nun staunte sie über die Landschaft, als wäre sie noch nie hier gewesen.

In ihrer Kindheit war Nika oft mit ihrer Familie auf die großen kroatischen Inseln gefahren. Sie hatten wunderschöne Urlaube dort verlebt. Nun war sie auf der Insel Maun angekommen, die sie bisher nicht kannte und die ihr trotzdem vertraut vorkam. Geologisch bauten die Inseln sich alle ähnlich auf. In Nika glomm Vorfreude auf. Sie wollte das Gefühl abschütteln. Was sollte das? Sie war nicht ganz freiwillig nach Maun gereist. Dieses kindliche Glücksgefühl war lästig und unpassend. Zwischen ihre pinken Brauen grub sich eine Falte. Die dunklen Augen richtete sie starr aus dem Fenster. Sie sah nicht, wohin sie fuhren und sie freute sich auf nichts. Sie tat es für ihre Großmutter, sie tat deren Freundin einen Gefallen. Hier ging es nicht um ihr eigenes Leben. Noch nicht. Noch ließ sie keinen Gedanken über sich selbst zu.

Der Bus hielt im Hafen von Maun-Stadt. Nika zerrte ihr Gepäck hinaus. Ihr Blick flitzte durch die Luft. Sie hatte keine Ahnung, wo sie hin musste. Da fiel ihr der zusammengeknüllte Zettel in ihre Hosentasche ein. Sie fischte ihn heraus und glättete ihn mit dem rechten Daumen. Wieder sah sie hilflos um sich. Der Busfahrer beobachtete sie eine Weile. Dann kam er auf sie zu.

„Wo wollen Sie hin?“

Nika zuckte mit den Schultern.

„Ich weiß nicht.“

Der Busfahrer deutete auf den Zettel und Nika zeigte ihm das zerknitterte Stück Papier.

„Ah, das ist gar nicht weit weg von hier. Sie müssen nur durch den Park. Sehen Sie? Hinter Ihnen. Dort können Sie dann weiterfragen.“

„Hvala. Danke.“ Nika ärgerte sich über sich. Wie konnte sie so kopflos sein. Das hätte sie auch alleine hinbekommen. Die Röte stieg ihr in die Wangen. Sie verbarg Wut und Scham, indem sie das Gummiband löste und ihre dunklen Haare ins Gesicht fallen ließ. Mit gesenktem Kopf trabte sie davon.

Sie überquerte die Fahrbahn und stand in einem Wäldchen. Erst jetzt hob sie den Kopf und blickte sich um. Links von ihr befand sich ein Kinderspielplatz, rechts grenzte der Park an eine andere Straße. Nika beschloss auf dem Weg zu bleiben, der geradeaus führte. Sie lief in den kleinen Wald hinein. Die hohen Kiefernbäume spendeten Schatten und dämpften alle Geräusche der Stadt. Parkbänke säumten den Kiesweg. Der Duft von Piniennadeln stieg ihr in die Nase. Mit jedem Schritt wurde Nika ruhiger. Plötzlich klatschte Nika mit der flachen Hand auf ihren Hals. Ein Reflex. Wild fuchtelte sie mit beiden Armen um sich. Was war das? Sie besah sich die roten Punkte auf ihrer Haut und begann unwillkürlich zu kratzen. Mücken. Sie war in einen ganzen Schwarm geraten. Mistviecher, dachte sie. Eine herzliche Begrüßung sah anders aus. Sie rannte los. Sie floh aus diesem Wald, bevor sie aussah wie ein Opfer der Beulenpest.

