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Zur bleibenden Bedeutung der Pensées

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Pascals Notizen und Reflexionen hatten trotz ihres unabgeschlossenen, aphoristischen Charakters in die Zukunft weisende Bedeutung und sind seinem großen Antipoden, René Descartes, in vieler Hinsicht überlegen. Dies gilt zunächst in wissenschaftstheoretisch-methodologischer Hinsicht. Die Mathematik etablierte sich mit ihren klaren Definitionen und ihren strengen Schlussfolgerungen aus Anfangsprinzipien als der Idealtypus jeglicher Erkenntnis überhaupt. Pascal setzt nun dieser Art von Rationalität keineswegs einen irgendwie gearteten Irrationalismus entgegen, er leistet vielmehr eine immanente Kritik mathematischer Erkenntnis und zeigt scharfsinnig auf, dass sich die Mathematik nicht selbst begründen kann. Ihre Methode des Definierens und Beweisens stößt auf notwendige innere Grenzen. Die letzten Axiome, von denen sie auszugehen hat, sind selbst nicht mehr rational ableitbar, sondern nur noch intuitiv erfassbar. Die Mathematik weist so ihrer eigenen Gesetzmäßigkeit folgend über sich hinaus. Damit nimmt Pascal Einsichten der großen Mathematiker und Logiker des 20. Jahrhunderts (Frege, Russell, Whitehead, Gödel …) über die inneren Grenzen des Formalisierens vorweg: Ein geschlossenes formales System, das in sich selbst völlig rational begründbar wäre, also sein eigenes Metasystem bildete, ist demnach nicht möglich. Mathematische Erkenntnis verweist somit stets auf ein Eingebettetsein in einen größeren Zusammenhang. Pascal bringt in diesem Kontext das vieldeutige Wort cœur, Herz, ins Spiel, das zu so vielen Missverständnissen Anlass gab. Es hat nichts mit Sentimentalität in unserem banalen Sinne zu tun. Philippe Sellier hat das mit »Herz« bei Pascal Gemeinte folgendermaßen zu erfassen versucht: »Das Herz bei Pascal ist der Sitz innerer, unmittelbarer, nicht beweisbarer Erkenntnisse: Diese Erkenntnisse sind wesentlich, sei es, weil sie den Ausgangspunkt aller anderen darstellen (die ersten Grundsätze wie etwa, Sein, dreidimensional, das Ganze größer als die Teile …), sei es, weil sie die Lebensführung bestimmen (Spürsinn, Geschäftssinn, ästhetisches Empfinden, Intuitionen jeglicher Art), sei es, weil sie dem Menschen das offenbaren, was ihn am meisten betrifft, sein Schicksal. Über diese breite Erkenntnistätigkeit hinaus […] umfasst das Herz die Gesamtheit des Willens mitsamt seinen unbewussten Neigungen oder bewussten Wünschen, seine Entscheidungen, seine Freuden oder seine Gewissensbisse. Es umfasst auch das moralische Gewissen. Die Dynamik, mit welcher sich der Mensch an die Tat macht, liegt ihm voraus. Das Herz meint also die Tiefe und Spontaneität, unser wahres Sein. Die Einbildungskraft und die Vernunft, die ihm fremd sind, stellen nur die Oberfläche des Menschen dar. Insbesondere innerhalb einer religiösen Perspektive ist das Herz die Wahrheit des Menschen: Die Fähigkeit des Unendlichen, des Absoluten.« (Sellier 1991, 45–46). Damit wird vor allem deutlich, dass Pascals methodologische und erkenntnistheoretische Überlegungen und sein denkerisches Durchdringen der menschlichen Existenz nicht zwei voneinander unabhängige Sphären darstellen, sondern unmittelbar zusammenhängen. Eine konsequente Reflexion des menschlichen Erkenntnisvermögens mündet per se im Nachdenken über das Ich und seine exponierte Stellung im Universum.4

