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Kapitel 1 Sonntag 10. Januar

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Frauke Sundermann hastete über den zugefrorenen Bodden und stemmte sich gegen den eisigen Ostwind. Sogar die Fahrrinne war dicht, sonst wäre ein Treffen auf der Insel gar nicht möglich gewesen. Die Dämmerung senkte sich bereits gemächlich wie ein dunkles Tuch über dieses weitgehend menschenleere Fleckchen Erde und den kleinen Ort Bahrenhoop.

Jetzt zogen auch noch dunkle Wolken auf, das sah nach Schnee aus. Das fehlt gerade noch, dachte Frauke, hoffentlich bleibt es noch eine Weile trocken, wenigstens so lange, bis ich wieder in Stralsund bin. Ihr Wunsch erfüllte sich nicht, denn just in diesem Moment öffnete der Himmel seine Pforten und schickte dicke Schneeflocken zur Erde. Mist, Autofahren bei Schnee ist nun wirklich nicht mein Ding. Schon die Herfahrt in ihrem blauen Subaru-Justy hatte sie mächtig Überwindung gekostet. Was war das bloß für eine Schnapsidee von Falk, sie bei diesem Sauwetter auf die Insel zu beordern. Außerdem war sie mal wieder viel zu spät dran. Ihr sieben Jahre älterer Bruder hasste Unpünktlichkeit und würde garantiert stocksauer sein. Er hielt nichts vom 'akademischen Viertel'. Frauke schluckte, keine gute Voraussetzung für das bevorstehende Treffen. Falk wirkte ohnehin in letzter Zeit zunehmend angespannt und war entsprechend reizbar. Hatte er Probleme? Heute morgen hatte er bei ihr angerufen, ziemlich früh, sie war noch im Bett, schließlich war Sonntag. Energisch hatte er sie hierher nach Bahrenhoop bestellt.

„Frauke, du musst heute nachmittag unbedingt auf unsere Insel kommen.“

„Ach Falk, muss das sein? Bei diesem Schietwetter hab' ich nun wirklich keinen Bock durch die Gegend zu fahren. Es ist so gemütlich zuhause, ich möchte einfach hierbleiben und mich mit heißem Tee und einem spannenden Buch einkuscheln.“ Auf Wein verzichtete sie momentan, was ihr auch gar nicht schwerfiel und wofür sie ihre Gründe hatte.

„Mir ist überhaupt nicht nach einem Ausflug und im Radio haben sie vor starkem Schneefall gewarnt und überhaupt, ich.....“

Falk schnitt ihr das Wort ab: „Papperlappapp. Wozu hast du schließlich ein Allradauto. Stell dich nicht so an. Du tust gerade so, als wären die knapp fünfzehn Kilometer von Stralsund hieraus eine Weltreise. Ich erwarte euch um 16.00 Uhr.“

„Euch? Kommt Gesche auch?“

„Weiß ich nicht, zumindest habe ich sie auf dem Handy angerufen und sie wollte auf jeden Fall versuchen, zu kommen.“

„Extra aus Hamburg?“

„Keine Ahnung, sie hat nicht gesagt wo sie ist. Fluch und Segen der fortschrittlichen Technik. Immer und überall erreichbar. Ach noch was,“ fuhr Falk fort, „bevor ich es vergesse, zieh' was Helles an, damit du auf dem Eis nicht zu sehen bist.“ Frauke grinste, er spielte mal wieder den großen Bruder.

„Wäre ich nie drauf gekommen, du Schlaumeier, ich dachte eher an was Leuchtendes, Auffälliges....“

„Spar dir deine Ironie, war doch nur ein Tipp.“

„Ja, weiß ich, hab's nicht so gemeint, ist mir einfach rausgerutscht. Ich bin augenblicklich einfach nicht gut drauf. Mir graut vorm Autofahren im Winter, das weisst du.“

„Da musst du durch, wir sehen uns heute Nachmittag, ich rechne mit dir, es ist wirklich wichtig.“

Bevor sie weitere Einwände vorbringen konnte, beendete Falk das Gespräch kurzerhand. Frauke hatte sich an seine Vorgabe gehalten und einen hellen Daunenanorak mit Kapuze angezogen, unter der sie ihre dunklen Locken verbarg, die ihr rundes Gesicht umspielten. Zusätzlich trug sie eine farblich dazu passendeWollmütze. Ihr Aussehen ähnelte stark dem Shirley Temples, allerdings mit strahlend blauen Augen. Außerdem hatte sie sich einen hellen dicken Wollschal umgeschlungen. In diesem Aufzug würde sie mit dem Schnee und der Dämmerung zu einer unsichtbaren Masse verschmelzen. Darunter trug sie eine Daunenweste, einen dicken Wollpullover, noch gestrickt von Fine, ihrer verstorbenen Mutter, Wollsocken und dicke Stiefel. Nichts wärmte ihrer Erfahrung nach so gut wie reine Wolle. Wahrscheinlich sah sie aus wie ein Michelin-Männchen, zumal sie ohnehin zur Pummeligkeit neigte, aber das war ihr schnurz, frieren ging gar nicht. Nach ihrer Auffassung kam Wärme eindeutig vor Aussehen.

Die dunkle Silhouette der naturgeschützten Insel kam näher. Eigentlich war es strengstens verboten, sie zu betreten. Als Schutz für das Kliff hatte sie eine wichtige Funktion. Für sie und ihre Geschwister gab es in Kindertagen keinen schöneren Abenteuerspielplatz. Um das Verbot kümmerte sich damals niemand, auch ihr Vater nicht. Jäger hatten offiziell Zutritt, durften auf die Jagd gehen, hielten den Bestand an Wildschweinen und Rotwild im Zaum. Hinter vorgehaltener Hand wurde weithin gemunkelt, dass auch Wilderer bei Nacht und Nebel reiche Beute fanden. Gefasst worden war jedoch noch keiner. Obwohl ganz in der Nähe der altehrwürdigen Hansestadt Stralsund gab es hier draußen eigene Gesetze. Wo kein Kläger, da kein Richter, so einfach war das. Durch die Wende hatte sich vieles geändert. Bahrenhoop war zu einem beliebten Wohnort und sommerlichen Ausflugsziel geworden, viele Segler besuchten den kleinen Hafen.

Gleich daneben begann der Nationalpark, eine einmalige Natur- und Kulturlandschaft. Frauke, ihr älterer Bruder Falk, ein Hüne mit kurzgeschnittenen schwarzen Haaren und stechend blauen Augen, die stark an einen Husky erinnerten und ihre jüngere Schwester Gesche, zierlich, aber zäh, mit glatten blonden Haaren und dunklen Augen, kümmerten sich nicht um das Verbot. Wenn sie wollten, trafen sie sich auf der Insel wie eh und je. So wie heute!

Einem Impuls folgend blieb Frauke abrupt stehen und sah hinüber zu den Lotsenhäusern, die dunkel dalagen und hinter dem dichter werdenden Schneeschleier gerade eben noch zu erkennen waren. Wirklich dunkel? Da, was war das? Ihr schien es als wäre im Sundermannschen Haus ein Hauch von Licht oder Feuer zu erkennen. Ganz schwach nur......nein, sie musste sich täuschen, die Dämmerung gaukelte ihr etwas vor. Greta war verreist, nach den Ereignissen der vergangenen Wochen war sie völlig fertig gewesen, wollte irgendwo zur Ruhe kommen und sich erholen, das hatte sie selbst gesagt. Aber vielleicht hatte sie es sich überlegt und war doch zuhause geblieben....?

*

Just in diesem Moment legte Greta Sundermann im alten Lotsenhaus das Fernglas zurück auf die Fensterbank, wo es immer zum Gebrauch bereit lag, wie Frieder es bestimmt hatte. Eine Gewohnheit, die sie beibehielt. Sie war nicht weggefahren, sondern hatte sich genügend Lebensmittel und was sonst notwendig war liefern lassen und sich anschließend komplett zurückgezogen. Tagelang ging sie noch nichtmal aus dem Haus, ließ sich hineinfallen in ihre Trauer um Frieder. Manchmal schwelgte sie in Erinnerungen, dann wieder ließ sie ihren Tränen freien Lauf. Ganz langsam begann sie sich besser zu fühlen und nun das!?

Falk, Frauke und Gesche trafen sich also an ihrem Geheimplatz auf der Insel. Das musste einen wichtigen Grund haben, bei dieser eisigen Kälte, dem einsetzenden Schneefall und dazu noch in der ersten Dämmerung. Oder gerade deshalb? Alle drei waren hell gekleidet, clever, Greta hatte wirklich Mühe gehabt, sie auszumachen und erst nach langem Fokussieren war sie sich sicher, wer da auf dem Weg zur Insel war.

Klar wusste sie, dass die Geschwister auch als Erwachsene immer mal wieder heimlich auf der Insel waren. Im Sommer schwammen sie hinüber, obwohl es wegen der Strömung in der Fahrrinne echt gefährlich war und im Winter gingen sie über das Eis. Offenbar brauchten sie diesen Kick. Da die Leute großen Respekt vor Frieder hatten, traute sich niemand, gegen die heimlichen Besuche vorzugehen, sie wurden einfach geduldet. Sogar von den beiden Dorfpolizisten Walter Jensen und Peter Braumann auf der kleinen Polizeistation in Golddorf.

Die Geschwister ahnten in keiner Weise, dass ihr sogenannter Geheimplatz auf der Insel alles andere als geheim war und dass auch Greta längst davon wusste. Denn gleich nachdem sie ins Lotsenhaus gezogen war, hatte sie die Geschwister dabei beobachtet, wie diese einmal im Sommer hinüberschwammen. Darüber hatte sie sich natürlich gewundert und Frieder einfach direkt gefragt. Der hatte ihre Vermutung bestätigt, sie aber gebeten, vor den Kindern so zu tun, als wüsste sie nichts davon. Es sei besser für sie, Greta, dieser Geheimplatz sei die 'heilige Kuh' der drei.

Gretas Verhältnis zu Falk und Frauke war von Anfang an eher vordergründig, mit wenig Tiefgang. Beide fanden sich nur schwer damit ab, dass Frieder und sie nach Fines Tod geheiratet hatten. Eine Stiefmutter in ihrem 'Lotsenhaus' passte ihnen gar nicht. Gesche, das Nesthäkchen hatte sich gefreut, eine 'Stiefmutter' zu bekommen und sie voll akzeptiert, worüber Greta sich ganz besonders freute. Frauke und Falk hatten Frieder zuliebe so eine Art Burgfrieden mit ihr geschlossen, das klappte in den vergangenen Jahren recht gut. Nun war Frieder, der Vermittler und das Bindeglied zwischen ihnen, tot und wie weit es in Zukunft einen Zusammenhalt zwischen ihr und den beiden Älteren geben würde, war völlig offen. Wenn bloß nicht auch Gesche sich jetzt unter dem Einfluss von Falk und Frauke von ihr abwandte. Das könnte sie nicht ertragen.

Mühsam löste sie sich vom Fenster und ging traurig die Treppe runter in die große Wohnküche, wo im Kamin ein munteres Feuer brannte und wohlige Wärme sie umfing. Der Schmerz wurde nahezu unerträglich, sie war allein, ganz allein. Niemals mehr würde Frieder, ihre große Liebe, sie in den Arm nehmen und trösten, wie nur er es gekonnt hatte. Mit hängenden Schultern setzte sie sich an den großen Küchentisch und spürte, dass sich der Graben zwischen ihr und den Geschwistern zusehends vergrößerte. Das mühsam geknüpfte, ohnehin schwache Band zeigte erste Risse.

Warum zum Teufel trafen sich die drei heute abend auf der Insel? Blitzartig wurde ihr klar, dass Gesche, Frauke und Falk ja meinten, sie sei nicht da. Also sollte sie von diesem Treffen nichts wissen, sie wurde also wieder ausgeschlossen. Sie legte ihre Arme vor sich auf den Tisch, ließ den Kopf darauf sinken und weinte hemmungslos. Irgendwann schlief Greta vor Erschöpfung ein.


*

Das Vibrieren ihres Handys brachte Frauke in die Gegenwart zurück. Sie angelte es aus der Anoraktasche, wischte über das Display und versuchte zu erkennen, wer sie anrief. Verschwommen erkannte sie Falk's Namen. Klar, er wollte sicher wissen, wo sie blieb. Sie drückte den Anruf einfach weg. Ich bin ja sowieso gleich da, dachte sie bei sich, schlängelte sich durch den Schilfgürtel und betrat die Insel. Einem Impuls folgend wäre sie sogar jetzt noch am liebsten umgekehrt, ein unbestimmtes Gefühl im Bauch signalisierte ihr, 'kehr um', aber es war zu spät, Falk und Gesche hatten sie bereits entdeckt. Betont forsch betrat sie die Lichtung, wo die beiden ungeduldig auf sie warteten.

„Ah, da bist du ja endlich,“ empfing Falk sie unwirsch, „hat lange genug gedauert. Wir warten schon eine Ewigkeit und sind beinahe erfroren.“

„Nun übertreib' mal nicht, es sind gerade mal zehn Minuten über der Zeit.“

„Ja,“ das war Gesches Stimme, „bei dieser klirrenden Kälte kommt einem das wie zehn Stunden vor. Schließlich stehen wir nur blödsinnig in der Gegend rum.“

Vorwurfsvoll sah sie Frauke an und schlug demonstrativ ihre Arme über Kreuz um den Körper, um sich zu wärmen. Frauke machte auf zerknirscht, „tut mir leid, aber jetzt bin ich ja da. Was gibt es denn nun so Aufregendes?“

„Das“, antwortete Falk, während er auf ein ihm zu Füßen liegendes, verrostetes und verwittertes Etwas zeigte, das mit viel Mühe als eine Blechkiste zu identifizieren war.

