Читать книгу Kinderärztin Dr. Martens Box 9 – Arztroman - Britta Frey - Страница 6

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Mit ernstem Gesicht legte Cordula Wittmer den Hörer auf die Gabel zurück. Sie hatte gerade einen Anruf vom Jugendamt erhalten, in dem ihr ein Neuzugang angekündigt worden war.

Cordula Wittmer war die Leiterin des Kinderheimes »Haus Maria«. Sie war eine mittelgroße sechsundvierzig­jährige Frau mit dunklen, kurzgeschnittenen Haaren. Sie liebte Kinder sehr, und schon von Jugend an – sie war selbst elternlos aufgewachsen, war es ihr Anliegen gewesen, für Kinder dazusein, die einsam und verlassen waren. Cordula Wittmer war eine sehr warmherzige und mütterliche Frau, und sie besaß die Zuneigung der elternlosen oder von den Eltern vernachlässigten Kinder, die im Kinderheim lebten.

Durch das geöffnete Fenster ihres Büros drangen die hellen und fröhlichen Stimmen der spielenden Kinder an ihr Ohr.

Für Sekunden huschte ein weiches Lächeln über Cordulas Gesicht. Liebe und Zärtlichkeit, es war doch im Grunde gar nicht schwer, damit ein bißchen Glück in die Kinderherzen zu bringen. Und nun würde in kurzer Zeit schon wieder so ein armes Hascherl ins Heim gebracht und ihrer Obhut unterstellt.

Cordula Wittmer stand auf und trat an das geöffnete Fenster.

»Marion, kommen Sie doch bitte einen Augenblick in mein Büro!« rief sie einer jungen Kindergärtnerin zu, die mit ihrer Kollegin die spielenden Kinder beaufsichtigte.

»Ich komme sofort!« antwortete Marion Bruck, ein schlankes Mädchen.

Sie sagte etwas zu den Kindern, mit denen sie sich beschäftigt hatte, und kam auf das Haus zugeeilt.

Augenblicke später betrat sie Cordula Wittmers Büro und fragte: »Sie wünschen, Frau Wittmer?«

»Ich hatte vor wenigen Minuten einen Anruf vom Jugendamt, Marion. Wir bekommen noch heute einen Neuzugang. Erinnern Sie sich an den Artikel von dem schweren Verkehrsunfall, der vor fünf Tagen in der Zeitung stand?«

»Ja, natürlich. Es war doch ein junges Ehepaar, das dabei sein Leben lassen mußte.«

»Genau, Marion. Dieses Ehepaar hinterließ ein fünfjähriges Töchterchen. Da keine Verwandten auffindbar sind, wird man uns die Kleine, Annelie Feldner heißt sie, noch heute im Laufe des Nachmittags bringen. Das Mädchen ist gerade erst fünf geworden, und ich denke, daß ich es in Ihre Gruppe gebe. Versuchen Sie, dem Kind die Eingewöhnung so leicht wie möglich zu machen.«

»Selbstverständlich, Frau Wittmer. Wir werden es schon schaffen, daß es sich einlebt und sich auch wohl fühlt. In welches Zimmer soll es kommen?«

»Zimmer acht, zu Bettina und Ann-Christin. Ich werde unserem Hausmeister gleich die Anweisung geben, noch ein weiteres Bett in Zimmer acht zu stellen. Bereiten Sie dann alles andere vor. Ulla kann ja in der Zwischenzeit Ihre Gruppe übernehmen.«

»In Ordnung, ich sage Ulla rasch Bescheid.«

*

Die Kinder saßen im Speiseraum beim Mittagessen, als draußen ein Wagen hielt und der Fahrer durch anhaltendes Hupen auf sich aufmerksam machte.

Cordula Wittmer horchte auf und verließ den Speiseraum. Sie gab Marion ein Zeichen, ihr zu folgen.

»Das wird Frau Olisch vom Jugendamt mit dem kleinen Mädel sein. Bitte, gehen Sie öffnen und führen Sie Frau Olisch mit der Kleinen ins Büro.«

Als Marion die Eingangstür öffnete, sah sie eine ältere Frau auf die Tür zukommen, die ein kleines, sich sträubendes Mädchen hinter sich herzog.

»Guten Tag, Frau Olisch, Frau Wittmer erwartet Sie in ihrem Büro«, sagte Marion höflich.

»Guten Tag, Marion. Sie glauben gar nicht, wie froh ich bin, die Kleine endlich hier abliefern zu können. Es war ein schönes Stück Arbeit, das können Sie mir glauben. Es ist schon ein Jammer, daß es keine Angehörigen gibt.«

Marion streckte dem kleinen Mädchen ihre Hand entgegen und sagte lächelnd: »Du bist also die Annelie Feldner. Ich bin Marion. Willst du mir nicht guten Tag sagen?«

Heftig schüttelte die Fünfjährige den Kopf und versteckte trotzig ihre freie Hand hinter ihrem Rücken.

»Sie ist wie ein verschrecktes Vögelchen und genauso widerspenstig, Marion«, flüsterte die Beamtin Marion leise zu.

»Es macht nichts, wir sind es ja von Neuzugängen gewohnt, Frau Olisch«, gab Marion ebenso leise zurück. »Wenn Sie mir bitte mit dem Kind in Frau Wittmers Büro folgen würden.«

Ohne auf die Abwehr der Fünf­jährigen einzugehen, faßte Marion nach ihrer Hand und sagte freundlich: »Du brauchst dich nicht zu fürchten, Annelie. Hier bei uns sind sehr viele Kinder, mit denen du jeden Tag spielen darfst. Und wir zwei werden uns schon vertragen, nicht wahr?«

»Ich will aber nicht hierbleiben, ich will zu meiner Mami und zu meinem Vati.«

Marion wollte die Kleine, die sich wie gehetzt umsah, weiter beruhigen, doch in diesem Moment öffnete sich die Tür des Büros und Cordula Wittmer stand in der Tür.

»Guten Tag, Frau Wittmer, hier bringe ich Ihnen das Mädchen.«

Cordula Wittmer kam nicht dazu, das kleine Mädchen zu begrüßen. Mit einem Ruck riß es sich los und lief davon.

»Kümmern Sie sich um das Kind, Marion. Ich erledige inzwischen mit Frau Olisch den Papierkram. Sie werden Annelie schon zur Vernunft bringen. Weit wird sie ohnehin nicht laufen. Kommen Sie bitte in mein Büro, Frau Olisch, damit wir es hinter uns bringen.«

Cordula Wittmer sah, daß Marion die Kleine erreicht hatte, und sie wußte, daß sie ohne Störung die schriftlichen Dinge erledigen konnte. Sie führte Frau Olisch in ihr Büro und wollte dann zuerst wissen: »Ist diese Tasche da das einzige Hab und Gut des Mädchens?«

»Nein, es sind noch zwei Koffer draußen im Wagen. Ich lasse sie gleich durch den Fahrer holen. Die Wohnung des Ehepaares Feldner werden wir im Laufe des Monats auflösen, die Möbel versteigern. Der Erlös kommt auf ein Sperrkonto, das dem Mädchen später zur Verfügung stehen wird.«

Als alle Formalitäten erledigt waren, fragte Cordula Wittmer: »Sie bringen mir Annelie Feldner sehr früh. Wäre es für das Kind nicht besser gewesen, wenn es noch einige Tage länger bei der Nachbarin der Eltern geblieben wäre? Ich meine, es wäre dann vielleicht eher mit dem Verlust fertig geworden. Immerhin wird diese Frau dem Kind doch in etwa vertraut gewesen sein.«

»Uns wäre es auch lieber gewesen, doch die Nachbarin ist eine Frau von über fünfundsechzig Jahren. Sie wurde mit der Annelie nicht fertig. Es blieb uns nichts anderes übrig, als das Mädel in Ihre Obhut zu überstellen. Hier sind mehr Kinder in Annelies Alter.«

Cordula Wittmer war da nicht so sicher, doch sie behielt ihre Meinung für sich. Sie wußte so oder so, sie kannte es aus ihrer jahrelangen Erfahrung, daß auf sie und die Helferinnen im Heim keine leichte Zeit zukommen würde.

Es dauerte auch nur einige Minuten und Frau Olisch verabschiedete sich.

Cordula Wittmer ging noch mit hinaus, um von dem Fahrer die Koffer mit den Habseligkeiten des Mädchens ins Haus bringen zu lassen. Danach wollte sie sehen, wo Marion mit dem Mädel geblieben war.

Marion war hinter Annelie hergelaufen und hatte sie noch vor der Eingangstür eingeholt.

»Du kannst doch nicht einfach fortlaufen, kleiner Spatz. So geht es nicht. Weißt du was, wir gehen jetzt zu den anderen Kindern, die gerade zu Mittag essen. Du hast doch sicher auch Hunger, nicht wahr?«

Mit einem beruhigenden Lächeln faßte Marion nach Annelies Hand und ging mit ihr in den großen Speiseraum, wo die Kinder inzwischen beim Nachtisch angelangt waren.

Marion ging mit der Kleinen an den Tisch, an dem auch Bettina und Ann-Christin saßen, mit denen sie in Zukunft das Zimmer teilen würde. Sanft sagte sie: »Schau, das sind Bettina und Ann-Christin. Sie sind genauso alt wie du, und sie sind schon eine ganze Weile bei uns. Du wirst mit ihnen in einem Zimmer schlafen. Und ihr beiden, wollt ihr Annelie nicht begrüßen?«

»Willst du dich hier neben mich setzen, Annelie? Ich gebe dir auch von meinem Wackelpudding ab. Ich heiße Ann-Christin. Brauchst keine Angst zu haben. Hier sind alle lieb und nett. Wirst schon sehen.«

Die stupsnäsige Ann-Christin schob ihr Puddingschälchen quer über den Tisch auf Annelie zu.

»Ich mag deinen Pudding nicht. Ich will auch nicht hierbleiben. Ich will zu meiner Mami und zum Papi.«

Tränen rollten über die Wangen, der Fünfjährigen.

»Nicht weinen, kleiner Spatz. Du weißt doch, daß du nicht zu deiner Mami und zu deinem Vati kannst.« Liebevoll beugte sich Marion zu Annelie hinunter und wollte ihr mit einem Tuch die Tränen abtupfen.

»Ich will aber, ich will aber. Es ist überhaupt nicht wahr, was die Oma Buchan gesagt hat. Es stimmt nicht, daß man sie totgefahren hat. Ich will zu meiner Mami.«

Marion war innerlich doch ziemlich betroffen von diesem jähen Ausbruch der Fünfjährigen. Wenn wirklich jemand sich dem Kind gegenüber so geäußert hatte, so war das mehr als gedankenlos gewesen.

Marion konnte sich nicht vorstellen, daß ein Mensch mit voller Absicht so grausam sein konnte. Ein paar Sekunden wußte sie nicht so recht, wie sie nun reagieren sollte, dann aber fuhr sie der Kleinen über den schwarzen Lockenkopf und sagte weich: »Wir beiden gehen jetzt erst einmal in dein neues Zimmer, Spatz, damit ich dir gleich zeigen kann, in welchem Bett du heute nacht schlafen wirst.«

Etwas überhastet zog sie Annelie mit sich. Sie wollte verhindern, daß eines der anderen kleinen Mädchen durch neugierige Fragen alles noch schlimmer machte.

Es war ein hübsch eingerichtetes, helles Zimmer, in das Marion Annelie brachte. Stumm sah sich die Kleine um.

»Muß ich hierbleiben? Auch wenn ich doch so gern zu meiner Mami möchte?«

»Komm, Spatz, setz dich einmal zu mir.«

»Warum?«

»Weil ich gern mit dir reden möchte.«

»Ich will aber nicht reden.«

»Dann hör mir wenigstens zu.«

Marion setzte sich auf eines der Betten, zog das Mädchen neben sich und legte liebevoll einen Arm um das Persönchen.

»Hör mir einmal gut zu, Annelie. Du kannst nicht zu deiner Mami und zu deinem Papi. Es ist nämlich so: Beide haben sich bei einem Unfall sehr weh getan. Es war so schlimm, daß sie nicht mehr gesund geworden wären, und so hat der liebe Gott im Himmel sie zu sich geholt. Sie sehen ganz genau, was du hier machst. Sie wollen ganz bestimmt nicht, daß du traurig bist. Hier bei uns ist jetzt dein neues Zuhause. Wenn du erst ein Weilchen bei uns bist, wird es dir bestimmt gefallen.«

»Ich möchte auch in den Himmel.« Tränen rollten nun unaufhaltsam über Annelies Wangen.

»Das geht aber nicht, Annelie.«

»Dann darf ich meine Mami und meinen Papi nie mehr wiedersehen?«

»Irgendwann wirst du alles verstehen. Jetzt mußt du aber nicht mehr weinen.«

In ihren Armen wiegte Marion das zierliche Mädchen hin und her. Sie wußte nicht, mit welchen Worten sie die Kleine noch trösten sollte. Die Zeit mußte helfen und das Mädchen alles vergessen lassen.

*

Nachdem Cordula Wittmer sich von Frau Olisch verabschiedet hatte, wollte sie nachsehen, wo Marion mit dem Mädchen geblieben war, denn sie selbst hatte Annelie noch nicht begrüßen können.

Auf halbem Weg kam ihr Marion entgegen. Sie war allein.

»Wo haben Sie die Kleine gelassen, Marion? Ich hatte noch nicht einmal Gelegenheit, sie zu begrüßen. Von dem kleinen Zwischenfall im Speiseraum habe ich schon erfahren. Ich möchte aber gern Genaueres wissen.«

»Annelie ist eingeschlafen. Es war wohl alles ein wenig zu viel in den letzten Tagen. Wissen Sie etwas über eine Oma Buchan?«

»Nein, nicht genau. Ich weiß nur, daß sie in den vergangenen Tagen bei einer Nachbarin war, die aber wegen ihres Alters nicht mehr mit der Kleinen fertig wurde. Wie mir Frau Olisch sagte, ist sie ungefähr fünfundsechzig. Es könnte sein, daß es sich um die besagte Oma Buchan handelt. Warum wollen Sie das wissen?«

Mit knappen Worten berichtete Marion ihrer Vorgesetzten von dem Vorfall und dem, was diese Oma dem Kind gesagt haben sollte.

»Es ist mir unverständlich, daß es so gedankenlose Menschen gibt, Frau Wittmer.«

Erst zwei Stunden später wachte Annelie auf. Marion, die sich gerade im Zimmer aufhielt, lächelte und sagte: »Komm, Annelie, ich bringe dich jetzt erst einmal zu unserer lieben Frau Wittmer. Du bist heute mittag, als Frau Olisch dich zu uns brachte, so rasch davongelaufen, daß sie dir noch nicht einmal guten Tag sagen konnte. Frau Wittmer ist die Leiterin. Anschließend gehen wir zu Rosa in die Küche. Du hast bestimmt Hunger und Durst, nicht wahr?«

»Nur ein bißchen«, kam es leise über Annelies Lippen.

»Na, siehst du, dann müssen wir zu Rosa. Rosa ist nämlich unsere Köchin, die jeden Tag für alle Kinder das leckere Essen kocht.«

»Da muß sie aber viel kochen, ich habe doch viele Jungen und Mädchen gesehen. Viel mehr als bei uns im Kindergarten.«

»Ja, das muß sie, und sie kann das auch ganz prima. Doch jetzt komm, wir wollen Frau Wittmer nicht mehr warten lassen.«

Cordula Wittmer sah prüfend auf das kleine Mädchen, das sie ängstlich ansah.

»Du bist also Annelie Feldner? Ich freue mich, daß du bei uns bist«, sagte sie mit ihrer dunklen, warmen Stimme. »Ich bin Frau Wittmer, aber du darfst genau wie die anderen Kinder Tante Cordula zu mir sagen. Willst du mir nicht guten Tag sagen?«

Annelie, die ihre Hände hinter dem Rücken verschränkt hatte, streckte Cordula nun zaghaft ihre Rechte entgegen und sagte leise: »Guten Tag.«

»Guten Tag, Annelie, und herzlich willkommen bei uns. Hast du deine neuen Freundinnen schon kennengelernt? Du weißt ja inzwischen von Marion, daß du mit der Bettina und der Ann-Christin zusammen in einem Zimmer schlafen wirst. Ich würde mich sehr darüber freuen, wenn ihr drei euch gut vertragt. Sie helfen dir bestimmt nachher, deine Koffer auszupacken.«

»Ich brauche nicht auszupacken.«

»So, und warum nicht? Du bekommst einen Schrank ganz für dich allein.«

»Ich will überhaupt nicht auspacken. Ich will doch…« Annelie brach ab, starrte Cordula Wittmer mit geweiteten Augen an und senkte dann den Kopf.

Cordula gab Marion ein verstohlenes Zeichen.

Daraufhin sagte diese mit fröhlicher Stimme: »Komm, Annelie, jetzt gehen wir zuerst zu Rosa in die Küche. Auspacken können wir später immer noch, dafür haben wir noch Zeit.«

Ohne Widerrede verließ Annelie mit Marion das Büro von Cordula Wittmer.

Die Köchin Rosa, klein und rund, konnte Annelie jedoch nicht dazu be wegen, etwas zu essen. Ohne ein Wort zu sagen, trank Annelie nur ein Glas Milch.

Später ließ sie es auch geschehen, daß Marion ihre Kleidung in den Schrank einräumte. Schweigend sah sie zu.

Annelie reagierte erst, als Marion auch eine hübsche Puppe hervorholte.

Bettina und Ann-Christin, die in diesem Moment fröhlich ins Zimmer stürmten, blieben staunend vor Marion stehen, und die kleine stupsnäsige Ann-Christin bettelte mit sehnsüchtigen Augen: »Darf ich sie einmal halten, Marion?«

»Sie gehört Annelie, Ann-Christin. Du mußt sie fragen.«

»Ja, Annelie, darf ich sie einmal halten? Sie ist ja so süß. So eine schöne Puppe möchte ich auch haben.«

Nun erst sprang Annelie mit blitzenden Augen auf und sagte aggressiv: »Nein, du darfst sie nicht haben. Sie gehört mir ganz allein. Es ist meine Pamela, und meine Mami hat sie mir geschenkt. Geh weg da, es ist meine.«

Ehe Marion reagieren konnte, riß Annelie ihr die Puppe aus den Händen und drückte sie fest an sich.

»Sie ist überhaupt nicht lieb, Marion. Sie ist überhaupt keine Freundin. Komm, Bettina, gehen wir noch etwas zu Iris und Mia. Soll sie doch mit ihrer doofen Puppe glücklich werden.«

»Meine Pamela ist keine doofe Puppe, damit du es nur weißt!«

»Kinder, Kinder, was ist denn mit euch los? Ihr sollt euch doch nicht streiten. Du mußt auch vernünftig sein, Annelie. Ann-Christin wollte deine Puppe nur einmal halten. Es ist doch nichts dabei. Hier nimmt dir niemand etwas fort.«

Annelie gab keine Antwort, und die beiden anderen Mädchen liefen aus dem Zimmer.