Wissenschaftstheoretisch ist noch in anderer Hinsicht ein wesentlicher Unterschied zu Descartes festzuhalten: Während für Letzteren die – formale – Mathematik auch der Weg zu jeglichem materialen Erkenntnisgewinn ist, insistiert Pascal auf der methodischen Eigenständigkeit der empirischen Erkenntnis. Nicht Deduktion allein, sondern die empirische Überprüfung von Hypothesen sichert Erkenntnis in diesem Bereich. Pascals methodologische Überlegungen führen ihn schließlich zu jenem Falsifizierbar-keitskriterium5, das Karl Popper im 20. Jahrhundert zum wissenschaftstheoretischen Standard erhebt.

Des Weiteren gelangt Pascal gerade aufgrund der Naturforschung zu einer positiven Würdigung der Tradition und Geschichtlichkeit des Denkens. Während Philosophen der Aufklärung in der Regel Vernunft und Tradition abstrakt einander gegenüberstellen, zeigt Pascal, dass menschliches Wissen sich entwickelndes Wissen ist, dass es sich gerade durch seine Perfektibilität im Gegensatz zu einer statischen Festgelegtheit auszeichnet, dass Wissensfortschritt immer an einen Kontext gebunden ist und einen Zeitindex trägt.

Vor allem aber hat Pascal seine bleibende Bedeutung als Denker der menschlichen Existenz. Wiederum ist der Vergleich mit René Descartes erhellend. Letzterem geht es um die Gewissheit des Denkens, der theoretischen Welterkenntnis. Sein »methodischer Zweifel« führt ihn schließlich zu seinem Cogito, ergo sum als dem unerschütterlichen Fundament der Wahrheit und Gewissheit. Pascal aber, in dessen Pensées die Auseinandersetzung zwischen Skeptikern (»Pyrrhoniker«) und Dogmatisten eine große Rolle spielt, geht es um die Ungesichertheit, Ausgesetztheit, Bedrohtheit der menschlichen Existenz überhaupt, um sein Verlorensein im unermesslichen All, sein »Sein zum Tode«, die Widersprüchlichkeit seiner Existenz. Die naturwissenschaftlichen Kenntnisse seiner Zeit, die Erschließung sowohl des Mikro- wie des Makrokosmos, werfen den Menschen gerade auf sich selbst und seine Fragilität zurück. Gerade das, was seine Größe ausmacht und ihn heraushebt aus allen anderen Seinsarten, die Fähigkeit zu denken, ist gleichzeitig auch Grund seines Elends. In unübertrefflichen Formulierungen kennzeichnet Pascal den Menschen als »Mitte zwischen Nichts und All«. Nicht das »Ich« des »cogito« Descartes‹, sondern vielmehr das existenzielle Ich, das menschliche Dasein in seiner eigentümlichen Stellung in der Welt, ist Gegenstand seiner Analyse. Pascal erweist sich als psychologisch genauer Beobachter, wenn er beschreibt, wie der Mensch der Konfrontation mit dem eigenen Dasein entgehen will. Die geschäftige Tätigkeit des Menschen entlarvt er schonungslos als Zerstreuung, die keinen anderen Zweck hat, als den Menschen der radikalen Besinnung auf sich selbst zu entheben. Mit seinen scharfen Beschreibungen der Conditio humana nimmt Pascal Kierkegaard, Heidegger und Sartre vorweg.