„Wir haben sie schon mal aus dem hohlen Baum geholt, als du noch auf dem Weg warst,“ sagte Gesche und nickte zustimmend. Frauke verstand den Vorwurf, ging jedoch nicht darauf ein.

„Ja, und was sollen wir damit?“

„Habe ich auch schon gefragt,“ grinste Gesche.

„Was wohl Mädels, öffnen, oder habt ihr eine bessere Idee?“

„Nein, ehrlich gesagt nicht, aber wie bist du überhaupt darauf gekommen, dass im hohlen Baum eine Blechkiste versteckt ist?“

„Nun mal der Reihe nach,“ Falk verzog das Gesicht, während er fortfuhr, „also, wie ihr wisst, habe ich Vaters Unterlagen durchgesehen, nachdem der Notar sie freigab. Vadding hatte ja testamentarisch verfügt, dass ich mich um seinen Nachlass kümmern soll, um Greta zu entlasten. So ganz recht war ihr das nicht, aber ich hab's durchgezogen und den Papierkram zu mir geholt. Dort habe ich dann alles in Ruhe durchgesehen und das hier gefunden.“

Er zog einen zerknitterten Zettel aus seiner Jackentasche und hielt ihn in die Höhe. Während Frauke und Gesche gleichzeitig versuchten, Falk den Zettel wegzuschnappen, was er zu verhindern wusste, warf Gesche ein: „Trotzdem irgendwie ganz schön frech.“ Frauke schwieg. Sie empfand Mitleid für Greta.

„Zuerst bin ich aus der Notiz überhaupt nicht schlau geworden. Vaters Marotte für verschlüsselte Botschaften kennt ihr ja auch zur Genüge.“

Beide nickten eifrig. An Geburtstagen und zu Weihnachten war ihre Geduld oft ziemlich strapaziert worden, denn ihre Geschenke bekamen sie erst, wenn sie Frieders Rätsel gelöst hatten. Eine Marotte, die solche Tage prickelnd, geheimnisvoll und spannend gemacht und die Frauke geliebt, Falk und Gesche hingegen eher als lästig empfunden hatten.

Falk fuhr fort: „Irgendwelche Andeutungen, die für mich so gar keinen Sinn ergaben. Fragmente, die im ersten Moment absolut nicht zusammenpassten. Ich les' euch die Botschaft mal vor.“ Er nahm den verknitterten Zettel, hielt ihn ins langsam verschwindende Mondlicht und las: „Hört und staunt:


Meine geliebten Kinder, ihr werdet etwas finden!

Aber nicht da, wo ihr meint, wahrscheinlich auch nicht das, was ihr glaubt.

Lasst Euch nicht entmutigen, es lohnt sich zu suchen.

Falls ihr es schafft, habt ihr möglicherweise ausgesorgt, die Entscheidung darüber liegt bei euch!

Wenn nicht, bleibt das Geheimnis für alle Zeiten gewahrt!

Frauke, Gesche und Falk waren zunächst sprachlos und sahen sich ratlos an. Frauke fasste sich als erste: „Ja, aber wie bist du darauf gekommen, hier auf der Insel zu suchen?“

„Als es Vadding schon sehr schlecht ging, rief er mich zu sich. Ich hab's ja nicht weit.“ Er grinste seine Schwestern an. „Greta war unterwegs. Vater zog meinen Kopf zu sich herunter und flüsterte mir etwas ins Ohr.“

„Nun spann uns doch nicht so auf die Folter, komm zum Kern,“ sagte Gesche, „mir ist kalt.“ Frauke nickte zustimmend.

„Ja, also ich konnte ihn sehr schlecht verstehen, er war schon zu schwach. Aber ich meinte gehört zu haben: „Falk, Junge, sucht auf der Insel im....“, dann schlief er erschöpft ein.

„Danach hatte ich keine Gelegenheit mehr, ungestört mit ihm zu sprechen. Immer war Greta in der Nähe. Zunächst vergaß ich das Ganze. Erst als ich in den Unterlagen auf die Botschaft stieß, fielen mir Vaddings Worte wieder ein.“

Er streckte sich und sah seine Schwestern triumphierend an: „Da ich ja bekanntlich kein kleiner Dummer bin, kombinierte ich blitzschnell und kam zur der Erkenntnis, dass damit nur der hohle Baum auf unserer Insel gemeint sein kann. Deshalb bat ich euch, heute hierherzukommen, damit wir gemeinsam das Geheimnis lüften können.“

Frauke dachte wie meist praktisch, sie deutete auf die Blechkiste. „Wie kriegen wir die denn auf?„

„Voila,“ Falk zog einen ebenfalls verrosteten Schlüssel aus seiner Jackentasche, „hiermit, hab' ich auch in den Unterlagen gefunden.“

Frauke konnte es nicht lassen. „Aber die Kiste hättest du doch auch nach Stralsund zu mir bringen können, um sie gemeinsam in meiner warmen Wohnung zu öffnen. Oder zu dir, in dein Haus. Dann müssten wir nicht hier draußen in der Kälte rumstehen.“

Verblüfft sah Falk sie an: „Quatsch, da fehlt das richtige Feeling, das funktioniert nur hier beim direkten Versteck. Schnöde in der Wohnung oder einem Haus einen Schatz entdecken kann jeder, das hat keinen Stil. In meinem Haus wäre ein Treffen außerdem zu auffällig gewesen und in Stralsund kriege ich mit meinem Pick-up immer so schwer einen Parkplatz.“

Frauke sah ihren Bruder an und konnte sich gerade noch verkneifen, mit ihrem Zeigefinger an die Stirn zu tippen. Gesches Gesicht signalisierte Zustimmung zu Fraukes Einwurf. Stattdessen sagte Frauke resigniert: „Na, dann los.“

Falk ging in die Knie und steckte den Schlüssel ins Schloss, ruckelte ein paar mal hin und her und tatsächlich öffnete sich der Deckel quietschend. Frauke und Gesche konnten den Inhalt nicht erkennen, sahen nur das verblüffte und ungläubige, kalkweiß gewordene, Gesicht ihres Bruders, der den Deckel enttäuscht zuplumpsen ließ.

„Alles in Ordnung mit dir?“ fragte Frauke besorgt.

„Was soll das denn? Spinnst du? Was ist denn nun drin?“ Gesche war überhaupt nicht besorgt, sondern nur ungeduldig.

Falk war noch blasser geworden und murmelte vor sich hin: „Das kann doch nicht wahr sein, ich glaub' ich träume.“ Er öffnete den Deckel erneut und bevor er wieder zufallen konnte, beugten sich beide Frauen blitzschnell hinunter und starrten auf den Inhalt. Sie schauten genauso ungläubig wie ihr Bruder.

Frauke fasste sich als erste: „Nee, das ist jetzt aber nicht wahr. Ich glaub's ja nicht. Meine Güte, das ist ja wohl der Hammer. Deshalb sind wir bei Eis und Kälte hierhergekommen...“ „...und bei Schnee,“ ergänzte Gesche.

In ihrem Eifer war ihnen vollkommen entgangen, dass der Schneefall heftiger geworden war.

„Auch das noch,“ jammerte Frauke.

„Reiß dich mal zusammen, Mensch, das ist nun wirklich das kleinste Problem. Wenn du absolut nicht fahren willst, kommst du einfach mit zu mir,“ sagte Falk.

„Und Gesche?“

Nach kurzem Zögern erweiterte Falk sein Angebot, „die natürlich auch.“

„Nee, nee, lass' mal, mir reicht es, wenn du mich bis Golddorf mitnimmst, Frauke. Ich besuche einfach meine Freundin Katrin, die allerdings noch nichts von ihrem Glück weiß, aber das ist sie ja von mir gewohnt, dass ich gelegentlich überraschend auftauche. Hab' ein paar Tage Urlaub und,“ fügte sie hinzu, „Greta ist ja im Moment nicht zuhause.“

„Klar, mach' ich,“ sagte Frauke schnell, während ihr die Beobachtung von vorhin wieder einfiel. Sie überlegte, ob sie Falk und Gesche davon erzählen sollte und beschloss, es für sich zu behalten. Sie hatte sich sicher getäuscht.

Die verrostete Blechkiste barg nichts weiter als einen dreckigen Stofffetzen. Hatte sich schon vorher jemand daran zu schaffen gemacht? Etwa Falk? Frauke und Gesche sahen ihren Bruder prüfend an. Der verstand.

„Sagt mal, spinnt ihr? Ihr glaubt doch nicht im Ernst, dass ich irgendwas aus dieser blöden Kiste entfernt habe, bevor ihr dazugekommen seid? Euer Vertrauen ehrt mich.“

„Nein, nein, natürlich nicht,“ übernahm Frauke das Wort und Gesche nickte, „aber komisch ist es schon. Nichts weiter als so ein schmuddeliges Stückchen Stoff in einer alten verbeulten Blechkiste. Aber irgendeine Bedeutung hat das, nur welche?“

Die betretenen Gesichter von Falk und Gesche sprachen Bände. Wie aus einem Mund sagten sie: „Wenn wir das wüssten!“

Frauke wurde pragmatisch, wie es ihre Art war: „Bevor wir hier noch stundenlang rumstehen, debattieren und keinen Schritt weiterkommen, lass' uns nochmal genau den Flicken angucken. Vielleicht fällt uns dazu doch was ein.“

Falk bückte sich nach der Blechkiste, hob' sie hoch, Frauke öffnete den Deckel und griff hinein. Sie zog den Stofffetzen raus und drehte ihn nach allen Seiten.

„Soweit ich das in dem diffusen Licht erkennen kann, ist das ein Hexagon über Papier, diesen blau-karierten Stoff habe ich irgendwo schon mal gesehen, aber ich weiß nicht wo,“ bemerkte sie fachmännisch und erklärend.

„Was für ein Ding?“ fragten Falk und Gesche erstaunt.

„Ein Hexagon, also ein Sechseck. Das ist eine Grundform des Patchwork. Diese Sechsecke werden über Papierschablonen geheftet, die sogenannte englische Papiermethode. Lauter einzelne Teile, die dann mit der Hand zu größeren Stücken zusammengenäht werden. Danach wird das Papier wieder entfernt und das Patchteil mit Vlies und Unterstoff verbunden, also gequiltet. Das traditionelle Muster heißt 'Grandmothers Flowergarden', also 'Großmutters Blumengarten', aber genauso können Rauten zusammengesetzt oder Applikationen damit genäht werden. Es ist eine gute Möglichkeit, um Stoffreste zu verarbeiten. So ist diese Technik auch entstanden.“

„Wieso kennst du dich damit aus? Du überraschst uns immer wieder.“

„Ja, so sind wir drei, richtige kleine Überraschungspäckchen,“ meinte Falk und alle lachten. Die Spannung löste sich.

„Hier ist wirklich nicht der richtige Ort für weitere Erklärungen, erzähle ich euch demnächst ausführlicher, aber ich habe in den letzten Jahren auch einige Decken mit dieser Technik an Bord genäht,“ sagte Frauke und fügte hinzu, „aber es muss eine plausible Erklärung dafür geben, dass Vadding uns diesen vermeintlich wertlosen Stofffetzen hinterlassen hat, dabei hat er sich was gedacht, garantiert. Wir sollten uns das Ganze in Ruhe durch den Kopf gehen lassen und uns dann wieder treffen. Aber bitte nicht hier! Mir reicht es für heute.“

Inzwischen war es weitgehend dunkel geworden. Der Mond war hinter den Wolken verschwunden. Dichte Flocken stoben zur Erde und es stürmte weiter von Osten. Erst jetzt registrierten die drei diese Veränderungen bewusst.

„Ja, du hast recht Frauke.“

Falk bückte sich nach der verrosteten Kiste, hob sie hoch: „Ich nehme sie mit zu mir, außerdem ist es inzwischen sowieso zu dunkel, wir müssen....wartet mal,“ unterbrach er sich abrupt, „...ruhig, pssst...“ er legte den Zeigefinder auf die Lippen, lauschte in die Dunkelheit und flüsterte, „...seid mal still, habt ihr das Knacken gehört? Wir sind nicht allein auf der Insel!!!!“

„Welches....“ setzte Frauke an, der Rest ging in einem Pfeifen unter. Geistesgegenwärtig riß Falk Frauke zu Boden, während Gesche wie vom Donner gerührt stehenblieb. „Gesche!!!!!!“ schrie Frauke und wollte aufspringen, aber Falk hielt sie mit eisernem Griff zurück. „Bleib unten,“ zischte er.

Gesche spürte einen Schlag an ihrer linken Schulter, riss reflexartig die rechte Hand hoch und legte sie wie zum Schutz auf die Stelle. Ein brennender Schmerz durchfuhr sie, aber mehr war zunächst nicht und sie meinte noch, „...nichts passiert, alles klar.“

Frauke und Falk wollten schon aufatmen, da sackte Gesche wie gefällt einfach zu Boden. Erneut knackten Zweige und Schritte entfernten sich eilig, dann war es still. Totenstill...

