Читать книгу Herr Spiro - Birgit Theisen - Страница 2

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Anna nahm ihre größte Kaffeetasse aus dem Küchenschrank und sah hinüber zu ihrem Schreibtisch. Überall dazwischen lagen Papierkugeln herum. Zerknüllt, nicht zerfetzt, zum Teil mit Schwung fallengelassen, aber nicht wütend gegen die Wand geworfen.

Ein Fortschritt?, fragte sie sich und kam sich vor wie ihre eigene Therapeutin.

Aber die Zeichnerei brachte nichts, und Anna sagte sich immer wieder, dass sie damit nur ihre Zeit verschwendete. Ihr Chef wusste, dass sie keine bunten Kinderbücher mehr illustrieren würde. Das hatte sie sich geschworen. Scheingraber gab trotzdem nicht auf, bei ihr anzufragen.

Anna stellte die Tasse zurück in den Schrank und sammelte die Skizzen ein. Wie sie waren, landeten sie im Müll. Der eine brauchbare Entwurf für die Schulszene wanderte in die Mappe. Einer war zwar hundert Prozent mehr als sonst, machte aber noch lange kein Buch und schon gar nicht, wenn er nur in Schwarzweiß war.

Sie griff zum Telefonhörer und wählte Scheingrabers Nummer.

„Büro Art & Design for Children Jule Brandstetter guten Morgen was kann ich für Sie tun?“, sagte die Dame am anderen Ende, ohne Luft zu holen.

„Frau Brandstetter, hier ist Wehner.“

„Ah, Frau Wehner! Er ist gerade auf dem Sprung, aber ich stell’ Sie noch schnell durch, einen Moment, bitte.“

Die Zwischenmusik hatte keine Chance.

„Anna! Gut, dass du was hören lässt, ich hab heut schon an dich denken müssen. Wie geht’s dir denn?“

Anna wusste, dass Lisas Geburtstag in seinem speziellen Kalender stand. Der war immerwährend, Lisa war nicht mehr.

„Danke, geht schon“, sagte sie. „Aber darauf wollt‘ ich gar nicht hinaus. Es ist wegen der Sache mit dem Kinderbuch. Ich hab mir das angeschaut, aber ich fürcht‘, das wird nix.“

„Das hab ich mir schon gedacht, weil du gar so lang nix hast hör’n lass‘n. Ist nicht schlimm, dann geb‘ ich das jetzt der Johannserin und ihren Damen, auch wenn ich denk‘, dass du … Aber eines wollt‘ ich dir noch sagen: Ich brauch‘ dich noch und das weißt du hoffentlich, oder? Also, wenn was ist, meldest du dich. Abg’macht?“

„Abg’macht. Und danke.“

„Nix zu danken. Du kommst wieder, du bist noch lang nicht am End‘ deiner Karriere bei mir. Ich schick‘ der weiterhin alles, von dem ich denk‘, dass es was für dich sein könnt‘. Machen wir das so?“

„Machen wir so“, sagte sie nur, weil sie spürte, wie sich ihre Kehle zuschnürte.

Scheingraber kannte das von ihr, es war nicht das erste Mal, dass ihr das an einer solchen Stelle passierte.

„Dann mach’s gut und auf bald, meine Liebe“, sagte er noch und legte auf, bevor sie den Gruß erwidern musste.

Himmelherrgott nochmal, dachte sie, das wird so gehen, bis das ganze Geld vom Hausverkauf aufgebraucht ist.

Nach jedem Gespräch dieser Art fühlte sich Anna wie zerschlagen. Was sollte sie machen? Wie andere nach einem Schockerlebnis nicht mehr redeten, konnte sie nicht mehr farbig illustrieren. Schon gar keine lustigen Kinderbücher. Zumindest nicht in einer vertretbaren Zeit. Aber Scheingraber hatte immer noch Verständnis dafür. Sie glaubte ihm, was er sagte. Dieser Mann würde sie nicht vergessen.

Kaffee hatte sie nach wie vor keinen im Haus, der war beim letzten Einkauf im Supermarktregal geblieben. Anna nahm ihren Mantel vom Haken und machte sich auf den Weg.

Robert zog den Rollkoffer hinter sich her. Daran war seine Schwester schuld, denn sie hatte schon vor Wochen nach einem Hotel und dem dazugehörigen Flug gesucht, und er musste in einer schwachen Minute so etwas wie Ja gesagt haben. Die Reisebestätigung war jedenfalls eines Tages im Briefkasten gewesen.

Ihm blieb jetzt nichts anderes übrig, er musste.

Er sah auf die Uhr, halb neun. Der Zug zum Flughafen fuhr am Hauptbahnhof erst um kurz vor zehn und die Auszubildende aus der Personalabteilung hatte gesagt, es ginge nur um seine Unterschrift.

„Wir haben ein neues Formular. Und das wurde vergessen.“ Die junge Frau hatte sich angehört wie eine Dreizehnjährige im Zeugenstand. So klein, mit Hut, hätte Kai gesagt.

„Und?“, hatte Robert gefragt.

„Das Ding ist sehr wichtig, weil ohne Ihre Unterschrift drauf kann Ihr neuer Ausweis nicht fertig gemacht werden … Und da wollte ich Sie fragen … also, wäre es möglich, dass Sie morgen nochmal vorbeikommen? … Ganz kurz nur! Sonst werden Sie mich wahrscheinlich nie mehr mit Kopf sehen.“

„Wäre vermutlich schade drum“, hatte Robert geantwortet und überlegt, ob er dieser jungen Frau überhaupt schon einmal in natura begegnet war.