Als sie in die Sonne trat, atmete sie tief durch. Der Adrenalinstoß, den ihr die Mückenattacke bescherte, hatte sie aufgerüttelt. Sie nahm den Zettel mit der Adresse in die Hand und marschierte los. Sie brauchte keine Hilfe. Sie würde das Apartmenthaus alleine finden. Nach zehn Minuten Fußmarsch sah sie das gelbe Gebäude mit den blauen Markisen vor sich, das ihre Großmutter ihr beschrieben hatte. Sie ging die Anhöhe hinauf. Die Straße war schmal. Sie erlaubte nur einem Auto die Durchfahrt. Nika entdeckte Balkone, die Haustür befand sich auf der anderen Seite, vermutete Nika. Sie passierte das Haus und bog links in die Einfahrt. Im rechten Bereich erschloss sich ein kleiner Garten. Mittendrin stand eine Dusche, die aus dem Boden zu wachsen schien. Der schwarze Kasten neben dem Duschkopf sollte vermutlich das Wasser warmhalten. Nika schmunzelte über den vorsintflutlichen Boiler. Linker Hand erblickte sie die blaue Haustür. Sie straffte die Schultern, atmete tief durch und marschierte zum Eingang. Darüber prangte in blauer Schrift „Haus Ana“. Eine Klingel fand sie nicht. Nika klopfte. Und wartete. Erneut schlug sie ihre Knöchel gegen das Holz. Hinter der Tür vernahm sie schlurfende Geräusche. Jemand schien sich im Schneckentempo zu nähren. Die Tür ging knarzend auf. Das Scharnier vertrug ein wenig Öl, dachte Nika. Eine Frau, kaum größer als Nika, lugte heraus. Nika schätzte sie um die achtzig Jahre. Ein Netz feiner Fältchen umspannte das Gesicht. Von der Nase führten zwei tiefe Krater links und rechts zum Kinn. Die Haut an den Wangen hing schlaff nach unten. Auch am Hals hatte sie ihre Spannung vor langer Zeit verloren. Die lichten Haare standen in grauen und hellbraunen Löckchen vom Kopf. Das Blau der Augen war so blass, als ob es sich gleich auflösen wollte. Müde Blicke trafen Nika durch das altmodische Metallgestell. Doch dann hoben sich die schmalen Lippen zu einem Lächeln des Erkennens. Das trübe Blau richtete sich auf das Pink ihres Gegenübers.

„Ti si Nika.“

„Jesam. Ja, ich bin Nika.“ Sie musste sich erst daran gewöhnen, nach vielen Jahren wieder in ihrer Muttersprache zu reden.

„Na komm rein, Kindchen. So eine Freude, dass du da bist. Ich bin Ana, die Freundin deiner Oma.“

Die alte Frau hakte sich bei Nika unter. Halb zog sie Nika hinein, halb stützte sie sich auf Nika. So gelangten sie ins Wohnzimmer. Dunkelheit und eine angenehme Kühle empfingen sie. Nika merkte erst jetzt, dass sie auf dem Weg ins Schwitzen gekommen war. Sie stellte ihren Koffer ab und wuchtete den Rucksack herunter. Die Schultern schmerzten nun merklich. Sie ließ sie ein wenig kreisen und beobachtete Ana in ihrem Revier. Die schwang gerade die Fensterläden zur Seite und Sonnenlicht flutete das Zimmer. Nika scannte ihre Umgebung. Alte, dunkelbraune Möbelstücke dominierten den Raum. Alles sah ordentlich und sauber aus. Über dem Sofa lag eine dunkelrote Häkeldecke ausgebreitet. An einer Wand stand ein Schrank mit mehreren Vitrinen. Porzellangeschirr stapelte sich darin und etwas Glänzendes. Ana folgte Nikas Blick.

„Willst du einen Kaffee?“ Sie holte das schillernde Gebilde heraus. Es handelte sich um eine Dzezva, eine aus Kupfer gefertigte und auf der Innenseite legierte Mokkakanne. Ana kochte das Getränk auf traditionelle Art. Ein warmes, angenehmes Gefühl breitete sich in Nikas Bauch aus. Ihre Oma bereitete ihren Kaffee genauso zu. Ja, sie wollte unbedingt einen. Nicht weil, sie Bedarf an Koffein hatte. Zumal sie sich erst auf der Fähre, damit die Zunge verbrannt hatte. Aber die Sehnsucht nach ihrer Großmutter und dem Heimatgefühl drohte sie plötzlich zu überrollen. Wenn sie jetzt den Duft von Kaffeepulver riechen und den Geschmack, des in Zucker ertränkten Mokkas erspüren durfte, dann fühlte sie sich wie bei Oma. Dann wäre es wie ein Zuhause.