*

Im Lotsenhaus schreckte Greta auf ihrem Küchenstuhl hoch. Sie fröstelte, das Feuer war ausgegangen. Wie lange hatte sie geschlafen, warum wurde im Traum rumgeschossen? Im Traum?! Nein, sie fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen, das war kein Traum, sondern wirklich ein Schuss, da war sie ganz sicher.

Alle Knochen taten ihr weh und sie streckte sich, um ihre Lebensgeister zu wecken. Oh Gott, was war passiert? Ihr Hirn funktionierte wieder, richtig, die Kinder waren auf die Insel geschlichen vor ungefähr, sie drehte sich um und sah auf die Küchenuhr, einer Stunde. Jetzt war es nachmittags fünf Uhr. Waren sie etwa noch dort? Was sollte sie tun?

Oder hatte der Sturm ihr doch nur einen Streich gespielt? Schlug ihre Fantasie mal wieder Purzelbäume? Instinktiv verzichtete sie auf Licht und tappte im Dunkeln in den Flur, tastete sich die Treppe rauf. Ihre Augen gewöhnten sich an die Dunkelheit. Im oberen Zimmer ging sie zur Fensterbank und griff nach dem Fernglas, hob es mit zitternden Händen vor die Augen und sah angestrengt zur Insel rüber. Es dauerte eine Weile, bis die Hände ruhig wurden und ihr Blick klar. Der Schnee fiel in dichten Flocken zur Erde, sie konnte nichts Ungewöhnliches erkennen, sie musste sich getäuscht haben.

Erleichtert wollte Greta das Fernglas an den angestammten Platz zurücklegen, als sie auf der endlosen Eisfläche einen dunklen Schatten bemerkte. Hastete da nicht jemand in Richtung Labertin? Ein Geisterdorf, vor vielen Jahren waren die Leute umgesiedelt und ihre Häuser abgerissen worden. Zu der Zeit wurde dieser Standort anderweitig benötigt.

Trotzdem war der Name geblieben. Nur zwei Bewohner, Hilmar Rammer und seine ergebene Frau Sonja, hatten sich geweigert ihr Haus zu verlassen. Die Rammers waren eine alteingesessene Familie und lebten schon seit Urzeiten in Labertin. Zum Erstaunen aller gaben die Behörden nach und ihr Haus mitten im Wald durfte samt seiner Bewohner bleiben. Hilmar Rammer war jahrelang Förster gewesen, inzwischen jedoch pensioniert. Im Flüsterton und hinter vorgehaltener Hand wurde von Wilderei gemunkelt. Das Forstamt stellte Nachforschungen an, ebenso die örtliche Polizei. Alles ohne Ergebnis. Die Rammers galten zwar als eigenbrötlerisch und lebten sehr zurückgezogen, nur selten ließen sie sich im Dorf sehen, aber das war nicht verboten.

Frieder hatte ihr davon erzählt. Es sollte dort sogar spuken. Angeblich gingen in Vollmondnächten die Seelen der gewilderten Tiere dort um. Greta schauderte, erst vor zwei Tagen war Vollmond gewesen. Eigentlich glaubte sie solche Spökenkiekergeschichten nicht, aber wer weiß, an einem Tag wie heute....?

Plötzlich wurde Greta aus ihren Erinnerungen gerissen, starrte angestrengt auf die Eisfläche. Sie fokussierte erneut das Fernglas. Ja, jetzt war sie sich sicher, da war jemand unterwegs. War das etwa der legendäre Hilmar? Der sollte doch angeblich immer mit Skiern unterwegs sein, auch auf dem zugefrorenen Bodden, was aber nur als Gerücht verbreitet wurde, denn direkt beobachtet hatte eine solche Aktivität noch niemand.

Greta versuchte sich zu erinnern, ja, von weitem hatte sie diesen Rammer einige Male gesehen und da war er ihr tatsächlich riesig erschienen, genauso wie der Mann da unten auf dem zugefrorenen Bodden. Irgendwas hing über seiner Schulter und schwang im Rhythmus seiner weit ausholenden Schritte mit. War das ein Gewehr? Hatte Hilmar Rammer auf der Insel gewildert? Nicht, dass ihr das zweifelhafte 'Glück' zuteil wurde, diesen Hilmar erstmals in Aktion zu sehen? Zutiefst beunruhigt starrte Greta weiterhin auf die Eisfläche.

Also war es ein Schuss?! murmelte Greta vor sich hin und im selben Augenblick traf sie die Erkenntnis, dass etwas Furchtbares passiert sein konnte, wie ein Keulenschlag. Was soll ich bloß machen? Wenn doch Frieder hier wäre, der wüsste, was zu tun ist. Ihr schwirrte der Kopf und einen kurzen Moment lang befürchtete sie, die Hilflosigkeit würde sie wie ein Tsunami niederdrücken und völlig lähmen.

Sie riss sich zusammen, atmete ein paarmal tief durch, ruhig, sagte sie zu sich, bleib einfach ruhig. Frieder ist nicht mehr da, du musst alleine klarkommen. Begreife das endlich mal! Jetzt bloß nicht die Nerven verlieren, keine Überreaktion, noch wusste sie nichts, außer dass vermutlich dieser Rammer auf seinen Skiern eilig über den gefrorenen Bodden geglitten war.

Wenn ich jetzt falsch reagiere, verzeihen mir die Kinder das nie und unser Verhältnis wird noch schwieriger. Aber was war im Augenblick falsch oder richtig?

Es war ein Schuss gefallen, dessen war sich Greta inzwischen sicher. Für wen war er bestimmt gewesen? Wer hatte geschossen? Rammer? Diese Ungewissheit machte sie fertig. Dennoch, sie straffte sich und beschloss, zunächst einmal abzuwarten. Sie ging die Treppe runter, ihre Beine fühlten sich wie Gummi an und sie zitterte vor Kälte.

Eilig öffnete sie die Tür zur Wohnküche, schichtete weiteres Holz im Kamin auf und die vorhandene Glut entfachte es erneut. Sofort züngelten rotleuchtend Flammen empor, sie hockte sich davor und wartete, bis ihr langsam wärmer wurde. Gut, dass Frieder ihr das Feuermachen so geduldig beigebracht hatte, nur dass der rauchende Schornstein schon die ganze Zeit über weithin sichtbar sein würde, daran hatte sie jetzt nicht gedacht. Ach was, beruhigte sie sich, in der Dunkelheit und bei dem Schneefall war auf einige Entfernung bestimmt nicht genau zu erkennen, bei welchem Lotsenhaus der Schornstein rauchte. Bei so einem Wetter verschwamm vieles zu einer einzigen undurchsichtigen Masse und täuschte etwas vor, was gar nicht da war.

Der Feuerschein des Kamins spendete ihr genügend Helligkeit, sodass sie auf weitere Lichtquellen verzichtete. Wie lange hatte sie eigentlich nichts mehr gegessen und getrunken? Ihr Magen knurrte und ihr Mund war wie ausgetrocknet. Diese profanen Bedürfnisse empfand sie plötzlich als ungeheuer tröstlich.

Greta befüllte den Wasserkocher und bis er sprudelte suchte sie alles für einen Imbiss zusammen, Brot, Butter und Käse, das dürfte reichen. Sie hängte einen Kräuterteebeutel in ihren Lieblingsbecher, übergoß ihn mit dem inzwischen kochenden Wasser und stellte alles zusammen auf den Küchentisch, der den Mittelpunkt der großen Wohnküche bildete. Mehr als eine Schnitte Brot mit Butter und Käse würde sie ohnehin nicht runterbringen. Sie machte sich ans Werk, entfernte zwischendurch den Teebeutel aus dem Becher und legte zum Wärmen ihre hohlen Hände darum, führte ihn vorsichtig zum Mund und nahm kleine Schlucke von dem heißen Getränk bis sich eine wohlige Wärme in ihr ausbreitete. Dann und wann biss sie gedankenverloren in ihr Käsebrot. Langsam wurde sie ruhiger.

*

Frauke und Falk lösten sich aus ihrer Erstarrung und standen behutsam auf, ihre Beine waren bleischwer. Gleichzeitig stürzten sie zu Gesche, die wie tot am Boden lag.

Frauke stotterte: „Ist....ähm,“ sie räusperte sich zusätzlich, um den Frosch aus ihrem Hals zu entfernen, „ist sie...tot?“

„Mensch, das weiß ich doch nicht,“ antwortete Falk schroff.

Er beugte sich runter und legte das rechte Ohr auf Gesches Herz, mit dem Daumen fühlte er ihren Puls. Frauke kniete neben Gesche, strich ihr über die Wange und schob den anderen Arm unter ihren Kopf, um sie zu stützen. Gesche stöhnte.

„Sie lebt, sie lebt!“ jubelte Frauke.

„Fragt sich nur wie lange noch,“ murmelte Falk.

„Wie bitte, ich glaube ich höre nicht richtig?! Darüber sprechen wir später noch.“

Sie wandte sich wieder ihrer Schwester zu. „Gesche, hörst du mich?“ aber die antwortete nicht, war offensichtlich in eine gnädige Ohnmacht gesunken.

Falk verteidigte sich: „Ja, Mensch, wir müssen das realistisch betrachten. Nur die Harten komm' in Garten. Was können wir denn dafür, dass am frühen Abend irgendwer wild in der Gegend rumballert.“

Er hatte sich wieder gefangen und sah Frauke kühl aus seinen blauen Huskyaugen an. Frauke starrte ihren Bruder fassungslos an, entsetzt über seine Reaktion.

„Sag' mal Falk, ich glaube, du tickst nicht richtig! Wir können unsere kleine Schwester nicht schwer verletzt einfach liegen und ja,“ sie zögerte es auszusprechen, „verrecken lassen. Lass' keine saublöden Sprüche ab, sondern unternimm' was! Bei dieser Eiseskälte hält Gesche nicht lange durch.“

„Unsere kleine Schwester?“ fragte Falk süffisant, „wieso nennst du sie eigentlich unsere Schwester? Und wieso soll ich was unternehmen?“

„Für mich ist sie meine kleine Schwester, basta, schließlich ist sie seit dem Babyalter bei uns und unternehmen sollst du was, weil du körperlich der Stärkere bist und sie in dein Haus tragen kannst.“ Das Wort 'körperlich' betonte Frauke, was jedoch ihrem Bruder nicht aufzufallen schien.

„Du spinnst ja, ich bin doch nicht bekloppt, nachher hat sie innere Verletzungen und ich verschlimmere die womöglich noch.“

Langsam fühlte Frauke sich überfordert und allein gelassen, so also beschützte sie ihr großer Bruder jetzt und hier wo es wirklich drauf ankam. Sie war nahe daran, hysterisch zu werden und in Tränen auszubrechen. Sie atmete tief durch und rief sich zur Ordnung.

„Weißt du, was du bist?“ giftete sie Falk an, „du bist ein ungehobelter, egoistischer Klotz mit Tendenz zu einem miesen, feigen Arschloch und ich erkenne dich nicht wieder. Pfui Teufel, aber das ändert nichts daran, dass wir Gesche helfen müssen, egal wie.“

„Ok, du bleibst bei ihr, hälst Wache und ich gehe zurück und rufe den Notarzt.“

„Was, du willst mich allein auf der Insel zurücklassen, ich denke, wir machen das eher umgekehrt.“

„Nee, kommt nicht in Frage,“ sagte Falk entschieden, „ich habe keine Lust mich hier erwischen zu lassen. Du vergisst, dass es verboten ist auf die Insel zu gehen und dass wir uns bei Kälte, Eis und Schnee zum Kaffeekränzchen verabredet haben glaubt uns wohl ohnehin kein Mensch. Womöglich werden wir noch verdächtigt, Gesche verletzt zu haben, danke, verzichte, ich gehe.“

Nackte Panik kroch in Frauke hoch, je eher sie aufhörten sich zu streiten, desto schneller bekam Gesche Hilfe. Aber allein zurückbleiben, nein, das wollte sie keinesfalls, davor hatte sie einfach Angst. Womöglich kam der Schütze zurück. Sie schluckte und sagte kleinlaut:

„Nein, warte bitte, wir packen Gesche so warm wie möglich ein und holen gemeinsam Hilfe. Ich....“, sie stockte, „ich...ähm, ich kann einfach nicht alleine hier bleiben, ich habe Angst. Bitte.“

Falk versuchte sein kaltschnäuziges Verhalten zu relativieren und gab sich plötzlich jovial verständnisvoll. „Na also, geht doch. Komm'!“

„Moment noch,“ Frauke schälte sich aus ihrem Daunenmantel und deckte ihre Schwester vorsichtig damit zu. Erst jetzt sah sie, das sich Gesches Mantel an der linken Schulter rötlich zu verfärben begann.

„Mein Gott, sie blutet.“

„Auch das noch,“ sagte Falk trocken und trug sich von Frauke einen weiteren ungläubigen Blick ein, „willst du doch hierbleiben und Gesches Händchen halten?“

„Stinkstiefel, elendiger,“ schnell faltete Frauke ihren Schal zusammen, legte ihn auf die Wunde und küsste ihre Schwester auf die Stirn, außerdem stülpte sie Gesche ihre Mütze über den Kopf.

„So Kleine, mehr können wir im Moment nicht tun, aber wir holen schnellstens Hilfe. Halt durch, bitte, bitte!“ flüsterte sie in Gesches Ohr.