„Kommen Sie dann morgen früh?“

„Ich werde da sein. Schönen Feierabend wünsche ich.“

„Wünsche ich Ihnen auch, Herr Lohwald.“

Er hatte die Erleichterung in ihrer Stimme gehört, obwohl er offengelassen hatte, wann er kommen würde. Wenn sie heute seinetwegen früher als sonst im Büro hatte erscheinen müssen, glich sich das nur aus. Von daheim aus hätte er ein Taxi zum Bahnhof nehmen können, jetzt musste er sein Gepäck durch die halbe Stadt karren und sich vom Geräusch der Kofferrollen auf dem Pflaster den letzten verbliebenen Nerv rauben lassen.

Zur Sicherheit sah Robert noch einmal auf die Uhr. Immer noch halb neun, er hatte also Zeit für ein kleines Frühstück.

Der Geruch warmer Brezen und Semmeln schlug ihm aus der Bäckerei entgegen. Frank Fährmann stand hinter dem Tresen, an ein Regal gelehnt, Robert riss ihn aus seinen Gedanken.

Im nächsten Moment vermisste er schon die alte Frau Fährmann und ihm schwante Böses.

„Wie geht’s deiner Mutter?“, fragte er.

Frank kratzte sich hinterm Ohr. „Die hat sich heute frei genommen. Wenn’s Wetter noch wird, will sie mit den Kindern in den Tierpark.“

„Ach so“, sagte Robert und hoffte für Frau Fährmann, dass es stimmte. Sie hatte auf ihn in der letzten Zeit einen gebrechlichen Eindruck gemacht.

Robert ließ sich eine Nussschnecke und ein Schokocroissant einpacken und ging einen Schritt zum Stehtisch am Schaufenster. „Gibst mir bitte noch einen grünen Tee?“

Frank reichte ihm die Tasse über den Tresen.

Die Frau, die zur Tür hereinkam, kannte Robert. Woher, konnte er nicht sagen.

„Ein Pfund gemahlenen Kaffee, bitte“, sagte sie.

Frank hängte die Auffangtüte an das Gerät und schaltete es ein.

Die Frau drehte sich zu Robert um und runzelte die Stirn.

Ich mag das Geräusch der Mühle auch nicht, dachte er.

Aber vielleicht ging es ihr wie ihm und sie überlegte, wohin sie ihn sortieren sollte.

„Möchten Sie auch was trinken?“, fragte Frank die Frau.

„Das wäre eine Idee.“ Ihre Stimme klang angenehm weich. „Saukalt wird’s langsam wieder in der Früh.“

Frank nahm eine große, weiße Tasse. „Kaffee oder Tee?“

„Kaffee, bitte.“

„Milch steht drüben bei dem Herrn, der Zucker auch. Oder wollen Sie einen Süßstoff?“

„Schwarz, danke“, sagte sie und knöpfte ihren Mantel auf.

Was sie darunter trug, war auch schwarz. Sie sah aus, als würde sie von einer Beerdigung kommen. Und doch nicht. Da waren keine Spuren von Tränen.

Robert schob seine Tasse ein wenig beiseite, damit sie Platz hatte.

Die Frau nickte und starrte aus dem Fenster. Nach dem zweiten Schluck Kaffee kniff sie die Lippen aufeinander und schaffte es nicht, ihre Tränen wegzublinzeln.

Einer der langen Momente, dachte Robert und überlegte, ob er ihr ein Taschentuch reichen sollte. Er ließ es bleiben, es war nicht nötig.

Beim gemeinsamen Aufbruch ein paar Minuten später konnten sie sich nicht gleich einigen, wer wem die Tür aufhalten durfte.

Robert hob seinen Hartschalenkoffer von der Stufe aufs Pflaster. „Ein schwerer Tag?“, fragte er, ohne die Frau anzusehen.

„Nicht ganz leicht, ja.“

„Verstehe.“

Sie drehte den Kopf zur Seite und sah ihn an. Ihr Nicken kam zögernd.

Der Mann, den Anna vom Friedhof kannte, blieb mit einem Fuß an einem aufstehenden Pflasterstein hängen und stolperte.

Sein Koffer schwankte, kippte aber nicht um.

„Hoppala“, sagte sie.

Er sah sie aus müden Augen an, verzog für einen Moment den Mund zu einem leichten Grinsen.

Immerhin. Und etwas aufrechter als vor ein paar Tagen ging er auch schon wieder. Sie war sicher, dass er sich nicht an sie erinnern konnte.

Wie auch?

Aus der Nähe tat er ihr mindestens genauso leid. Wer so schaute, war reif für die Insel. Anna kamen Claras Worte zum Thema Mitleid wieder in den Sinn und dass sie diesem Mann helfen wollte.

„Glauben Sie eigentlich an Vorsehung?“, fragte sie.

„Hm“, machte er. „Ich glaube, dass alles so kommt, wie es kommen soll. Ist das dasselbe?“

„Vielleicht.“

Am liebsten hätte sie ihm jetzt gesagt, dass sie ihn verstand. Auch das, was er in seinem Brief an Kai geschrieben hatte, und dass sie gern mit ihm darüber reden würde. Aber so einfach ging das nicht. Sie musste anders anfangen.

Nur wie?

Ihr fiel nichts ein, er lief schweigend neben ihr her und konzentrierte sich auf die Linien zwischen den Pflastersteinen. Sie kamen zum Musikhaus Horn.

Vielleicht so?

Vor der Vitrine blieb Anna stehen. „In so einem Laden wollte ich mal über Nacht eingesperrt werden und alles ausprobieren.“

Er hielt mit zwei Schritten Verzögerung an. „Aha.“

„Wahrscheinlich wäre es ein Cello geworden. Weil meine Patentante … meine Güte, ich texte Sie hier zu.“

„Sie texten mich nicht zu. Ihre Patentante …?“

„War einer der wichtigsten Menschen in meinem Leben.“ Sie sah wieder ins Schaufenster. „Sie hat Pavarotti geliebt. Kennen Sie …“ Leise summte sie ein paar Töne und hoffte, dass er von alleine auf Nessun dorma kommen würde.

„Vincerò! Vincerò!“, antwortete er prompt. „Und was hat das mit Cello zu tun?“ Er lächelte.

