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2 Feiertage

Das Weihnachtsfest rückt unausweichlich näher. Auch wenn für mich die Zeit stillsteht, der Kalender nimmt darauf keine Rücksicht, di Feiertage stehen vor der Tür. Der Schneefall in diesem Jahr ist unglaublich heftig, bei vielen Familien findet der Heiligabend deshalb in kleinerem Kreis statt als geplant, denn nicht wenige verzichten auf die Anreise mit dem Auto aus Sorge, auf zugeschneiten Autobahnen die Nacht verbringen zu müssen. Mir hingegen macht die Wetterlage nichts aus. Ein angenehmer Nebeneffekt meiner Gefühlslage ist, dass mir das Angstgefühl völlig abhandengekommen ist. Gefährlich eigentlich – aber mir ist das ganz recht so. Ich scheue auch Wind und Wetter einschließlich Schneeverwehungen und Glatteisgefahr nicht und nehme alle Widrigkeiten in Kauf, um Freunde und Familie zu besuchen. Ich fühle mich in meinem SUV sicher und in diesen Tagen ist die Autobahn fast schon zu meinem zweiten Zuhause geworden.

Eberhard und ich müssen die Verantwortlichkeiten für die Hunde über Weihnachten miteinander abklären. Wir teilen uns die Feiertage auf. Jedes Gespräch mit ihm kostet mich Kraft und so werden viele Nachrichten auf Zetteln ausgetauscht, die scheinbar achtlos auf dem Küchentisch deponiert werden. Für uns beide ist klar: Weihnachten gemeinsam unter einem Dach zu sein, wäre undenkbar. Ich entscheide, dass ich über die Feiertag außer Haus sein werde und so wird er für die Hunde sorgen müssen. Dafür wird er über Silvester nicht da sein und informiert mich darüber, dass er zum Jahresende für ein paar Tage wegfahren will. Der Schmerz zerrt an mir, das Messer in meinen Eingeweiden dreht sich ein weiteres Mal herum. Ich kann die Vorstellung nicht in mein

Hirn bekommen, dass er Silvester tatsächlich ohne mich feiern will. Eine Party ohne ‚uns‘, ohne das händchenhaltende ‚Wir‘? Wie kann er nur?

Mein Vater hat mich über Heiligabend und die Feiertage in sein Haus eingeladen. Hier werde ich also meine Zeit gemeinsam mit seiner aktuellen, äußerst spröden Freundin und ihrer Familie verbringen. Weihnachten feiern, wie absurd mir das alles erscheint! Ein nüchternes Gästezimmer und weihnachtliches Trallala im Hause meines Vaters und seiner skurrilen Beziehung namens Claudette warten also auf mich. Klassisches Weihnachtsessen, nettes, weinseliges Beisammensitzen, Bescherung mit mir völlig fremden Menschen, so wird es wohl laufen. Ich fühle mich wie abgetrennt von der Welt, muss mich so sehr zusammenreißen, dass die Tränen nicht unentwegt laufen, mich keine Weinkrämpfe überfallen und ich einigermaßen in der Gesellschaft funktionieren kann.

Das alles kostet so viel Kraft, so viel Anstrengung, dass ich nur noch ins Bett will, mich wie jede Nacht in den Schlaf weinen möchte, der Realität für ein paar Stunden entfliehen. Mein Vater, der sich so überhaupt nicht in meine Situation einfühlen kann und dementsprechend auch kein Verständnis für meine Verfassung zeigt, erwartet von mir, dass ich die Weihnachtsfarce mitspiele und irgendwie klarkomme. Auf jeden Fall wünscht er keine Szene und kein peinliches Verhalten. „Mensch, Britt, eine Trennung ist doch kein Weltuntergang, jetzt reiß dich mal ein bisschen zusammen!“, raunt er mir zu, ständig in Furcht, ich könnte die Contenance verlieren und den anderen, mir völlig fremden Menschen damit eventuell den Weihnachtsabend verderben. Was weiß er denn schon mit seinen ständig wechselnden Freundinnen, seinem Fremdgehen, seinen Lügen und erfundenen Geschichten? Wie kann ein Mensch, der seine Adresse und seine Frauen öfter wechselt als manche Menschen ihr Outfit, überhaupt ermessen, wie es sich anfühlt, einen Menschen zu verlieren, mit dem man vorhatte, ein Leben lang zusammenzubleiben?

Irgendjemand reicht mir ein Geschenk. „Das ist für dich, Britt, frohe Weihnachten!“ Kevin, Claudettes gehemmter und selbstunsicherer Sohn, hält mir verschämt ein eingewickeltes Päckchen hin. „Danke“, antworte ich automatisch und öffne die Weihnachtsgabe: Schokolade und ein Kalender in Taschenbuchformat, auf dem Einband: „Viel Glück im neuen Jahr. Mit Mondphasen.“

Wie geschmacklos, antiquiert und makaber! Das neue Jahr hat für mich keine Bedeutung, ich kann mir nicht vorstellen, dass ich da etwas reinschreiben werde. Und Termine? Werde ich je wieder Termine haben? Ich sitze regungslos auf dem Sofa. Nur nicht reden müssen, niemanden direkt anschauen. Es ist so anstrengend und die hohlen und oberflächlichen Gespräche machen mich unwillkürlich aggressiv. Ich weiß jedoch, dass ich noch für eine Weile irgendwie durchhalten muss. Wie ein Mantra wiederhole ich meine innere Beschwörungsformel dieser Tage: ‚Ich schaffe das hier, ich halte das durch. Und gleich ist es ja auch vorbei …‘ Es hilft für ein paar Stunden.