Die Paradoxie menschlicher Existenz eröffnet auch den Zugang zu dem, was Pascal mit einer »Apologie« der christlichen Religion intendierte. Der Anspruch, die Wahrheit des christlichen Glaubens mit Vernunftgründen zu rechtfertigen, ist bereits im Neuen Testament formuliert (vgl. 1 Petr 3,14). Im Gegensatz zu vielen seiner prominenten Zeitgenossen weist Pascal jedoch jeden Versuch einer metaphysischen Beweisführung – im System Descartes ist dies ein zentraler Baustein, denn nur über den Umweg eines metaphysischen Gottesbeweises schlägt er die Brücke von der denkenden Selbstgewissheit zur Existenz der Außenwelt – von sich. Eine solche Beweisbarkeit verfehlte gerade ihren Gegenstand. Der ewig unbegreifbare Gott kann nicht auf dem Weg logischer Beweisführung erfasst werden. Wie sehr unterscheidet sich Pascal hierin von so manchen Zeitgenossen und deren apologetischen Werken, die heute allerdings in Vergessenheit geraten sind! Wie sehr unterscheidet er sich vom Triumphalismus eines Jacques-Bénigne Bossuet, der sein Erstaunen darüber äußerte, dass nicht jedermann die so sichtbaren Werke der Vorsehung erkenne. Der Glaube ist für Pascal keine Sache theoretischer Beweisführung, sondern des Engagements der gesamten menschlichen Existenz. Er erfordert einen radikalen Akt der Entscheidung. Eine Rechtfertigung des Glaubens kann also nur der denkerische Nachvollzug einer existenziellen Entscheidung sein und diese keineswegs ersetzen wollen. Damit aber befindet sich Pascal im Gegensatz zur herkömmlichen Apologetik auf der Höhe fundamentaltheologischer Reflexion unter dem Primat der Praxis. Pascal wendet sich deshalb an die »Ungläubigen«, indem er auf die gemeinsame Erfahrung des menschlichen Daseins verweist.

Eines der meistdiskutierten Fragmente Pascals in diesem Zusammenhang ist ohne Zweifel die Wette. Ausgehend von den Regeln der Wahrscheinlichkeitsrechnung will Pascal hier zeigen, dass das »Setzen« auf Gott in jedem Fall die bessere Wahl sei. Als gültig festzuhalten bleibt hier in jedem Fall, dass Pascal den Glauben als einen notwendigen Akt der Entscheidung begreift: Man muss wählen, selbst wenn man sich der bewussten Entscheidung zu entziehen versucht, hat man bereits gewählt. Als gültig festzuhalten bleibt, dass es bei der Frage nach Gott nicht um theoretische Spekulation, sondern um eine praktische Grundoption des Daseins geht. Um die Existenz Gottes wissen wir durch den Glauben, und nicht umgekehrt. Die Konsequenzen für die Gestaltung des Lebens stehen im Mittelpunkt. Damit nimmt Pascal eine – m.E. heute nicht mehr zu unterbietende – Position Immanuel Kants vorweg, für den Gott eines der »Postulate der praktischen Vernunft« und eben nicht metaphysischer Erkenntnis war. Es bleibt aber gleichzeitig die Frage, ob Pascal mit diesem rationalistischen Kalkül den christlichen Glauben in seiner materialen Substanz wirklich adäquat einholt. Dies wird in der konkreten Beschreibung der praktischen Konsequenzen der Wette überdeutlich: »Welches Übel hättet Ihr nun zu gewärtigen, wenn Ihr diesen Standpunkt bezieht? Ihr werdet treu, ehrbar, demütig, dankbar, wohltätig, ein aufrichtiger und wahrer Freund sein. Tatsächlich werdet Ihr nichts mit vergifteten Vergnügungen zu schaffen haben, nichts mit Ruhm und eitlen Genüssen. Doch habt Ihr dafür nicht andere Freuden?« Was hier beschrieben wird, ist harmlose und behagliche bürgerliche Anständigkeit. Kann dies der Radikalität eines Glaubens gerecht werden, der im Ernstfall nach dem Vorbild seines Stifters sein Leben aufs Spiel setzt? Wird hier das Christentum nicht auf das Maß biederen Bürgertums herabgestutzt? Diese Frage ist nicht nur an Pascal zu stellen, sondern viel mehr noch an zeitgenössische Vertreter einer bürgerlichen Religiosität wie etwa an Hans Küng, für dessen eigenes Glaubensverständnis Pascals Wette zentral ist.