*

Es folgte eine Zeit, in der sich Annelie in einer Weise veränderte, die die Erwachsenen im Kinderheim in tiefe Besorgnis stürzte. So sehr man sich im Kinderheim auch um das kleine Mädchen sorgte, es war alles umsonst. Selbst die liebevolle Zärtlichkeit Cordula Wittmers, die bei allen Kindern des Heims sehr beliebt war, wies Annelie zurück. Zuerst wurde sie noch aggressiver und abweisender, doch diese Phase dauerte nur wenige Tage. Ganz plötzlich wandte sich alles ins Gegenteil um. Sie wurde immer verschlossener.

Wenn die anderen Kinder spielten, saß sie mit traurigen, abwesenden Blicken abseits. Es gab keinen Streit mehr mit ihren beiden Zimmerkameradinnen, aber sie spielte auch nicht mit ihnen. An manchen Stunden kam es Marion vor, als lebte das kleine Mädchen in einer ganz anderen Welt. Marion hatte dabei kein gutes Gefühl.

Der Tag kam, an dem Annelie zum ersten Mal sogar das Essen verweigerte. Schon beim Frühstück bemerkte Marion, daß Annelie nur ihre Milch trank und das knusprige Frühstücksbrötchen zur Seite schob. Sie trat an den Tisch, beugte sich zu Annelie hinab und fragte sanft: »Schmeckt es dir heute nicht?« Schweigend schüttelte das Mädchen den Kopf.

»Soll ich dir ein anderes Brötchen bringen, vielleicht mit Marmelade oder Honig?«

Erneut schüttelte Annelie den Kopf.

»Du mußt aber etwas essen, Spatz. Du wirst uns sonst noch krank«, sagte Marion weich und schob den Teller mit dem Brötchen wieder vor Annelie hin.

»Ich mag aber nicht.« Annelies Augen füllten sich mit Tränen.

»Ist ja schon gut, wenn du einfach nicht willst.«

Marion drängte nicht weiter. Doch zum Mittagessen und auch zum Abendbrot wiederholte sich das gleiche Spielchen.

Da es mit liebevollem Zureden nicht ging, wollte Marion es mit Strenge versuchen und sagte mit ernster Miene: »Du hast den ganzen Tag nichts gegessen. So geht es nicht, Annelie. Sieh dich um, alle anderen sind schon fertig, und es schmeckt wirklich.«

Während die anderen Heimkinder lärmend und fröhlich lachend den Speiseraum verließen, sah Annelie Marion mit großen traurigen Augen an, aß aber trotzdem nicht.

Zehn Minuten wartete Marion ab, danach gab sie endgültig für diesen Tag auf. Als sie später mit ihren Kolleginnen bei Cordula Wittmer zusammentraf, war die erste Frage der Heimleiterin: »Hat Annelie das Essen heute abend erneut verweigert?«

Marion antwortete ernst: »Ja, Annelie ist weder mit gutem Zureden noch mit Strenge zum Essen zu bewegen. Sie wird immer schmaler und hinfälliger. Es ist zum Verzweifeln.«

»Wenn das morgen so weitergeht, werde ich mich mit Dr. Gürtler in Verbindung setzen, Marion. Ich mache mir um dieses Kind genau so große Sorgen wie Sie. So kann es einfach nicht weitergehen. Was machen wir bei diesem kleinen Mädchen falsch?«

»Annelie ist eben ein besonders schwieriger Fall. Wenn wir nichts mehr machen können, dann bleibt nur ein guter Kinderpsychologe.«

»Was heißt schon ein besonders schwieriger Fall? Schwierige Kinder haben wir immer dazwischen, und wir sind immer gut damit fertig geworden. Fühlen sich unsere Kinder im Haus Maria nicht wohl?«

»Natürlich, Frau Wittmer, wir alle können das nur bestätigen.«

»Wenn ich nur wüßte, was wirklich in diesem Kinderherzen vorgeht. Ich liebe meinen Beruf, meine Aufgabe, für die Kinder zu sorgen, die von ihren Eltern allein zurückgelassen oder verstoßen wurden. Ich liebe sie alle, Annelie eingeschlossen. Doch zum ersten Mal fühle ich mich hilflos.«

»Sie werden auch bei Annelie den richtigen Weg finden, Frau Wittmer.«

»Ich hoffe es, Marion. Auf jeden Fall werde ich mich schon morgen vormittag mit Dr. Gürtler in Verbindung setzen. Ich möchte mir nicht vorwerfen müssen, nicht alles getan zu haben. Er wird mir bestimmt einen guten Rat geben können. Hat noch jemand Fragen? Wenn nicht, möchte ich mich für heute zurückziehen. Ich wünsche Ihnen allen noch einen recht schönen Abend.«

Am nächsten Morgen – Annelie hatte erneut das Essen verweigert rief Cordula Wittmer Dr. Gürtler an und bat um sein Kommen.

Frank Gürtler, ein grauhaariger, älterer Arzt, der schon seit Jahren die Kinder im Heim betreute, war ein sehr verständnisvoller Mensch, zu dem die Kinder Vertrauen hatten.

Um halb zwölf fuhr Dr. Gürtler vor dem Kinderheim vor.

Cordula Wittmer, die den Arzt vom Fenster ihres Büros aus hatte kommen sehen, ging ihm entgegen.

»Danke, Herr Doktor, daß Sie so rasch gekommen sind«, begrüßte sie ihn.

»Wo haben wir denn das Sorgenkind?«

»Annelie ist in ihrem Zimmer. Soll ich sie holen lassen?«

»Nein, das muß nicht unbedingt sein. Ich kann sie auch dort untersuchen. Bringen Sie mich bitte hin.«

Annelie lag auf ihrem Bett, als Cordula Wittmer mit dem Arzt das Zimmer betrat.

Frank Gürtler war bestürzt, als er sah, wie sehr sich das kleine Mädchen seit seinem letzten Besuch im Kinderheim verändert hatte.

»Würden Sie mich bitte ein paar Minuten mit dem Kind allein lassen, Frau Wittmer?«

»Selbstverständlich, Herr Doktor.«

»Danke.«

Frank Gürtler trat an das Bett und beugte sich über das Mädchen.

»Hallo, Annelie, kennst du mich noch?« fragte er und fuhr ihr sacht der den schwarzen Lockenkopf.

»Wir zwei wollen uns einmal in aller Ruhe unterhalten. Du sagst mir, wo dir etwas weh tut, und ich sage dir, was wir dagegen tun können. Einverstanden…?«

»Mir tut überhaupt nichts weh«, kam es leise, aber abweisend über Annelies Lippen.

»Wenn dir nichts weh tut, warum willst du dann nichts essen und trinken? Du bist richtig dünn geworden, seitdem ich dich zum letzten Mal gesehen habe. Ich werde dich einmal gründlich untersuchen, danach werden wir weitersehen.«

Die Untersuchung ergab keinerlei Hinweise auf eine organische Erkrankung. Erneut fragte Frank Gürtler freundlich: »Möchtest du mir nicht sagen, warum es dir nicht mehr schmeckt, Annelie? Ich möchte auch gern wissen, was dich so traurig macht. Hier sind so viele Kinder, mit denen du spielen kannst. Sie sind doch alle sehr lieb. Du darfst mir alles sagen, was du willst. Ich will dir doch nur heften.«

»Ich will auch in den Himmel zu meiner Mami und zu meinem Papi. Sie sind doch ganz allein«, kam es stockend über Annelies Lippen, und ihre dunklen Augen füllten sich mit Tränen.

»Das geht nicht, das bestimmt unser Herrgott im Himmel oben. Du mußt nicht weinen. Weißt du, deine Mami und dein Papi passen von oben auf dich auf. Sie wünschen sich bestimmt, daß du hier unten ein fröhliches und gesundes Mädchen bist.«

»Gar nicht wahr, du lügst. Überhaupt nicht können sie mich sehen. Sie sind ja tot. Du kannst ruhig wieder gehen. Ihr seid alle böse.«

Der Ausbruch kam für den Arzt unerwartet und so heftig, daß er im ersten Moment nicht wußte, was er dem kleinen Mädchen darauf erwidern sollte. Als Annelie erneut hemmungslos zu weinen begann, war er ratlos.

Er atmete erleichtert auf, als es nun an der Tür klopfte und Cordula Wittmer wieder ins Zimmer trat.

»Kann ich helfen, Herr Dr. Gürtler?«

»Ja, rufen Sie bitte jemand, der das Kind beruhigt. Ich möchte mich gern einen Augenblick mit Ihnen unterhalten.«

»Einen Moment bitte.«

Cordula drückte auf den Rufknopf, der sich in jedem Zimmer unter dem Lichtschalter befand, und schon Augenblicke später kam Marion eilig herein.

Auf dem Weg in das Büro der Heimleiterin informierte Dr. Gürtler sie über die letzten Minuten mit Annelie.

Nachdem Cordula Wittmer dem Arzt in ihrem Büro einen Platz angeboten hatte, fragte sie geradeheraus: »Sie haben die Kleine erlebt. Was raten Sie uns in diesem Fall?«

»Für mich ist es eine Aufgabe für eine gute Kinderpsychologin, Frau Wittmer. Ich denke dabei an die Kinderklinik Birkenhain. Sie haben doch schon mehrfach Kinder in der Klinik behandeln lassen. Mir fällt da vor allen Dingen Ihre Cousine Christina ein, deren kleine Tochter mehrere Jahre hier im Kinderheim gelebt hatte. Soviel ich weiß, arbeitet in Birkenhain eine hervorragende Kinderpsychologin. Heißt sie nicht Dr. Andergast? Soll ich die Angelegenheit mit Frau Dr. Martens abklären?«

»Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie das für mich übernehmen würden, Herr Dr. Gürtler. In Birkenhain sind die Kinder immer gut aufgehoben. Ich hoffe nur, daß man dort einen freien Platz für Annelie hat.«

»Ich bin überzeugt, daß auf jeden Fall Platz für Annelie da sein wird. Kann ich von hier aus mit der Kinderklinik telefonieren? Ich denke, daß bei dem Mädel nicht länger gewartet werden darf. Wenn ich auch keine organische Erkrankung habe feststellen können, ihr Allgemeinzustand ist nicht unbedenklich.«

»Selbstverständlich können Sie telefonieren. Soll ich solange hinaus gehen?«

»Nein, Frau Wittmer, das ist nicht notwendig. Wenn Sie mir die Telefonnummer der Kinderklinik geben würden? Ich habe sie nicht im Kopf.«

Hastig suchte Cordula die Nummer der Klinik aus dem Telefonregister und reichte sie dem Arzt, der sofort wählte.

*

Dr. Hanna Martens hatte die hohe Glastür, die in den Behandlungstrakt führte, noch nicht erreicht, als Martin Schriewers von der Aufnahme her rief: »Telefon für Sie, Hanna! Es ist Herr Dr. Gürtler.«

Mit raschen Schritten eilte Hanna zurück und nahm von Martin den Hörer an.

»Hier ist Dr. Martens, guten Tag. Was kann ich für Sie tun, Herr Doktor?«

»Guten Tag, Frau Dr. Martens, ich rufe vom Kinderheim ›Haus Maria‹ an. Wir haben hier einen sehr schwierigen Fall, bei dem wir die Hilfe einer Kinderspychologin benötigen. Es handelt sich um ein fünfjähriges Mädchen, das erst vor wenigen Tagen seine Eltern verloren hat. Organisch ist das Mädchen gesund. Noch, würde ich sagen, denn es ißt seit gestern morgen nicht mehr. Ich möchte Sie bitten, das Mädel für einige Zeit in der Kinderklinik aufzunehmen, falls Sie noch über freie Plätze verfügen. Wenn Sie es sehen, werden Sie meine Sorgen verstehen.«

»Selbstverständlich haben wir Platz, Herr Dr. Gürtler. Soll das Mädel geholt werden?«

»Das ist nicht erforderlich, Frau Dr. Martens. Da ich mich im Augenblick im Heim befinde, kann ich die Kleine selbst zu Ihnen in die Klinik bringen. Ich könnte Ihnen dann mehr berichten.«

»Einverstanden, Herr Doktor, ich erwarte Sie mit dem Mädchen. Wann werden Sie hier sein?«

»So in eineinhalb Stunden, Frau Dr. Martens.«

»In Ordnung. Sind die anderen Heimkinder gesund?«

»Bis auf die üblichen Wehwehchen bin ich im Augenblick sehr zufrieden. Noch einmal vielen Dank, daß Sie die Kleine bei sich in der Klinik aufnehmen. Wir besprechen uns später.« Nachdenklich legte Hanna den Hörer auf die Gabel. Sie wußte genau, daß es sich um ein Problemkind handeln mußte, wenn Dr. Gürtler um die Aufnahme einer Patientin bat. Da würde wohl wieder etwas auf sie zukommen.

*

Frank Gürtler wandte sich nach Beendigung des Gesprächs mit Dr. Hanna Martens Cordula Wittmer zu.

»Sie haben mein Gespräch ja mitverfolgen können. Als ich sagte, daß ich Annelie umgehend in die Klinik bringe, habe ich Ihnen doch nicht vorgegriffen, nicht wahr, Frau Wittmer?«

»Auf keinen Fall, Herr Doktor. Ich bin erleichtert darüber. Je eher das Mädel die richtige Behandlung bekommt, um so besser wird es sein. Ihre Entscheidung war schon richtig. Ich werde sofort die Anweisung geben, daß die für den Klinikaufenthalt notwendigen Sachen zusammengepackt werden. Darf ich Ihnen in der Zwischenzeit eine Erfrischung anbieten?«

»Wenn Sie ein Glas Mineralwasser haben, sage ich nicht nein. Kann ich Ihr Telefon noch einmal benutzen? Ich möchte gern meine Frau informieren, daß ich heute später komme. Da heute Mittwoch ist, halte ich ja am Nachmittag keine Sprechstunde ab und habe somit Zeit für die Fahrt nach Ögela.«

»Selbstverständlich können Sie telefonieren. Wenn Sie mich ein paar Minuten entschuldigen, sage ich nur rasch Marion Bescheid und sorge für Ihre Erfrischung.«

Mit raschen Schritten verließ Cordula Wittmer ihr Büro und lief hinauf zu den Schlafräumen. Als sie Annelies Zimmer betrat, sah sie mit Erleichterung, daß es Marion gelungen war, das Mädchen zu beruhigen. Es spielte friedlich mit seiner Puppe.

»Alles in Ordnung, Marion?«

»Für den Augenblick ja.«

»Gut. Ich möchte Sie nämlich bitten, für Annelie einen Koffer zu packen. Erst einmal alles, was das Mädchen für einen Aufenthalt von zwei, drei Wochen in der Klinik benötigt. Dr. Gürtler hat sich mit Birkenhain in Verbindung gesetzt und bringt Annelie persönlich in die Klinik. Bereiten Sie Annelie bitte so behutsam wie möglich auf die Veränderung vor.«

Voller Mitleid sah Marion auf Annelie, die für nichts anderes Augen hatte als für ihre Puppe Pamela. So konnte sie in den nächsten Minuten ungestört einen Koffer packen. Erst als sie damit fertig war, ging Marion zu dem kleinen Mädchen. Sie legte ihm einen Arm um die Schultern und sagte liebevoll: »Hör mir einmal zu, Spatz, ich möchte dir etwas sagen. Der Herr Doktor macht jetzt eine kleine Fahrt mit dir in seinem Wagen. Er bringt dich für kurze Zeit in eine Kinderklinik, in der auch so kranke Kinder sind, wie du es bist. Es gibt dort eine sehr liebe Ärztin und viele nette Schwestern. Erst wenn du wieder ganz gesund bist, kommst du zurück zu Tante Cordula und zu mir. Nun, was sagst du dazu?«

»Ich will nicht.« Heftig schüttelte Annelie den Kopf.

»Es geht aber nicht anders, Spatz.«

»Warum?«

»Weil du in der Klinik gesund wirst.«

»Warum?«

»Weil wir möchten, daß du wieder ein fröhliches Mädchen wirst. Komm, wir ziehen dir nun dein Jäckchen über und bürsten deine hübschen Locken, danach gehen wir zu Tante Cordula ins Büro. Dort wartet Dr. Gürtler auf dich.«

»Fährst du mit mir, Marion?«

»Nein, ich bleibe hier. Du darfst mir jedoch glauben, daß in der Kinderklinik sehr liebe Schwestern sind. Aber ich komme dich ganz bestimmt einmal besuchen. Natürlich nur, wenn du es gern möchtest. Nun, was meinst du dazu?«

Annelie gab keine Antwort, und Marion hatte mit einem Mal das Gefühl, als ob sie für das kleine Mädchen überhaupt nicht mehr vorhanden war. Die eben noch klaren Augen waren trüb, und es schien, als wäre Annelie mit ihren Gedanken weit fort.

Ohne Gegenwehr ließ sie sich die leichte Jacke überstreifen und anschließend das Haar bürsten. Auch als Marion Annelie danach zu Cordula Wittmer ins Büro führte, ließ sie es geschehen.

»Hallo, Annelie, da bist du ja wieder. Wir zwei werden jetzt eine kleine Reise antreten. Doch das weißt du ja schon von Marion, nicht wahr?« sagte Frank Gürtler in gewollt fröhlichem Ton.

Annelie reagierte überhaupt nicht, sondern sah auch durch ihn hindurch.

»Es hat keinen Sinn, Herr Dr. Gürtler. Annelie hat die Jalousien dicht gemacht, wie man so schön sagt. Sie läßt keinen an sich heran«, sagte Marion leise, nur für den Arzt und Cordula verständlich.

»Was ist vorgefallen, Marion?«

»Nicht viel, Herr Doktor.« Mit kurzen Worten informierte Marion ihn über das kurze Gespräch mit Annelie. Zum Schluß sagte sie: »Mit einem Mal war sie wie weggetreten. Können Sie nichts dagegen tun?«

»Ich fürchte nein, Marion. Da sie ruhig ist, halte ich es nicht für angebracht, ihr Medikamente zu geben. Ich möchte da den Ärzten der Kinderklinik nicht vorgreifen. Es wird am besten sein, wenn ich mich jetzt mit dem Mädel auf den Weg mache. Wir sind in etwa einer Stunde in Ögela, dann wird man sich um das Mädchen kümmern.«

Dr. Frank Gürtler verabschiedete sich von der Leiterin des Kinderheimes.

Marion ging noch mit zum Wagen und half Annelie hinein. Der Arzt verstaute den Koffer und verabschiedete sich auch von Marion. Nur wenige Augenblicke später fuhr er davon. Marion sah dem Wagen noch einen Moment nach und ging dann ins Haus zurück.