„Himmel, Arsch und Zwirn, komm' jetzt endlich, je eher wir losgehen, desto eher sind wir wieder zurück, wenn uns nicht noch jemand zuvor kommt,“ ungeduldig zog Falk seine Schwester mit sich und legte ihr den Arm um die Schultern, wieder ganz vermeintlich fürsorglicher Bruder.

Frauke schubste den Arm von ihrer Schulter, diese vorgetäuschte Fürsorge von Falk konnte sie nach allem, was vorher passiert war, nicht ertragen, „lass' das jetzt, wer sollte uns denn zuvorkommen?“

„Dann eben nicht. Hör mal gut zu, mein edles Schwesterlein. Vermutlich war der Schuss weithin hörbar in dieser winterlichen Stille, vielleicht sogar in Golddorf wo, wie du ja auch weißt, die beiden Dorfbullen Jensen und Braumann in ihrem Revier sitzen und sich langweilen. Endlich mal was los in diesem Kaff, was meinst du wie die darauf anspringen. Könnte ja der unbekannte Wilderer geschossen haben.“

„Und wenn schon, dann hätte Gesche schnell Hilfe. Die wüssten was zu tun ist.“

„Du kapierst überhaupt nichts, wir sind die Blöden, unerlaubt auf der Insel und eine angeschossene kleine Schwester, prima, eingewickelt in deinen Daunenmantel, bestückt mit deinem Schal und deiner Mütze, noch besser. Meinst du nicht, dass dafür ziemlicher Erklärungsbedarf bestünde? Ach du Scheiße,“ Falk schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn, „auch das noch, wir haben die Kiste vergessen.“

„Scheiß' auf die Kiste, du Idiot. Die ist mir jetzt wirklich vollkommen schnurzpiepegal, ich kapier' echt nicht, wie du jetzt daran denken kannst, ist doch wirklich völlig unwichtig. Dann gibt’s eben 'ne Ordnungsstrafe, na und? Es geht um Gesche, und um nichts anderes, klar?“

„Wie du meinst!“

Falk und Frauke eilten schweigend und mit verbissenen Gesichtern über den vereisten Bodden und stemmten sich gegen den Schneesturm, der stärker blies als vorhin. Wie kleine Nadeln stachen die Schneekristalle in die Haut.

Was machte das schon im Vergleich zur armen Gesche, die sie und ihr Bruder verletzt und allein auf der Insel zurückgelassen hatten. Stumm erreichten sie den kurzen Strandabschnitt, fühlten festen Boden unter ihren Füßen und wandten sich zu Falk's kleinem Holzhaus.

Frauke sah auf ihre Armbanduhr, insgesamt waren seit ihrer Ankunft auf der Insel mehr als eineinhalb Stunden vergangen. Es kam ihr viel länger vor. War das wirklich alles passiert oder hatte sie nur geträumt? Nein, leider kein Traum, sondern traurige Wahrheit.

Sie sah durch einen Vorhang dichter Schneeflocken zurück auf die Insel, die friedlich im Dunkel des anbrechenden Abends dalag. Die ganze Umgebung verschwamm zu einer undurchdringlichen Masse und auch die Lotsenhäuser waren kaum noch erkennbar. Sie lenkte ihren Blick dann traurig auf den eilig vor ihr hergehenden Falk, von dem sie immer gedacht hatte, dass sie sich bedenkenlos auf ihn verlassen könnte.

Irgendetwas war vorhin in ihr zerbrochen, zum erstenmal hatte sie bewusst wahrgenommen, wie sich ihr großer Bruder seit seinem langjährigen Aufenthalt in den kanadischen Wäldern, wo er als Holzfäller gutes Geld verdient hatte, zu seinem Nachteil verändert hatte. Was auch kommen würde, nie wieder könnte sie sich vertrauensvoll an Falks breite Schultern lehnen und geborgen fühlen.

Frauke dachte an das ungute Gefühl, mit dem sie die Insel betreten hatte. Sie nahm sich fest vor, in Zukunft mehr auf solche Empfindungen zu achten.

*

„Wo kommst du denn her?“ fragte Sonja Rammer ihren Mann Hilmar, während sie im Türrahmen der warmen Stube lehnte, als er zitternd vor Kälte zur Haustür reinkam, nachdem er seine Skier abgeschnallt und an die Hauswand gelehnt hatte.

„Woher schon,“ raunzte er seine Frau an, „geht dich doch nichts an.“

„Komm' erstmal rein,“ sie gab die Stubentür frei, „ich darf ja wohl noch fragen, oder?“

„Nee, lass mich bloß in Ruhe.“

Er pellte sich aus seiner grünen Lodenjacke, hängte sie an die Garderobe, ebenso das Gewehr. Händereibend betrat er die warme Stube. Sonja folgte ihm.

„Sag mal,“ versuchte sie es erneut, „hast du den Schuss gehört? Hast am Ende etwa du geschossen? Oder was war das sonst für ein Geräusch?“

Hilmar zuckte unmerklich zusammen und antwortete mürrisch: „Klar hab' ich das gehört, war ja laut genug.“

„Warst du auf der Insel?“

„Quatsch, ich geh' nich' mehr auf die Insel, das weißt du doch!“

Sonja sah ihren Mann eindringlich an. „Ja, du sagst, du gehst nicht mehr hin, aber woher weiß ich denn, dass das auch stimmt?“

„Glaubst du mir etwa nich'? Das wird ja immer schöner. Bring' mir lieber was zu essen. Hast du 'ne heiße Suppe?“

„Hab ich, du Sturkopp.“

Sie verschwand Richtung Küche. Hilmar ging zum Wandschrank, nahm die Schnapsflasche raus und und goss sich 'nen Lütten ein. Während der Klare durch seine Kehle lief spürte er eine wohlige Wärme. Er setzte sich an den Tisch, stellte die Schnapsflasche und das Glas neben sich und stützte seinen Kopf in die Hände. So fand ihn Sonja, als sie mit der Suppe reinkam.

„Muss das sein, am späten Nachmittag schon Schnaps? Irgendwas ist nicht in Ordnung mit dir. Das seh' ich doch.“

Sie stellte die Terrine, Teller und Besteck auf den Tisch, nahm den Schöpflöffel und füllte ihm reichlich Suppe auf den Teller. Hilmar schlug mit der Faust auf die Tischplatte, dass alle Gegenstände in die Höhe hüpften und die Suppe über den Tellerrand schwappte, lief knallrot an und brüllte: „Ein für alle Mal, Sonja, lass' mich mit deinem Geschwafel in Ruhe und schnüffel mir nicht immer hinterher. Ich war am Kliff und damit basta. Bring mir lieber 'n Bier, als hier rumzusülzen.“

Sonja schwieg. Sie kannte die Wutausbrüche ihres Mannes, von denen sie sich kaum noch beeindrucken ließ. Im Grunde genommen hatte er einen weichen Kern, den er unter einer rauhen Schale zu verstecken suchte. Irgendetwas war vorgefallen, das spürte sie. Bestimmt war er wieder zum Wildern auf der Insel gewesen. Klar brachte das heimliche Erlegen von Rotwild und Wildschweinen gutes Geld in die Kasse. Aber trotzdem, ihr wäre es lieber gewesen, Hilmar würde endlich mit dem Wildern aufhören. Bei sich fürchtete sie immer, dass irgendwann was passieren und er in große Schwierigkeiten geraten würde. Vielleicht war dieser Moment jetzt gekommen?

*

Gesche kam langsam zu sich und fror erbärmlich. Sie schlotterte am ganzen Körper, ihre linke Schulter pochte und schmerzte fürchterlich. Sie befühlte ihren Körper, ob ihr sonst was fehlte. Nein, nichts, nur die Schulter schmerzte und sie zitterte wie Espenlaub vor Kälte. Da, was war das, sie tastete vorsichtig mit der rechten Hand und fühlte etwas Weiches. Fraukes Mantel, damit hatte ihre Schwester sie notdürftig zugedeckt, auf der Schulter lag säuberlich zusammengefaltet ihr Schal und ihren Kopf bedeckte Fraukes Mütze.

Es schneite zwar immer noch, aber spärlicher. Glücklicherweise war es nicht völlig dunkel, da der Schnee reflektierte und dadurch die Lichtung erhellte. Was war passiert? Wo war sie? Langsam kam die Erinnerung. Richtig, sie war auf der Insel, aber wo waren Frauke und Falk? Ihre Lippen formten die Namen, aber heraus kam nur ein heiseres Krächzen. Niemand hier, sie war mutterseelenallein.

Gesche versuchte aufzustehen. Ihre Beine gaben nach und kraftlos fiel sie zurück auf die schneebedeckte Erde. Zitternd und bibbernd angelte sie Fraukes Mantel zu sich, der bei dem Versuch aufzustehen zu Boden gerutscht war und schlüpfte darunter. Hoffentlich kam bald jemand um sie zu holen. Sie fühlte sich so furchtbar hilflos und allein. Panik erfasste sie und Tränen rollten über ihre Wangen. Wahrscheinlich hatte sie schon ziemlich viel Blut verloren, der Schal fühlte sich feucht an, oder war er nur schneenass? Das konnte sie in dem diffusen Licht nicht erkennen. Schlapp und eiskalt wie ihr war, würde sie nicht mehr lange durchhalten.

Oh, mein Gott, Falk und Frauke konnten sie doch hier nicht einfach verrecken lassen. Nein, das würden sie bestimmt nicht tun. Vermutlich waren sie schon unterwegs, um Hilfe zu holen. Das musste einfach so sein, beruhigte sie sich tapfer. Bei ihrer Ausbildung zur Stewardess hatte sie gelernt, in Notsituationen Nerven und Ruhe zu bewahren. Bei anderen war das auch kein Problem, aber bei sich selbst sah die Sache anders aus. Sie begann vor sich hin zu wimmern.

Minuten dehnten sich zu Stunden. Sie wollte nicht sterben, nicht so und nicht jetzt. „Bitte, bitte, lass diesen Albtraum vorübergehen“, betete sie vor sich hin. Das hatte sie schon lange nicht mehr gemacht. Ihre Kräfte schwanden zusehends, wieder versank sie in einer unruhigen Ohnmacht.


*

Stumm betraten Frauke und ihr Bruder das Holzhäuschen am Waldrand, das sich Falk nach seiner Rückkehr aus Kanada gekauft hatte. Er knipste eine Tischlampe an und entzündete mit schnellen sicheren Handgriffen ein Feuer im Kamin. Schnell breitete sich Wärme in der Wohnstube aus, die aussah wie aus einem amerikanischen Western.

Frauke kauerte sich frierend vor den Kamin und rieb sich ihre eiskalten Hände. Erst jetzt wurde Falk offenbar so richtig bewußt, dass Frauke keinen Mantel anhatte, sondern in Weste und Wollpullover hinter ihm hergestolpert war. Er warf ihr eine Decke zu.

„Komm', nimm, dir ist sicher kalt.“

Frauke wickelte sich zitternd in die Decke und murmelte ein leises „Danke.“

Falk verschwand in seiner kleinen Schlafkammer und Frauke hörte ihn rumoren. Als er wieder in die Stube kam, hatte er einen alten Anorak von sich in der Hand, den er ihr zuwarf. „Hier, für den Gang nach Canossa.“

Wortlos nahm Frauke ihn entgegen. Falk hockte sich neben sie: „Frauke, bitte, es tut mir leid. Ich habe einfach die Nerven verloren, ich....ich habe mich dann nicht im Griff, dann brennt 'ne rote Lampe. Wahrscheinlich hält es deshalb niemand lange mit mir aus.“

Frauke sah ihren Bruder zunächst wortlos an und fuhr sich verlegen mit der Hand durch ihre dunklen Locken, bevor sie zögernd antwortete: „Ja, Falk, du hast mich wirklich erschreckt, ich kann mir einfach nicht erklären, was du gegen Gesche hast. Seit Vadding sie zu uns brachte warst du ihr gegenüber oft eklig. Warum?“

„Ach nichts, lass uns ein andermal darüber sprechen, jetzt müssen wir rasch wieder rüber zur Insel und Gesche holen, komm'!“

Er stand auf und reichte seiner Schwester die Hand. Sie ließ sich hochziehen. Falk half ihr in seinen Anorak, der ihr zwar viel zu groß war aber wenigstens wärmte. Während sie mit klammen Fingern den Reißverschluss zuzog stellte er das Funkenfluggitter vor den Kamin, klemmte sich noch zwei Decken unter den Arm und wandte sich zur Tür. Benommen tappte Frauke hinterher. Sie traten ins Freie und die Eiseskälte umfing sie erneut.

„Nimm',“ damit gab er ihr eine Decke, behielt die andere unter dem Arm und stellte den Schlitten, der an der Hauswand lehnte auf die Kufen und tüdelte die Leine um seine Hand. So machten sie sich an diesem frühen Winterabend erneut schweigend auf den Weg zur Insel, jeder mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt.

*

Was die beiden nicht wussten: Kurze Zeit vor ihnen betrat ein anderer an diesem frühen Abend bereits zum zweiten Mal die Insel. Nachdem er wütend mit der Faust auf den Tisch gehauen, den ersten Löffel heiße Suppe in seinen Mund geschoben hatte, war er unvorbereitet aufgesprungen.

„Muss nochmal weg,“ hatte er gemurmelt und war zur Tür gerannt. In fliegender Eile hatte er die feuchte Joppe übergeworfen, den Rucksack auf den Rücken gezogen, seine Skier geschnappt, untergeschnallt, den Schlitten gegriffen, die Kordel um den Bauch gebunden und war in rasendem Tempo losgeschossen, wieder zur Insel rüber.

