Читать книгу So Gut Wie Tot - Блейк Пирс - Страница 4

KAPITEL EINS

Оглавление

Cassandra Vale lief hastig übers Pflaster. Kalter Regen schlug ihr ins Gesicht und sie blinzelte. Es war spät, dunkel und sie glaubte, sich verlaufen zu haben. Dieser Teil Mailands war anders, als sie es erwartet hatte. Sie war in einer der Haupteinkaufsstraßen gelandet. Menschen in dunklen, eleganten Mänteln und Einkaufstaschen in den Händen drängten sich über den breiten Fußgängerweg.

Auf dem Weg zum Zebrastreifen schielte Cassie in die Schaufenster und fragte sich, ob sie in einem der Geschäfte nach dem Weg fragen sollte. Die hell erleuchteten Verkaufsflächen waren Oasen der Annehmlichkeit und Wärme, aber ihre schäbige Jacke und ihre nassen Turnschuhe würden ihr vermutlich keinen Einlass verschaffen. Emilio Pucci, Dolce & Gabbana, Moschino – die Namen über den Türen waren ein Inbegriff der Modeindustrie. Die Kleider selbst schienen genauso weit weg zu sein wie ihre Preisschilder.

Sie würde sich mit ihrer Karte begnügen müssen, die sich im Regen immer schneller aufzulösen schien. Sie hielt an der Straßenüberquerung an, um sie auseinanderzufalten. Ihre Lippen und Wangen fühlten sich taub an. Das feuchte Papier riss, als sie es öffnete und während sie die Einzelteile zusammendrückte, versuchte sie, das komplizierte Straßenmuster mit unbekannten – und mittlerweile fast unleserlichen – Namen zu verstehen.

Sie war zu weit gegangen, hätte bereits vor vier Häuserblöcken abbiegen sollen. Ihre Orientierung war abhandengekommen und sie hatte nicht früh genug versucht, ihre Position festzumachen. Ihre Hände zitterten nun, als sie die Karte umdrehte und versuchte, ihren Weg zurückzuverfolgen. Wo musste sie hin? Links abbiegen, dann drei Häuserblocks weiter – nein, fünf – dann wieder nach links in das verwirrende Labyrinth aus Gassen und Straßen. Dort musste sie hin.

Cassie faltete die Kartenstücke so gut sie konnte zusammen und steckte sie in ihre Tasche zurück, obwohl sie wusste, dass die Karte vermutlich keinen weiteren Einsatz überleben würde. Sie musste sich konzentrieren und die Panik unterdrücken, zu spät zu kommen. Was, wenn es bereits geschlossen hatte? Was, wenn ihre Reise in nichts als hoffnungsloser Enttäuschung enden würde?

Dies war ihre einzige Chance, ihre Schwester Jacqui zu finden. Es war der einzige Hinweis, den sie hatte.

Sie bemühte sich, ihre Route nicht zu vergessen und rannte fast die Straßen entlang. Als sie Mailands Fashionzentrum hinter sich ließ, wurden die Fußgängerwege schmäler und die Schaufenster weniger einschüchternd. Günstigere Produkte und Imitate wurden ausgestellt und die Preise sanken mit jedem Häuserblock. Aktionsschilder mit den Worten ‚Frühjahrsschlussverkauf‘ hingen hinter den heruntergekommenen Fenstern.

Sie erkannte sich selbst in dem abgedunkelten Glas. Ihre Haut war bleich, ihre Wangen von der Kälte gerötet. Sie zog sich ihre limettengrüne Mütze über das schulterlange, kastanienbraune Haar. Hauptsächlich der Wärme wegen, aber auch, um die rebellischen Locken zu kontrollieren. In ihrem alten, blauen Mantel mit kaputtem Reißverschluss wirkte sie in der Modehauptstadt unglaublich fehl am Platz. Sie fühlte sich wie eine Außenseiterin inmitten der makellos gekleideten Einheimischen mit ihrem perfekt geschniegelten Haar, ihren teuren Stiefeln und ihrem angeborenen Sinn für Stil.

Als Kinder hatten sie und Jacqui oft kaputte Second-Hand-Kleidung zur Schule getragen, die nicht richtig passte. Ihr verwitweter Vater hatte darauf bestanden, dass es kein Geld gab, um etwas Besseres zu kaufen. Cassie hatte ihr Schicksal williger akzeptiert als Jacqui, die es gehasst hatte, schäbig und arm auszusehen.