Es waren da ja auch die anderen Kinder, um die sie sich kümmern mußte. Trotzdem wußte sie, daß Annelie ihr fehlen würde. Sie hatte sie während der vergangenen Tage trotz ihrer Widerspenstigkeit liebgewonnen. Wichtig war nur, daß man ihr in der Kinderklinik helfen konnte.

*

Hanna war ins Klinikgebäude zurückgekommen. Sie blieb kurz an der Aufnahme stehen und wollte wissen: »Ist Dr. Gürtler inzwischen angekommen?«

»Nein, bis jetzt noch nicht, Hanna. Nur Ihr Bruder hat nach Ihnen gefragt. Im Augenblick ist er in seinem Sprechzimmer. Er wollte warten, bis Sie wieder hier sind und danach seine Mittagspause machen.«

»Danke, Martin, ich werde ihn sofort aufsuchen und über unsere neue Patientin informieren. Sollte Dr. Gürtler in der Zwischenzeit kommen, rufen Sie mich.«

»Du hast es ja heute eilig gehabt, ins Doktorhaus zu gehen. Was war los?«

»Ich hatte kurz zuvor ein Gespräch mit Dr. Gürtler, Kay. Er rief mich vom Kinderheim ›Haus Maria‹ aus an. Es ging wieder um eines dieser Problemkinder aus dem Heim. Er bat mich, das Kind, es ist fünf Jahre alt, für eine Weile in der Klinik aufzunehmen und zu behandeln. Eigentlich müßten sie jeden Augenblick hier eintreffen. Es ist vorrangig ein Fall für Frau Dr. Andergast.«

Hanna erklärte Kay den Sachverhalt.

»Ein armes, bedauernswertes Kind, Hanna. Es ist immer schlimm, in so jungen Jahren ein so einschneidendes Erlebnis wie den Verlust der Eltern verkraften zu müssen. Man kann nur wünschen, daß die Kleine keinen dauerhaften seelischen Schaden erlitten hat.«

Bevor Hanna darauf antworten konnte, klingelte das Telefon.

Hanna nahm den Hörer hoch und hörte Martin Schriewers sagen: »Herr Dr. Gürtler ist mit der kleinen Patientin angekommen.«

»Danke, Martin, ich komme sofort.«

Schon an der Tür fragte Hanna: »Warum kommst du nicht mit, Kay? Du kannst dir dann selbst ein Bild machen.«

»Das kann ich immer noch machen. Es irritiert das Kind nur noch mehr, wenn zu viele neue Gesichter auf es zukommen. Außerdem verziehe ich mich jetzt ins Doktorhaus. Meine Mittagspause ist längst fällig.«

»Gut, Kay, bis später dann.«

Mit raschen Schritten verließ Hanna das Sprechzimmer ihres Bruders.

Heißes Mitleid stieg in der jungen Ärztin auf, als sie das kleine Mädchen an Dr. Gürtlers Seite sah. Wie ein Häufchen Elend saß es neben dem Arzt auf einem Sessel in der Besucherecke.

»Guten Tag, Frau Dr. Martens. Da bin ich also mit der kleinen Patientin«, begrüßte Dr. Frank Grütler Hanna mit ernstem Gesicht. »Sie sehen ja, in welcher Verfassung sich das Kind befindet. Es hat während der ganzen Fahrt nicht ein einziges Wort gesprochen. Genauso, wie Sie es hier sehen, war es, als ich vom Kinderheim aus abfuhr.«

Hanna beugte sich zu dem Mädel und sagte mit weicher Stimme: »Guten Tag, kleiner Spatz. Willst du mir nicht sagen, wie du heißt? Ich bin Frau Dr. Martens, und du wirst einige Zeit bei uns bleiben.«

Annelie sah nicht hoch. Sie reagierte überhaupt nicht.

Hanna sah Frank Gürtler an, der sagte: »Die Kleine heißt Annelie Feldner. Entschuldigen Sie, daß ich versäumt habe, Ihnen schon den Namen des Kindes zu sagen. Es war alles so hektisch.«

»Halb so schlimm, Herr Doktor. Ich werde zuerst dafür sorgen, daß die Kleine untergebracht wird, danach stehe ich Ihnen gern für ein Gespräch zur Verfügung. Hat Annelie heute schon irgendwelche Medikamente bekommen?«

»Nein, ich habe ihr keine Medikamente verabreicht, weil es mir nicht unbedingt angebracht erschien.«

»Gut, dann entschuldigen Sie mich für kurze Zeit.«

»Ich werde hier auf Sie warten, Frau Doktor.«

»Komm, Annelie, ich lasse dich jetzt in ein hübsches Zimmer bringen. Es wird dir ganz bestimmt bei uns gefallen.«

Hanna hatte das Gefühl, gegen eine Wand zu reden, denn auch jetzt reagierte Annelie nicht.

Hanna faßte die Hand des Mädchens und führte es aus der Halle ins Behandlungszimmer. Von dort aus rief sie Schwester Laurie telefonisch von der Krankenabteilung herunter.

Es dauerte nur wenige Minuten, bis die junge Schwester mit einem Rollstuhl erschien. Auch sie sah voller Mitgefühl auf Annelie.

Schwester Laurie bekam noch einige Anweisungen von Hanna, die zum Schluß sagte: »Wenn Sie alles erledigt haben, bitten Sie Frau Dr. Andergast in mein Sprechzimmer. Sie bleiben dann solange bei der Kleinen, bis ich entschieden habe. Alles klar?«

»Alles klar, Frau Doktor. Wie heißt unsere kleine Patientin eigentlich?«

»Sie heißt Annelie Feldner.«

»Guten Tag, Annelie, ich bin Schwester Laurie. Ich werde jetzt jeden Tag auf dich aufpassen. Setz dich in den Stuhl hier, und ich fahre dich darin hinauf in dein neues Zimmer. Was meinst du, werden wir zwei uns vertragen?«

Als Annelie auch bei ihr nicht reagierte, sagte Schwester Laurie in gewollt munterem Ton: »Du hast also keine Lust, mit mir zu sprechen, Annelie? Nun, es macht nichts. Du kennst mich ja noch nicht. Es wird schon noch werden.«

Daß überhaupt nichts an das Mädchen herankam, machte die junge Schwester innerlich sehr betroffen. Sie ließ sich davon jedoch nichts anmerken.

Sie tauschte einen kurzen Blick mit Hanna und fuhr Annelie hinaus. An der Tür wandte sie sich noch einmal Hanna zu und fragte: »Hat man für die Kleine Sachen mitgebracht, Frau Dr. Martens?«

»Doch, Schwester Laurie, der Koffer steht noch in der Halle bei Herrn Dr. Gürtler. Ich lasse ihn gleich durch Karsten auf die Station hinaufbringen.«

Nachdem sich hinter Schwester Laurie und Annelie die Tür geschlossen hatte, ging Hanna in die Ambulanz und gab dem Pfleger den Auftrag, Annelies Koffer auf die Krankenstation zu bringen.

Erst danach ging sie zu Dr. Gürtler zurück. Durch ihn erfuhr sie nun alle Einzelheiten, die zu Annelies Einweisung ins Kinderheim geführt hatten.

Bestürzung kam in ihr auf, als sie erfuhr, daß höchst wahrscheinlich eine unbedachte Äußerung einer alten Frau die Ursache für den erbarmungswürdigen Zustand des kleinen Mädchens gewesen war.

Als Frank Gürtler sich von Hanna verabschiedete, fragte er: »Da es mich sehr interessiert, ob Sie der Kleinen helfen können, kann ich mich doch sicher hin und wieder nach ihrem Befinden erkundigen, nicht wahr?«

»Wann immer Sie wollen, Herr Dr. Gürtler. Ich möchte Sie nur noch darum bitten, im Kinderheim Bescheid zu sagen, daß man in der ersten Zeit von Besuchen absehen soll. Wenn wir Erfolg haben wollen, müssen wir die Kleine vor allem, was vor dem heutigen Tag liegt, abschirmen.«

»Ich werde Frau Wittmer informieren und ich wünsche Ihnen, daß Sie dem Mädchen helfen können.«

*

Dr. Wenke Andergast, die in einem langen und ausführlichen Gespräch mit Hanna über die Vorgeschichte informiert worden war, nahm sich liebevoll der kleinen Patientin an. Zwar gelang es ihr, Annelie zum Essen zu überreden, doch was den seelischen Zustand des Mädchens betraf, kam auch sie zunächst nicht einen Schritt weiter.

Es war der dritte Tag nach Annelies Einlieferung in die Kinderklinik.

Schwester Laurie, die sich viel in dem kleinen Einzelzimmer aufhielt, sah, daß Annelie eingeschlafen war, und verließ leise das Zimmer.

Sie ging ins Schwesternzimmer und sagte zu Schwester Tina: »Die Kleine schläft jetzt, Tina. Ich mache eine halbe Stunde Mittagspause und gehe hinunter in die Kantine. Sei bitte so nett und schau ab und zu bei Annelie nach, ob noch alles in Ordnung ist.«

»Geh nur, Laurie. Ich paß schon auf. Außerdem, wenn die Kleine schläft, besteht ja wohl kein Grund zur Sorge.«

»Danke, Tina, ich werde mich auch beeilen.«

Schwester Laurie ging beruhigt hinunter in die Kantine, um etwas zu essen.

Noch keine fünf Minuten waren vergangen, als sich oben auf der Krankenstation leise eine Zimmertür öffnete und ein kleines Mädchen, im Nachthemd und barfuß, aus dem Zimmer kam und den Gang entlang zur Treppe huschte. Ohne von jemandem gesehen zu werden, denn während der Mittagszeit war es immer sehr ruhig, erreichte das Mädchen die Eingangshalle. Einen Moment später lief es durch die erste Tür, die es erreichte, ins Freie hinaus. Es war die Tür, die in den Klinikpark führte.

Im Doktorhaus hatte man gerade die Mittagszeit beendet. Hanna saß mit ihrer Mutter bei einem abschließenden Mokka, und beide unterhielten sich über das Sorgenkind Annelie Feldner.

»Weißt du, Mutti, ich fürchte, es wird eine ganze Weile dauern, bis sich die Kleine wieder in ihrem Leben zurechtfinden wird. Frau Dr. Andergast hat ja nun wirklich große Erfahrungen auf dem Gebiet der Kinderpsychologie. Sie bemüht sich sehr um Annelie, doch der Panzer um diese kleine Kinderseele ist noch zu dicht. Ich mache mir große Sorgen um das Kind.«

»Ich kann verstehen, daß dir das Schicksal dieses kleinen Mädchens sehr nahe geht, Hanna. Weißt du was, ich gehe gleich mit dir hinüber. Vielleicht gelingt es mir, daß die Kleine wieder Zutrauen faßt. Manchmal hilft nur sehr viel Liebe und Verständnis gegenüber allen medizinischen Maßnahmen. Laß es mich wenigstens versuchen. Vielleicht erschrecken die vielen weißen Kittel das Kind ja auch noch. Es ist hier in einer völlig ungewohnten Umgebung.«

»Möglich, Mutti. Versuch dein Glück bei Annelie. Du bist für die anderen Kinder die liebe Oma Bea. Warum solltest du es nicht auch für Annelie werden? Ich bin die Letzte, die dagegen Einwände hat. Meinetwegen können wir gehen, denn für mich wird es sowieso Zeit.«

»Gut, Hanna, ich sage eben der Füchsin Bescheid, daß ich schon jetzt mit dir hinüber in die Klinik gehe.«

Da Jolande in diesem Moment den Raum betrat und wissen wollte, ob Hanna oder ihre Mutter noch einen Wunsch hätten, sagte Hanna lächelnd: »Wir lassen dich jetzt allein, Füchsin. Meine Mutter geht schon jetzt mit mir in die Klinik hinüber.«

»Wann kommen Sie zurück, Frau Martens?« fragte Jolande Hannas Mutter.

»Kann ich nicht genau sagen. Machen Sie sich ein paar freie Stunden. Tut Ihnen auch mal gut. Bis später.«

Als Hanna mit ihrer Mutter durch das schmale Tor den Klinikpark betrat, sagte Bea Martens plötzlich aufgeregt: »Siehst du das, Hanna? Da hinten rechts vom Hauptweg, das ist doch ein Kind, ein kleines Mädchen.«

Hanna starrte verblüfft in die von der Mutter gewiesene Richtung.

»Das ist ja… Um Himmels willen, das ist ja Annelie!«

Schon lief Hanna mit langen Schritten los, bis sie das Kind erreicht hatte.

»Annelie, Kind, was machst du denn hier? Wo willst du hin? Du mußt doch brav in deinem Bettchen liegen.« Trotz heftiger Gegenwehr hob Hanna die federleichte, zierliche Person hoch.

»Ich muß doch meine Mami und meinen Papi suchen. Laß mich runter.«

Wild begann Annelie um sich zu schlagen, so daß Hanna große Mühe hatte, sie auf ihrem Arm festzuhalten.

Nur wenige Sekunden dauerte der Ausbruch, dann fiel Annelies Kopf haltlos gegen Hannas Schulter, und verzweifeltes Weinen schüttelte den Körper.

Bea Martens, die Hanna und Annelie nun erreicht hatte, sah erschüttert auf das zarte Mädchen, das Hanna auf ihren Armen trug, als sei es ein Baby.

Das war sie also, die fünfjährige Annelie Feldner.

»Soll ich dir helfen, Hanna?«

»Nein, laß nur, Mutti, sie ist ja federleicht. Ich schaffe das schon. Ich verstehe nicht, wie es ihr gelingen konnte, aus ihrem Zimmer zu entwischen. Schwester Laurie läßt sie doch kaum einmal aus den Augen.«

»Du wirst es schon erfahren, Hanna. Wichtig ist ja erst einmal, daß die Kleine wieder in ihrem Bett ist.«

»Was ist denn hier los?«

Kay, der ebenfalls wieder in die Klinik wollte, war mit langen ausgreifenden Schritten nähergekommen.

Kay nahm seiner Schwester das immer noch schluchzende Mädchen ab und trug es in die Klinik. Dort herrschte ein aufgeregtes Durcheinander, denn vor wenigen Augenblicken hatte man das Verschwinden Annelies entdeckt.

Schwester Tina kam völlig aufgelöst auf ihn, Hanna und die Mutter zugelaufen und rief aufgeregt aus: »Gott sei Dank, da ist Annelie ja. Ich verstehe nicht, wie das passieren konnte.«

Hanna folgte Kay und ihrer Mutter hinauf auf die Krankenstation, wo Kay das Mädchen in seinem Zimmer auf das Bett legte.

»Laß mich ruhig mit Annelie allein, ich werde mich um sie kümmern«, bat Bea Martens und drängte Kay zur Seite. »Zu viele Menschen wären jetzt nicht gut für sie.«

Hanna und Kay fanden schnell heraus, daß keine der Schwestern eine Schuld an dem Zwischenfall trug. Sie gaben jedoch die Anweisung, daß in Zukunft immer jemand in Annelies Nähe sein mußte, damit sich ein solcher Vorfall nicht wiederholen konnte.

*

Behutsam tupfte Bea Annelie die Tränen aus dem Gesicht, danach wusch sie ihr die vom Barfußlaufen verschmutzten Füße und deckte sie zu. Liebevoll tätschelte sie ihre Wangen und sagte weich: »Du dummes, kleines Mädchen. Du darfst doch nicht einfach fortlaufen. Wir machen uns doch alle Sorgen um dich. Gefällt es dir denn hier nicht?«

Annelie, die alles stumm über sich ergehen lassen hatte, sah Bea Martens mit ihren großen, ausdrucksvollen Augen nur schweigend an.

»Kannst du nicht reden, Annelie?«

»Wer bist du denn?« wisperte sie leise.

»Ich bin die Oma Bea, und ich werde mich jetzt jeden Tag um dich kümmern. Du gefällst mir nämlich«, antwortete Bea mit warmer Stimme.

»Eine Oma? Ich, ich habe keine Oma. Ich habe überhaupt niemanden mehr. Ich bin ganz allein«, kam es leise über Annelies Lippen, und erneut glänzte es verdächtig in ihren Augen.

»Du bist nicht allein, du kleiner Spatz. Du hast ja mich. Wenn du möchtest, bin ich deine Oma Bea, und ich komme dich jeden Tag ganz lange besuchen. Du mußt mir nur versprechen, nicht mehr fortzulaufen.«

»Eine Oma, für mich?«

»Ja, eine Oma für dich, kleiner Spatz.« Seltsam berührt über den andächtigen Ausdruck in den dunklen Augen beugte sich Bea über Annelie und hauchte einen sanften Kuß auf die Kinderstirn.

Ein Zittern durchlief das zierliche Mädchen. Erschrocken dachte Bea: Habe ich etwas Falsches gemacht? Doch da sagte Annelie leise: »Das hat meine Mami auch immer gemacht.«

Es lag eine so verzweifelte Sehnsucht in diesem Satz, daß Bea Martens nicht anders konnte. Zärtlich nahm sie Annelie in ihre Arme und sagte weich: »Es wird alles wieder gut, mein kleiner Spatz.«

Bea Martens erkannte sofort, daß hier ein kleines Mädchen krank vor Sehnsucht nach seinen Eltern war. Ein Mädchen, das den Verlust noch immer nicht begreifen konnte oder wollte, ihn einfach nicht in ihr junges Leben einordnen konnte. Mehr aus seelischer Erschöpfung schlief Annelie schließlich in Bea Martens’ Arm ein.

Sanft ließ diese Annelie in die Kissen gleiten und deckte sie behutsam zu. Eine Weile beobachtete sie das schlafende Kind voller Mitleid, und die verschiedensten Gedanken bewegten sich dabei hinter ihrer Stirn. Die Zeit, in der sie ihren Lebensgefährten verloren hatte, erschien vor ihrem inneren Auge.

Wie schwer war es für sie als erwachsener Mensch gewesen, den herben Verlust zu verkraften. Um wieviel schwerer mußte es für ein fünfjähriges Kind sein, den Verlust beider Eltern hinnehmen zu müssen. Aus einem behüteten Leben in ein Kinderheim zu gelangen, war ein harter Schicksalsschlag.

Bea Martens war so in ihre Gedanken versunken, daß sie völlig überhörte, daß jemand das Zimmer betrat. Eine Hand legte sich auf ihre Schulter, und Hanna fragte leise: »Alles in Ordnung, Mutti?«

Bea zuckte zusammen und fand in die Realität zurück.

»Sie schläft, wie du siehst. Komm, gehen wir hinaus, damit wir sie nicht wecken. Sie braucht diesen Schlaf.«

Auf Zehenspitzen verließen Hanna und ihre Mutter das Krankenzimmer.