Ana sah Nika immer noch an. Sie nickte Ana zu und schluckte heiße Tränen hinunter. Ana verschwand in der kleinen Küche nebenan, goss Wasser in die Kanne, gab reichlich Zucker und zwei Löffel Kaffee dazu. Gedankenversunken blieb sie vor dem Herd stehen und wartete darauf, dass der Mokka zum ersten Mal aufkochte. Als er sich hob, nahm sie das Gefäß von der glühenden Platte, rührte mit einem kleinen Löffel um und setzte die Kanne zurück auf die Kochplatte. Nach dem zweiten Aufkochen schaltete Ana den Ofen aus. Sie griff mit dem Löffelchen den Schaum ab und verteilte ihn auf zwei Tassen, bevor sie den Kaffee eingoss. Als sie damit ins Wohnzimmer kam, hatte Nika sich wieder gefangen.

Ana stellte den Kaffee auf das winzige Tischchen vor dem Sofa und setzte sich in den Sessel gegenüber von Nika. Eine Weile beobachteten sich beide gegenseitig, während sie ihren heißen Mokka schlürften. Ana kannte den wahren Grund für Nikas Aufenthalt auf Maun. Und Nika sah Ana an, dass sie es wusste. Ana verlor darüber nicht ein Wort und Nika war ihr dankbar dafür. Sie wusste selbst, dass sie erneut in ihrem Leben versagt hatte. Bevor das Schweigen unangenehm wurde, begann Ana Nika ihre Aufgaben zu erklären.

„Bei uns gibt es keine festen Arbeitszeiten, weißt du. Die Ferienwohnungen betreten wir bei Belegung nur einmal in der Woche. Dann wechseln wir die Bettwäsche, tauschen die Handtücher aus und füllen auf, was fehlt, wie zum Beispiel Toilettenpapier. Der Großputz folgt erst, nach Abreise der Gäste. Ich bin körperlich nicht mehr so fit und bitte dich, mir den Großteil dieser Aufgaben abzunehmen. Ebenso die Besorgungen. Es fällt mir schwer, die Sachen nach Hause zu tragen. Die Wäsche übernehme ich. Bei den Einkäufen wird dir mein Mann helfen. Ivan ist derzeit mit seinem Boot unterwegs, aber du wirst ihn bald kennenlernen.“

„Wann mache ich denn die Betten? Ich meine, ich möchte ja nicht hereinplatzen, wenn die Leute gerade aus der Dusche kommen, oder so.“

„Das wird sich schon einspielen. In der ersten Zeit sage, ich dir noch, wann die Zimmer frei sind. Später wirst du den Rhythmus der Gäste selbst herausfinden. Aber das zeige ich dir alles morgen. Jetzt solltest du dein Zimmer beziehen und dich ein bisschen hier eingewöhnen. Komm, ich bringe dich in dein neues Zuhause.“

Ana erhob sich bedächtig und schlurfte nach draußen. Nika schoss vom Sofa und griff nach ihrem Gepäck. Sie tänzelte wie ein nervöses Pferd hinter Ana her. Es bereitete ihr Schwierigkeiten, sich behäbig zu bewegen. Über eine Außentreppe gelangten sie in den ersten Stock. Dort stießen sie auf eine Tür, die das Treppenhaus zu den Ferienwohnungen verbarg. Sie traten ein und bogen links ab. Zwei Schritte und sie befanden sich vor Nikas Apartment. Ana sperrte auf und ließ Nika den Vortritt. Nika fand sich in einer winzigen Küche wieder. Auf der linken Seite hinter der Küchennische entdeckte Nika eine schmale Tür. Dahinter kam das Bad zum Vorschein. Es war gerade mal so groß, dass Nika sich zwischen Waschbecken, Toilette und Dusche umdrehen konnte. Schlängelte man sich von der Zimmertür durch die Küchenzeile, an dem runden Esstisch mit den beiden Stühlen vorbei, stand man vor zwei nebeneinanderliegenden Türen. Die eine bestand aus dunklem Pressspan und führte ins Schlafzimmer. Es war karg, aber funktional eingerichtet. Ein Schrank an der rechten Wand, ein Doppelbett unter dem Fenster und eine kleine Kommode an der anderen fensterlosen Wand als Ersatz für die fehlenden Nachtkästchen. Links neben der Schlafzimmertür befand sich eine Glastür. Sie gab den Blick auf den Balkon frei. Nika trat hinaus. Sie erkannte den Garten mit der Dusche. Der Meerblick war für die Gäste reserviert. Trotzdem huschte ein Lächeln über Nikas Gesicht. Die leichte Brise vom Meer trug salzige, mit Pinienduft erfüllte Luft zu ihr herüber. Sie schloss die Lider und stellte sich den Ozean vor. Als sie sich zu Ana umdrehte, hatte sie ein Strahlen in den Augen. Ana freute sich, dass es Nika gefiel.