Dass das wirkmächtigste Werk Pascals eine Sammlung von Fragmenten ist, entspricht möglicherweise seinen Inhalten mehr als ein vollendetes Opus. Die Gebrochenheit des menschlichen Daseins findet hier ihre adäquate äußere Gestalt. Und gerade sein aphoristischer Charakter hat die Dichte und geschliffene Zuspitzung seiner wesentlichen Einsichten so deutlich hervortreten lassen. Pascal bleibt mit seinen Pensées eine Provokation und Herausforderung für jede Art »halbierter« Aufklärung, jede Art von Rationalismus, der seine eigenen Voraussetzungen nicht mehr zu denken imstande ist, und jede Art von Banalisierung des Menschseins.6

Bruno Kern

1Die vorliegende Auswahl hat sich zwar zum Teil an die bestehenden Einteilungen und Kapitelüberschriften angelehnt, ist aber im Blick auf die heutigen Leserinnen und Leser frei damit umgegangen. Die editorische Ungesichertheit der bestehenden Einteilungen und die unterschiedlichen Ausgaben lassen das als gerechtfertigt erscheinen. Die Zahlen in Klammern hinter den einzelnen Fragmenten ermöglichen jedoch das leichte Auffinden der entsprechenden Passagen in der Ausgabe von Sellier (s. Literaturangaben).

2 Es geht um den mathematischen Beweis, dass die Winkelsumme eines Dreiecks zwei rechten Winkeln entspricht.

3 Auf die recht komplizierte Editionsgeschichte soll hier nicht im Detail eingegangen werden. Vgl. dazu vor allem Sellier 1991, 23 – 32.

4 Hans Küng stellt in seiner Interpretation zwar den unmittelbaren Zusammenhang zur methodischen Reflexion der mathematischen Erkenntnis nicht in dieser Deutlichkeit her, aber auch er betont, dass »Herz« bei Pascal keineswegs als Widerspruch zur Vernunft gesehen werden darf: »[…] ›Herz‹ meint nicht das Irrational-Emotionale im Gegensatz zum Rational-Logischen, nicht eine ›Seele‹ im Gegensatz zum ›Geist‹. Herz meint jene – durch das körperliche Organ symbolisch bezeichnete – geistige Personmitte des Menschen, sein innerstes Wirkzentrum, den Ausgangspunkt seiner dynamisch-personalen Beziehungen zum Anderen, das exakte Organ menschlicher Ganzheitsverfassung. Herz meint durchaus den menschlichen Geist: aber nicht insofern er ein rein theoretisch denkender, schlussfolgernder, sondern insofern er spontan präsenter, intuitiv erspürender, existentiell erkennender, ganzhaft wertender ja im weitesten Sinn liebender (oder auch hassender) Geist ist. Von daher versteht man vielleicht Pascals meistzitiertes, aber kaum zu übersetzendes Wortspiel richtig: ›Le cœur a ses raison, que la raison ne connaît point: on le sait en milles choses.‹ – ›Das Herz hat seine (Vernunft-)Gründe, die die Vernunft nicht kennt; man erfährt das in tausend Dingen.‹ Das also ist die Logik des Herzens: das Herz hat seine eigene Vernunft!« (Küng 1978, 72).

5 Hypothesen können grundsätzlich nicht verifiziert werden, da man hierfür alle positiven Fälle erfassen müsste. Hingegen genügt ein einziger einer Hypothese widersprechender Fall, um sie zu falsifizieren. Falsifizierbarkeit wird somit zum entscheidenden Kriterium der Wissenschaftlichkeit einer Hypothese.

6 Diese Auswahl hat die sich in einem engeren Sinne auf den christlichen Glauben beziehenden Fragmente nur wenig berücksichtigt, da ein entsprechender zweiter Auswahlband vorgesehen ist.

Das Herz hat seine Gründe, die der Verstand nicht kennt

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