»Ich habe für uns eine Erfrischung besorgen lassen, Mutti. Setzen wir uns ein paar Minuten ins Ärztezimmer. Man kann sich da besser unterhalten. Schwester Laurie kann so lange bei Annelie sein.«

Die Tür zum Schwesternzimmer stand offen. Hanna sah ins Zimmer und sagte: »Bitte, übernehmen Sie ein paar Minuten, Schwester Laurie.«

»Wird gemacht, Frau Doktor.«

Im Ärztezimmer fragte Hanna: »War es sehr schwierig, die Kleine zu beruhigen?«

»Wie man es nimmt. Ein armes Hascherl, die Annelie. Sie ist krank vor Sehnsucht nach ihren Eltern. Sie will es einfach nicht wahrhaben, daß sie nicht mehr zurückkommen. Erfreulich an der ganzen Sache ist, daß sie mit mir geredet hat. Ich glaube, ich habe einen Weg gefunden, der ihr helfen wird. Ich werde mich wohl in der kommenden Zeit sehr viel um Annelie kümmern.«

»Wie meinst du das, du hast einen Weg gefunden?«

»Nun, man muß dieses Persönchen einfach liebhaben. Ich bin mir jetzt schon sicher, daß es ein bißchen Zutrauen zu mir gefaßt hat.«

Erstaunt hörte die junge Ärztin zu, was ihre Mutter erzählte.

»Das ist ja wunderbar, Mutti«, entfuhr es ihr erleichtert, als diese schwieg. »Etwas Schöneres kann uns doch überhaupt nicht passieren. Du darfst dabei nur nicht vergessen, daß Annelie ja wieder ins Kinderheim zurück muß.«

»Das ist ja wohl im Augenblick noch nebensächlich, oder? Erst muß ihre kleine Welt wieder in Ordnung kommen. So, und nun haben wir genug über dieses Thema geredet. Ich werde jetzt Schwester Laurie wieder ablösen. Ich möchte bei Annelie sein, wenn sie wieder wach wird. Übrigens, habt ihr klären können, warum sie fortgelaufen war? Liegt schuldhaftes Verhalten einer Schwester vor?«

»Nein, auf keinen Fall, Mutti. Annelie war eingeschlafen, und Schwester Laurie ging in die Kantine, um ihre Mittagsmahlzeit zu sich zu nehmen. Sie bat vorher Schwester Tina, hin und wieder nach Annelie zu sehen. Normalerweise kann man ja wohl ein schlafendes Kind eine Weile allein lassen, und es waren kaum zehn Minuten. Natürlich wird dafür gesorgt, daß sich ein solcher Zwischenfall nicht wiederholt. Wir wissen ja alle, daß unsere Schwestern sehr verantwortungsbewußt sind.«

»Eben, Hanna. Ich hätte mich auch sehr gewundert, wenn Nachlässigkeit mit im Spiel gewesen wäre. So, und nun gehe ich zu Annelie zurück.«

*

Für Hanna war es wie ein kleines Wunder. Mit ihrer Warmherzigkeit erreichte Bea Martens, daß Annelie langsam wieder Interesse an ihrer Umwelt fand.

Als Hanna am Morgen nach dem Zwischenfall das Zimmer betrat, bemerkte sie sofort die Enttäuschung in Annelies dunklen Augen.

»Guten Morgen, Annelie. Ich freue mich, daß dir dein Frühstück heute geschmeckt hat. Nur brav weiter so.«

Mit mißtrauischen Blicken beobachtete Annelie die junge Ärztin, ohne eine Antwort zu geben.

»He, kleines Fräulein, willst du heute auch noch nicht mit mir reden?« fragte Hanna mit fröhlicher Stimme.

»Wo ist Oma Bea?«

»Deine Oma Bea schläft vielleicht noch, es ist ja gerade erst acht Uhr.«

»Woher weißt du das?«

»Woher ich das weiß, Annelie? Deine Oma Bea ist meine Mutti, und sie wohnt mit mir in einem Haus. Heute nachmittag kommt sie dich besuchen. Sie hat es dir doch versprochen.«

»Sie soll aber jetzt kommen. Kannst du es ihr nicht sagen?«

»Du magst die Oma Bea wohl, oder?«

Annelie nickte heftig, und in ihre Augen trat ein sehnsüchtiges Leuchten.

»Weißt du, Annelie, heute vormittag kann die Oma Bea noch nicht zu dir kommen. Du mußt dich noch eine Weile bis dahin gedulden. Spiel mit deiner Puppe und schau dir Bilderbücher an. Wenn du nach dem Mittagessen geschlafen hast, kommt die Oma Bea zu dir.«

»Du sagst ihr aber, daß ich auf sie warte, nicht wahr?«

»Natürlich sage ich es ihr. Jetzt will ich aber zuerst nachsehen, ob du dich gestern nicht erkältet hast.«

»Ich bin nicht erkältet.«

»Wir werden es gleich sehen. Wenn man einfach mit bloßen Füßen nach draußen geht, kann man ganz doll krank werden. Wir möchten doch beide nicht, daß das passiert, oder?«

Hanna war noch dabei, Annelie gründlich zu untersuchen, als Wenke Andergast das Zimmer betrat.

Lächelnd sagte die hochgewachsene, blonde Ärztin zu Hanna: »Unser Sorgenkind scheint ja heute recht munter zu sein, wie ich sehe. Gibt es dafür einen besonderen Anlaß? Ich hatte ja gestern nachmittag frei und war nicht im Haus.«

»Es gab einen Zwischenfall, und danach kam meine Mutter ins Spiel.«

Hanna klärte Wenke Andergast auf und sagte zum Schluß: »Sie sehen also, Frau Dr. Andergast, daß solch ein Zwischenfall auch sein Gutes haben kann. Ich überlasse das Mädel jetzt wieder Ihnen. Übrigens, es hat heute zum ersten Mal einigermaßen vernünftig gefrühstückt. Auch ein großer Schritt voran.«

»In der Tat, Frau Dr. Martens. Wir können uns demnach nur wünschen, daß es jetzt so weiter geht.«

Hanna wandte sich noch einmal Annelie zu und sagte: »Bleib brav, Annelie, ich komme später noch einmal zu dir.«

Sie war schon an der Tür, als Annelie ihr zurief: »Aber nicht vergessen, meine Oma Bea soll kommen.«

»Ich vergesse es ganz bestimmt nicht.«

»Wie geht es unserem Spatz, Hanna?« war Bea Martens erste Frage, als Hanna zum Mittagessen ins Doktorhaus kam.

»Wenn du Annelie meinst, hast du ja einen dicken Stein im Bett. Sie hat mich schon heute morgen gefragt, wann ihre Oma Bea kommt. Doch im Ernst, Mutti, ich freue mich, daß sie durch dich wieder Interesse an ihrer Umwelt zeigt. Wenn ich da an die vergangenen Tage denke, war sie heute geradezu lebhaft. Dich scheint sie ja wirklich schon in ihr kleines Herz geschlossen zu haben.«

»Ich werde gleich nach dem Essen zu der Kleinen hinübergehen, Hanna. Muß sie eigentlich den ganzen Tag im Bett bleiben? Du sagtest doch, daß ihr organisch nichts fehlt. Ich möchte wissen, ob ich sie ein Weilchen mit in den Klinikpark nehmen kann.«

»Gegen ein halbes Stündchen an der frischen Luft ist an und für sich nichts einzuwenden. Du kannst ja mit Frau Dr. Andergast darüber reden, weil sie Annelies Behandlung übernommen hat. Ich möchte sie nicht übergehen.«

»Natürlich. Ich wende mich nachher an sie. Jetzt werde ich erst mal bei Jolande in der Küche nachfragen, ob wir essen können.«

»Können wir, Frau Martens. Das Essen steht schon auf dem Tisch«, kam die fröhliche Stimme Jolandes von der Tür her, die die letzten Worte Bea Martens noch mitbekommen hatte.

Während der Mahlzeit sagte Jolande aus ihren Gedanken heraus: »Man kann richtig neidisch werden, wenn du soviel über die Kinder in der Klinik redest, Hanna. Ob ich es hier im Doktorhaus einmal erleben werde, daß so junges Volk Leben in die Bude bringt? Was sagen Sie, Frau Martens? Wäre es nicht pfundig, so ein oder zwei Enkelkinder zu betreuen?«

»Wem sagen Sie das, Jolande? Hanna hört ja nicht auf mich. Mir wäre es schon recht, wenn sie…«

»Mutti, nicht schon wieder«, unterbrach Hanna ihre Mutter lachend. »Ich fühle mich solo ganz wohl. Ich bin ganz galant und laß dem Herrn von nebenan den Vortritt. Ich habe noch jede Menge Zeit, um mich fest zu binden. Und du, Füchslein, sollst lieber an dich denken. Es gibt noch andere als deinen Heinz. Wir sind eben beide Töpfchen, die ihre Deckelchen noch nicht gefunden haben.«

Mit vergnügtem Schmunzeln beobachtete Bea Martens die beiden im Charakter so unterschiedlichen Frau. Es war schön, täglich mitzuerleben, wie gut sich Hanna und die Füchsin verstanden. Manchmal, wenn Kay auch kam, ging es recht lustig zu. Über das wunderbare Verhältnis zwischen Kay und Hanna war Bea Martens besonders glücklich.

Bea Martens blickte auf die Uhr und fragte: »Hast du Annelie gesagt, wann ich zu ihr komme?«

»Habe ich, Mutti. Du kannst ruhig noch entspannen. Ich habe der Kleinen gesagt, daß du kommst, wenn sie ihr Mittagsschläfchen gehalten hat. Du hast also noch Zeit.«

»Haben wir noch etwas zum Naschen im Haus, Jolande? Ich möchte Annelie eine Kleinigkeit mitnehmen.«

»Es sind mindestens vier Tafeln Schokolade da. Eine Tafel Kinderschokolade ist auch dabei. Soll ich sie holen?«

»Legen Sie die Kinderschokolade heraus, bevor ich in die Klinik hinübergehe.«

»Mach ich, Frau Martens. Ich habe sogar noch hübsches Geschenkpapier.«

»Ich für meinen Teil lasse euch jetzt allein, ich habe noch einen Hausbesuch zu machen. Wir sehen uns später drüben in der Klinik, Mutti.«

*

Ein weiches Lächeln auf den Lippen, ging Bea Martens eine Stunde später den Gang der Krankenstation entlang. Sie hatte vorher noch mit der jungen Kinderspychologin gesprochen, die keine Einwände gegen einen Spaziergang an der frischen Luft hatte, zumal der Tag sehr warm war.

Schwester Laurie kam mit einem Glas Tee aus der Teeküche. Als sie Bea Martens sah, sagte sie freundlich: »Sie werden schon sehnsüchtig erwartet, Frau Martens. Der Tee hier ist für Annelie. Würden Sie ihn bitte mit ins Zimmer nehmen?«

»Natürlich, Schwester Laurie, geben Sie nur her.«

Als Bea Martens die Tür öffnete, sah ihr Annelie mit großen Augen entgegen und sagte leise: »Du hast mich ja doch nicht vergessen, Oma Bea. Ich hatte solche Angst.«

»Aber, aber, mein kleiner Spatz, wie sollte ich dich denn vergessen? Ich habe dir doch versprochen, daß ich heute mittag wieder zu dir komme. Wie geht es dir? Hast du auch brav zu Mittag gegessen?«

Bea Martens trat an Annelies Bett und hauchte einen sanften Kuß auf die Kinderstirn.

Zwei weiche Arme schlangen sich um ihren Hals, und mit glänzenden Augen wisperte Annelie: »Du bist eine ganz, ganz liebe Oma.«

»Und du ein lieber, kleiner Spatz. Schau her, ich habe dir auch etwas mitgebracht.«

Aus ihrem Taschenbeutel zauberte Bea Martens die in buntes Geschenkpapier gewickelte Tafel Schokolade und eine ihrer Stoffelpuppen hervor und legte sie auf Annelies Bettdecke.

»Ganz für mich allein, Oma Bea?« In den Augen Annelies leuchtete es auf.

»Ja, ganz allein für dich, mein Spatz. Gefällt sie dir?«

»Danke, Oma Bea, die Puppe ist ja so süß. Sie bekommt auch gleich einen Namen. Hilfst du mir?«

»Nenn sie doch einfach Stoffelinchen. Oder gefällt dir der Name nicht?«

»Doch, er ist hübsch.« Selig drückte Annelie das kleine Püppchen an sich.

»Bleibst du jetzt ganz lange bei mir, Oma Bea?«

»Eine Weile schon. Was hältst du davon, wenn wir zwei etwas nach draußen in den Park gehen? Ich helfe dir beim Anziehen, und dann gehen wir.«

»Darf ich denn? Wird die Frau Doktor nicht böse sein?«

»Nein, sie wird nicht böse. Ich habe sie doch gefragt. Nun, möchtest du?«

Heftig nickte Annelie, und es ging ihr nicht rasch genug, in ihre Kleidung zu kommen.

Als Annelie fertig angezogen und gekämmt war, sagte Bea Martens: »So, Spatz, jetzt sagen wir noch Schwester Laurie Bescheid, damit sie nicht denken muß, du seist wieder davongelaufen, danach können wir gehen.«

Schwester Laurie stand mit der Oberschwester vor der Teeküche, als Bea Martens mit Annelie an der Hand aus dem Krankenzimmer trat.

Beide lächelten, als Annelie mit strahlenden Augen sagte: »Ich gehe jetzt mit meiner Oma Bea spazieren. Ich laufe aber nicht weg, ganz ehrlich nicht.«

»Du bist ein braves Mädchen, Annelie.« Sanft fuhr Schwester Elli über Annelies schwarzen Lockenkopf und tauschte einen Blick des Verständnisses mit der Mutter Hanna Martens’, die freundlich sagte: »In einer halben Stunde bringe ich Annelie wieder zurück.«

»Nun komm auch, Oma Bea«, drängelte Annelie, und lächelnd ließ sich Bea Martens von der Kleinen mitziehen.

Die beiden Schwestern sahen ihnen nach, bis sie an der Treppe waren, dann sagte Schwester Elli nachdenklich: »Wer hätte das vor ein paar Tagen gedacht? Wohl niemand.«

»Ich freue mich für die Kleine.«

»Ich auch, aber trotzdem muß man auch an die Zukunft des Mädchens denken. Wie wird es reagieren, wenn der Tag kommt, an dem es zurück ins Kinderheim muß? Und der Tag wird früher oder später kommen. Die Kleine klammert sich sehr an Frau Martens, darum habe ich so meine Bedenken in dieser Angelegenheit.«

In Bea Martens bestanden diese Bedenken nicht. Sie freute sich über Annelies strahlende Augen, die ihre Hand nicht losließ, als sie wenig später den gepflegten Klinikpark betraten.

Sie erklärte der Kleinen die verschiedenen Blumen, die in hübschen Rabatten blühten, und aufmerksam hörte sie ihr zu.

Damit es für Annelie, die noch immer körperlich geschwächt war, nicht zuviel wurde, zog sie sie zu einer im Schatten stehenden Bank und sagte liebevoll: »Jetzt wollen wir uns erst einmal ein bißchen ausruhen, Spatz.«

»Wer wohnt denn dort in dem Haus, Oma Bea?« Annelie, die sich aufmerksam umgesehen hatte, zeigte auf das Doktorhaus, das am Ende des Parks durch die Bäume und Sträucher leuchtete.

»Dort wohne ich mit meinen beiden großen Kindern. Mit der Frau Doktor, die du ja schon kennst, und mit dem Herrn Doktor, den du auch schon gesehen hast.«

»Nimmst du mich einmal mit, Oma Bea?«

»Wir werden sehen… Vielleicht. Soll ich dir jetzt eine hübsche Geschichte erzählen?« lenkte Bea Annelie ab.

»Kannst du das denn?«

»Aber sicher kann ich das. Was möchtest du hören?«

»Vom Hasen und dem kleinen Igel. Meine Mutti hat mir die Geschichte auch immer erzählt.«

Ein Schatten lief über das Kindergesicht, den Bea Martens jedoch über sah. Sie begann sofort mit dem Erzählen, damit erst gar keine Traurigkeit in Annelie aufkommen konnte. Es gelang ihr, sie abzulenken.

Als es Zeit wurde, Annelie in ihr Zimmer zurückzubringen, fragte diese: »Gehen wir morgen nachmittag auch wieder in den Park, Oma Bea?«

»Wenn das Wetter so schön bleibt, ja. Und wenn du immer tüchtig ißt, nehme ich dich auch einmal mit in die Heide. Wir besuchen dann den alten Schäfer Vinzenz, der hat ganz viele Heidschnucken, auf die er aufpassen muß.«

»Heidschnucken, was ist das?«

»Das sind wollige Schafe.«

»Au ja, die möchte ich gern sehen, Oma Bea. Ich esse jetzt immer ganz viel, damit ich mit dir in die Heide gehen darf«, beteuerte Annelie mit glänzenden Augen.

»Damit würdest du mir eine große Freude machen. Jetzt wird es Zeit für uns, du mußt ins Bett zurück.«

*

Die Tage vergingen, und es war eine Freude, mit anzusehen, wie sehr sich Annelie veränderte. Das Wichtigste für sie war ihre Oma Bea, an die sie ihr kleines Herz verschenkt hatte. Dabei vergaß Bea Martens nicht, sich auch weiter um die anderen kleinen Patienten zu kümmern.

Inzwischen wurde Annelie auch Hanna gegenüber immer zutraulicher. Hanna dachte nicht gern an den Tag, an dem Annelie entlassen werden konnte.

Drei Wochen nach Annelies Einlieferung in die Kinderklinik besprachen Hanna und Dr. Wenke Andergast ihre Entlassung.

»Wann werden Sie dem Mädel sagen, daß es ins Kinderheim zurückkommt, Frau Dr. Martens?«

»Das wird meine Mutter übernehmen, Frau Dr. Andergast. Ich muß ehrlich sagen, daß ich sehr froh darüber bin. Ich hoffe nicht, daß noch einmal ernsthafte Probleme auftreten.«

»Das glaube ich auch nicht. Die Kleine hat sich sehr gut gefangen. Meiner Meinung nach würde es nur schaden, wenn wir sie noch länger hierbehalten würden.«

»Das ist mir klar. Ich werde noch heute im Kinderheim anrufen und mit Frau Wittmer einen Termin ausmachen, wann man Annelie abholen kann. Wenn ich nur sicher wäre, damit das Richtige zu tun. Mir ist die Kleine sehr ans Herz gewachsen. Es wird etwas fehlen, wenn sie nicht mehr auf der Krankenstation herumgeistert.«

Hanna blieb noch eine ganze Weile nachdenklich allein in ihrem Sprechzimmer zurück. Sie hatte plötzlich ein ungutes Gefühl. Annelie war während der letzten Wochen so glücklich gewesen, es wäre schade, wenn sich das erneut ändern würde.

Nach dem Mittagessen im Doktorhaus saßen Hanna und ihre Mutter wie jeden Tag noch ein wenig zusammen und unterhielten sich.