„In cielo, habe ich damals verstanden und es hat einige Jahre gedauert, bis ich irgendwo dem Text begegnet bin. Da war dann natürlich überhaupt kein Himmel drin und ich kam mir ziemlich bescheuert vor.“ Sie sah seinen ernsten Blick.

„Gar nicht. Sie können das von jedem Cellisten hören, dass er ein himmlisches Instrument spielt, wenn Sie ihn fragen.“ Mehr sagte er nicht.

Sie hätte ihn gerne gefragt, ob er ein Cellist war, dass er das so genau wusste, aber sie traute sich nicht mehr. In der kurzen Zeit hatte sie schon genug geredet. Wahrscheinlich hielt er sie jetzt für eine der einsamen Frauen, die für jedes Wort dankbar waren, das einer an sie richtete.

Sie kamen am U-Bahn-Abgang an.

„Wiedersehen“, sagte er und verschwand auf der Rolltreppe in den Untergrund.

Sie sah dem Mann nach. Ohne Koffer hätte er wahrscheinlich immer zwei Stufen auf einmal genommen, um noch schneller ganz unten anzukommen.

Der Weißwein, den ihm die kleine, schwarzhaarige Stewardess vorhin im Kunststoffbecher serviert hatte, arbeitete in ihm. Croissants und Nussschnecken waren keine gute Grundlage, das hätte er eigentlich wissen müssen. Aber den Weg vom Hamburger Flughafen zum Bahnhof hatte er noch gefunden und er saß auch im richtigen Zug, in dem nach Stralsund.

Der letzte Halt war Schwerin gewesen, jetzt stand eine weißhaarige Frau vor Robert im Abteil. Sie ignorierte sämtliche anderen freien Plätze, als hätte sie sich ihn ausgesucht. Wie ein Hund aus dem Tierheim sein neues Herrchen.

Strample hier nicht im Treibsand rum, verteil lieber dein Gewicht, sagte er sich, gab sich einen Ruck und stand auf. „Warten Sie, ich helfe Ihnen.“

Die Frau ließ im selben Moment ihren Koffer los. „Junger Mann, das is‘ aber sehr zuvorkommend. Dass es so was noch gibt unter den Menschen …“

Als er das lederne Gepäckstück mit den abgewetzten Ecken ins Netz wuchtete, dachte er an seine Bandscheiben.

Was war bloß in dem Koffer? Goldbarren?

Was, wenn dieses Ding ihm sein Kreuz endgültig ruinierte? Der Dank für seine Pfadfindertat würde ihm ewig nachschleichen, zuallererst zur Krankengymnastik.

„Besten Dank.“ Die Weißhaarige setzte sich in Fahrtrichtung, Robert gegenüber.

Sein Rückgrat hatte gehalten.

„Ich besuche meine Schwägerin, die wird morgen fünfundachtzig“, sagte sie wie zur Eröffnung ihres persönlichen Damenkränzchens. „Und, wissen Sie, im Zug sind die Viererplätze mit Tisch die besten. Da lernt man die Leute kennen!“ Sie sah ihn prüfend an. „Oder man schweigt gemeinsam.“

Er nickte.

Sie zog ihre Lesebrille an der Kette aus der Tasche, zückte einen dicken Schmöker, versank darin und schmatzte ihr Bonbon, dessen baldiges Ende sich Robert schon nach zwei Minuten sehnlichst wünschte. Als sie es endlich zerbiss, war es wie eine Erlösung.

Er schloss die Augen und öffnete sie erst wieder, als die Bonbontüte raschelte. Die Schmatzerei ging von vorne los. Das würde kein Ende nehmen, bis diese Frau ausstieg, so viel war ihm klar.

Robert überlegte, ob er aufstehen und sich einen Kaffee im Bistro genehmigen sollte. Gab es überhaupt eines in solchen Zügen?

Er blieb sitzen und schaute aus dem Fenster, vor dem kleine weiße Flocken auf grünbraunem Grund vorbeizogen. Wenn er als Kind Schafherden gesehen hatte, war das Ziel nicht mehr weit gewesen. Inzwischen standen überall Windräder herum, denen man in Bodennähe unterschiedlich grüne Ringe verpasst hatte, in der vergeblichen Hoffnung, dass sie sich dadurch besser ins Landschaftsbild einfügten.

Die Veränderungen in Roberts Leben ließen sich auch nicht schönfärben, er hatte sie zu akzeptieren.

Schwamm drüber.

Das Schicksal war in erster Linie hart zu Kai gewesen, nicht zu ihm. Mehr als Begleitung hatte Robert nicht sein können und damit doch nichts erreicht. Außer, dass sich Fiona in derselben Zeit von einem ihrer Arbeitskollegen hatte schwängern lassen.

Schluss jetzt, ermahnte er sich, hör auf zu zappeln, sinkst ja doch nur tiefer ein.

Dieser IC würde ihn jetzt ans Meer bringen. Und wieder daheim würde Robert die Abteilung wechseln, weil er eine junge Frau auf dem Gewissen hatte, die vielleicht zu retten gewesen wäre. Kein Polizeipsychologe der Welt hätte es geschafft, ihm in einem akzeptablen Zeitrahmen das Gegenteil einzureden.

Die Landschaft zog vor Roberts Blick vorüber, es gab keine Bäume am Bahndamm und er war dankbar dafür. Licht- und Schattenspiele hätten ihn jetzt wahrscheinlich an den Rand des Wahnsinns getrieben.

Robert sah die alte Dame an. Wie sie da leise lächelnd saß, hatte sie Ähnlichkeit mit seiner Mutter, die mit fünfundsechzig noch viel zu jung gewesen war fürs Altersheim. Als die elterliche Wohnung aufgelöst werden musste, hatte er mit seiner Schwester die Bücher geteilt. Um genau zu sein, war nur eines zu seinem geworden, weil ihm das Cover mit dem Ausschnitt vom Deckenfresko der Sixtinischen Kapelle schon zu Zeiten gefallen hatte, als der Geschmack von Bierschinkensemmel und Apfel für ihn noch das größte Glück auf Erden bedeutet hatte.