Was hatten auch die Sundermannschen Gör'n andauernd auf der Insel zu suchen, murrte er vor sich hin, wobei er vergaß, dass auch er eigentlich nichts dort verloren hatte. Nur gut, dass er immer mit Skiern unterwegs war, so kam er schnell voran. In Rekordzeit erreichte er erneut atemlos die Insel und stürmte auf die Lichtung: „Gesche, Gesche, hörst du mich?“ presste er hervor. Keine Antwort. Wenn sie nun tot war? Dann hätte er sie erschossen, die kleine Gesche erschossen. Damit würde er nicht fertigwerden, er schluckte.

Zweige knackten, als er die Lichtung betrat. Zunächst konnte er überhaupt nichts erkennen, alles war weiß, gnädig zugedeckt vom Schnee. Nein, nicht alles, dort, dort lag etwas Größeres. Er lauschte, war da nicht ein leises Wimmern und Bewegung unter dem Schneehaufen? Das konnte nur Gesche sein, oh mein Gott, sie lebte, Gesche lebte. Er jubelte innerlich und beugte sich runter zu dem wimmernden Bündel. Ja, da lag sie, zugedeckt mit einem hellen Daunenmantel, war das nicht Fraukes? So ganz ohne Schutz hatte sie ihre Schwester also nicht zurückgelassen. Immerhin. Auf Gesches linker Schulter entdeckte er den zusammengelegten Schal und eine Mütze hatte sie auch auf dem Kopf. Aha, da an der Schulter hatte er sie offenbar getroffen, inständig hoffte er, dass es sich nur um einen Streifschuss handelte. Trotzdem, jetzt war Eile geboten.

Vorsichtig tastete er mit der rechten Hand unter ihren Kopf, hob ihn ein bißchen an. Gesche stöhnte auf. Er sprach sie erneut an: „Gesche, Kind, kannst du mich hören?“

„Miiiiiihhhhhhhr issssssooooo kaaahhhhllllt,“ wimmerte ein kaum vernehmbares Stimmchen. Das sollte von der forschen Gesche kommen? Ihre Zähne schlugen unablässig aufeinander, er hatte große Mühe sie zu verstehen.

„Gesche, ich bin hier um dir zu helfen, ich bin's, Hilmar.“

„Weeherr, iiiicccchhhh wwwwiiiill dddddoch nnnnnuuuuurrrrr schlaaaahhhhhhffffn, iiiiccchhhh ffffrrrieieier sooooooo.“

Jetzt wurde Hilmar energisch. Er zog die Thermosflasche aus seinem Rucksack, die er bei seinen Wildererausflügen immer dabei und heute zuhause gar nicht ausgepackt hatte, schraubte den Becher ab und goss heißen Tee hinein, pustete, bis er ein wenig abgekühlt war. Vorsichtig stützte er Gesches Kopf und versuchte ihr den Tee langsam in kleinen Schlucken einzuflößen.

„Nichts da, schlafen kannst du nachher im Bett. Jetzt musst du noch durchhalten. Der Tee wird dich erstmal wärmen und ich habe auch einen Schlitten dabei und warme Decken. Versuch' mal aufzustehen.“

„Kaaaahhhhhnn nnnnnnniiicccchhhhh,“ kam es kläglich zurück, aber Gesche spürte, wie der Tee angenehm warm die Kehle hinunterlief und sie erst recht müde werden ließ.

Hilmar nahm den leeren Becher, schraubte ihn wieder auf die Thermosflasche und sah ein, dass es keinen Sinn hatte, Gesche zum Aufstehen zu bewegen. Der Tee hatte ihr offensichtlich gut getan. Er stopfte die Thermoskanne achtlos zurück in seinen Rucksack, den er auf die Erde gestellt hatte.

Kurzerhand fuhr er mit seinen kräftigen Armen unter ihren willenlosen Körper und hob sie vorsichtig auf den Schlitten. Er fühlte ihren Puls, der sehr schwach war. Kein Wunder, wahrscheinlich hatte sie einiges an Blut verloren, aber sie war jung und stark, sie würde es schaffen. Sie musste einfach, das sagte er sich vor. Gut, dass er den Schlitten mit der Rückenlehne gewählt hatte, auf dem ihr widerstandsloser Körper Halt fand. Behutsam wickelte er Gesche in alle mitgebrachten Decken und zwängte sie in die Schlittenlehne.

Die Wirkung des heißen Tees war schnell verflogen und Gesche wimmerte weiter vor sich hin. Sie klapperte mit den Zähnen und schlotterte am ganzen Körper. „Mwwwiiiiirrrr iissssssooo kkkkwwwwwaaaaalllttttt.“

Beruhigend sprach er auf sie ein. „Ja, ich weiss, komm, Mädchen, halt durch. Bald liegst du in einem warmen Bett und wirst versorgt.“

Vorsichtig zog er den Schlitten mit seiner kostbaren Fracht von der Lichtung durch das Schilf und auf den freien Bodden. Er schnallte seine Skier an, verzurrte den Zuggurt des Schlittens um seinen Bauch und bewegte sich so schnell wie er konnte auf sein Haus zu.

Bei dem schnellen Tempo rutschte Gesche immer wieder aus der Lehne und schwankte hin und her, wie ein nasser Mehlsack. Immer wieder musste er anhalten, um sie einigermaßen zurechtzurücken, damit sie nicht vom Schlitten fiel.

Es wollte gar nicht aufhören zu schneien, was sich jetzt für ihn als Glücksfall erwies. Dadurch würden seine Spuren, die er unweigerlich im Schnee hinterließ, in kürzester Zeit verschwunden sein. Bevor er jedoch das Kliff erreichte, zog er sein Handy aus der Jackentasche. Er unterdrückte 'eigene Nummer anzeigen' und wählte seine Festnetznummer. Eine atemlose Stimme meldete sich: „Sonja Rammer!“

„Ich bin's, richte ein Bett her, funktioniere den Küchentisch zu einem provisorischen Operationstisch um und koche Mengen heißen Wassers, aber vorher ruf' unbedingt Doc Fernow an. Er soll sofort zu uns kommen. Es ist lebenswichtig.“

„Mann, ich habe mir solche Sorgen gemacht. Springst vom Tisch auf und haust ab. Immer deine gräßliche Geheimniskrämerei. Was ist los? Wo bist du? Was soll das Ganze? Was ist passiert?“

„Frag' nicht so viel, Sonja, mach' hin. Ich habe einen Verletzen auf dem Schlitten und bin gleich da. Der Doc soll sich beeilen.“

Mit zitternden Fingern wählte Sonja Rammer die Nummer von Dr. Gerd Fernow. Er wohnte in Golddorf, gute zehn Minuten von Labertin entfernt. Mit seinem großen Geländewagen würde er problemlos die zugeschneite Straße am Abzweig Bahrenhoop/Labertin auf den großen Parkplatz fahren können und von dort zu Fuß zu ihnen gelangen, mit dem Auto war ihr Häuschen nicht zu erreichen.

„Nun melde dich endlich.“ Sonja klopfte ungeduldig mit ihren Fingern auf den Tisch.

„Fernow.“

„Na endlich Gerd, hier ist Sonja, komm' bitte mit deinem Köfferchen schnellstmöglich zu uns. Es ist dringend, sagt jedenfalls Hilmar. Er ist mit einem Verletzten zu uns auf dem Weg.“

„Nun mal langsam,“ Gerd Fernows Stimme klang leicht schleppend, „warum soll ich um diese unchristliche Zeit, bei dichtem Schneefall und Eiseskälte so einen Ausflug unternehmen?“

Sonja wurde ungeduldig. „Weil es um Leben und Tod geht, und um meinen Mann,“ kam es flüsternd hinterher, „irgendetwas Schlimmes ist passiert und ich weiß nicht, was ich sonst tun soll.“

Die Stimme von Dr. Fernow wechselte den Tonfall. „Also gut, ich habe zwar schon gemütlich ein Gläschen getrunken, aber wat mut, dat mut, damit kann ich öm, weiss' ja. Kanns' auf mich zählen, Sonja-Mä'chen. Wahrscheinlich is' der Verletzte auch unterkühlt, also sorge bitte für warmes Wasser, ein warmes Bett und heißen Tee. Verantwortung kann ich aber nich' übernehm'. Du weiss' ja warum. Alles klar?“

„Hat Hilmar mir auch schon aufgetragen. Ja, is' klar, Gerd, bitte komm schnell.“

„Ich eile, liege offenbar richtig, mit meiner Vermutung. Bis gleich.“

Dr. Gerd Fernow hatte schon als junger gut ausgebildeter Allgemeinarzt vor vielen Jahren eine Praxis in Golddorf eröffnet. Landärzte waren rar und daher lief die Praxis hervorragend. Bis ihm vor zwei Jahren ein Fehler unterlaufen sein sollte, eine angebliche Fehldiagnose mit fatalen Folgen. Ein junger Patient sollte angeblich aufgrund von Fernow's Fehler gestorben sein. Fernow war sich sicher gewesen, richtig gehandelt zu haben, aber das Gericht hatte das anders gesehen, ihn schuldig gesprochen und 'nur' zu einer Bewährungsstrafe verurteilt. Dadurch verlor er jedoch seine Approbation und damit auch seine Praxiszulassung.

Ein junger Arzt rückte nach und eröffnete im Dorf alsbald wieder eine Praxis, die ebenso wie ehemals Fernow's, gut lief. Gerd Fernow hatte Glück im Unglück, da er gerade alt genug war, um in Rente zu gehen. Aber immer wenn er an dieses schreckliche Ereignis dachte, kroch nackte Wut darüber in ihm hoch, dass er für einen Fehler verurteilt worden war, den er nicht gemacht hatte und damit für den Rest seines Lebens ein Makel an ihm haftete. Deshalb trank er häufig mehr als ihm guttat, weshalb ihn zu allem Unglück auch noch vor wenigen Monaten seine Frau verlassen hatte. Die Einsamkeit bekam ihm überhaupt nicht und daher war er froh, dass er zeitweise immer noch gebraucht wurde. Bei Notfällen im privaten Umfeld half er weiterhin zuverlässig, worüber die Betroffenen wohlweislich schwiegen.

Offiziell durfte Gerd Fernow das ja nicht mehr, aber nichts desto trotz war er ein guter und erfahrener Arzt. Wie in all den Jahren vorher stand seine Tasche mit den Utensilien gefüllt im Flur, die er für einen Notfall brauchte. Dadurch war er jederzeit einsatzbereit, so wie jetzt. Der neue Arzt wusste das, drückte aber beide Augen zu, weil er ohnehin mehr als ausgelastet war.

Dr. Gerd Fernow schnappte sich die alte verwitterte Arzttasche, die ihn schon so lange Jahre treu begleitete, löschte das Licht bis auf eine kleine Tischlampe, damit es nachher, wenn er zurückkam ein bißchen freundlich aussah. Er zog im Flur seinen dicken Wintermantel an, nahm Handschuhe und Mütze vom Regal und ging in seine Garage.

Wieder einmal bemerkte er wohlwollend, was das im Winter für ein Luxus war. Kein Schneefegen und Eiskratzen, nur das Garagentor öffnen, ins einsatzbereite Auto einsteigen und losfahren. Heute hielt er in der Einfahrt nochmal an und schloss das Garagentor. Musste ja nicht jeder sofort merken, dass er unterwegs war.

Die Leute redeten schnell und er hatte keine Lust auf größere Schwierigkeiten. Hatte so schon genug zu verkraften. Andererseits hätte er es bei einem Anruf wie vorhin auch nicht mit seinem Gewissen vereinbaren können, gemütlich zu Hause zu bleiben, wenn ein Mensch in großer Gefahr war. Trotz aller Probleme nahm er den Eid des Hippokrates immer noch sehr ernst, den er zur bedingungslosen Erhaltung des menschlichen Lebens zwar nicht offiziell geschworen hatte, der aber bis heute als Grundlage der ärztlichen Berufsethik galt und Dr. Gerd Fernow fühlte sich daran gebunden.

Gespannt darauf, was ihn erwartete steuerte er seinen Geländewagen sicher auf die Dorfstraße und fuhr in Richtung Labertin. Die Straße dorthin zweigte von der Hauptstraße ab und war sicher nicht geräumt. Bloß gut, dass ich diesen prima Allrad-Jeep habe, mit dem ich sogar auf ungeräumten Straßen problemlos fahren kann, freute er sich wieder mal. Hier auf dem platten Land im Winter unerlässlich, das hatte ihn die jahrelange Erfahrung als Landarzt gelehrt.


*

„Warum um alles in der Welt fährt bei diesem Schietwetter noch ein Auto durchs Dorf? Komisch, wer das wohl ist?“ fragte Walter Jensen in der kleinen Polizeistation in Golddorf gerade seinen Kollegen Peter Braumann, als das Telefon klingelte.

„Polizeiobermeister Walter Jensen am Apparat,“ meldete der sich ungehalten.

„Ein Schuss, sicher ist ein Schuss gefallen, vor gut einer Stunde. Wahrscheinlich auf der Insel. Isser wohl wieder wildern,“ tönte eine nuschelnde Stimme aus der Muschel.

„Nu' mal langsam, was für ein Schuss und wer ist wildern? Wer sind Sie überhaupt?“

„Das tut nichts zur Sache, ich sag's nur, damit ihr Bescheid wisst."