»Du bist heute so ernst, Hanna. Gibt es drüben in der Klinik Probleme?«

»Nein, Mutti, es ist nur soweit mit Annelie. Es besteht kein Grund mehr, sie noch länger in der Klinik zu behalten. Bleibt es dabei? Wirst du es ihr schonend beibringen?«

»Natürlich, Hanna, ich halte mein Versprechen. Ich werde unseren Spatz sehr vermissen.«

»Du kannst Annelie ja hin und wieder im Kinderheim besuchen. Wie ich die Füchsin kenne, fährt sie dich bestimmt gern hin.«

»Das werde ich auf jeden Fall tun.«

»Wann wirst du es ihr sagen?«

»Wenn ich nachher zu ihr hinübergehe. Und keine Sorge, ich werde es ihr ganz behutsam erklären.«

»Das weiß ich, Mutti, darum bin ich so froh, daß du es übernehmen willst.«

»Hast du schon mit der Heimleiterin gesprochen?«

»Ja, Frau Wittmer kommt Annelie am Freitagnachmittag abholen.«

»Es ist eine Sünde, daß so ein armes Hascherl in einem Heim leben muß«, warf Jolande ein.

»Wir können es nicht ändern, Füchsin. So sind eben die Gesetze.«

»Eben, Hanna, genau das meine ich damit.«

»So, für uns wird es Zeit, meine Mittagspause ist wieder einmal vorbei Wann kommst du nach, Mutti?«

»Ich gehe gleich mit, Hanna. Ich habe Annelie versprochen, daß wir wieder in den Park gehen. Ich möchte es hinter mich bringen.«

»Das kann ich verstehen.«

Sie verließen das Doktorhaus und gingen langsam durch den Park zum Klinikgebäude hinüber.

»Ist das Wetter heute nicht wieder wunderschön, Mutti?« Hanna sah lächelnd in den blauen, wolkenlosen Himmel hinauf.

»Sehr schön, von mir aus könnte es auch so bleiben. Was machst du zuerst?«

»Ich habe noch einige schriftliche Dinge zu erledigen. Später komme ich auch auf die Station hinauf.«

Inzwischen hatten sie die Klinik erreicht. Bevor sich Hanna und ihre Mutter in der Klinik trennten, sagte Hanna: »Ich wünsche dir Glück, Mutti.«

Bea Martens nickte nur. Mit ihren Gedanken war sie schon oben bei Annelie, die bestimmt schon sehnsüchtig auf sie wartete.

Es war so, denn als sie die Tür öffnete, rief Annelie ihr schon entgegen: »Oma Bea, da bist du ja endlich. Die Sonne scheint so schön. Ich möchte in den Park hinunter. Du hast es mir versprochen.«

»Keine Bange, Annelie, wir gehen ja auch gleich. Wie ich sehe, bist du sogar schon angezogen. Hast du das ganz allein gemacht?«

»Ja, ich kann das schon. Schwester Laurie hat mir nur meine Haare gekämmt.«

»Fein, Annelie, wir können meinetwegen sofort gehen.«

»Du bist ja heute überhaupt nicht so fröhlich, Oma Bea. Tut dir etwas weh«, fragte Annelie ganz ernsthaft, als sie den Klinikpark betraten.

»Mir fehlt nichts, ich bin ganz in Ordnung, Spatz. Ich muß nur an etwas denken. Komm, setzen wir uns dort drüben in den Schatten. Ich muß etwas Wichtiges mit dir besprechen.«

»Was ist denn, Oma Bea?« Neugierig sah Annelie in das Gesicht ihrer geliebten Oma Bea.

Als sie auf der Bank Platz genommen hatten, legte Bea einen Arm um das zierliche Mädchen und zog es liebevoll an sich.

»Weißt du, mein Spatz, du bist ja ein großes und vernünftiges Mädchen. Wir alle freuen uns, daß du wieder gesund bist und es dir gutgeht. Es ist nur so, daß gesunde Kinder nicht in der Klinik bleiben können. Das gilt auch für dich. Du wirst bald wieder ins Kinderheim zurückfahren.«

»Ich soll, ich muß ins Heim zurück?« Tief senkte sich Annelies Kopf. »Dann kann ich dich ja gar nicht mehr sehen.«

»Nicht traurig sein, mein Spatz. Du wirst mich sehen, denn ich werde dich, so oft ich kann, dort besuchen. Was sagst du dazu?«

»Kann ich nicht bei dir bleiben, Oma Bea?«

»Das geht leider nicht. Die Klinik ist für kranke Kinder da, und du bist jetzt gesund.«

»Ich will nicht wieder allein sein. Lieber bin ich wieder krank.«

»Du bist ein kleiner Kindskopf, Annelie. Du bist im Kinderheim nicht allein. Dort sind doch so viele Kinder. Du mußt jetzt vernünftig sein, sonst werde ich sehr traurig. Willst du das?«

»Nein, Oma Bea, du darfst nicht traurig sein. Kommst du mich denn jeden Tag im Kinderheim besuchen?«

»Jeden Tag geht es nicht. Aber jede Woche komme ich einmal und bringe viel Zeit mit.«

»Ehrlich, Oma Bea? Schwindelst du auch nicht?«

»Ganz großes Ehrenwort, Annelie. Wenn du brav und vernünftig bist, komme ich dich jede Woche besuchen. Ich muß doch immer wissen, ob es dir gutgeht. So, und nun gehen wir spazieren. Vielleicht sehen wir noch einmal den alten Vinzenz mit seinen Schafen. Wäre das nichts?«

»Au ja, das ist ganz toll, Oma Bea.« Annelie war mit einem Mal wieder fröhlich, und Bea Martens war erleichtert, daß es ihr gelungen war, das Mädel abzulenken.

*

Annelie war bis zum Freitagnachmittag erstaunlich tapfer. Es gab weder Tränen noch besonders auffallende Traurigkeit. Es lag kein Grund vor, sich Sorgen zu machen. Hanna schien es ein sicheres Zeichen, daß Annelie es endgültig geschafft hatte. Sie sah der Ankunft Cordula Wittmers gelassen entgegen.

Gegen fünfzehn Uhr betrat Cordula Wittmer die Kinderklinik Birkenhain. Sie trat zu Martin Schriewers an die Aufnahme und sagte freundlich: »Mein Name ist Wittmer. Ich komme vom Kinderheim ›Haus Maria‹ und möchte gern ein kleines Mädchen abholen. Frau Dr. Martens erwartet mich.«

»Das ist richtig, ich bin informiert, Frau Wittmer«, entgegnete Martin höflich. »Frau Dr. Martens erwartet Sie in ihrem Sprechzimmer. Gleich da vorn durch die Glastür, die zweite Tür auf der linken Seite.«

»Vielen Dank.«

Cordula Wittmer wandte sich ab und ging mit festen Schritten den von Martin gewiesenen Weg. Bis sie vor Hannas Sprechzimmer angelangt war, fragte sie sich: Wie wird die Kleine wohl reagieren, wenn sie mit mir zurück ins Kinderheim muß? Hoffentlich gibt es keine Tränen. Cordula fühlte sich nicht so sicher. Dabei hatte Dr. Martens Stimme am Telefon recht zuversichtlich geklungen.

Vor Hannas’ Sprechzimmer angekommen, klopfte sie kurz an.

»Ja«, sagte von innen eine dunkle Frauenstimme.

Hanna stand am Fenster, als Cordula den Raum betrat.

»Guten Tag, Frau Wittmer. Ich freue mich, Sie zu sehen.« Mit einem herzlichen Lächeln reichte Hanna Cordula ihre Rechte. »Ist im Haus Maria alles in Ordnung?«

Cordula erwiderte den Gruß und antwortete: »Ja, erfreulicherweise sind unsere Kinder gesund. Abgesehen von den normalen Wehwehchen. Es ist schön, daß ich Annelie heute abholen darf. Das Mädel ist demnach wieder völlig in Ordnung, nicht wahr? Wie hat Annelie darauf reagiert, als man ihr sagte, daß ich sie abholen werde?«

»Den Umständen entsprechend hat Annelie es erstaunlich tapfer aufgenommen. Es ist nie einfach für ein Kind in Annelies Alter, wenn es sich wieder umstellen muß. Sie ist ein liebes Kind, und es tut uns leid, sie wieder fortgeben zu müssen. Meine Mutter, an der sie sehr hängt, hat ihr versprechen müssen, sie im Kinderheim zu besuchen. Damit hat sie etwas, worauf sie sich freuen kann. Besuche sind doch erlaubt?«

»Selbstverständlich, Frau Dr. Martens. Ich begrüße es sogar sehr, wenn die Kinder nicht völlig von der Außenwelt abgeschlossen werden. Ich bemühe mich stets, immer das Beste für unsere Kinder zu tun.«

»Tun wir das nicht alle? Jeder auf seine Weise, Frau Wittmer? Nun, wie dem auch sei, ich bringe Sie nun zu Annelie hinauf. Ihre Zeit ist sicher begrenzt. Hier habe ich noch die Entlassungspapiere des Mädels.«

Gemeinsam gingen Hanna und Cordula Wittmer hinauf zur Krankenstation. Als sie Annelies Zimmer betraten, sah das Mädel ihnen mit großen Augen entgegen.

»Hallo, Annelie, kennst du mich noch? Ich möchte dich nach Hause holen. Alle freuen sich, daß du endlich gesund bist.«

»Guten Tag, Tante Cordula. Müssen wir sofort fahren? Ich muß meiner Oma Bea noch auf Wiedersehen sagen.«

»Natürlich darfst du dich von allen verabschieden, bevor wir fahren, Annelie. Rosa hat extra Kuchen gebacken, weil sich alle auf deine Rückkehr freuen. Es soll eine richtige schöne Feier werden. Freust du dich nicht ein bißchen?«

»Schon, Tante Cordula, aber…«

»Geh schon, Oma Bea ist hinten im Spielzimmer«, sagte Hanna mit einem nachsichtigen Lächeln. »Ich sehe ja, daß du es nicht mehr erwarten kannst.«

Mit gesenktem Kopf lief Annelie aus dem Zimmer.

»Oma Bea, ich muß jetzt mit Tante Cordula gehen. Ich wollte dir nur auf Wiedersehen sagen.«

Mit traurigen Augen sah Annelie Bea Martens an, die gerade einem der Kinder im Spielzimmer ein Bilderbuch zeigte.

»Ist es soweit, ist die Tante Cordula schon da?«

»Ja, Oma Bea. Aber ich möchte hierbleiben.« Annelies Augen füllten sich mit Tränen.

»Du mußt nicht traurig sein, Annelie. Wir sehen uns doch nächste Woche wieder, wenn ich dich besuchen komme.«

Bea kam zu Annelie und nahm sie liebevoll in den Arm.

»Bleib schön brav, hast du gehört? Du bist und bleibst mein kleiner Spatz. Und jetzt lauf, laß die Tante Cordula nicht warten. Und nicht mehr weinen. Das mag ich nämlich überhaupt nicht gern.« Sanft tupfte Bea Martens Annelies Tränen ab und brachte sie bis zur Tür. Voller Mitleid sah sie ihr nach, als sie mit gesenktem Kopf förmlich davonschlich. Wie sehr man sich an so ein kleines Mädel gewöhnen kann, kam Bea erst so richtig zu Bewußtsein, als sie eine Weile später vom Fenster aus beobachten konnte, wie Annelie an der Hand der Heimleiterin zu deren Wagen ging. Das kleine Mädchen ließ sich förmlich mitziehen und sah sich immer wieder um.

»Woran denkst du, Mutti?«

Bea Martens zuckte leicht zusammen und drehte sich um. Sie war so in Gedanken gewesen, daß sie Hannas Kommen völlig überhört hatte.

»Was hast du gesagt, Hanna?«

»Ich habe dich gefragt, woran du denkst.«

»Woran schon, Hanna? Ich kann dir überhaupt nicht sagen, wie leid es mir tut, daß die Kleine nun fort ist. Ich werde sie schrecklich vermissen. Hoffentlich geht alles gut, und sie gewöhnt sich rasch ein. Als sie sich von mir verabschiedete, war sie so anders, so traurig.«

»Es mußte sein, Mutti. Wir konnten Annelie nicht länger hierbehalten. Das Fortgehen wäre ihr später noch schwerer gefallen. Du wirst sehen, sie ist jetzt soweit, sie wird uns im Kreise der anderen Kinder schneller vergessen haben. Außerdem wirst du sie ja im Kinderheim besuchen. Ich bitte dich, häng dein Herz nicht zu sehr an dieses kleine Mädchen. Es muß und wird in den nächsten Jahren seinen Weg finden.«

»Niemand kann gegen seine Gefühle angehen, Hanna. Nicht wir Erwachsenen und auch nicht die Kinder. Bald werden Frau Wittmer und Annelie daheim sein.«

Während der Fahrt zurück zum Kinderheim war Annelie sehr still. Cordula Wittmer, die sie unauffällig durch den Rückspiegel beobachtete, wußte nicht, was sie davon halten sollte. Kurz bevor sie »Haus Maria« erreichten, sagte Cordula: »Du bist so ruhig, Annelie. Freust du dich denn nicht wenigstens ein bißchen, wieder zu uns zurückzukommen?«

»Ich weiß nicht, Tante Cordula. Ich weiß doch gar nicht mehr viel vom Heim und von den anderen Kindern.«

»Auch nicht, daß du mit Bettina und Ann-Christin zusammen in einem Zimmer geschlafen hast? Das kannst du doch nicht ganz und gar vergessen haben.«

»Habe ich nicht, Tante Cordula. Ich weiß noch, daß sie… Ich weiß nicht mehr.« Trotzig schwieg Annelie.

Erst als Cordula ihr aus dem Wagen half, hellte sich das Gesicht Annelies auf. Mit lautem Hallo kamen die Kinder aus dem Haus und auf den Wagen ihrer Tante Cordula zugestürmt und umringten sie und Annelie. Ein blondes, stupsnäsiges Mädchen in Annelies Alter sagte: »Wo warst du denn so lange, Tante Cordula? Wir dachten, du kommst überhaupt nicht mehr zurück. Die Rosa hat schon den Kakao für uns fertig und ganz viel Kuchen steht auf den Tischen.«

»Langsam, langsam, Ann-Christin. Wir sind ja jetzt da. Wollt ihr zwei euch nicht begrüßen? Wo steckt Bettina?«

»Bettina hilft Marion, Tante Cordula.«

Ann-Christin wandte sich nun Annelie zu und sagte: »Guten Tag, Annelie. Nun bist du wieder bei uns. Bist du jetzt gesund? Bist du nicht mehr böse?«

Annelie nahm die Hand, ließ sie aber sofort wieder los.

»War ich so böse, Tante Cordula?« fragte sie leise.

»Böse nicht, du warst krank. Wir wollen das alles vergessen. Es ist ja alles in Ordnung gekommen. Und nun wollen wir hineingehen und Rosa nicht mehr länger mit dem Kakao und dem Kuchen auf uns warten lassen.«

Umringt von den anderen Kindern, an der Hand Cordula Wittmers, betrat Annelie zum zweiten Mal das Kinderheim Haus Maria.

*

Mit voller Absicht ließ Hanna das Wochenende verstreichen, ohne sich bei Cordula Wittmer nach Annelie zu erkundigen. Sie war der Meinung, daß das Mädchen ein paar Tage brauchen würde, um sich richtig einzugewöhnen.

Erst am Montagmorgen beim gemeinsamen Frühstück sagte Bea Martens: »Wenn du nicht heute mit dem Kinderheim telefonierst, werde ich es tun, Hanna. Ich habe keine Ruhe mehr. Ich muß wissen, ob mit unserem Spatz alles in Ordnung ist. Wenn wir uns nicht melden, denkt Annelie am Ende noch, daß wir sie schon vergessen haben.«

»Wie kommst du denn auf diese Idee, Mutti?« entgegnete Hanna und schüttelte lächelnd den Kopf. »Wenn du unbedingt willst, so ruf halt heute vormittag an. Frau Wittmer wird dir schon sagen, daß deine Sorge völlig unbegründet ist.«

»Du bist also einverstanden, wenn ich mich erkundige?«

»Warum sollte ich etwas dagegen haben? Doch ich mache dir einen anderen Vorschlag. Warte den heutigen Tag noch ab, und morgen Nachmittag fährt dich die Füchsin zum Kinderheim. Da kannst du dich persönlich davon überzeugen, daß mit Annelie alles in Ordnung ist. Überleg es dir.«

»Hanna hat recht, Frau Martens. Ich fahre Sie sehr gern hin. Ich muß ehrlich gestehen, daß ich neugierig bin, wie es in einem Kinderheim zugeht.«

»Na gut, ihr habt mich überredet, Füchsin. Wir dürfen nicht vergessen, jede Menge Naschereien mitzunehmen, damit auch die anderen Kinder nicht zu kurz kommen.«

»Worauf Sie sich verlassen können, Frau Martens.«

»Wie ich sehe, ist also alles in Ordnung, Füchsin. Ich lasse euch nun allein, damit ihr euch noch besprechen könnt. Ich werde drüben in der Klinik erwartet.«

Hanna schmunzelte in sich hinein und verließ das Doktorhaus.

Als sie in die Eingangshalle trat, rief ihr Schwester Dorthe, die an diesem Tag Martin Schriewers in der Aufnahme vertrat, zu: »Bitte, kommen Sie rasch, Frau Dr. Martens, hier ist ein Gespräch für Sie.«

Hanna eilte zur Aufnahme und nahm den Hörer entgegen.

»Ja, Dr. Martens«, meldete sie sich ein wenig außer Atem.

»Guten Morgen, Frau Dr. Martens, hier spricht Cordula Wittmer. Es tut mir leid, daß ich Sie schon wieder belästigen muß.«

»Guten Morgen, Frau Wittmer. Von Belästigung kann wohl keine Rede sein. Ist etwas nicht in Ordnung?«

»Kann man wohl laut sagen. Es ist Annelie, die uns erneut Sorgen bereitet. Ich wußte mir keinen anderen Rat, als Sie anzurufen.«

»Annelie? Was ist mit ihr? Es war doch alles gut und schön, als sie am Freitagnachmittag hier abfuhren. Ich verstehe nicht ganz.«

»Es ist nichts mit der Kleinen anzufangen. Es begann schon am Samstag. Sie sitzt immer nur in einer Ecke und weint. Ich bin völlig ratlos. Soll ich Herrn Dr. Gürtler noch einmal kommen lassen?«

»Das wird nicht notwendig sein. Sagen Sie Annelie, daß sie morgen nachmittag Besuch bekommt. Vielleicht hilft das. Versuchen Sie es noch einmal mit ihr. Ich werde mich im Laufe des Tages bei Ihnen melden, vielleicht weiß ich dann einen anderen Weg.«

»Ich versuche es, vielen Dank.«

»Das waren keine guten Nachrichten, Schwester Dorthe«, sagte Hanna und legte mit ernstem Gesicht den Hörer auf die Gabel zurück. »Mit der kleinen Annelie Feldner läuft schon wieder alles falsch.«

»Ich habe es zum Teil mitbekommen, Frau Doktor. Die Kleine tut mir ehrlich leid. Dabei war sie in der vergangenen Woche noch so fröhlich. Wir mochten sie alle sehr. So ein liebes, aufgewecktes Kind. Was geschieht nun mit der Kleinen?«

»Wie es den Anschein hat, werden wir sie wieder zu uns bekommen. Vielleicht war die Entlassung zu früh. Wir werden sehen, ob sich im Laufe des Tages wider Erwarten etwas ändert, danach sehen wir weiter.«

Hanna ließ Schwester Dorthe allein, denn für sie wurde es Zeit, hinauf auf die Krankenstation zu kommen, um die Berichte der Nachtschwestern durchzusehen.