Die uralte Ausgabe von Stones Michelangelo stand nun daheim im Regal und Robert wollte sie eines Tages als Reisevorbereitung lesen. Nicht heute, sein Ziel war nicht Rom, sondern Rügen.

Robert fiel ein, dass der Zettel mit den Ausflugstipps seiner Schwester noch zu Hause herumlag. Seine Packliste hätte er sich demnach sparen können. Er wurde langsam alt. Bis er fünfundachtzig war, fehlte allerdings noch die Hälfte.

Grausame Vorstellung.

„Schneller, Mama“, sagte ein kleiner Rotschopf und zerrte seine Mutter an der Hand durch den Mittelgang.

„Langsam, ‘ne alte Frau is‘ doch kein D-Zug“, sagte sie und lächelte scheu in Roberts Richtung.

„Ich will aber ganz schnell zum Fahrer vor!“, krächzte der Kleine.

Ein angehender Lokführer.

Robert überlegte. Er selbst war damals elf gewesen, als er endlich und endgültig herausgefunden hatte, was er einmal werden wollte.

„Wir nehmen den Nachtzug. Dann wird das eine Zauberfahrt“, hatte seine Mutter ihm und seiner Schwester versprochen. „Man geht quasi Zuhause ins Bett und wacht kurz nach Sonnenaufgang am Meer wieder auf.“

Nach der Durchsage des Schaffners, ob ein Arzt an Bord wäre, war sein Vater mitten in der Nacht von der Liege in seine Hose gesprungen und auch nach dem ewig langen Halt des Zuges im nächsten Bahnhof nicht wiedergekommen. Robert hatte sich die aufregendsten Geschichten ausgemalt und musste darüber eingenickt sein, denn Vaters Rückkehr ins Abteil hatte er ebenso wie die Weiterfahrt verschlafen.

Die Informationen am nächsten Tag waren spärlich gewesen.

„War nicht so schön. Wir haben die Polizei gebraucht“, hatte sein Vater gesagt.

Mehr war aus ihm über den Grund für die zweistündige Zugverspätung nicht herauszubekommen gewesen, bis heute nicht. Damit sich so etwas nie mehr wiederholte, hatte Robert an dem Tag beschlossen, zur Kripo zu gehen, und er war dabei geblieben.

An eines konnte er sich noch erinnern: Da war nicht der versprochene Sonnenaufgang am Meer gewesen, es hatte junge Hunde geregnet.

Wie heute früh. Und wie vor knapp drei Monaten.

Als Fiona ausgezogen war, hatte sich der werdende Papa, ein breit grinsender Pfeffersack, auf der Ladeluke stehend wichtiggemacht. Robert war in sein Auto gestiegen und in irgendeinem Wald spazieren gegangen. Ohne Schirm im kalten Sommerregen, er hätte nicht mehr sagen können, wie lang, aber die Reste der Erkältung, die er sich dabei eingefangen hatte, lagen ihm immer noch auf den Bronchien, er wurde das Zeug einfach nicht los. Die Raucherei, die er wieder für sich entdeckt hatte, tat vermutlich das Ihrige dazu.

Geschieht dir ganz recht, du Oberhirsch, dachte er bei jedem größeren Hustenanfall, der ihn an Kais Buch von damals erinnerte. Das war ein ausgemustertes internistisches Lexikon gewesen, voll mit eindrucksvollen Bildern von geteerten Lungen und Raucherbeinen. Sein Freund hatte es schon mit zwölf von seinem Vater bekommen.

Und jetzt?

Jetzt lebte Kai nicht mehr, obwohl er nicht geraucht hatte. Und wie Robert bei Bea mitansehen musste, brachte Verzicht auch nichts. Aus welchem Grund sollte ein Mensch auch hundert werden wollen?

Er spürte Bitterkeit aufsteigen.

Die Spiro-Geschichten lagen noch im Drucker, er hatte sie vergessen. An den Memory Stick zu denken war ihm gelungen, aber der eignete sich mit Sicherheit nicht für eine lange Reise als Flaschenpost. Andererseits überlegte Robert schon jetzt, ob er dieses Vermächtnis dadurch loswerden würde. Er hatte seine Zweifel. Was, wenn er sich danach für den Rest seiner Tage wie ein Verräter fühlte?

Er erschrak, als die Frau ihm gegenüber ihr Buch zuklappte.

„Wären Sie gleich nochmal so nett, junger Mann?“, fragte sie.

War der nächste Halt schon Rostock? Dann musste er die Durchsage überhört haben. Abgesehen davon war die Frau eine schlechte Lügnerin. Man konnte viel über ihn sagen, aber nicht, dass er jung aussah. Schon allein der Vollbart mit den ersten grauen Flusen darin musste ihr verraten, dass er die Vierzig gerissen hatte. Er half ihr trotzdem mit dem Koffer.

Früher, als Kind, hätte er sein Gepäck auf dem Bordstein stehen gelassen und wäre an den Strand gelaufen. Robert hielt inne, spürte den kühlen Wind auf der Haut und holte einmal tief Luft. Zu tief. Sein Husten rächte sich, ließ ihn an Teerlungen und Raucherbeine denken, ehe er sein Gepäck aufnahm und die pompöse Lobby betrat.

Der blonde Jüngling an der Rezeption war eifrig, verkniff sich die lehrbuchgemäße Frage nach der Anreise und kam gleich zum Geschäftlichen. „Wenn Sie das hier bitte durchlesen wollen, ob wir Ihre Angaben richtig übernommen haben“, sagte er mit breitem, sächsischem Akzent.

Robert las und nickte.