„Hallo, sie, sagen sie mir Ihren Namen.“

„Nee,“ sagte der Anrufer und hatte einfach aufgelegt.

„Mist, Schietkram, das war ja mal ein saublöder Anruf, wenn ich das richtig gehört habe von einem Mann.“

Walter Jensen legte bedächtig den Hörer auf die Station zurück. Sein Kollege Peter Braumann musterte ihn verständnislos. „Mensch Walter, was ist denn los, du bist ja ganz blass um die Nase.“

„Peter, ich fürchte, wir müssen nochmal raus, womöglich sogar zur Insel rüber, irgendwas stimmt da nicht. Was auch immer, aber nachgucken müssen wir. Hilft alles nichts.“

„Bei diesem Wetter, spinnst du jetzt komplett? Da jagt man doch keinen Hund vor die Tür,“ empörte sich Braumann.

„Stell' dich nicht so an, du Jungspunt, ich hab' da so einen Verdacht,“ antwortete Jensen unbeeindruckt, „nichts wie rein in die warmen Klamotten und los. Vielleicht hängt das sogar mit dem Auto zusammen, das gerade bei uns vorbeigefahren ist.“

Brummelnd komplettierte sich Braumann, während Jensen im Rausgehen sein Equipment schnappte und auf dem Weg zum Dienstwagen die Jacke überzog. Beim Freischaufeln würde ihnen schon warm werden. Normalerweise sollten sie ja ihr Fahrzeug startklar halten. Aber bei diesem Wetter hatten weder Jensen noch Braumann damit gerechnet, noch zu einem Einsatz zu müssen.

Walter Jensen war als Obermeister der Chef der kleinen Polizeistation in Golddorf und Peter Braumann als Polizist sein Untergebener. Durch den immensen Altersunterschied klappte die Zusammenarbeit gut. Walter stand kurz vor der Pensionierung und Peter war ein junger Hüpfer. Fast wie Vater und Sohn.

Walter betreute seit über zwanzig Jahren die Außenstelle der Polizei in Golddorf. Er kannte jeden Dorfbewohner mit Namen und war bei den Leuten beliebt, weil er sehr unkonventionell war, was ihm hin und wieder Schwierigkeiten mit seiner vorgesetzten Dienststelle in Stralsund brachte. Was wussten die Städter schon vom Dorfleben?

Peter war seit drei Jahren dabei und eigentlich ziemlich grummelig, dass er auf so ein kleines Dorf versetzt worden war. Mit der Zeit begann er jedoch sich in dem kleinen Ort wohlzufühlen und die Vorzüge des Landlebens zu genießen. Mit Walter hatte er einen erfahrenen und verständnisvollen Chef. Es war richtig gemütlich hier, denn außer ein paar Verkehrsdelikten, gelegentlichen Streitereien der Dorfbewohner untereinander und hier und da Problemchen mit den Feriengästen passierte nicht viel und die Tage liefen gleichmäßig dahin. Obwohl erst Mitte dreißig, merkte Peter, dass ihm dieses beschauliche Leben gefiel. Stralsund war ja nicht weit und er konnte wann immer er wollte dort hinfahren, wenn ihm nach Stadt war. Nur heute, ja heute wäre er wirklich tausend Mal lieber in der warmen Wachstube geblieben. Aber es half nichts, Dienst war Dienst und wenn Walter dienstlich wurde, dann gab es kein Pardon.

„Wo bleibst du denn so lange, verflucht,“ rief Walter aufgebracht von draußen, „ich habe schon das ganze Auto freigeschaufelt und -gefegt.“

Peter stürzte schuldbewusst aus der Reviertür zum Beifahrersitz. Er wollte sich geschickt an Walter vorbeischlängeln, aber dieser fing ihn ab und kniff ihn in den Arm.

„Faulpelz, mir altem Mann die ganze Arbeit zu überlassen. So geht das nicht, da reden wir nochmal drüber. Aber jetzt nichts wie los.“

Walter startete den Mercedes, der, obschon ein Diesel, nach kurzer Vorwärmung ansprang und lenkte ihn vom Parkplatz auf die Straße.

„Sag mal,“ versuchte es Peter unverbindlich dienstlich, „was meintest du mit einem Verdacht?“

„Ach nichts, lass uns erstmal vor Ort sein, dann sehen wir weiter.“

Peter spürte, weitere Fragen würden nichts bringen, und so schwieg er. Am Abzweig nach Labertin waren die Autospuren von Dr. Gerd Fernow schon wieder zugeschneit. Jedenfalls dachten weder Walter Jensen geschweige denn Peter Braumann daran, dass das vorhin die Dorfstraße entlangfahrende Auto nach Labertin abgebogen sein könnte. Was für ein Glück für Fernow und die Rammer's.

Als die beiden Polizisten den Hafen von Bahrenhoop erreichten, hielten sie rechts neben dem Kreisverkehr und stiegen aus. „Wo willst du hin?“ fragte Peter, als er neben dem Wagen stand und vorschriftsmäßig seine Mütze aufsetzte.

„Auf die Insel.“

„Zu Fuß?“

„Wie sonst, meinst du, wir riskieren es mit dem Auto rüberzufahren? Nichts da, ein bißchen frische Luft wird uns guttun.“

„Könnte ich drauf verzichten,“ kam es murrend zurück. Das hatte Walter schon nicht mehr gehört, denn er war bereits vorausgegangen. Peter riss sich zusammen und stolperte hinterher.


*

In Rekordzeit war Hilmar Rammer samt Schlitten auf seinen Skiern über das Eis geglitten. Gelegentlich hatte er gestoppt, Gesche zurecktgerückt und ihr immer wieder gut zugeredet. „Komm Kleine, halt durch, wir haben es gleich geschafft.“

Sein Haus war heute abend hell erleuchtet, damit Gerd Fernow sein Ziel bei dem weiterhin anhaltenden Schneesturm schon von weitem ausmachen konnte. Beide Männer erreichten aus verschiedenen Richtungen gleichzeitig das Rammersche Haus. Sonja empfing sie in der offenen Haustür. Gerd Fernow verlor keine Zeit, inspizierte Gesche und gab kurz und knapp seine Anweisungen.

Sonja und Hilmar fügten sich ohne zu murren. Hilmar trug Gesche vorsichtig in die Küche und legte sie auf den Küchentisch, den Sonja wie von ihrem Mann aufgetragen zum Operationstisch umfunktioniert hatte. Der Tisch war gepolstert mit einer Isomatte, darauf mehrere Lagen Wolldecken und ganz zuoberst ein blütenweißes Laken und ein weiches Kopfkissen. Als wäre sie zerbrechliches Glas bettete Hilmar die wimmernde Gesche auf dem Küchentisch.

Dr. Gerd Fernow spritzte ihr ein leichtes Schmerzmittel und bat Sonja, Gesches Oberkörper soweit zu entkleiden, damit er die verletzte Schulter untersuchen konnte. Pullover und T-Shirt waren so mit der Wunde verklebt, dass Sonja kurzerhand mit einer großen Schere drumrumschnitt.

„So Gerd, den Rest musst du selber freilegen. Ich habe Angst, die blutverkrustete Wunde wieder aufzureißen.“

„Bring' mir genügend heißes Wasser Sonja, damit ich die Kruste aufweichen und die Wunde säubern kann.“ Fernow zog konzentriert eine weitere Spritze auf.

„Was denn jetzt noch?“, fragte Hilmar.

„Ich gebe ihr vorsichtshalber noch eine Thetanusspritze, sicher ist sicher, nicht dass sie noch 'ne Blutvergiftung kriegt.“

Sonja brachte eine vorbereitete Schüssel, einen sauberen Lappen und reichte beides Gerd. Der tauchte den Lappen ins heiße Wasser und legte ihn behutsam mit geübter Hand fast nass auf die Wunde. Diesen Vorgang wiederholte er ein paar Mal. Die verklebten Stoffteile lösten sich nach und nach und er tupfte vorsichtig das die Wunde umgebende verkrustete Blut ab. Die Blutung hatte nachgelassen. Dann untersuchte er die freigelegte Wunde und wiegte den Kopf bedenklich hin und her. Gesche schwankte zwischen kurzen hellen Augenblicken und bleierner Ohnmacht.

„Was ist, kannst du sie retten? Mach' los, bitte, sag' endlich was!“, sagte Hilmar forsch um seine Ängste zu übertünchen.

„Sie ist schon ziemlich unterkühlt und hat eine ganze Menge Blut verloren, aber sie ist jung und stark, das müsste sie packen. Mein lieber Freund,“ damit meinte er Hilmar, „du hast großes Glück gehabt, es ist nur ein Streifschuss. Zwar eine ziemliche Wunde, aber es steckt keine Kugel drin. Los jetzt, wir dürfen keine Zeit mehr verlieren. Sonja, bring' uns heißen Tee und versuche, ihn Gesche in kleinen Schlucken einzuflößen und du Hilmar assistierst mir.“

Hilmar stöhnte, „muss das sein. Mir wird ganz schwummerig.“

„Jetzt reiß dich mal zusammen, du schießt Keiler und Wild, nimmst die Tiere aus und bei dieser Sache, die du dir übrigens selbst eingebrockt hast, willst du schlappmachen?! Kommt nicht in Frage, ich brauche deine Unterstützung. Los jetzt.“

Hilmar atmete tief durch und stellte sich an Fernow's Seite. Der grinste, „na also, geht doch.“

Unabhängig voneinander nahmen sich sowohl Sonja als auch Hilmar vor, nach dieser Sache, so sie denn hoffentlich gut ausging, ihr Leben zu ändern. Ruhig machte Dr. Gerd Fernow seine Arbeit, ganz der professionelle Arzt, der er auch heute noch war. Sonja eilte geschäftig hin und her, Hilmar unterstützte den Doc. Nachdem Fernow die Schulter verbunden hatte, sah er von seiner Arbeit auf und strahlte Sonja und Hilmar an.

„Geschafft, ich habe getan, was möglich war, den Rest muss das Kind“, wie er Gesche immer noch bezeichnete, weil er sie tatsächlich seit ihren Kindertagen kannte, “alleine schaffen. Heute Nacht müsst ihr beide abwechselnd Wache halten, falls Komplikationen auftauchen, ruft ihr an.“

„Was denn für Komplikationen?“, fragte Sonja zaghaft und ängstlich.

„Sonja, stell' dich doch nicht so blöd an,“ sagte Gerd Fernow ungehalten und Hilmar nickte zustimmend. „Gesche könnte beispielsweise hohes Fieber bekommen, oder Probleme mit dem Kreislauf. Auch ein Schock ist nicht auszuschließen. Sie ist längst nicht über den Berg. Morgen früh komme ich auf jeden Fall und dann bleibe ich bei ihr, damit ihr in Ruhe eine Mütze voll Schlaf kriegt. Die erste Wache übernimmst du, Hilmar, damit Sonja eine kräftige Brühe kochen kann,“ Fernow grinste süffisant, „Fleisch und Knochen dürftet ihr ja genug im Haus haben. Alle Stunde flößt ihr Gesche eine Tasse davon ein, nur eine Tasse, nicht mehr. Klar?“

Rammers nickten eifrig und versprachen, Fernow's Anordnungen genauestens auszuführen. Hilmar hob Gesche vorsichtig auf seine starken Arme und trug sie die Treppe hoch in das vorbereitete Gästezimmer, wo im kleinen Kamin ein munteres Feuerchen brannte, das Sonja schon nach Hilmar's Handyanruf entfacht hatte. Eine mollige Wärme schlug ihnen entgegen, als Hilmar die Tür zu dem kleinen Zimmer öffnete, Gesche sanft ins Bett hob und behutsam zudeckte.

Dr. Gerd Fernow packte derweil in der Küche seine Instrumente zusammen, nahm seine Arzttasche und kam in den Flur, wo beide Rammer's warteten, um ihn zu verabschieden. Er sah sie streng an: „Ein für allemal, wenn diese Eskapade gut ausgeht, ist Schluss mit Wildern für alle Zeit. Das nächste Mal könnte es tödlich enden, denkt daran.

Es sieht für Gesche ganz gut aus, deshalb nehme ich diese Verantwortung auf mich, womit allerdings auch ich in Teufels Küche kommen könnte. Ich hoffe, das ist euch klar. Wir bewegen uns sozusagen alle auf sehr dünnem Eis. Normalerweise müsstet ihr den Notarzt rufen und hättet damit echten Erklärungsbedarf. Das ist das letzte Mal, dass ich so eine Verantwortung auf mich nehme. Kapiert?“

Dankbar nahm Sonja Fernow's Hände in die ihren und sagte: „Ja, ich weiß. Danke! Du hast Recht Gerd, so geht es nicht weiter. Wir werden unser Leben ändern, versprochen.“

Hilmar nickte zustimmend, brummelte irgendwas, was wie Zustimmung klang und klopfte Dr. Gerd Fernow verlegen auf die Schulter.

„Gerd, was kriegst du dafür?“, die praktische Sonja kam durch.

„Nichts, außer eurem 'Indianderehrenwort', mit der Wilderei ein für alle Mal aufzuhören. Ich kenne Gesche seit Kindertagen, war ja auch mit Frieder gut befreundet und helfe ihr von Herzen gern. Was ich nur hoffe ist, dass es auch wirklich genützt hat. Wir müssen abwarten, mehr können wir jetzt nicht tun außer vielleicht,“ er unterbrach sich, bevor er leise hinzufügte „beten!“

Brüsk drehte er sich um, nahm seine Tasche, die er auf den Boden gestellt hatte während er seinen Mantel anzog und die Mütze aufsetzte und wandte sich zur Tür. Bevor er rausging, drehte er sich noch einmal um: „Bis morgen früh ihr beiden, viel Glück.“

Sonja und Hilmar sahen sich vielsagend und zum ersten Mal seit langer Zeit verständnisvoll an und bereiteten sich innerlich auf eine lange Nacht vor.