Bei der anschließenden Frühbesprechung bemerkte Kay sofort, daß seine Schwester mit ihren Gedanken nicht ganz bei der Sache war.

»Was ist los mit dir, Hanna? Man sieht dir an, daß dich etwas sehr beschäftigt«, raunte er ihr verstohlen zu.

»Später, Kay, im Augenblick möchte ich nicht darüber reden.«

Noch ein paar Mal sah Kay Hanna prüfend an, stellte aber keine Fragen mehr. Erst als er nach der Besprechung einen Moment allein mit ihr war, sagte er: »Nun schieß schon los, Schwesterherz. Was beschäftigt dich die ganze Zeit. Soviel ich weiß, ist oben auf der Station alles in Ordnung.«

»Es geht um Annelie. Ich hatte einen Anruf von Frau Wittmer. Es ist wieder das alte Lied. Annelie sondert sich von den anderen Kindern ab. Sie sitzt immer in irgendeiner Ecke und weint. Ich bin mir nicht sicher, ob wir sie zu früh entlassen haben. Ich werde mir etwas einfallen lassen müssen.«

»Schon wieder das Mädel? Das ist doch nicht möglich! Dabei war die Kleine so rege, als sie von hier abgeholt wurde. Ich habe euch gewarnt, Hanna. Vor allen Dingen Mutti hat sich zuviel um das Mädel gekümmert. Es ist wie ein Bumerang, der seinen Weg zurückfindet. Reden wir heute Mittag mit Mutti über diese Sache. Ich komme in der Mittagspause mit dir hinüber. Gemeinsam wird uns bestimmt etwas einfallen. Ich muß mir das erst alles durch den Kopf gehen lassen.«

»Einverstanden, Kay. Erstens haben wir da mehr Zeit und zweitens wird Mutti bestimmt etwas dazu sagen. Ich habe Frau Wittmer gebeten, den heutigen Tag abzuwarten.«

»Gut, Hanna, machen wir jetzt erst einmal weiter. Wir haben mit unseren anderen Patienten genug zu tun. Deine ambulante Sprechstunde fängt in wenigen Minuten an, und ich werde, wie gerade besprochen, mit Dr. Dornbach noch die Krankengeschichte von Jan Vennemann durchgehen. Wenn wir vorher nicht mehr zusammentreffen, sehe ich dich in der Mittagszeit drüben im Doktorhaus. Du kannst ja der Füchsin Bescheid sagen, daß sie einen Teller mehr auflegt.«

Für die nächsten Stunden kam Hanna nicht mehr dazu, über Annelie Feldner nachzudenken. Es gab so viel zu tun, daß ihr dafür keine Zeit blieb. Sie konnte es gerade noch einschieben, ihre Mutter und Jolande zu informieren.

*

Kay war noch vor Hanna im Doktorhaus.

»Hallo, Kay, was verschafft uns denn das Vergnügen, dich zur Mittagszeit bei uns zu sehen? Kommt Hanna nicht?« begrüßte Bea Martens ihren Sohn und sah ihn prüfend an.

»Hanna kommt sofort, Mutti. Wir haben etwas mit dir zu besprechen. Aus diesem Grund bin ich heute hier.«

»Um was geht es denn? Mach es nicht so spannend.«

»Ich möchte Hanna nicht vorgreifen, Mutti. Du mußt dich gedulden, bis sie hier ist. Ich glaube, da ist sie schon.«

Jetzt hörte auch Bea Martens jemanden das Haus betreten, und einen Augenblick später betrat Hanna das kleine Eßzimmer.

»Da alle da sind, kann ich das Essen auftischen, nicht wahr?« wollte Jolande wissen, die einen Augenblick später den Kopf zur Tür hereinsteckte und Hanna fragend ansah.

Während der Mahlzeit sah Bea von Kay zu Hanna und sagte gerade heraus: »Will mir nicht endlich einer von euch sagen, was eigentlich los ist? Ihr seht beide so ernst aus. Was ist, Hanna? Kay sagte vor ein paar Minuten zu mir, daß ihr etwas mit mir zu besprechen hättet. Schieß schon los.«

»Hör zu, Mutti, ich hatte heute morgen sehr früh einen Anruf aus dem Kinderheim. Frau Wittmer rief mich an.«

»Und? Sag bloß, es geht um Annelie?«

»So ist es. Frau Wittmer macht sich große Sorgen um die Kleine. Sie kann sich einfach nicht eingewöhnen, sitzt nur abseits und weint.«

»Warum hast du mich nicht sofort informiert, Hanna? Und du, Kay, was sagst du dazu? Man muß sich doch um das Mädel kümmern.«

»Immer langsam mit den jungen Pferden, Mutti. Laß Hanna erst zu Ende berichten.«

»Wieso, was ist denn noch?«

»Nichts Besonderes, Mutti. Ich habe Frau Wittmer geraten, Annelie zu erzählen, daß du sie morgen besuchen kommst.«

»Und, was versprecht ihr euch davon?«

»Wir hoffen, daß sich vielleicht dadurch etwas in Annelies Verhalten ändert, Mutti«, antwortete Kay.

»Das glaubst du ja wohl selbst nicht.«

Kay schwieg einen Moment, denn Jolande kam mit dem Kaffee herein und reichte die Tassen herum.

»Nun, Kay, sag was dazu.«

»Was soll ich sagen, Mutti? Es läuft darauf hinaus, daß wir die Annelie in die Klinik zurückholen.«

»Dürfte ich etwas dazu sagen, Hanna?«

»Ja, Füchsin, mich interessiert deine Meinung.«

»Gut. Wie wäre es denn, wenn du das kleine Mädchen für einige Zeit ins Doktorhaus holen würdest? Wenn es sich überhaupt nicht im Kinderheim eingewöhnen kann, wäre das doch eine zwischenzeitliche Lösung.«

»Daran habe ich auch gedacht. Nun, Mutti, Kay, was haltet ihr von Jolandes Vorschlag?«

»Ich wäre sofort damit einverstanden, wenn es machbar ist, Hanna«, erwiderte Bea Martens, und ein erleichtertes Lächeln huschte über ihr Gesicht.

»Und du, Kay?«

»Ich weiß nicht recht, Hanna. Ich habe da meine Bedenken. Nehmen wir an, wir holen das Mädchen ins Doktorhaus. Es kann in jedem Fall nur eine vorübergehende Lösung sein. Wird nicht alles viel schlimmer, wenn es später wieder fort muß?«

»Die Zeit heilt vieles, Kay. Ich teile deine Bedenken nicht. Man kann sich ja in der Zwischenzeit über das Jugendamt um nette, liebevolle Pflegeeltern kümmern. Da müßte sich doch etwas machen lassen. Nun stimm schon zu«, sagte Hanna drängend.

»Meinetwegen macht, was ihr wollt, wenn Frau Wittmer damit einverstanden ist. Ich habe euch aber gewarnt.«

»Du wirst selbst erleben, daß es gutgeht. Wir werden sehen, was uns Frau Wittmer heute abend sagt, wenn ich noch einmal anrufe. Sollte sich mit Annelie nichts geändert haben, werde ich ihr unseren Vorschlag unterbreiten. Ich bin sicher, daß sie sofort zustimmt. Mutti, Jolande, ihr könnt euch inzwischen Gedanken darüber machen, wo wir Annelie unterbringen.«

»Sei unbesorgt, da werden wir schon eine gute Lösung finden. Platz ist ja genug da.«

»Ich muß wieder in die Klinik zurück. Abschließend zu diesem Thema kann ich nur sagen, überlegt es euch gut, was ihr da vorhabt.«

»Da gibt es nichts mehr zu überlegen, Kay, ich habe mich entschieden. Wenn du noch einen Moment wartest, gehe ich mit hinüber. Hier kommen Mutti und Jolande allein zurecht.«

Als Hanna neben Kay zur Klinik zurückging, lag ein zufriedenes Lächeln auf ihrem Gesicht.

Kurz bevor sie um sechzehn Uhr die Klinik verlassen wollte, kam der Anruf von Cordula Wittmer. Hanna fragte gespannt: »Hat der Hinweis auf den Besuch meiner Mutter das Verhalten Annelies geändert?«

»Nein, Frau Dr. Martens, genau das Gegenteil ist eingetreten. Das ständige Weinen der Kleinen hemmt die Fröhlichkeit der anderen Kinder mehr und mehr. Ich weiß auch nicht, was ich noch machen soll. Einen so schwierigen Fall hatten wir noch nie.«

»Hören Sie, Frau Wittmer, ich möchte Ihnen einen Vorschlag machen. Wir möchten die Kleine für eine Weile in unsere private Obhut nehmen. Sie wäre unter ständiger Aufsicht meiner Mutter. Ich bin mir darüber klar, daß es nur eine vorübergehende Lösung sein wird. Trotzdem bitte ich Sie um Ihre Einwilligung. Vielleicht gelingt es uns, im kleinen privaten Bereich mehr für das Mädel zu erreichen. Für einige Zeit ließe sich das auch durchaus vor dem Jugendamt vertreten, da das Mädel ganz offensichtlich im seelischen Bereich noch nicht geheilt ist. Was halten Sie davon?«

»Ich bin einverstanden, denn so wie es im Augenblick ist, kann es auf keinen Fall weitergehen, da wir ja auch an unsere anderen Kinder denken müssen.«

»Das sehe ich genauso, Frau Wittmer. Wir sollten keine Zeit verlieren. Wenn es Ihnen recht ist, holt meine Mutter Annelie noch heute ab. ­Würden Sie bitte ihre Koffer packen?«

»Es ist mir recht, Frau Dr. Martens. Wie halten wir es denn, wenn das Jugendamt mit Fragen an mich herantreten sollte?«

»Im Augenblick besteht kein Anlaß, da Annelie ja noch als krank geführt wird. Später werd’ ich das selbstverständlich persönlich übernehmen. Sie brauchen sich also keine Sorgen zu machen, Frau Wittmer. Haben Sie sonst noch Fragen?«

»Nein, im Moment nicht. Sie erlauben doch, daß ich mich nach Annelies Befinden erkundige, nicht wahr? Mir liegt ihr Schicksal sehr am Herzen. Sie verstehen das sicher?«

»Natürlich verstehe ich das. Sie können zu jeder Zeit anrufen.«

Nach ein paar herzlichen Worten des Abschieds beendete Hanna das Gespräch.

Hanna betrat gerade die Eingangshalle, als sie ihre Mutter sah, die von der Krankenstation hinunterkam.

»Nanu, du bist auch hier, Mutti?« entfuhr es ihr überrascht.

»Warum sollte ich nicht? Ich war oben im Spielzimmer und habe mich mit den Kindern beschäftigt. Hat Frau Wittmer inzwischen noch einmal angerufen?«

»Hat sie, Mutti. Es ist alles geklärt. Du kannst nachher mit der Füchsin nach Celle fahren und Annelie vom Kinderheim abholen. Zufrieden?«

»Und ob, Hanna.«

»Fein, Mutti. Habt ihr inzwischen gelöst, wo unsere kleine Hausgenossin schlafen wird?«

»Das haben wir. Wir haben das kleine Bügelzimmer oben aufgeräumt. Die Abstellkammer ist groß genug für diese Sachen. Du wirst staunen, was wir aus dem Zimmer gemacht haben. Als ich zur Klinik ging, war Jolande damit beschäftigt, hübsche Gardinen aufzuhängen. Sie hat da einiges gezaubert. Es fehlen zwar noch einige Kleinigkeiten, doch die werden wir umgehend besorgen.«

»Da bin ich wirklich gespannt, Mutti. Ob wir die richtige Entscheidung getroffen haben, wird sich ja bald herausstellen. Ein Kind im Haus wird für uns alle ein Umstellung sein.«

»Mag sein, Hanna, doch trotzdem freue ich mich darauf«, gab Bea Martens mit einem weichen, mütterlichen Lächeln zurück.

*

»Sie haben mich rufen lassen, Frau Wittmer?« Abwartend blieb Marion an der Tür stehen.

Cordula Wittmer, die am Fenster stand und in den Obstgarten hinaussah, antwortete, ohne sich umzusehen: »Ja, Marion, ich habe Sie rufen lassen. Kommen Sie ans Fenster und sehen Sie sich das an.«

Marion trat neben ihre Vorgesetzte ans Fenster.

»Ist es nicht ein trauriger Anblick, das Mädel da so verloren sitzen zu sehen?«

»Ich verstehe es einfach nicht, Frau Wittmer. Können wir nichts tun?«

»Doch, Marion, ich habe gerade mit Frau Dr. Martens telefoniert. Sie hat mir einen ungewöhnlichen Vorschlag gemacht, und ich habe zugestimmt. Die Mutter der Ärztin ist die Oma Bea, von der Annelie spricht, wenn sie überhaupt etwas sagt. Annelie wird noch heute abgeholt.«

»Wieder in die Kinderklinik zurück?«

»Nein, nicht in die Klinik, sondern in den Privathaushalt von Frau Dr. Martens. Sie wird dort einige Zeit bleiben, damit sie wieder ein normal reagierendes Kind wird. Außerdem hat die Ärztin bestimmt durch ihre Beziehungen zum Jugendamt ganz andere Möglichkeiten, für Annelie Pflege- oder Adoptionseltern zu finden.«

»Wenn Annelie in ein privates Umfeld kommt, ist es sicher das Beste für sie. Einmal muß sie doch all das Schwere überwinden.«

»So wird es sein, Marion. Kommen wir nun zu dem Grund, aus dem ich Sie habe rufen lassen. Sorgen Sie bitte dafür, daß die Sachen der Kleinen gepackt werden. Es soll alles bereit sein, wenn man das Kind holt.«

»Das übernehme ich gern. Es wird alles gepackt sein. Werden Sie es Annelie sagen?«

»Nein, es soll eine freudige Überraschung für sie werden.«

»Wer wird Annelie denn abholen?«

»Die Mutter von Frau Dr. Martens.«

»Also Annelies geliebte Oma Bea.«

»Genau, Marion.«

»Da bin ich aber gespannt, was das für eine Frau ist. Kennen Sie sie schon?«

»Nein, Marion, ich habe sie noch nicht persönlich kennengelernt. Machen Sie sich lieber jetzt gleich an die Arbeit. Wir wissen ja nicht, um welche Zeit Frau Martens kommt.«

»Ich bin schon unterwegs, Frau Wittmer.« Mit eiligen Schritten verließ Marion das Büro der Heimleiterin.

Gegen neunzehn Uhr fuhr Jolande Rilla mit Hannas Wagen vor dem Kinderheim vor.

Bea Martens stieg aus und sagte: »Kommen Sie, Jolande, gehen wir hinein. Ich bin schon gespannt auf Annelies Gesicht, wenn sie mich plötzlich vor sich stehen sieht. Eigentlich liegt das Kinderheim doch in einer hübschen Umgebung. Es ist ein Ort, an dem die Kinder sich wohl fühlen können. Was meinen Sie?«

Jolande sah sich aufmerksam um. An der rechten Seite des großen zweigeschossigen Gebäudes mit den blitzenden Fenstern befand sich ein riesiger Obstgarten. Unter den Bäumen spielten Kinder. Es war ein schönes, friedliches Bild. Sie ließ ihre Blicke einen Moment umherwandern. Ja, es stimmte, was Bea Martens gerade gesagt hatte. In diesem Kinderheim mußten sich die Kinder ganz einfach wohlfühlen.

Jolande wollte gerade etwas sagen, da wurde die Eingangstür geöffnet, und eine schlanke Frau mit dunklem, kurzgeschnittenen Haar trat aus dem Haus.

»Frau Martens?« fragte sie lächelnd. »Ich bin die Heimleiterin, Cordula Wittmer.«

»Guten Abend, Frau Wittmer. Es ist richtig, ich bin Frau Martens, und meine Begleiterin ist Frau Rilla. Wir sind gekommen, um die kleine Annelie Feldner abzuholen.«

»Ich freue mich, Sie kennenzulernen, Frau Martens, Frau Rilla.« Mit einem herzlichen Lächeln begrüßte Cordula Wittmer die beiden Frauen und bat sie ins Haus.

»Weiß das Kind schon, daß wir kommen?«

»Nein, wir haben es Annelie noch nicht gesagt. Ich wollte es Ihnen überlassen, ihr die freudige Nachricht selbst zu bringen. Wenn Sie mir bitte in mein Büro folgen würden? Ich lasse die Kleine sofort holen.«

»Wo ist sie denn?«

»Sie ist mit den anderen Kindern im Speiseraum. Ich bin jedoch davon überzeugt, daß sie wieder kaum etwas gegessen hat. Sie ißt zwar, doch nur winzige Portionen.«

»Ich bin sicher, daß sich das sehr schnell ändern wird, wenn sie erst einmal bei uns im Doktorhaus lebt, Frau Wittmer. Bitte, es wäre sehr liebenswürdig, wenn Sie die Kleine holen lassen würden.«

»Wenn Sie mich einen Augenblick entschuldigen, hole ich Annelie selbst, Frau Martens. Bitte, nehmen Sie beide so lange Platz.«

Mit eiligen Schritten ging Cordula aus dem Raum.

»Eine sehr nette und sympathische Frau, nicht wahr. Sie kann bestimmt ausgezeichnet mit ihren Schützlingen umgehen. Es ist nur schade, daß ihr das nicht mit Annelie gelungen ist.«

»Ja, es ist schade. Wenn es anders wäre, saßen wir jetzt nicht hier, Jolande. Ich für meinen Teil freue mich, daß man uns das Kind anvertraut.«

»Ich auch, Frau Martens. Es ist schön, die Kleine in Zukunft im Doktorhaus zu haben. Ich habe Annelie zwar erst einmal kennengelernt, aber ich mochte sie vom ersten Moment an.«

Schritte näherten sich von draußen, und einen Augenblick später schob Cordula Wittmer Annelie in den Raum und sagte lächelnd: »Schau nur, Annelie, wer da auf dich wartet? Ist das nicht eine große Überraschung?«

Annelie hob den Kopf. Im nächsten Moment weiteten sich die dunklen Augen. Sie starrte Bea Martens und Jolande sekundenlang an, als würde sie Geister sehen. Dann überlief ein Zittern die schmale Gestalt.