„Kind, wenn du irgendetwas brauchst. Ivan und ich sind immer für dich da. Und heute Abend kommst du um acht zu uns herunter. Du bist zum Essen eingeladen.“

Ana zog sich zurück und ließ Nika allein.

Nachdem sie notdürftig ausgepackt hatte, schlüpfte Nika in hellblaue Shorts und zog ein rosa-gelb gestreiftes T-Shirt über. Auf der Fähre im offenen Meer hatte sie gefroren, doch auf der Insel war es angenehm warm. Sie schaute unter ihr Bett, wo sie alle Schuhe hingeschoben hatte. Die weißen Flip Flops mit den rosafarbenen Blüten zwischen den Zehen passten perfekt zu ihrem Outfit, beschloss sie. Schnell noch eine bunte Stofftasche mit den nötigsten Utensilien um die Schulter gehängt und schon startete Nikas erster Rundgang.

Ihr Weg führte sie zum Strand. Das enge abschüssige Sträßchen trieb sie hinunter zur Strandpromenade, die im 90°-Winkel auf die Gasse traf. Selbst Nika schaffte es nicht, sich in Flip Flops geräuschlos fortzubewegen. Bei jedem Schritt platschte es. Die Arme ruderten raumgreifend durch die Luft. Aus der Ferne sah Nika aus, wie eine flügelschlagende Ente, was sie nicht im Geringsten störte. Die Promenade glitzerte. Die Steine glänzten, von den Sandalen der Touristenmassen blankpoliert. Unterhalb des Weges wuchs ein lichtes Pinienwäldchen. Dahinter erspähte Nika den Strand. Im Wäldchen stand auf Holzplanken eine Strandbar. Rechts davon grenzte ein cremefarbenes Zelt. Nika beschloss, in den nächsten Tagen dort auf einen Kaffee vorbeizuschauen. Heute wollte sie sich einen Überblick verschaffen. An der Strandpromenade gab es noch einiges zu entdecken. Fressbuden reihten sich an Souvenirshops und Zeitungskioske. Sie schlenderte an ihnen vorbei und nach etwa zwanzig Minuten erreichte sie den Abschluss des steingefliesten Weges. Ab hier ging ein schmaler Trampelpfad zur Felsenküste. Sie kraxelte über das scharfkantige Gestein und suchte sich einen glatten Untergrund zum Hinsetzen. Ein kleiner Felsvorsprung bot den perfekten Aussichtspunkt. Dort ließ Nika sich nieder. Sie überblickte den gesamten Strand und erahnte am Ende das Strandcafé im Pinienwäldchen. Der feine Kies, aus dem das Ufer bestand, rollte mit den Wellen hin und her. Das Knirschen der Kiesel, die gegeneinander rieben, erzeugte ein beruhigendes Geräusch. Hörte man länger zu, schlief man unwillkürlich ein oder verfiel in Trance. Bei Nika setzte das Rauschen Gedanken in Gang, die sie im Moment vermeiden wollte. Was sollte sie hier? Sie fühlte sich wie im Urlaub. Das war schön, klar. Aber was sollte danach geschehen? Würde irgendetwas anders werden? Würde sie nach dieser Zeit etwas über sich selbst erfahren, was sie bisher noch nicht wusste? Oder was sie verdrängt hatte? Nein, sie konnte sich nicht vorstellen, dass sie Geheimnisse über sich aufdecken würde. Sie kannte sich selbst bis ins letzte Atom. Aber warum war ihr Leben dann so verkorkst? Sie hatte es doch durchgeplant. Nichts davon hatte funktioniert. Was blockierte sie? Nichts, beschloss sie trotzig und wühlte in ihrer Stofftasche nach der Sonnenbrille, die sie aussehen ließ, wie Puck, die Stubenfliege. Die Brille landete mit Schwung auf ihrer Nase. Sie schob ihr Kinn der Sonne entgegen. Sie wollte es sich gutgehen lassen, ein bisschen braun und vielleicht ruhiger werden. War das ihr Problem? Handelte sie zu hektisch? So ein Quatsch. Nicht alle gelassenen Leute waren erfolgreich. Die, die es zu etwas gebracht hatte, standen eher unter Strom - wie sie selbst. Entspannte Menschen sahen anders aus. Warum also hatte es mit ihrer Karriere so gar nicht geklappt?