Am nächsten Morgen erwache ich aus einem Erschöpfungsschlaf. Nach einem kurzen Moment der Desorientierung realisiere ich, wo ich bin, und erinnere mich wieder an das, was passiert ist. Allmählich komme ich zurück in die Wirklichkeit. Ich hoffe auf ein Klingeln meines Handys, eine SMS. Hoffe, dass Eberhard verkündet, dass alles nur ein Irrtum gewesen sei und dass ich schnell nach Hause kommen soll. Aber natürlich klingelt es nicht. Wieder ein Tag, den ich irgendwie durchstehen muss, an dem ich mittags an der gedeckten Festtafel sitze, ohne jeden Appetit, den Weihnachtsbaum im Blick. Die Zeit kriecht.

Wo Eberhard jetzt wohl ist am ersten Weihnachtstag, frage ich mich bestimmt schon zum hundertsten Male an diesem Tag. Vielleicht bei seinen Eltern? Ob die wohl schon von unserer Trennung wissen? Hat er Appetit, vermisst er mich, hat er Schuldgefühle, wenigstens ein schlechtes Gewissen? Dass er es einfach auch nur als Befreiung erleben könnte und froh ist, ohne mich zu sein – diesen Gedanken blende ich vollständig aus.

„Iss doch was, Britt, mit vollem Magen ist das Leben einfach viel erträglicher!“ Claudette reißt mich mit leeren Worten immer wieder heraus aus meinen Gedanken. Woher hat sie nur diesen schier endlosen Fundus an oberflächlichen Tröstungsformeln? Vermutlich sind es Hilflosigkeit und Überforderung, beantworte ich mir gleich selbst meine Frage. Sie wirkt so künstlich, so verklemmt. Wahrscheinlich jage ich ihr mit all meiner Emotionalität und meinem aus ihrer Sicht bestimmt höchst peinlichen Verhalten eine Heidenangst ein. Und als würde sie mich steuern, greife ich mechanisch nach dem Besteck und esse etwas, das nach Pappe, Mehl und Fäulnis schmeckt. Ich esse, stehe auf, rede, lege mich ins Bett, weine, schlafe.

Am zweiten Feiertag kehre ich endlich in mein einstiges Zuhause zurück, werde von den beiden Hunden schon sehnsüchtig erwartet und stürmisch begrüßt. Eberhard und ich begegnen uns jedoch nicht, er ist bereits fort, wohin auch immer. Einen Tag vor Silvester verlässt er dann das Haus, um sich zu seinen Freunden aufzumachen, Silvester zu feiern, auf die neue Freiheit anzustoßen. Ich bleibe erneut allein und verlassen zurück.

Der Fernseher läuft, irgendein Film. Ich schaue nicht hin, mag nichts essen, nichts trinken. Erinnerungen an frühere Silvesterfeiern aus längst vergangenen Jahren erzeugen Bilder in meinem Kopf. Silvester mit Eberhard: Entweder waren wir allein oder mit Freunden, im Urlaub oder zu Hause. Reminiszensen werden wach, Erinnerungen an unser großes Glück, an die Küsse, das Lachen und die liebevollen Umarmungen zum neuen Jahr.

An den letzten zurückliegenden Silvesterabenden hatte ich mir jedes Mal wieder vorgenommen, im neuen Jahr beruflich kürzer zu treten. Gerade in den vergangenen zwei Jahren war die Belastung doch sehr stark geworden. Viel zu viel, wie mir bald schmerzlich klar werden sollte. Rückblickend habe ich mein Engagement, meinen ganzen Arbeitseinsatz immer höher und höher geschraubt – und muss jetzt für den Erfolg einen umso größeren Preis zahlen.

Aber jetzt will ich nur schlafen, nichts als schlafen. Nicht mehr planen, nicht organisieren und vor allen Dingen: kein mich kümmern mehr! Schlafen, mich zudecken – und wenn ich viel Glück habe, auch nicht mehr aufwachen. Totstellreflex nennt man das wohl …

Kurz vor Mitternacht wird es draußen lauter. Ich liege im Bett, höre die ersten

Silvesterraketen zischen und pfeifen, bemerke, wie Lady und Ovambo unruhig werden. Irgendein Urinstinkt lässt sie jedes Mal an Silvester vor Angst zittern und völlig irrational reagieren. Und genauso wie ich sind sie gerade mit keinem Wort der Welt zu trösten. Da müssen wir alle drei nun irgendwie durch. Lady springt schutzsuchend auf mein Bett, Ovambo hat sich darunter verkrochen. Irgendwann fehlt mir die Energie, sie zu trösten.

Auf den Straßen explodiert Feuerwerk, fröhliches Zuprosten, Glückwünsche, Happy New Year. Das neue Jahr hat soeben begonnen. Kann ja nur besser werden, rede ich mir immer und immer wieder ein. Das Schlimmste habe ich bestimmt schon geschafft. Ich wünsche es mir so sehr und ein jeder versichert es mir auch: Im neuen Jahr wird alles besser!

Wie sehr sollte ich mich in diesem Punkt doch irren!

Durch Schatten gehen

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