*

Als Frauke und Falk die Insel erreichten, kamen sie zu spät. Schon von weitem hatten sie gerufen, aber keine Antwort erhalten. Als sie die Lichtung betraten, sahen sie sofort, dass Gesche verschwunden war. Es konnte noch nicht lange her sein, dass irgendwer sie abtransportiert hatte. Obwohl der Schnee immer noch dicht fiel und den Ort des grausamen Geschehens mehr und mehr zudeckte, war bei genauem Hinsehen noch zu erkennen, wo Gesche gelegen hatte. Fraukes Mantel war auch weg.

„Scheiße, sie ist weg,“ war Falks einziger Kommentar.

„Ja, das sehe ich auch, wir sind zu spät gekommen. Wo kann sie bloß sein? Nicht, dass sie versucht hat auf's Festland zu kommen und auf dem Weg dorthin zusammengebrochen ist, hilflos auf dem Eis liegt und langsam erfriert? Mein Gott, ich mache mir solche Sorgen. Was sollen wir nur tun?“ Frauke schlug die Hände vors Gesicht und konnte die Tränen nicht mehr länger zurückhalten.

„Hör' auf zu heulen, das hilft uns auch nicht weiter,“ reagierte Falk schon wieder schroff auf ihren Ausbruch.

Plötzlich wollte sie nur eins, weg von der Insel, weg von Falk, zurück in ihre kleine Wohnung und ihren Gefühlen freien Lauf lassen, heulen, wenn ihr danach war und nichts mehr sehen und hören. Sie sehnte sich nach Wärme, Ruhe und einer Nachricht von Gesche. In den vergangenen Stunden war einfach zu viel auf sie eingeprasselt, die Sorge um ihre kleine Schwester drohte sie zu ersticken.

„Danke für dein Verständis, ich bin einfach total fertig, das war's dann wohl,“ damit drehte sie sich abrupt um und rannte so schnell es auf dem Eis möglich war zurück nach Bahrenhoop.

Völlig überrascht von diesem Ausbruch rief ihr Falk hinterher: „Warte, warte doch, es war nicht so gemeint.“

Leise für sich murmelte er, ich bin auch fertig. Kraftlos ließ er die Arme sinken und verließ wie in Zeitlupe ebenfalls die Insel, wandte sich aber gleich in die Richtung zu seinem Haus. Das Walter Jensen und Peter Braumann die Insel von der Aussichtsplattform her ansteuerten, bemerkte er nicht.

*

Frauke ging nicht zum Strandabschnitt wie vorhin, sondern kletterte völlig außer Atem über die Molensteine. Da sah sie es, das Polizeifahrzeug. Waren Jensen und wie hieß der andere noch, ja richtig, Braumann, waren die beiden Polizisten etwa hier?

Wahrscheinlich hatten die den kürzesten Weg vom Aussichtspunkt zur Insel gewählt, sonst wären sie sich womöglich noch mitten auf dem Eis begegnet. Das hätte ihr gerade noch gefehlt. Dem Schneetreiben sei Dank. Sie beruhigte sich ein wenig. Jensen war ein erfahrener Polizeibeamter und würde bestimmt alles Notwendige veranlassen. War der Schuss etwa in Golddorf zu hören gewesen? Oder waren sie von wem auch immer informiert worden? War der Schuss überhaupt der Grund für das Auftauchen der Polizei in Bahrenhoop? Fragen über Fragen.

Was soll's, dachte sie, wenn sie nur erst zuhause wäre, dann würde ihr Hirn hoffentlich wieder funktionieren und Brauchbares produzieren. Frauke stolperte mehr als sie ging zum Parkplatz und fand statt eines Autos einen Riesenhaufen Schnee. Notdürftig säuberte sie die Fahrertür, fischte ihren Schlüssel aus der Hosentasche und hoffte inniglich, das Schloss möge nicht zugefroren sein. Sie hatte Glück, angelte Handfeger und Eiskratzer hinter dem Rücksitz vor und machte sich in wilder Eile ans Werk. In diesem Tempo hatte sie ihren treuen Justy noch nie von Schnee und Eis befreit.

Der Parkplatz war nicht geräumt, hoffentlich schaffte es ihr kleiner blauer Flitzer bis zur Straße. Komm' Kleiner, lass mich jetzt nicht im Stich und als hätte das Auto ihren Seufzer gehört sprang er wie ein Örgelchen an. Was für ein beruhigendes Geräusch. Er wühlte sich langsam aber kontinuierlich vor bis zur Straße und die war, dem Himmel sei's gedankt, auf ihrer Seite bereits geräumt. Erleichtert lenkte sie das Auto nach links, Richtung Stralsund. Ein Ungetüm mit grellen Scheinwerfern kam ihr entgegen, der Schneepflug, der dabei war, die andere Fahrbahnseite zu räumen.

Sie kam zügig voran. Sonst begegneten ihr keine weiteren Fahrzeuge. Wer wollte denn auch bei solch einem Sauwetter mit dem Auto unterwegs sein, wenn er nicht unbedingt musste. Die Ruhe vor dem Sturm? Das war ihr vollkommen egal, alle Blechkisten und Hexagone dieser Welt konnten ihr gestohlen bleiben, das Erbe ihres Vaters hatte plötzlich keine Bedeutung mehr. Sie dachte nur an Gesche und hoffte inständig, dass ihre kleine Schwester in Sicherheit war. Frauke schämte sich abgrundtief, wenn sie an ihre Reaktion auf der Insel dachte. Was war bloß los gewesen mit ihr? Sie fand keine Erklärung.

Die größte Enttäuschung aber war Falk, ihr großer Bruder. Klar, er hatte sie zu Boden gezogen und damit vielleicht gerettet, aber um Gesche hatte er sich einen Dreck geschert, selbst als sie verletzt zusammengebrochen war. Wie ein Fremder war er ihr mit seinem eiskalten Verhalten vorgekommen. Nur das Erbe hatte er offenbar im Sinn gehabt, und wäre Gesche .....nein, daran wollte sie nicht denken, wenn Gesche tot gewesen wäre, hätte er das Erbe nur durch zwei teilen müssen, wäre ihm das gelegen gekommen? Nein, das wollte sie nicht glauben, aber er hatte einen Stachel in ihr Herz gebohrt, der würde wohl bleiben.

Was hatte er bloß gegen seine kleine Schwester. Ihr fiel ein, dass er schon immer auf Gesche rumgehackt hatte. Ja, es stimmte, sie war genaugenommen nicht direkt ihrer beider Schwester. Frieder hatte sie als Baby in Fine's Obhut gegeben, da Gesches Eltern, gute Freunde Frieders, bei einem Autounfall tödlich verunglückt waren. Na und, sie war mit ihnen zusammen aufgewachsen und für sie, Frauke, war Gesche von Anfang an die kleine Schwester gewesen, Punkt! Ja, es stimmte, wenn sie jetzt zurückdachte, war Falk Gesche gegenüber immer reserviert, ja oft sogar richtig eklig gewesen, allerdings nur, wenn weder Frieder noch Fine in der Nähe waren. Die ahnten nichts von Falks Gefühlen. Wieso hatte er Gesche dann überhaupt heute nachmittag dazugeholt?


*

Kommissarin Britta Ohlsson saß an diesem Sonntagabend an ihrem Schreibtisch und beobachtete die rieselnden Schneeflocken vor ihrem Fenster. Sie hatte schon einen vorwitzigen Ausblick von ihrem Büro hoch oben im alten Speicher auf der Hafeninsel. Über den Sund sah sie direkt zur Insel Rügen. Heute jedoch verschwamm diese hinter einem Schneeschleier, ebenso wie Altefähr, der kleine Ort am Südrand der Insel.

Eine angenehme Stille hüllte sie ein, kein geschäftiges Treiben unten wie im Sommer, auch die Schiffe konnten seit einigen Wochen nicht mehr fahren, der Strelasund war zugefroren. Britta fühlte sich privilegiert, während ihrer Bürostunden einen solch wunderbaren Ausblick zu haben und es fiel ihr hin und wieder echt schwer, sich davon loszureißen.

In den vergangenen zwei Stunden hatte sie einiges aufgearbeitet, was im Tagesgeschäft an Schreibkram liegengeblieben war, aber dennoch erledigt werden musste. Britta schob solche Arbeiten gerne auf, weil sie viel lieber unterwegs war oder recherchierte, als lästige Berichte zu schreiben, Formulare auszufüllen oder ähnliches. Aber auch das gehörte zum Polizeiberuf und musste irgendwann gemacht werden. Alles konnte sie auch nicht auf ihre Kollegen abschieben. Offiziell war sie schon weg, hatte sich bereits ausgetragen, aber sie wollte noch einen Moment einfach dasitzen, den Schneeflocken zuschauen und nachdenken.

Britta und ihre kleine Tochter Merle lebten in einer Zweizimmerwohnung in der Seestraße, also nur ein paar Schritte von ihrem Büro auf der Hafeninsel entfernt. Die Wohnung lag aber im Erdgeschoss und sie hatte keinen freien Blick auf's Wasser, da Bäume ihr diese Sicht versperrten.

Diese unverstellte Aussicht hatte sie nur von ihrem Bürofenster aus, weshalb sie gelegentlich auch nach getaner Arbeit, wenn sie allein war, auf ihrem Stuhl sitzenblieb und nachdachte oder träumte. Merles Vater hatte sie kurz nach der Geburt des Kindes verlassen und so zog sie das Mädchen alleine groß. Britta liebte ihre Tochter über alles und es war ein Segen, dass ihre Eltern in der Nähe, in der Sarnowstraße, wohnten und sich viel um Merle kümmerten. Vormittags ging die Kleine in den Kindergarten und nachmittags war sie meist bei Oma und Opa, die sie vom Kindergarten abholten und anschließend liebevoll betreuten. Merle war gern bei ihren Großeltern, aber manchmal wünschte sie sich, dass ihre Mutter mehr Zeit für sie hätte. Britta hätte das einerseits auch gern gehabt, aber andererseits liebte sie ihren Beruf und konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, diesen aufzugeben. Dazu kam, dass sie Geld verdienen musste. Sie seufzte, es ist nun mal wie es ist, damit müssen Merle und ich eben klarkommen.

Britta war gleich nach der Schule zur Polizei gegangen und fleißig und kontinuierlich ihrem Weg nach oben gefolgt. Seit einigen Jahren war sie Kommissarin und damit Chefin eines kleinen Teams. Nach einigen Anfangsschwierigkeiten wurde sie heute uneingeschränkt respektiert und sorgte mit ihrer symphatischen Art für ein entspanntes Verhältnis zu ihren Untergebenen.

Sie war eine attraktive Frau, hatte bis auf die Größe verblüffende Ähnlichkeit mit Ingrid Bergman, was sicher auf ihre schwedischen Wurzeln zurückzuführen war. Meist war sie ausgeglichen und mit ihrem Leben bis auf die wenige Zeit für Merle zufrieden, was sie auch ausstrahlte. Nur manchmal ging ihr Temperament mit ihr durch, dann konnte sie richtig schäumen vor Wut, wofür sie sich hinterher meist schämte und blumenreich entschuldigte. Sie lächelte in sich hinein, wer ist schon perfekt?

Das Telefon klingelte und sie landete unbarmherzig in der Wirklichkeit. Nanu, wer ist das denn um diese Zeit, murmelte Britta vor sich hin, offiziell ist Sonntagabend doch niemand im Büro. Leider verfügte die Dienststelle noch über ältere Telefone ohne Display, auf dem die Nummer des Anrufers zu sehen war und daher zögerte sie für einen kurzen Moment, den Hörer abzunehmen. Dann siegte ihre Neugier und sie meldete sich: „Britta Ohlsson, Kommissariat Stralsund.“

„Oh, Frau Ohlsson, gut, dass ich sie erreiche, hier ist Walter Jensen von der Dienststelle in Golddorf. Entschuldigen sie die Störung, aber da ich weiß, dass sie manchmal auch Sonntags im Büro sind, habe ich es einfach versucht. Es geht um Folgendes: Ein anonymer Anrufer erzählte von einem Schuss, den er angeblich gehört haben will in Bahrenhoop oder Umgebung.“

„Ja und?“

„Nun, mehr wissen mein Kollege und ich auch nicht. Der Anrufer sprach nur von einem Schuss. Was sollen wir tun?“

„Hm, da draußen sind doch auch Jäger auf der Pirsch, soweit ich weiß. Kann es nicht sein, dass einer von ihnen geschossen hat?“

„Ja, könnte theoretisch sein, aber bei solchem Sauwetter wie heute abend ist das eher unwahrscheinlich, außer...,“ Jensen zögerte weiterzusprechen.