„Ihr Zimmer ist im vierten Stock, Nummer vierhundertsechs, fast ganz am Ende des Gangs … und wenn ich das richtig sehe, brauchen Sie tatsächlich nur eine Karte?“

Die blondgefärbte Kollegin des Jünglings zuckte leicht zusammen, Robert blieb gelassen.

„Das sehen Sie richtig“, sagte er.

„Dann wünsche ich Ihnen einen schönen Aufenthalt. Wenn Sie etwas brauchen: Wir sind jederzeit und immerzu für Sie da.“

Die Kollegin deutete auf eine Liste. „Wenn wir Sie noch auf unser Restaurant aufmerksam machen dürften …?“

„Ah ja“, sagte der Jüngling und wurde rot. „Sie können sich hier eintragen. Jeweils bis mittags für den nächsten Abend zum Essen bei uns.“ Er sah zur Wanduhr. „Also für heute nicht mehr, aber dann für morgen.“

„Danke für den Hinweis“, sagte Robert und fragte sich, ob es wohl möglich war, den Tisch im Restaurant als Dauerauftrag für den gesamten Aufenthalt zu reservieren. Denn dass er zwei Wochen lang an der Promenade entlanglaufen und sich jeden Abend damit beschäftigen würde, wo er nun was essen sollte, konnte er sich nicht vorstellen.

„Dann, wie gesagt, einen schönen Aufenthalt und hier ist Ihre Karte.“

Robert nahm sie entgegen und danach den Aufzug in den vierten Stock. Der dicke blaue Teppich auf dem Flur bremste die Kofferrollen, aber der war ihm lieber als unsauber verfugte Pflastersteine.

Er sah das Meer durchs Fenster am Ende des Gangs und las die Zimmernummer. Vierhundertzehn. Robert war zu weit gegangen.

Zwei Türen davor gab ihm der Sensor grünes Licht. Der Raum war in grauen und weinroten Tönen eingerichtet und gefiel ihm sogar besser als auf dem Foto im Netz.

Als Robert das Doppelbett sah, war ihm klar, warum ihm der Azubi zwei Karten geben wollte.

Das war einmal.

Er konnte sich trotzdem noch gut an ihre Urlaube und sogar an die frühen Freitagabende daheim erinnern. Einmal hatte er Fiona, eng aneinandergekuschelt auf dem Sofa liegend, gefragt: „Weißt du eigentlich, wie sich das Warten auf den ersten Kuss nach einer Woche anfühlt?“

„Nein. Wie denn?“ In ihrer Stimme keine Spur von Neugier.

„Wie das Warten auf den Weihnachtsabend.“

Kopfschütteln an seiner Schulter. „Spinner.“

Er hatte trotzdem einen Kuss bekommen. „Spürst du das eigentlich nicht? Bei mir kribbelt es spätestens seit Mittwoch am ganzen Körper.“

„Hm. Nein. Das kenne ich nicht.“

Er war tatsächlich ein Spinner gewesen. Gescheitert an seinem Traum von der ewigen Beziehungsromantik trotz des Alltags. Selbst in der Fernehe hatte sie die Routine eingeholt und die Gespräche waren kürzer geworden.

„Hier gibt’s nichts Neues“, war ihr Dauerbrenner gewesen. Und: „Viel Arbeit, neue Aufträge, noch dazu ein Frischling zum Einarbeiten. Ich komme gar nicht mehr dazu, an andere Sachen zu denken.“

Sachen wie mich, hatte er an solchen Stellen zunehmend stiller ergänzt.

War es um seine Arbeit gegangen, hatte er oft das Gefühl gehabt, sie hätte nebenbei E-Mails gelesen oder SMS getippt.

Am Ende, als der Frischling sich anders als erwartet bewährte, hatte Fiona nur noch gesagt: „Mach dir um mich keine Sorgen.“

Sie hatte da schon keine mehr. Sie hatte für neues Leben gesorgt, während er Bea dabei zusehen musste, wie sie …

Robert drehte den Griff an der Fenstertür und trat über die Schwelle auf den Balkon. Von dort hatte er den seitlichen Meerblick, wie versprochen. Das Hotel lag direkt an der Strandpromenade, einen Katzensprung vom Wasser entfernt. Das war purer Luxus, den er sich da leistete.

Als er wieder ins Zimmer trat, zeigte ihm der Spiegel neben der Garderobe einen Typen, den er auf der Straße weder gegrüßt noch bedauert hätte. Weil jeder seines Glückes Schmied war und wenn einer sich so gehen ließ …

Was Robert jetzt brauchte, hatte er: ein Badezimmer und eine Rasierklinge. Er musste es nur noch tun.

„Mach das Ding bloß nicht auf, bevor ich unter der Erde liege!“, waren Claras Worte gewesen. Annas Patentante hatte ihr schon Jahre vor ihrem Tod diese Schuhschachtel übergeben. Nicht besonders gestaltet, nur ein weißer Karton mit einem dunkelblauen Deckel und einem braunen Paketband verschlossen, vom Gewicht her kaum der Rede wert.

„Du weißt, dass ich nicht an ein Wiedersehen glaube, aber wenn sich deine Meinung über mich dadurch ändert, will ich das wenigstens nicht erleben!“

„So schlimm?“ Anna hatte den Kopf geschüttelt. „Dann möchte ich, dass du die Sachen verbrennst.“

„Aber du schreibst doch noch, oder?“ Clara klang heiter.

Anna zuckte die Schultern. „Ab und zu.“

„Dann heb die Schachtel auf. Vielleicht inspiriert sie dich eines Tages zu einem Roman. Also, ich an deiner Stelle würde sie aufheben. Es geht um Liebe, um nichts anderes.“

Anna war nie neugierig gewesen, sie hatte die Schachtel angenommen und nicht geöffnet. Wollte sie, dass sich ihr Bild von Clara jetzt, fünf Jahre nach deren Tod, wandelte? Anscheinend war sie nun auf dem Trip, neugierig zu sein. Die Sachen waren für sie bestimmt, da durfte sie guten Gewissens hineinschauen.