„Aaaahh!“ Sie schrie los, stampfte wütend mit den Flip Flops auf den felsigen Untergrund, fuchtelte mit den Armen in der Luft herum und schüttelte ihren Kopf, bis ihr schwindlig wurde. Als der Ausbruch vorbei war, kreisten ihre Augen noch weiter. Es dauerte eine Weile, bis sie wieder fokussieren konnte. Das Ganze war nötig, um dem unwillkommenen Gedankenfluss ein Ende zu setzen. Konnte sie nicht einfach nur genießen? Schon nach ein paar Stunden auf der Insel merkte sie, dass ihr zu viel Ruhe nicht bekommen würde. Was wollte ihre Großmutter damit erreichen? Dieses Entspannungsding trieb sie in den Wahnsinn. Sie sollte Oma anrufen und fragen, was sie sich dabei gedacht hatte. Okay, sie sollte sie sowieso anrufen und ihr mitteilen, dass sie gut angekommen war. Resigniert packte Nika ihre Tasche, hängte sie diesmal über die andere Schulter und machte sich auf den Rückweg.

Zurück in ihrem Zimmer suchte sie nach dem Mobiltelefon. Sie fand es in einem ihrer Schuhe. Wie war es nur dahin gekommen? Nika schüttelte den Kopf. Sie war auch noch schusselig. Kein Wunder, dass sie nichts auf die Reihe brachte. Mit dem Handy in der Hand legte sie sich quer über das Doppelbett und wählte die Nummer ihrer Großmutter. Nach dem vierten Klingeln wurde abgenommen.

„Hey, Oma, ich bin`s, Nika.“

„Oh Schätzchen, schön. Bist du gut angekommen?“

„Ja, Oma. Aber ich weiß nicht, was ich hier soll. Diese Ruhe macht mich nervös. Ich drehe total durch, Oma.“

„Jetzt warte es doch ab. Du musst dich erst einleben, dann kommt alles von alleine.“

„Deinen Optimismus möchte ich haben. Wenn ich schon nach drei Stunden einen Wutausbruch am Strand bekomme, was wird dann nach drei Monaten sein? Ich werde ein nervliches Wrack sein, Oma. Willst du das?“

„Nika, niemand bekommt von zu viel Ruhe einen Nervenzusammenbruch.“

„Doch, ich schon.“

„Nika, du hast es mir versprochen. Diese paar Wochen hältst du jetzt durch!“

„Es sind Monate, mindestens. Nicht Wochen. Und sie kosten mich Jahre meines Lebens.“

„Es wird alles gut, Kind.“

Was für ein Spruch. Nika zog eine Grimasse.