Es machte Sinn, dass ihre Schwester von dieser Fashion-Metropole angezogen worden war, wo jedes Kleidungsstück hier doch trendy, neu und wunderschön war.

Während sie nach Atem rang, sah Cassie, dass ihr der Name der Straße vor ihr bekannt vorkam.

Es war die Straße, nach der sie gesucht hatte. Jetzt musste sie lediglich den kleinen Laden finden.

Er hieß Cartolería, sie wusste aber nicht, ob das der tatsächliche Name oder eine Beschreibung war. Bei ihrem Telefonat mit der Angestellten war die Sprachbarriere ein großes Problem gewesen. Cassie hatte es geschafft, der immer ungeduldiger werdenden Frau zumindest den Straßennamen aus der Nase zu ziehen. Das war nicht einfach gewesen, schließlich waren deren Englischkenntnisse auf ‚wir schließen‘ beschränkt gewesen, was sie mehrere Male wiederholt, schließlich ‚addio‘ gekeift und aufgelegt hatte.

Cassie hatte entschlossen, den Laden persönlich aufzusuchen.

Eine Woche hatte sie gebraucht, um ihre Angelegenheiten zu klären und von Edinburgh nach Mailand zu fahren. Sie hatte wesentlich früher ankommen wollen, war aber auf dem Weg in die Stadt im Stau gestanden und hatte sich auf der Suche nach einem billigen Parkplatz mehrere Male verfahren. Ihr Navi hatte nicht richtig funktioniert und der Akku ihres Handys war fast leer. Zum Glück hatte sie daran gedacht, die Karte auszudrucken. Wann machten die Geschäfte hier zu? Um achtzehn Uhr? Später?

Sie wurde immer nervöser, als im Geschäft vor ihr bereits das Schild in der Tür umgedreht und das Licht ausgeschaltet wurde.

„Entschuldigung. Cartolería. Welche Richtung?“, fragte sie mit der Ahnung, dass jede Sekunde zählen könnte.

Der Mann runzelte die Stirn, deutete die Straße herunter und murmelte etwas auf Italienisch, das sie nicht verstehen konnte. Zumindest hatte er sie davon abgehalten, in die falsche Richtung zu gehen.

„Danke“, sagte sie.

„Signorina!“, rief er ihr nach, aber Cassie hielt für niemanden an.

Die Aufregung nahm ihr den Atem. Es bestand die Chance, wenn auch noch so klein, dass Jacqui tatsächlich in diesem Laden arbeitete. Cassie stellte sich vor, das Geschäft zu betreten und ihrer Schwester in die Augen zu sehen. Sie fragte sich, was Jacqui tun würde. Sie selbst würde vor Freude schreien und sie so fest umarmen wie sie konnte. Hoffentlich hätten sie dann die Möglichkeit, sich zu unterhalten. Sie wollte herausfinden, was geschehen war und warum Jacqui sich so lange nicht gemeldet hatte.

Und obwohl es sehr unwahrscheinlich war, konnte Cassie nicht anders, als zu träumen.

Da war es. Sie sah das Schild, Cartolería, und rannte los. Der Laden musste offen sein, er musste es einfach. Das war ihre Chance, sich mit der einzigen Familie zu vereinen, die sie noch hatte.

Sie rannte platschend über die nassen Pflastersteine und flocht sich durch die langsameren Fußgänger, die unter ihren monströsen Schirmen Schutz suchten.

Dann blieb sie stehen und starrte ungläubig ins Schaufenster.

Die Cartolería war geschlossen.

Nicht nur für den Tag, sondern für immer.

Die Fenster waren vernagelt, durch eine Lücke konnte sie die dunklen Räumlichkeiten sehen. Das ramponierte und schäbige Schild über der Tür war die einzige Erinnerung daran, was sich einst hinter den Schaufenstern befunden hatte.

Cassie starrte in die trostlose Leere und verstand nun, dass sie die ungeduldige Angestellte missverstanden hatte, als sie vor einer Woche dort angerufen hatte. Die Frau hatte versucht, ihr mitzuteilen, dass der Laden für immer geschlossen wurde. Hätte sie das sofort realisiert, hätte sie zurückrufen, weitere Fragen stellen und aufdringlicher sein können.

Stattdessen war sie viele hundert Kilometer gefahren, um vor der Sackgasse aller Sackgassen zu stehen.

Ihre einzige Spur war verschwunden, zusammen mit ihren Hoffnungen und Träumen. Sie hatte die einzige Chance verloren, ihre Schwester wiederzufinden.

So Gut Wie Tot

Подняться наверх