Anna nahm die Schere und ritzte das Paketband an. Ihre Finger zitterten, als sie den Deckel anhob.

In der Schachtel lagen Postkarten, darunter einige Briefe, mit einer silbernen Schleife zusammengehalten. Dem Absender nach handelte es sich um Post von Claras Mann. Der war fünfzehn Jahre vor ihr ohne jede Vorwarnung am Sekundenherztod verstorben und Clara hatte danach keinen anderen mehr angeschaut.

Als Anna einmal hatte wissen wollen, warum, war die Antwort eine Gegenfrage gewesen: „Glaubst du wirklich, ich würde die Liebe meines Lebens ein zweites Mal finden?“ Clara hatte die Augenbrauen gehoben. „Und nimm an, es wäre so. Was mache ich, wenn der Mann mich auch wieder so Knall auf Fall verlässt wie mein Heiner?“

Unter den gebündelten Briefen lag ein großes Kuvert. Für mein Paten- und Wahlkind stand darauf. Jetzt war es kein Zittern mehr, der Umschlag bebte in Annas Händen. Sie nestelte die Seiten heraus. Die waren auf derselben elektrischen Schreibmaschine geschrieben, auf der sie damals als Kind an so manchem Wochenende das Zehnfingersystem geübt hatte, das war vermutlich kein Zufall. Dem Datum des Briefes nach hätte es zu der Zeit in Claras Haushalt durchaus schon einen Drucker gegeben.

Es war einmal ein kleines Mädchen, das ich schon kannte, als es drei Stunden alt war, und das ich groß werden sah. Neugierig, wissbegierig, mit einer bestechenden Logik gesegnet oder gestraft – wie man es nimmt– und von Tag zu Tag hübscher und charmanter, ohne sich dessen bewusst zu sein, und das war gut so.

Als dieses Mädchen zur jungen Frau geworden war, stellte es mir einen Mann vor. Nicht leibhaftig, sondern in Form von Anekdoten. Ich konnte mir ein Bild von ihm und seinem Charakter malen. Das war kein gutes.

Ich spürte, dass dieses Mädchen einen Menschen ausgewählt hatte, der nicht zu ihm passte, und ich spürte auch, dass es das tief in seinem Herzen wusste, aber nicht zugeben wollte. Es war verliebt, jedoch nicht naiv. Die rosa Brille hielt lange, doch als die Gläser klarer wurden, hörte das Mädchen immer noch nicht auf zu denken, alles könne gut werden, wenn es das nur genug wollte. Es nahm sich vor, sich noch mehr Mühe zu geben, es wollte mit dem Kopf durch die Wand, und es sagte Ja, als der Mann es schließlich fragte, ob es ihn heiraten wolle.

Ich dachte: Nein.

Man kann einen Mann nicht verändern, wenn er in dem Alter noch immer eine kindliche Vorstellung von der Liebe zwischen Mann und Frau hat. Es ist egal, warum er so empfindet, nur eines hätte Dir an der Stelle klar sein müssen: Liebe wird für ihn nie das bedeuten, was sie Dir bedeutet, mein Mädchen. Und ich befürchte sogar Schlimmeres: Er wird sich eines Tages so zeigen, wie er wirklich ist. Vielleicht sogar lieblos, was ich nicht hoffe, aber für möglich halte, nach all dem, was ich gehört habe. Für mich ist er ein seelentauber Mensch, wofür er vermutlich nichts kann. Aber genau deswegen ist er nichts für Dich. Ein Partner ist in seinen Augen ein Besitz, der mit Zähnen und Klauen verteidigt werden darf. Er wird seine Vorstellung davon, wie er geliebt werden soll, durchsetzen, wenn es sein muss, auch mit Gewalt. Solchen Menschen traue ich alles zu, nur nicht das Einfühlungsvermögen für ein lebenslanges Miteinander auf Augenhöhe.

Er ist ein Mann, dessen erklärtes Ziel es nicht ist, seiner Frau die Welt zu Füßen zu legen oder ein Lächeln auf ihr Gesicht zu zaubern. Auch nicht, wenn er mit ihr schläft. Er wird immer die Dunkelheit bevorzugen, weil er Angst vor dem Licht hat, und er wird sich auch in der Liebe hauptsächlich um sich selbst kümmern.

Einer wie er kann sich nicht öffnen, er kann nicht loslassen, er kann nicht vertrauen, weil er sich selbst und seine Gefühle nicht kennt und sie sich auch nicht zeigen lassen wird, denn er glaubt, schon alles zu wissen und vor allem besser.

Ich kann Dir nur eines sagen, von Frau zu Frau: Seitdem die Sklaverei und all die anderen abscheulichen Dinge dieser Art abgeschafft wurden, gibt es keinen Besitzanspruch mehr! Der Mensch bleibt auch als Partner frei!

In einer echten Partnerschaft darf jeder stets ein eigenständig denkendes und fühlendes Individuum bleiben. Wer wirklich liebt, gibt dem anderen den Freiraum, den er braucht, denn er vertraut ihm.

Wenn zwei einander im Gespräch nahe bleiben, wird es keine Defizite geben, die sich nicht ausräumen ließen. Es gibt keinen Grund auszubrechen oder sich in fremden Gärten umzusehen, wenn die Basis stimmt und über Jahre und Jahrzehnte gefestigt wird. Mit Festigen meine ich nicht die Macht der Gewohnheit, immer wieder sonntags seinen Lieblingskuchen gebacken zu bekommen wie bei Mama, oder aus Bequemlichkeit beim anderen zu bleiben! Damit meine ich Liebe, die wächst, Liebe, die dadurch stärker wird, dass man sich miteinander entwickelt und einander mit jedem Tag mehr zu schätzen weiß.