„Jaja, Oma. Ich melde mich wieder.“

Sie legte auf, ließ das Handy auf das Bett gleiten und trommelte mit den Fäusten auf eines der Kissen ein. Dann sah sie erneut auf das Display und stellte fest, dass sie noch drei Stunden Zeit hatte bis zu dem Abendessen bei Ana und Ivan. Sie überlegte, sich zum zweiten Mal auf den Weg zu machen. Irgendwo in dieser Gegend musste es etwas geben, was ihr ein wenig Ablenkung bescherte. Viele junge Touristen kamen hierher. Die Umgebung bot offensichtlich Attraktionen, die all die Menschen anzogen. Wo verschaffte man sich am besten einen Überblick? Nika sprang vom Bett auf, strich ihre Kleidung glatt und griff nach ihrer Strickjacke, falls es abends abkühlte. So machte sie sich auf, um nach einer Touristeninformation Ausschau zu halten.

Nach zwei Stunden kam Nika, bepackt mit bunten Flyern, Informationszetteln über Ausflugsmöglichkeiten und einem Buch über die Insel Maun, zurück. Das Material zu sichten würde sie Stunden kosten. Nika war zufrieden. Sie würde ihre Zeit nicht mit Grübeln verschwenden.

Sie sah auf die Uhr im Display ihres Handys. Eine halbe Stunde blieb ihr noch. Schnell sprang sie unter die Dusche, um den Staub und die Anstrengung eines langen Anreisetages herunter zu spülen. In Unterwäsche kam sie aus dem Bad und suchte im Schrank nach passenden Klamotten. Sie fand eine gelbe, lange Sommerhose und eine Bluse mit kurzen Rüschenärmeln. Darüber zog sie ihre geliebte Strickjacke. Sie drehte sich vor dem Spiegel, der zwischen Bad und Balkontür hing. Etwas fehlte. Sie schlüpfte zurück ins Bad. Dort bürstete sie die noch feuchten Haare zusammen und band sie zu einem Zopf. Fertig. Sie streifte ein Paar gelbe Ballerinas über, schnappte sich ihren Zimmerschlüssel und lief die Treppe hinunter zu der blaugestrichenen Haustür. Als sie diesmal klopfte, dauerte es nicht lange bis sie schwere Schritte hinter der Tür hörte. Immer noch hatte niemand die Scharniere geölt. Ein gebeugter Herr, Mitte achzig, sah Nika an. Er hatte schütteres Haar, das ihm wirr vom Kopf stand.

„Ah, hallo, Mädchen. Komm doch rein.“ Der Mann, der sich nicht vorstellte, musste Ivan, Anas Ehemann sein. Er hatte einige Zahnlücken und nuschelte ein wenig. Seine Hände zeugten von viel Arbeit. Breit, vom Alter gekrümmt, aber immer noch zupackend und stark. Ivan griff nach Nikas Oberarm und führte sie in ein Zimmer, das Nika am Nachmittag nicht gesehen hatte. Es war klein, grenzte an das Wohnzimmer und diente als Esszimmer. Ana hatte dort bereits den Tisch eingedeckt. Aus der Küche duftete es verführerisch. Nika schnüffelte in der Luft herum.

„Mmh. Was gibt es denn?“

„Frischen Fisch. Hab ich selbst gefangen.“ Ivan war sichtlich stolz auf sich.

„Und Salzkartoffeln und Mangold dazu“, kam es aus der Küche.

Erst jetzt merkte Nika, dass ihr Magen laut knurrte. Sie hatte an dem Tag nicht viel gegessen, sich fast nur von Kaffee ernährt. Nun freute sie sich auf eine anständige Mahlzeit. Ivan klopfte ihr auf die Schulter und wies ihr einen Platz zu. In dem Moment kam Ana mit zwei dampfenden Schüsseln aus der Küche und stellte sie auf den Tisch. Sie setzte sich zu ihnen. Ivan goss allen ein Glas Wein an. Ana nahm ihres in die Hand und prostete Nika zu.

„Herzlich willkommen bei uns, Liebes. Wir freuen uns so, dass du da bist.“

„Weißt du, wir haben keine Enkel und finden es schön, dass du ein bisschen Leben ins Haus bringst“, brummte Ivan in seinen Weinkelch. Nika war starr vor Rührung und kämpfte zum zweiten Mal an diesem Tag mit den Tränen. Sollte sie hier gefunden haben, was sie schon so lange vermisste? Waren diese beiden Alten nun ihre Familie?

Abrechnung am Meer

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