„...was außer?“ hakte Britta nach,

„außer es war ein Wilderer unterwegs, für den wäre dieses Wetter ideal.“

„Verstehe, und, haben Sie jemanden im Visier?“

„Nicht direkt, ich weiß auch nur von Gerüchten, die in der Gegend kursieren. Nichts Konkretes, nur, dass wohl manchmal Wilderer auf der 'Tannennadel' zuschlagen.“

„Wo bitte? Sie reden in Rätseln.“

„Na hier, auf der langgestreckten von dichtem Wald, hauptsächlich eben Tannen, bestandenen Insel zwischen Ostsee und Bodden, dem Bahrenhooper Kliff vorgelagert. Wird im Volksmund 'Tannennadel' genannt.“

„Und wie heißt sie wirklich?“

„Keine Ahnung, ansonsten wird einfach von 'der Insel' gesprochen und dann wissen auch alle, was gemeint ist.“

„Sagen sie Herr Jensen, steht die 'Tannennadel',“ Britta Ohlsson nahm sich vor die Insel von jetzt ab auch so zu nennen, „nicht unter Naturschutz? Die darf doch meines Wissens niemand betreten, außer einmal im Jahr die Vogelschützer, oder bin ich da falsch informiert?“

„Nein, nein, das stimmt offiziell, aber es gibt leider immer wieder Ignoranten, die sich über das Verbot hinwegsetzen,“ etwas trotzig fügte er hinzu, „wir können uns ja nicht nur um die Insel kümmern, haben auch sonst genug Arbeit.“

Britta lächelte, „schon gut Herr Jensen, das weiß ich doch, sollte kein Vorwurf sein,“ beschwichtigte sie den Kollegen, „waren sie denn nach dem anonymen Anruf auf der Insel und haben nach dem Rechten gesehen?“

„Ja, waren wir, mein Kollege Peter Braumann und ich. Konnten aber keinerlei Spuren entdecken, alles war rundrum vollkommen zugeschneit und verweht. Wir haben nichts gefunden, noch nicht mal einen Anhaltspunkt. Natürlich könnte der Schuss auch im Bahrenhooper Wald gefallen sein. Dort etwas zu finden entspräche der berühmten Stecknadel im Heuhaufen, denn auch im Wald wären bei dem Wetter heute die Spuren längst verweht. Also, komplett Fehlanzeige.“

Das sah Britta ein, sie kannte Bahrenhoop und die Umgebung von Sonntagsausflügen mit ihrer Familie. Eine traumhafte Gegend, ideal für Erholungssuchende.

„Danke, Herr Jensen, für die rasche Information und ihren tapferen Outdoor-Einsatz. Mehr ist heute nicht drin, ich komme morgen früh zu ihnen raus nach Golddorf, dann hören wir uns mal um. Sie kennen doch die Bewohner und wissen sicher, wo wir mal unverbindlich nachfragen können. Ach übrigens, ein neuer Kollege wird mich begleiten, der morgen früh seinen ersten Dienst bei uns antritt. Ich kenne ihn auch noch nicht, wir dürfen also gespannt sein. Grüßen sie Ihren Kollegen Braumann und einen schönen Abend.“

Jensen atmete hörbar auf, „alles klar, Frau Ohlsson, ich erwarte sie dann morgen früh auf der Dienststelle. Sie wissen ja, dass entweder Braumann oder ich möglichst auf der Polizeistation bleiben müssen um die Stellung zu halten. Nur wenn's gar nicht anders geht, sind wir zu zweit unterwegs. Wir wünschen Ihnen auch einen schönen Abend.“

Damit beendete er das Gespräch und nickte Braumann freundlich zu, um ihm zu signalisieren 'alles paletti'.


*

Frauke parkte den zuverlässigen Justy vor ihrer kleinen Wohnung in der Frankenstraße, die glücklicherweise einigermaßen geräumt war. Auf der Fahrt war ihr warmgeworden, sie hatte Falk's Anorak abgestreift und sich etwas beruhigt. Sie öffnete die Fahrertür, klappte die Lehne zurück und angelte ihren Rucksack vom Rücksitz. Den Anorak ließ sie im Auto liegen. Es war immer noch sehr kalt, aber hier in Stralsund schneite es wenigstens nicht mehr, was sie erstaunt und erfreut feststellte. Was jedoch nicht hieß, dass in Bahrenhoop auch kein Schnee mehr fiel, denn in Ponrow war eine Wetterscheide.

Im fahlen Licht der Schneereflektion war sie auf den gut geräumten Straßen rasch vorangekommen. Ihre Spuren auf der Insel waren hoffentlich längst unter einer dicken Schneeschicht begraben und darüberhinaus verweht. Frauke schulterte schwungvoll ihren Rucksack, schloss das Auto ab, klopfte ihm liebevoll auf den Kotflügel, während sie flüsterte „braves Auto, danke, hast mich gut hergebracht,“ und wandte sich zu ihrer Haustür. Sie setzte den Rucksack ab und begann darin nach ihrem Hausschlüssel zu wühlen. Warum verschluckten diese Dinger immer alle wichtigen Sachen? Jedes Mal diese blöde Sucherei.

„Na, Frau Nachbarin, so leicht bekleidet bei dieser Kälte? Wo haben Sie denn Ihren Mantel und die schöne passende Mütze gelassen?“

Vor Schreck glitt ihr das soeben geangelte Schlüsselband aus der Hand und fiel zurück in die Tiefe des Rucksacks. Erschrocken sah sie sich um und ihre Anspannung machte sich Luft, indem ihr der Geduldsfaden riss: „Was geht das Sie an?“

Entwaffnend lächelten sie zwei freundliche braune Augen umgeben von vielen Lachfältchen besorgt an: „Genaugenommen nichts,“ nahm der Mann ihr sogleich den Wind aus den Segeln, „es fiel mir nur auf, weil ich Sie vorhin habe wegfahren sehen.“

Schnippisch antwortete sie: „Haben Sie nichts anderes zu tun, als andere Leute zu beobachten?“

„Oh doch, natürlich, aber wenn ich jemanden nett finde, der auch noch neben mir wohnt, achte ich auf denjenigen, in diesem Fall Sie. Sie wirken etwas verstört. Brauchen Sie Hilfe?“

„Nee,“ fertigte Frauke den besorgten Nachbarn schroff ab. Der ganze aufgestaute Frust der vergangenen Stunden brach sich jetzt erst so richtig Bahn. Es traf natürlich wie meist, den Falschen. Aber sie konnte sich einfach nicht beherrschen.

Anton Kaldroweit sah ein, dass es wenig Sinn hatte, dieses Gespräch fortzusetzen. Er tippte mit seinem Finger grüßend an die Mütze.

„Na dann, 'nen schönen Abend noch. Wenn Sie wieder besser drauf sind, können wir vielleicht mal ein Glas Wein zusammen trinken. Klingeln Sie einfach, wenn Ihnen der Sinn danach steht, natürlich auch, falls Sie wider Erwarten doch männliche Unterstützung benötigen.“

Frauke riss sich zusammen, presste ein „danke, mach' ich“ zwischen den Zähnen hervor und stapfte, wütend über sich selbst, zu ihrer Wohnung hinauf. Mist, den hatte sie ja schön vergrätzt, dabei war er eigentlich recht symphatisch und attraktiv dazu, irgendwie ein Künstlertyp. Was war bloß in sie gefahren?

Sie schloss ihre Wohnungstür auf und freute sich über die Wärme, die sie sogleich umfing. Hier fühlte sie sich geborgen. Hoffentlich war Gesche auch gut aufgehoben, dachte sie gerade, als ihr Handy bimmelte. Sie sah auf's Display, auch das noch, der hatte ihr gerade noch gefehlt. Kurz angebunden meldete sie sich: „Ja?!“

„Ja, was ja,“ äffte eine weinerliche und schleppende Stimme sie nach, „endlich erreiche ich dich und du sagst nur ja. Ich hab' mir Sorgen gemach'.“

„Deshalb bist du mal wieder in einem See von Wein und Bier davongeschwommen und suchst nun ein Ufer, was?!“

„Hör' auf so gestelzzzz rumzusülzen, du fehllsss mir.“

„Jochen, tut mir leid, aber ich verspüre jetzt überhaupt keine Lust auf dein besoffenes Geschwafel. Melde dich wieder, wenn du deinen Rausch ausgeschlafen hast. Mach's gut.“

Entschlossen drückte sie das Gespräch weg, für eine sinnlose Endlosdiskussion reichte ihre Kraft heute wirklich nicht mehr. Ach Jochen, du Blödmann, dachte sie und fühlte gegen ihren Willen ein Ziehen in der Brust.


*

Am Mittelmeer, in einem verträumten kleinen italienischen Hafen starrte ein ehemals stattlicher, attraktiver Mann auf das vor seinen blutunterlaufenen Augen verschwimmende Display seines Handys. Er schwankte in der Plicht seines Segelbootes bedenklich hin und her, plumpste auf die Backskiste und versuchte, seine Augen scharfzustellen, was ihm nicht gelang.

Zwischen Wut und Weinen hin und her gerissen, liefen ihm die Tränen übers Gesicht. Er ließ ihnen freien Lauf und erst als sie von selber versiegten, erhob er sich schwerfällig und taumelte schwankend den Niedergang runter in den Salon. Frauke war so kurz angebunden gewesen, und er war zu verblüfft und zu fertig, um einen weiteren Anruf zu wagen. Sogar in seinem Zustand war ihm klar, dass das heute keinen Zweck mehr hatte, schließlich kannte er Frauke lange genug.


*

Frauke schüttelte sich, nein, so konnte es nicht mehr weitergehen, sie musste eine Entscheidung treffen, was aus ihrer Beziehung mit Jochen werden sollte, die so hoffnungsvoll begonnen hatte. Wenn ich weiss, was mit Gesche ist, werde ich nach Italien fahren und mit Jochen reden. Entweder, er lässt sich helfen, dachte sie, oder es ist endgültig vorbei mit uns. Hopp oder topp!

Immer wurden die armen Menschen bedauert, die dem Alkohol verfielen, was ja auch grundlegend ok war, denn sie waren krank. Schön und gut, aber wer dachte an die Partner und überhaupt an die Menschen aus dem sozialen Umfeld, die mit den Alkoholkranken zu tun hatten, all die schwankenden Stimmungen aushalten und ausgleichen mussten? Wer wusste schon, wie viel Kraft das kostete?

Frauke ging in ihre kleine Küche, die Jochen so liebevoll selbst im mediterranen Stil gebaut hatte. Nein, jetzt keine Gedanken mehr an ihn, sagte sie zu sich und schob die Erinnerungen energisch zur Seite. Sie befüllte den Wasserkocher und schaltete ihn an. Erstmal einen heißen Tee. Das Werkeln in der Küche lenkte sie von ihren düsteren Gedanken ab. Sie richtete sich eine Kleinigkeit zu essen her, stellte ihr Teeglas und den Teller auf ein kleines Tablett und ging zurück ins Zimmer an den runden Tisch. Mit Heißhunger verspeiste sie den Imbiss und spülte mit Tee nach. Nach ihrem kleinen Mahl ließ sie den benutzten Teller einfach auf dem Tablett stehen und sackte mit dem Teeglas in der Hand in ihren gemütlichen Ohrensessel, der so schön bunt mit all ihren Lieblingsstoffen bezogen war.

Nachdenklich drehte sie das Glas zwischen ihren Händen und als es geleert war, stellte sie es auf einen kleinen Hocker, der als Ablage neben ihrem Sessel stand. Frauke lehnte sich erschöpft zurück als die Müdigkeit sie übermannte und ihr die Augen zuzog. Mühsam versuchte sie wach zu bleiben, aber es gelang ihr nicht, der Schlaf war stärker.

Wieso klingelte irgend so ein Handy laut und anhaltend in ihren wirren Träumen? Irgendeins? Quatsch, das war ja ihr eigenes, sie brauchte einige Zeit, um das zu realisieren. Benommen starrte Frauke auf das Display, der Anrufer hatte seine Nummer unterdrückt. Sie meldete sich mit belegter Stimme: „Frauke Sundermann.“

„Ja hallo, sind Sie die Schwester von Gesche Sundermann?“ plärrte ihr eine unbekannte Stimme ins Ohr.

„Wer ist denn da?“

„Das tut nichts zur Sache, sind Sie's nun oder nicht?“

„Ja, bin ich, wer sind Sie?“

Der Anrufer ging auf ihre Frage nicht ein und sagte nur kurz angebunden: „Sie waren doch heute nachmittag auf der Insel, richtig?“

„Was geht sie das an?“

„Ne' Menge, wie auch immer, jedenfalls ist ihre Schwester in Sicherheit, falls sie das überhaupt interessiert.“

„Hallo, hallo,“ brüllte Frauke ins Telefon, während sie ungeduldig mit den Fingern auf die Sessellehne klopfte „natürlich, wo ist sie denn? Wie geht es ihr? Bitte, bitte, kann ich mit ihr sprechen?“

Es war zu spät, der Anrufer hatte einfach aufgelegt. Völlig durcheinander und übermüdet brach Frauke in Tränen aus, dieses Telefonat brachte das Fass zum Überlaufen. Erst der Tod ihres geliebten Vaddings Frieder, dann die Probleme mit Jochen und jetzt auch noch die Ungewissheit darüber, ob Gesche schlimm getroffen worden war und wie es ihr wirklich ging.

Es reichte, sie konnte nicht mehr. Als der Tränenstrom langsam versiegte, wischte sie sich mit der Hand über die Augen, erhob sich schwerfällig aus ihrem Lieblingssessel und schlich zu ihrer Schlafnische. Frauke schaffte es unter größten Mühen, sich zu entkleiden und dann wollte sie nur noch eines, schlafen und vergessen.

LOTSENGOLD

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