Was mich so sicher macht? Meine Erfahrung. Heiner und ich haben uns Treue geschworen und hatten nie das Gefühl, zu ihr gezwungen zu sein. Wir haben einander geachtet und immer mehr dafür geliebt, dass wir einander hatten und füreinander da sein konnten. Wir haben jeden Tag bewusst miteinander gelebt und den Humor nie aus den Augen verloren. Sogar ein Lachen kann ein Liebesbeweis sein, glaub mir.

Als wir noch verlobt waren, hat er mich einmal gefragt, ob ich glaube, dass man eine Liebe wie unsere in einer Ehe aufrechterhalten kann.

„Ja“, habe ich gesagt. „Weil wir uns nicht darauf verlassen, dass sie von alleine hält.“

Er wollte von mir wissen, ob uns nicht eines Tages der Alltag einen Strich durch die Rechnung machen würde. Das war zu einer Zeit, als wir noch dachten, eines Tages würden unsere eigenen Kinder ins Schlafzimmer gelaufen kommen. Ja, habe ich ihm geantwortet, denn ich war von der Kraft unserer Liebe überzeugt. Auch als Eltern bleibt man ein Paar, das sich Zeit füreinander nehmen darf und sich Inseln der Zweisamkeit schafft.

Aber darauf wollte ich eigentlich gar nicht hinaus, sondern auf Folgendes: Man muss nicht alle vierundzwanzig Stunden Sex haben, um zu zweit glücklich zu sein. Es gibt unendlich viele Möglichkeiten, dem anderen zu zeigen, wie sehr man ihn liebt.

Bist Du schon einmal von seinem Blick geküsst worden? Hat er Dich schon einmal kurz angerufen, um Dir zu sagen, dass er Dich noch spürt? Hattest Du schon einmal das Gefühl, dass er Dir in einem Gespräch über Alltagsdinge mit jedem Wort sagt, dass er Dich liebt? Bist Du von ihm nach einem harten Tag schon einmal umarmt worden, Wange an Wange, bis Du Dich ganz wohl gefühlt hast und wieder lächeln konntest, weil er einfach für Dich da war und spürte, was Du gerade brauchtest?

Du musst es mir nicht sagen, ich weiß es.

Solche Dinge würden Dich für den Augenblick alles rundherum vergessen lassen, Du wüsstest, dass Du angekommen bist, dass dieser Mensch der ist, der für Dich geboren wurde. Du wüsstest, dass es nie hätte besser werden können, weil eine solche Liebe das Größte ist, was Dir im Leben passieren kann. Weil Dich Dein Mann so nimmt, wie Du bist, und Du bei ihm so sein darfst, wie Du bist. Und weil Du bei ihm Kraft tanken kannst für die Aufgaben, die Dir das Leben stellt, und für die Herausforderungen, denen Du Dich stellen möchtest, um an ihnen zu wachsen.

Du darfst erst aufhören zu suchen, wenn Du Dich ergänzt fühlst. Dann wirst Du nie denken, Du hättest kostbare Lebenszeit vergeudet, hättest wartend sinnlose Wochen abgesessenen und es gäbe kein Kämpfen um ein bisschen Freude am Leben.

Es gibt nicht nur Sonnenschein auf der Welt, das dörrt sie doch nur aus.

Man kann sich auch nicht versöhnen, ohne zuvor gestritten zu haben. Gewitter tun gut, wenn es zu lang drückend schwül war und kaum auszuhalten. Aber selbst im Streit muss man einander respektieren und den anderen akzeptieren, wie er ist. Nicht wie er sein könnte.

Wer sich vor der Ehe nie nahe gekommen ist, wird es auch in ihr nicht. Außer er wacht auf… und darauf haben schon viele gewartet. Frag mich, ich habe unzählige Beziehungen scheitern gesehen!

Jetzt zu erfahren, dass dieses, mein Mädchen, sich vor dem Gesetz für einen Mann entscheiden wird, dem ich all das nicht zutraue, was mir so immens wichtig erscheint, tut unendlich weh. Es ist schade um die Jahre Deines Lebens und um den Kummer und das Leid, die auf Dich zukommen werden. Ja, es wird viel Leid geben, und das zu wissen macht es für mich noch schlimmer. Es geht ja eines Tages wahrscheinlich nicht mehr nur um Dich allein, sondern auch um Deine Kinder.

Aber ich schweige Dir gegenüber, weil wir oft genug darüber gesprochen und über manches heiß diskutiert haben. Nun merke ich aber, dass Du an Deinen eigenen Erfahrungen reifen und wachsen möchtest, und das ist Dein gutes Recht. Ich bin nur die alte, unabsichtlich kinderlos gebliebene Tante, die Dir schlaue Ratschläge geben möchte. Ich kann es ja verstehen, ich wäre in Deinem Alter auch nicht anders gewesen. Das ist das Schöne an einem Fehler: Man muss ihn nicht zweimal machen. (Von Thomas Edison, glaube ich.)

Ach, Anna, verzeih mir meine Worte. Es tröstet mich nicht im Geringsten, dass Du sie erst lesen wirst, wenn es längst zu spät ist.

Ich wünsche Dir Glück und Kraft. Du wirst beides dringend brauchen. Dass ich da sein werde, so lange ich kann, weißt Du. Und ich werde Dir helfen, wenn es notwendig ist. Du kannst auf mich zählen. Denn ich liebe Dich wie meine eigene Tochter und wünsche mir nichts mehr, als dass Du glücklich bist.

In Liebe

Deine Clara

Anna ließ ihre Tränen laufen.

Hätte sie auf Claras Rat gehört und ihren ersten Mann nicht geheiratet? Sie hatten oft zwischen den Zeilen über ihn gesprochen, da hatte Clara recht, aber nie so deutlich, wie es hier stand. Oder Annas Wille, es nicht zu hören, war stärker gewesen.

Als sich die beiden damals das erste Mal begegnet waren, hatte Anna schon gewusst, dass sie sich nie verstehen würden.

Du hast es geahnt, dachte sie und strich über die Seiten.