»Oma Bea, meine Oma Bea!« Mit einem Aufschrei stürzte sie sich in Bea Martens’ ausgebreitete Arme.

»Es ist ja gut, mein kleiner Spatz.« Liebevoll zog diese das zierliche Mädchen an sich.

»Du bist wirklich gekommen! Ich habe so viel Sehnsucht gehabt.« Annelie klammerte sich so an Bea Martens fest, als wollte sie sie nie mehr loslassen, und in den Augen glänzte es verdächtig.

»Nicht weinen, Annelie, ich habe nämlich eine große Überraschung für dich«, sagte Bea Martens weich.

»Ich freue mich doch so, daß du endlich zu mir gekommen bist. Ich weine ganz bestimmt nicht«, beteuerte Annelie, obwohl schon ein paar Tränen die Wangen hinunterkollerten.

Erneut zog Bea Martens Annelie liebevoll an sich. Mit sanfter Stimme fragte sie: »Was würdest du denn sagen, wenn wir dich jetzt ins Doktorhaus mitnehmen würden?«

»Ich darf… ich soll wirklich, Oma Bea?« kam es ungläubig über die Lippen des kleinen Mädchens.

»Ja, du darfst. Darum sind Jolande und ich gekommen. Nun, ist das eine große Überraschung?«

Annelies Augen begannen zu strahlen.

»Hast du das gehört, Tante Cordula? Meine Oma Bea will mich mitnehmen? Darf ich denn mitfahren?«

Cordula Wittmer sah gerührt die Freude des Meinen Mädchens.

»Wenn du es selbst gern möchtest, darfst du mit deiner Oma Bea fahren.«

»Danke, danke, Tante Cordula.« Ehe sich Cordula Wittmer versah, schlangen sich zwei weiche Arme um ihren Nacken.

»Du mußt Marion sagen, daß sie meine Koffer packen soll.«

»Es ist alles schon fertig, Annelie.«

»Du hast es also gewußt?«

»Ja, ich habe es gewußt und Marion gesagt, daß sie alle deine Sachen zusammenpacken soll.«

»Komme ich denn nicht mehr zurück?«

»Nicht so bald, Annelie. Du bleibst jetzt erst einmal eine ganze Weile bei deiner Oma Bea. Zufrieden?«

Annelie konnte vor lauter Glück, nicht sprechen. Sie nickte nur mit strahlenden Augen.

»So, und nun geh und sag Marion, daß sie deinen Koffer zum Wagen bringen soll, und anschließend sagst du Bettina, Ann-Christin und allen anderen auf Wiedersehen. Nun lauf schon los.«

Eine Viertelstunde später stieg ein strahlendes Mädchen in den Wagen, seine Puppe Pamela fest an sich gepreßt.

Für Annelie begann mit dieser Fahrt ein neuer Abschnitt ihres jungen Lebens.

*

Die Tage reihten sich aneinander. Mit Annelie war der Sonnenschein ins Doktorhaus gekommen. Hanna und Kay waren für das kleine Mädchen schon sehr bald Tante Hanna und Onkel Kay geworden. Es war so, als sei Annelie schon immer im Doktorhaus gewesen.

So sagte Jolande einmal zu Hanna: »Ich kann mir nicht vorstellen, Annelie nicht mehr jeden Tag um mich zu haben.«

Hanna entgegnete: »Ich auch nicht, Füchsin. Ich bin ziemlich sicher, daß sie den Verlust ihrer Eltern inzwischen endgültig überwunden hat. Sie hat zu sich selbst zurückgefunden. Auf der anderen Seite bin ich besorgt. Wie soll das auf die Dauer werden. Wir können das Kind nicht immer halten. Es sei denn…«

»Warum sprichst du nicht weiter, Hanna? Was meinst du denn?«

»Ach, weißt du, Füchsin, ich spiele manchmal mit dem Gedanken, mich mit dem Jugendamt in Verbindung zu setzen, um eine Dauerpflegschaft für Annelie zu erhalten.«

»Warum tust du es denn nicht?«

»Weil ich noch unsicher bin. Sicher, Annelie hat dich, meine Mutter und außer mir auch Kay. Ein Kind braucht aber Vater und Mutter, also eine Familie.«

»Ich bitte dich, Hanna. Sind wir denn für Annelie keine Familie?«

»Nicht im richtigen Sinn, Füchsin. Sie hat hier bei uns alles, wird dabei von allen verwöhnt. Mit einem neuen Vater, einer neuen Mutter wäre das anders. Sei ehrlich, könntest du Annelie im Ernst etwas abschlagen, sie ernsthaft tadeln? Im Schoß einer richtigen Familie würde das meiner Meinung nach anders aussehen. Ich weiß auch nicht, wie ich dir das richtig erklären kann.«

»Ich glaube zu wissen, was du sagen willst, Hanna, und im Grunde genommen muß ich dir zustimmen. Wer weiß schon jetzt, was die Zukunft noch bringen wird? Annelie ist hier glücklich und unbeschwert. Wir sollten es noch eine Weile dabei belassen.«

»Ja, Füchsin, wir wollen abwarten, was die Zukunft uns bringt. Das Jugendamt kann noch warten. Im Augenblick treibt uns ja nichts zu einer Entscheidung. Wo steckt Annelie eigentlich.«

»Sie ist mit ihrer Oma Bea unterwegs. Sie wollten den alten Schäfer besuchen.«

»Ja, ja, die Annelie und ihre Oma Bea. Die beiden sind inzwischen noch unzertrennlicher geworden. Für meine Mutter ist die Kleine ein richtiger Jungbrunnen.«

»Tante Hanna, Tante Hanna, sieh doch nur, was ich hier habe. Es gehört mir ganz allein!« rief plötzlich eine helle Mädchenstimme.

Die Haustür wurde geöffnet, und Annelie kam voller Stolz mit einem kleinen Korb ins Haus.

Außer Atem folgte Bea Martens dem Mädchen.

»So, was gehört denn dir allein, Annelie?« wollte Hanna lächelnd wissen. »Du mußt es mir schon zeigen.«

»Hier, sieh nur, das hat mir der Vinzenz geschenkt.«

Mit strahlenden Augen zog Annelie das Tuch fort, das den Korb bedeckte, und Hanna sah ein niedliches, fast schneeweißes junges Kätzchen in dem Korb liegen.

»Darf ich es bitte behalten, Tante Hanna? Es ist doch so süß!« Bittend sahen Annelies dunkle Augen Hanna an.

»Wenn du es immer gut versorgst und pflegst, darfst du es behalten. Hat es denn schon einen Namen?«

»Nein, Oma und ich wollen uns erst einen Namen ausdenken. Darf es oben in meinem Zimmer schlafen?«

»Nein, das geht nicht, Annelie. Tiere gehören nicht ins Schlafzimmer. Dein Kätzchen bekommt im Hausflur sein Schlafkörbchen.«

»Och, Tante Hanna, ich möchte es so gern.«

»Ich habe nein gesagt, Annelie. Du bist alt genug, um das zu verstehen. Ein Kätzchen im Schlafzimmer ist ungesund. Es springt in dein Bett, wenn du schläfst, und du kannst dabei die feinen Haare einatmen. Davon kannst du sehr krank werden. Das möchtest du doch sicher nicht, oder?«

»Nein, Tante Hanna, ich will nicht krank werden.«

»Wir sind uns also einig. Ein Schlafkörbchen besorgt Jolande, und du überlegst dir mit Oma einen hübschen Namen. Für heute kann dein Kätzchen auf einer kuscheligen Decke schlafen. Gleich darfst du ihm ein Schälchen mit Milch hinstellen. Es ist sicher durstig.«

»Ich weiß auch schon, wie es heißen soll. Es ist so kuschelig, es soll Puschel heißen. Ja, Oma Bea, darf ich es so nennen?«

»Es gehört dir, du darfst es nennen, wie du es willst.«

Jolande hatte inzwischen ein Schälchen mit Milch gefüllt und reichte es Annelie, die es vorsichtig vor ihre Puschel stellte.

»So, Annelie, jetzt gehst du ins Bad und wäscht dir deine Hände, es gibt gleich Abendbrot. Komm, ich helfe dir, damit es rascher geht«, sagte Bea Martens und nahm Annelies Hand.

»Ich habe aber keinen Hunger, Oma Bea. Ganz ehrlich nicht.«

»Das glaubst du nur, Spatz. Du wirst schon Appetit bekommen, wenn Jolande das Essen auf den Tisch bringt.«

Bea Martens brachte Annelie ins Bad und half ihr, sich zu waschen.

»So, und nun gehen wir ins Eßzimmer hinunter.«

»Und mein Puschel?«

»Sie bekommt schon ihr Freßchen, Annelie. Morgen holen wir ganz viele Dosen Futter für dein Kätzchen. Jetzt komm, und nach dem Essen bringe ich dich ins Bett. Du läßt mir schon reichlich die Flügel hängen.«

»Was heißt das, Oma Bea?«

»Ich meine damit, daß du müde bist«, erwiderte Bea Martens, und fuhr sanft über Annelies schwarze Locken.

Hanna wunderte sich zwar darüber, daß Annelie kaum Appetit beim Essen zeigte. Da sie jedoch auch bemerkte, wie müde das Mädel war, nahm sie es nicht weiter ernst.

»Soll ich dich nach oben bringen, Annelie? Dir fallen ja gleich die Augen zu.«

»Oma Bea soll mitgehen, Tante Hanna.«

Fragend sah Hanna ihre Mutter an.

»Ist schon gut, Hanna, natürlich bringe ich Annelie hinauf ins Bett. Ich bin heute wohl etwas zu lange mit ihr unterwegs gewesen. Sag schön gute Nacht und ab mit dir in die Falle.«

»Ist sie nicht ein liebes Persönchen, Hanna?« sagte Jolande lächelnd, als sich die Tür hinter Annelie und Bea geschlossen hatte.

»Ja, aber schon reichlich verwöhnt, die junge Dame«, gab Hanna zurück.

»Das macht nichts, man muß sie trotzdem einfach liebhaben. Sie ist ja gerade erst fünf Jahre alt. Es ist schön, sie hier im Haus zu haben. Hoffentlich bleibt es so.«

Hanna dachte das gleiche, aber sie schwieg und lächelte weich.

*

In einem der hübschen Einfamilienhäuser, die erst vor ein paar Jahren etwas außerhalb von Ögela gebaut worden waren, lebte Klaus Dibelius mit seiner Frau Cora und ihrem gemeinsamen Töchterchen Jutta, sechs Jahre alt.

Seit ein paar Tagen sorgte sich Cora Dibelius um ihr Mädchen. Obwohl man nichts sehen konnte, klagte Jutta ständig darüber, daß sie Halsschmerzen habe.

»Ich kann mich also darauf verlassen, daß du mit Jutta zur Kinderklinik fährst, um sie untersuchen zu lassen?«

»Ja, Klaus, ich rufe noch heute vormittag dort an und frage, wann ich kommen kann. Wenn unserem Mädel wirklich etwas fehlt, wird man es in der Klinik herausfinden.«

»Gut. Ich könnte mir ein paar Tage Urlaub nehmen und hierbleiben. Was meinst du? Ruhe finde ich unterwegs sowieso nicht.«

»Spar dir den Urlaub lieber auf, Klaus. Um Jutta werde ich mich schon kümmern. Du kannst ja jeden Tag von unterwegs anrufen.«

»Wenn du meinst. Ich kann dir nur keine genaue Zeit sagen. Du weißt ja, wie das meistens läuft, wenn man unterwegs ist. Ich mach mich also auf den Weg. Gib Jutta noch einen lieben Kuß von ihrem Vati. Es wundert mich eigentlich, daß sie noch nicht munter ist. Sie ist doch sonst immer recht früh wach.«

»Ich werde gleich nach ihr sehen. Seit ein paar Tagen wirkt sie immer etwas erschöpft. Vielleicht schläft sie deswegen etwas länger. Ruf mich bitte heute abend an. Es könnte ja möglich sein, daß ich dir dann schon etwas sagen kann. Fahr bitte vorsichtig, Jutta und ich brauchen dich. Paß auf dich auf.«

»Ich fahre immer vorsichtig, Liebes.« Zärtlich zog Klaus seine junge Frau an sich und küßte sie, bevor er das Haus verließ. Cora Dibelius wartete, bis sie den Wagen ihres Mannes davonfahren hörte, dann ging sie hinauf zum Kinderzimmer, um nach Jutta zu sehen.

Als sie das Kinderzimmer betrat, sah sie sofort, daß Jutta schon wach war.

»Guten Morgen, Schätzchen. Wie fühlst du dich? Tut dir dein Hals immer noch weh?«

»Ganz doll, Mutti, ich kann gar nicht richtig schlucken.«

»Laß mich einmal in deinen Hals gucken. Mach deinen Mund ganz weit auf.«

Cora erschrak, als sie ihrem Töchterchen nun in den Hals sah. Die rechte Seite war ziemlich angeschwollen. Kein Wunder, daß das Schlucken ihrem Liebling Schmerzen bereitete.

»Weißt du was, Schätzchen? Ich rufe in der Kinderklinik an. Du bleibst schön so lange liegen.«

Cora ließ ihre kleine Tochter allein und ging hinunter zum Telefon. Sie suchte die Telefonnummer der Kinderklinik heraus und wählte.

»Kinderklinik Birkenhain, Schriewers«, meldete sich eine dunkle Männerstimme.

»Mein Name ist Dibelius. Ich möchte gern einen Arzt sprechen. Es geht um meine Tochter Jutta.«

»Einen Moment bitte, ich verbinde Sie mit Frau Dr. Martens.«

Es knackte leise in der Leitung, dann meldete sich eine angenehme Frauenstimme.

»Dr. Martens.«

»Guten Tag. Mein Name ist Dibelius. Ich rufe Sie wegen meiner Tochter Jutta an. Ich hätte gern einen Termin für eine Untersuchung. Wäre das möglich?«

»Was fehlt Ihrer Tochter?«

»Jutta klagt seit ein paar Tagen über Halsschmerzen, doch erst heute kann man etwas sehen. Die rechte Rachenseite ist sehr stark angeschwollen. Es sind aber keinerlei Anzeichen für eine Entzündung vorhanden.«

»Wenn es Ihnen möglich ist, kommen Sie bitte umgehend mit Ihrer Tochter in die Klinik. Wie alt ist das Mädel?«

»Gerade sechs geworden.«

»Und von wo aus rufen Sie an?«

»Ich wohne etwas außerhalb von Ögela. Ich könnte sofort kommen.«

»Gut, Frau Dibelius, tun Sie das. Da heute nicht allzuviel zu tun ist, kann ich mich gleich um Ihre Tochter kümmern. Ich erwarte Sie also.«

Erleichtert legte Cora den Hörer auf die Gabel zurück und eilte hinauf ins Kinderzimmer.

»Du mußt aufstehen, Schätzchen, wir fahren gleich zu einer sehr netten Ärztin in die Kinderklinik. Sie wird dir helfen, damit dein Hals nicht mehr so weh tut. Komm, ich helfe dir rasch.«

»Warum kommt der Doktor denn nicht zu uns, Mutti? Ich möchte nicht in die Kinderklinik. Ich möchte bei dir bleiben.«

»Geh, Schätzchen, du mußt vielleicht gar nicht in der Klinik bleiben. Wenn du wirklich ein paar Tage in der Kinderklinik bleiben müßtest, so wäre das weiter nicht so schlimm, denn ich würde den ganzen Tag bei dir sein. Du bist doch mein liebes, kleines Mädchen.«

Vorsichtshalber schlang Cora einen warmen Schal um Juttas Hals, danach fuhr sie mit ihr nach Birkenhain.

Sie mußte nicht lange warten. Zwei Mütter mit ihren Kindern, die vor ihr an der Reihe waren, saßen in dem kleinen Wartezimmer, danach wurde sie mit Jutta von einer jungen Schwester ins Untersuchungszimmer gebeten.

Ängstlich umklammerte Jutta die Hand ihrer Mutter, als sie Hanna Martens gegenüberstand.

Hanna, die das sofort bemerkte, beugte sich zu dem Mädel hinunter, strich ihm leicht über das dunkle Haar und sagte mit einem aufmunternden Lächeln: »Du mußt mich nicht so ängstlich ansehen, Jutta, ich will dir nichts tun, ich möchte dir nur helfen. Du bist doch ein tapferes Mädchen, nicht wahr? Jetzt setzen wir dich hier auf die Liege, und du zeigst mir, wo es dir weh tut.«

Sehr vorsichtig untersuchte Hanna das sechsjährige Mädchen.

Cora Dibelius, die die junge Ärztin während der Untersuchung nicht aus den Augen ließ, sah, daß deren Gesicht immer ernster wurde. Ein ungutes Gefühl stieg in ihr hoch, und sie fragte sich besorgt, was das zu bedeuten hatte.

Innerlich sehr angespannt sah sie nach Beendigung der Untersuchung auf Hanna und fragte: »Was fehlt meiner Tochter, was haben Sie festgestellt? Ist es nur eine Mandelentzündung?«

»Leider nein, Frau Dibelius. Wie ich schon bei dieser ersten Untersuchung feststellen mußte, hat sich bei Ihrer Kleinen eine Drüsengeschwulst gebildet. Daher gibt es auch keine Anzeichen einer Entzündung im Rachenraum.«

»Wie ist so etwas möglich? Wodurch kann eine solche Geschwulst entstehen, Frau Doktor?« Cora konnte nur mit Mühe ihre Fassung behalten.

»Genaues darüber kann ich Ihnen nicht sagen, da es relativ selten vorkommt. Ich kann Ihnen nur soviel sagen, daß sie entfernt werden muß.«

»Jutta muß operiert werden? Gibt es keinen anderen Weg? Mit Medikamenten, oder mit Bestrahlung?«

»Nein, Frau Dibelius, es handelt sich um eine Geschwulst, die sich ständig vergrößert. Der sicherste Weg ist eine Operation. Das hört sich im Augenblick schlimmer an, als es ist. Es kommt einer Mandeloperation gleich, und es sollte möglichst rasch durchgeführt werden.«

»So schlimm ist es?«

»Nein, das nicht. Ich denke dabei an Ihre Tochter. Wenn wir warten, verschlimmern sich die Schmerzen und die Schluckbeschwerden. Wir haben in der Kinderklinik für den Hals-Nasen-Ohrenbereich einen ausgezeichneten Spezialisten, unseren Dr. Herbst. Ihre Tochter ist bei uns in guten Händen. Am besten lassen Sie Ihre Kleine gleich hier in der Klinik.«

»Muß das unbedingt sein? Sie ist ja überhaupt nicht darauf vorbereitet. Außerdem habe ich weder Nachtwäsche noch andere Dinge bei mir, die für einen Klinikaufenthalt notwendig sind. Und Juttas Vater weiß auch noch nichts.«

»Also gut, Frau Dibelius. Fahren Sie heim und bereiten Sie das Mädel vor. Klären Sie alles mit Ihrem Mann, und bringen Sie Jutta morgen früh in die Klinik. Ein längeres Warten würde ich Ihnen nicht empfehlen.«

»Einverstanden, Frau Dr. Martens. Wir sind ganz bestimmt morgen pünktlich hier.«

»Fahren wir jetzt nach Hause, Mutti?« Ungeduldig zupfte Jutta an Coras Jacke.