Kurz nachdem Clara in Annas Armen gestorben war, hatte sie nicht nur gewusst, dass der Schmerz durch nichts mehr hätte größer werden können, sondern auch, dass es noch ein gutes Stück richtiges Leben vor ihr geben musste.

Und Lisa gab es da schon. Ihre Tochter war nach der Trennung bei ihr geblieben.

Robert joggte an der Wasserkante entlang, spürte feuchten Sand unter den Sohlen und wunderte sich für einen Moment, dass er nicht nennenswert einsank. Das war kein Treibsand, soviel stand fest.

Es war kühler als vorhin, die Mücken, die dem Wind trotzten, suchten nach Nahrung. Robert strich sich über die Wangen, die er seit Monaten nicht mehr so nackt gespürt hatte.

Er fühlte sich erleichtert und kam schneller als gedacht an der Seebrücke an, deren Holz noch im Schein der untergehenden Sonne glänzte. Einmal bis ans Ende und wieder zurück würde er schaffen und wahrscheinlich im letzten Licht des Tages wieder am Hotel ankommen. Wenn nicht, konnte er immer noch auf die beleuchtete Promenade wechseln, die Wahl blieb ihm.

Ein Mann warf Brotstücke nach oben, um die sich zwei Möwen lautstark stritten. Andere stürzten sich ins grünbraune aufgewühlte Meer und flogen wieder auf, ohne dass man ihnen anmerkte, ob sie etwas gefangen hatten.

Unter dem Schild Seebad Binz ließ sich ein schwer verliebtes Pärchen in den Zwanzigern ablichten. Auf der ganzen Welt waren es dieselben Motive für Beweisfotos, Robert langweilte es. Aber die salzige Luft tat seinen Lungen gut, das merkte er schon jetzt. Er verlangsamte sein Tempo und blieb schließlich an der Brüstung stehen, beobachtete schwer atmend das Werden und Vergehen der Schaumkronen.

Auf der Uferpromenade konnte er dann nicht mehr joggen, zu viele Leute waren inzwischen unterwegs. Hier schlenderte man zu zweit. Hand in Hand, eingehakt oder sogar mit der Hand in der Hosentasche des anderen. So etwas zu sehen, tat ihm nicht mehr weh, darüber war er schon hinweg.

Überall roch es nach gegrilltem Fisch, selten nach Pizza. Lichterketten gingen an, die kleinen Häuser standen da wie damals vor dreißig Jahren. Trotzig wirkten sie und stolz, dass sie immer noch an der Stelle bleiben durften, obwohl sie im Vergleich zu den Hotelklötzen wenig Profit abwarfen.

Das Möwengeschrei wurde weniger, je tiefer sich die Dunkelheit senkte. Schwalben flogen zwischen den Gebäuden und jagten Mücken. Gegenüber vom Kurhaus spielte ein Orchester, dessen Bässe auf die Promenade wehten und sich mit dem Meeresrauschen mischten.

Robert dachte an sein Cello. Seit Monaten stand es in der Ecke, unten im Schlafzimmer, er konnte es nicht anrühren.

„Spielst du mir was vor?“, hatte Bea ihn jedes Mal gebeten, wenn er da gewesen war. Auch noch vom Pflegebett aus, das die Couch im Wohnzimmer für ein paar Wochen ersetzen musste.

„Sie hört dich“, hatte Kai gesagt, nachdem sie schließlich ins Koma gefallen war, und Robert hatte gespielt.

An sein Zögern vor dem ersten Schritt in Kais Wohnung nach Beas Tod konnte er sich noch allzu gut erinnern.

„Jetzt tu nicht so fremd“, hatte ihn Kai angeherrscht und sich Sekunden später haltlos schluchzend an Roberts Brust geworfen.

Knappe sechs Monate stand Roberts Cello jetzt herum und staubte vor sich hin. Kais Wohnung war längst aufgelöst, der Schmerz darüber brauchte entschieden länger.

Irgendwann musste Robert den Schritt wagen, sich seiner verschmähten, hölzernen Freundin wieder zuzuwenden.

Nur wann?

Er spürte es nicht mehr, dieses Verlangen, und langsam fragte er sich, ob es in seinem Inneren jemals wieder so brennen würde wie früher, wenn er eine Weile nicht zum Spielen gekommen war. Mit der Zeit hatte er sich offenbar daran gewöhnt, dass überhaupt nichts mehr in ihm brannte.

Robert ging wieder schneller. Die weißen Bänke mit den hohen gebogenen Lehnen sahen verwaist aus. Da war etwas, woran er unbedingt denken sollte.

Er nahm den nächsten Abgang zum Strand, zog noch auf den Holzplanken seine Schuhe samt Socken aus und trug sie in der Hand. Seine Schwester hatte ihm aufgetragen, seine Füße im Sand einzugraben wie damals auf dem Spielplatz zwischen den Häusern. So weit wollte er jetzt nicht gehen.

Eine große Möwe mit weißgrauen Augen stand vor Robert am Ufer. Sie hatte etwas Melancholisches an sich mit ihrem leichten Buckel und dem Blick aufs Wasser. Von Strandspaziergängern ließ sie sich offenbar nicht beeindrucken, sie blieb, wo sie war.

Robert ging ein paar Schritte an ihr vorbei und setzte sich. Er griff nach den halben Muschelschalen und überlegte, ob er ein paar davon sammeln sollte.

Wozu?

Damit diejenigen, die eines Tages seine Wohnung auflösen durften, noch mehr davon zum Entsorgen vorfänden? Dieses Mal würde er keine halbe Hand voll Sand in ein Gläschen abfüllen wie sonst.

Robert sah auf die Gischt, dann zu dem Mann, der am Saum des Wassers entlang auf ihn zukam. Sein Gang war schwer, er trug Bluejeans und einen schwarzen Pullover, dessen Ärmel im Wind flatterten.

Das ist er!, durchfuhr es Robert vom Nacken bis in die Fingerspitzen. Das ist Herr Spiro.

Herr Spiro

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