»Ja, Jutta, wir fahren jetzt erst einmal nach Hause. Sag schön auf Wiedersehen, dann fahren wir.«

Gehorsam gab die Kleine Hanna ihre Hand.

»Auf Wiedersehen, Jutta, bis morgen«, gab Hanna mit einem weichen Lächeln zurück.

Gegen fünfzehn Uhr rief Klaus Dibelius von unterwegs bei seiner Frau an. Er fiel aus allen Wolken, als er von Juttas Erkrankung hörte. Als sie ihn zögernd fragte, ob er mit dem Klinikaufenthalt einverstanden sei, antwortete er ernst: »Natürlich, Cora. Wir wollen doch beide nicht, daß sich unser Mädchen mit der Geschichte herumquält. Je eher sie es hinter sich hat, desto besser. Ich versuche, mich schon für Mittwoch freizumachen und zurückzukommen. Ich werde an deiner Seite sein, wenn man Jutta operiert. Hast du es ihr schon erklärt, und wie hat sie reagiert?«

»Sie weiß, daß es sein muß, Klaus, und sie ist für ihr Alter sehr tapfer. Ich habe ihr versprochen, daß ich jeden Tag bei ihr sein werde, das hat sie beruhigt.«

»Schön, und mach dich nicht verrückt, es wird bestimmt alles gutgehen. Ich mache jetzt Schluß. Ich melde mich wieder bei dir, wenn ich wegen Mittwoch Klarheit habe. Gib der Kleinen noch ein Küßchen von mir und sage ihr, daß ich ganz schnell zurückkomme.«

*

Hanna, die Kay noch am gleichen Tag informiert hatte, brachte den neuen Fall am Morgen bei der Frühbesprechung zur Sprache.

Dr. Alex Herbst, der Spezialist in der Kinderklinik für solche Fälle, wollte wissen: »Wann wird das Kind in die Klinik gebracht, Frau Dr. Martens?«

»Ich denke, so zwischen acht und neun Uhr, Herr Dr. Herbst. Sie übernehmen diesen Fall bitte umgehend.«

»Selbstverständlich. Es wäre zu wünschen, daß die Mutter es sich nicht anders überlegt. Wie ich die Sache ohne eine Untersuchung sehe, besteht die Gefahr, daß die Stimmbänder in Mitleidenschaft gezogen werden, wenn man zu lange zögert.«

»Ich bin sicher, daß Frau Dibelius ihre Tochter auf jeden Fall heute vormittag zu uns bringen wird. Ich höre von Ihnen, wenn sich meine Diagnose bestätigt, nicht wahr?«

»Sie können sich darauf verlassen, Frau Dr. Martens«, gab Alex Herbst mit ernster Stimme zurück.

Als nun der nächste Fall durchgesprochen wurde, betrachtete Hanna verstohlen Alex Herbst. Durch seine kleine, untersetzte Gestalt und seine Brille wirkte er eher unscheinbar. Doch was sein Wissen betraf, sein Können, war er hervorragend. Dazu kam noch, daß er sehr warmherzig und verständnisvoll war und ein großes Einfühlungsvermögen für seine kleinen Patienten besaß. Er war alles in allem mit seinen achtundzwanzig Jahren ein Arzt, der aus dem Team der Klinik nicht mehr fortzudenken war.

Nach der Frühbesprechung blieb Hanna ein paar Minuten mit ihrem Bruder allein zurück.

»Du wirkst heute morgen so nachdenklich, Hanna. Hängt das mit der kleinen Dibelius zusammen? Gibt es da Unklarheiten?«

»Nein, für mich nicht. Ich mache mir über Annelie so meine Gedanken. Irgend etwas scheint mit ihr nicht zu stimmen.«

»Nanu, kommen neue Probleme auf dich zu?«

»Kann ich nicht sagen. Fest steht für mich, daß sie versucht, irgend etwas vor mir, Mutti und Jolande zu verbergen. Ich bin bis jetzt noch nicht dahintergekommen, was es sein könnte.«

»Wie kommst du darauf? Was sollte sie vor euch verbergen wollen?«

»Sie ißt nicht besonders gut in den letzten beiden Tagen und wirkt ab und zu etwas verkrampft auf mich. Wenn ich sie frage, ob ihr etwas weh tut, wehrt sie mir etwas zu hastig ab. Einen Tag werde ich mir das noch stillschweigend ansehen und sie dann ganz ernsthaft ins Gebet nehmen. Ich habe Mutti und Jolande heute beim Frühstück darum gebeten, Annelie ganz genau zu beobachten. Wenn einer von ihnen etwas Besonderes auffällt, werden sie es mich sofort wissen lassen.«

»Mir kam sie gestern munter wie immer vor. Sie ist ein richtiger kleiner Wildfang geworden.«

»Das ist sie in der Tat. Hoffentlich bleibt es auch so. Ich warte noch ein paar Tage, dann setze ich mich mit dem Jugendamt in Verbindung. Ich trage mich mit dem Gedanken, Annelie für immer bei uns zu behalten.«

»Na, weißt du, Hanna, deine Hilfsbereitschaft in allen Ehren, aber damit übertreibst du ein bißchen.«

»Wieso übertreibe ich?«

»Überlege doch mal selbst, Hanna.«

»Was gibt es da zu überlegen? Wie war Annelie, als wir sie ins Doktorhaus holten, und was ist inzwischen aus ihr geworden? Sie erneut in eine ungewisse Zukunft zu schicken, würde ich einfach nicht übers Herz bringen. Ich wollte dich damit nicht behelligen. Ich gehe jetzt besser an meine Arbeit. Die Frage ist im Augenblick sowieso nicht akut. Also, bis später.«

Kurz darauf betrat Hanna die Halle und wollte hinauf zur Krankenstation: Überrascht blieb sie stehen und sah auf Cora Dibelius, die in diesem Moment mit ihrer kleinen Tochter die Klinik betrat.

»Das ist aber schön, daß Sie Ihr Wort gehalten haben, Frau Dibelius. So früh habe ich Sie nicht erwartet. Guten Morgen, Jutta. Habe ich dir nicht gesagt, daß wir uns bald wiedersehen? Jetzt bringe ich dich und deine Mutti hinauf auf unsere Krankenstation. Du bekommst dort ein hübsches Zimmer. Es wird dir ganz bestimmt bei uns gefallen.«

»Mutti hat aber gesagt, daß sie ganz lange bei mir bleibt«, sagte Jutta mit ängstlichen Blicken.

»Keine Bange, Jutta, das darf deine Mutti auch. Du wirst nur zwischendurch zur Untersuchung geholt, und wenn du in dein Zimmer zurückgebracht wirst, wartet deine Mutti dort schon auf dich. Ist es so recht?«

»Ja, das ist schön.«

»Kommen Sie, Frau Dibelius, ich wollte sowieso zur Krankenstation hinauf. Die persönlichen Angaben Ihrer Tochter haben sie mir ja gestern schon gegeben. Dr. Herbst wird sich nachher um Ihre Kleine kümmern. Er ist sehr nett.«

»Wird er auch operieren?«

»Operieren wird mein Bruder, aber Dr. Herbst wird ihm dabei assistieren. Sie müssen sich wirklich keine Sorgen machen.«

»Sie ist unsere Einzige, Frau Doktor. Ich kann nach ihr keine Kinder mehr bekommen, ohne in Lebensgefahr zu geraten. Passen Sie mir gut auf meinen kleinen Liebling auf.«

»Ich verspreche es Ihnen, Frau Dibelius.«

Oben auf der Krankenstation kam ihnen die Oberschwester entgegen.

»Guten Morgen, Schwester Elli. Hier bringe ich Ihnen unseren Neuzugang, Jutta Dibelius. Ist das Zimmer bereit?«

»Ja, Zimmer acht, eines der Zweibettzimmer. Ein Einzelzimmer wird erst in ein paar Tagen frei.«

»Das macht überhaupt nichts, Schwester Elli. Unsere Zweibettzimmer sind ja genauso hübsch.«

»Eben, Frau Doktor. Soll ich übernehmen?«

»Später. Da ich einmal hier bin, bringe ich Frau Dibelius mit ihrer Kleinen selbst ins Zimmer. Ich komme gleich zu Ihnen. Halten Sie bitte die Berichte der Nachtschwestern bereit. Ich hatte bis jetzt leider keine Zeit, sie durchzusehen.«

Es war ein sehr hübsches Zimmer, in das Hanna, Cora Dibelius und ihre Tochter führte. Kein steriles Weiß, sondern zarte pastellfarbene Gardinen und Vorhänge, dazu lustige, Meinen Kindern gemäße Bettwäsche. Die Zimmer waren allgemein so eingerichtet, daß sich Kinder darin wohlfühlen konnten.

»Nun, Frau Dibelius, gefällt es Ihnen?« fragte Hanna lächelnd.

»Sehr hübsch, Frau Doktor, überhaupt nicht wie in einer Klinik.«

»So soll es auch sein. Wir wollten nach Möglichkeit alles vermeiden, was unseren kleinen Patienten Angst einjagen könnte.«

»Das ist Ihnen sehr gut gelungen. Nun, Schätzchen, gefällt es dir auch? In welchem Bett möchtest du denn schlafen?« wandte sich Cora an ihre kleine Tochter.

»Da, neben dem großen Fenster, Mutti. Darf ich?«

»Du darfst, Jutta«, antwortete Hanna und wandte sich danach wieder der Mutter der Kleinen zu.

»Ich lasse Sie jetzt allein, Frau Dibelius. Räumen Sie in Ruhe Juttas Sachen ein. Unsere Oberschwester oder eine der anderen Schwestern wird sich um alles weitere kümmern. Später lernen Sie unseren Dr. Herbst kennen.«

Mit einem herzlichen Händedruck verabschiedete sich Hanna von Juttas Mutter.

Im Schwesternzimmer sah sie die Berichte der vergangenen Nacht durch, danach informierte sie Dr. Herbst, daß der Neuzugang inzwischen eingetroffen sei.

*

Eine halbe Stunde, nachdem Hanna Cora Dibelius mit ihrer Tochter verlassen hatte, kam Dr. Alex Herbst und stellte sich beiden vor.

Während sich das Mädel mit einem Bilderbuch beschäftigte, erklärte er Cora ausführlich, welche Untersuchungen durchgeführt und welche Vorbereitungen für die Operation getroffen werden mußten. Er tat das in einer so offenen und leichten Art, daß Cora beruhigt zusah, als Schwester Laurie wenig später Jutta für die Untersuchungen abholte.

Das kleine Mädchen lächelte sogar, denn es war Alex Herbst in der kurzen Zeit gelungen, sein Vertrauen zu erringen. Ein paar lustige Scherze während seiner Anwesenheit im Zimmer, ein fröhliches Augenblinzeln hatten die Angst der Kleinen schrumpfen lassen.

»Ich möchte anschließend an die Untersuchungen gern mit Ihnen reden und Ihnen die endgültigen Ergebnisse mitteilen«, sagte der Arzt freundlich zu Cora Dibelius, bevor er Schwester Laurie und Jutta folgte.

Mit klopfendem Herzen wartete die junge Frau, die in diesen Minuten gern ihren Mann an ihrer Seite gehabt hätte.

Als Schwester Laurie Jutta zurückbrachte, sagte sie freundlich zu Cora: »Herr Dr. Herbst möchte jetzt mit Ihnen sprechen. Er erwartet Sie im Ärztezimmer. Es liegt gleich neben dem Schwesternzimmer. Ich bleibe in der Zwischenzeit bei Jutta. Nicht wahr, Jutta, wir zwei werden uns bestimmt vertragen?«

Jutta nickte zustimmend, denn das Sprechen fiel ihr nicht leicht.

Innerlich angespannt betrat Cora kurz darauf das Ärztezimmer. Alex Herbst bot ihr einen Platz an und sagte ernst: »Ich wollte Ihnen das endgültige Untersuchungsergebnis mitteilen, Frau Dibelius. Ich kann die Diagnose von Frau Dr. Martens nur bestätigen. Das bedeutet, wir müssen einen operativen Eingriff durchführen.«

»Es gibt also wirklich keinen anderen Weg?«

»Leider nein. Für die Operation benötigen wir Ihre Unterschrift unter der Einverständniserklärung Sie dürfen mir glauben, daß der Eingriff unbedingt notwendig ist.«

»Ich bin einverstanden, und das ist auch die Entscheidung meines Mannes. Jutta ist unser Ein und Alles und wir wollen beide, daß alles für ihre Gesundheit getan wird. Wann soll der Eingriff durchgeführt werden?«

»Schon morgen früh, Frau Dibelius. Die Zeit reicht für die erforderlichen Vorbereitungen aus. Unsere Anästhesistin, Frau Dr. Wilde, wird Ihnen im Laufe des Vormittags noch einige Fragen stellen, und auch ein EKG wird noch erstellt.«

»Wie lange muß Jutta hier in der Kinderklinik bleiben?«

»Das kommt darauf an. Ich rechne aber höchstens mit vierzehn Tagen. Ihre Tochter ist dann wieder ganz gesund. Sie wird keinerlei Beschwerden mehr haben.«

»Ist das wirklich wahr?«

»Natürlich, sonst würde ich es nicht sagen. Ich bin immer für Offenheit. Machen Sie sich keine Sorgen um Ihre Tochter, sie wird alles gut überstehen.«

»Und wann muß ich unterschreiben?« fragte Cora mit belegter Stimme.

»Das Formular wird Ihnen eine der Krankenschwestern später bringen. Es ist nur eine Formsache, doch es ist nun mal Vorschrift. Das wäre es für den Augenblick. Ich will Sie jetzt nicht länger von Ihrer Tochter fernhalten. Sie ist übrigens ein sehr tapferes, liebes Mädchen.«

»Sie ist auch unser Sonnenschein, Herr Dr. Herbst. Ich bin froh, mein Kind hier in Birkenhain zu wissen. Bis jetzt habe ich nur Gutes über die Klinik gehört.«

»Wir versuchen immer, unser Bestes zu geben, um den kleinen Patienten zu helfen und ihre Erkrankung zu heilen. Bis auf wenige Fälle, in denen es zu spät war, ist es uns immer gelungen. Ich bin schon dabei, seit Dr. Martens und seine Schwester die Kinderklinik eröffnet haben. Wir sind ein Team, in dem sich einer auf den anderen in jeder Lage verlassen kann.«

Gegen achtzehn Uhr verließ Cora Dibelius beruhigt die Kinderklinik, sie wußte ihr kleines Mädchen in guten Händen.

Daheim angekommen, erwartete sie eine große Überraschung. Klaus war da. Er hatte zwei Tage frei bekommen, die für sie sehr wichtig sein würden, in denen sie ihn an ihrer Seite brauchte.

*

Alles in allem hatte Hanna einen anstrengenden Tag in der Klinik hinter sich, als sie gegen neunzehn Uhr das Doktorhaus betrat.

»Du kommst heute aber ziemlich spät, Hanna. War etwas Besonderes los?« fragte Jolande.

»Kann man wohl sagen. Kurz bevor ich Feierabend machen wollte, wurde noch ein Unfall eingeliefert. Ein zwölfjähriger Junge mit einem Beckenbruch. Wir wurden alle ziemlich gefordert. Du kannst mir glauben, daß es eine schönes Stück Arbeit war, den Jungen wieder hinzubekommen. Kay ist jetzt noch drüben in der Klinik. Habt ihr schon zu Abend gegessen?«

»Nein, noch nicht, wir wollten damit auf dich warten.«

»Und wo stecken meine Mutter und Annelie? Die Kleine kommt mir doch sonst immer fröhlich entgegengelaufen.«

»Wir haben getan, um was du uns gebeten hattest, und heute den ganzen Tag sehr aufgepaßt. Deine Mutter ist im Augenblick oben bei Annelie.«

»Warum? Ist euch heute etwas bei der Kleinen aufgefallen?«

»Ja, heute nachmittag. Sie hatte zum Kaffee ein Stückchen Kuchen gegessen, und danach schien es mir so, als habe sie Bauchweh bekommen. Ich fragte sie, doch sie stritt es ab. Weißt du, was ich glaube?«

»Was, Füchsin?«

»Annelie hat Angst davor, uns zu sagen, daß ihr etwas weh tut. Warum, weiß ich nicht. Ich habe das auch deiner Mutter gegenüber zum Ausdruck gebracht. Ich weiß, es klingt ein bißchen verrückt, doch es ist meine Meinung.«

»Für mich klingt das keineswegs verrückt, Füchsin. Da kann durchaus etwas dran sein. Annelie wird sich ganz einfach davor fürchten, von uns fortzumüssen. Können wir genau ergründen, was in so einem kleinen Kinderherzen vor sich geht? Ich werde mal hinaufgehen. Es könnte ja möglich sein, daß meine Mutter etwas Greifbares herausgefunden hat. Zu ihr hat Annelie noch immer am meisten Vertrauen. Du kannst ja inzwischen dafür sorgen, daß wir gleich essen können. Sagen wir, in einer Viertelstunde.«

»Alles klar, Hanna, ich habe alles fertig.«

Jolande ging zurück in die Küche, und Hanna ging nach oben zu ihrer Mutter und Annelie.

Als Bea Hanna sah, fragte sie verwundert, wie schon zuvor Jolande: »Du kommst heute aber spät, Hanna. War etwas Besonderes in der Klinik los?«

»Etwas, was immer wieder vorkommt, ein Notfall, Mutti. Wir wollen jetzt aber nicht über die Klinik reden. Was ist mit Annelie? Fehlt ihr was? Annelie, du mußt es mir sagen, wenn dir etwas weh tut, hörst du?«

»Mir tut nichts weh, Tante Hanna. Ich habe Bauchweh gehabt, es ist aber wieder weg. Ganz ehrlich.«

»Ich glaube dir ja, Spatz. Trotzdem werde ich dich gründlich untersuchen.«

»Das brauchst du nicht, Tante Hanna. Wir können jetzt ruhig zu Jolande hinuntergehen, ich habe Hunger.«

Zweifelnd sah Hanna Annelie an.

»Ich glaube, sie sagt die Wahrheit, laß sie in Ruhe. Du kannst sie ja morgen früh in die Klinik mitnehmen und gründlich untersuchen.«

»Meinetwegen, Mutti. Ich möchte aber gleich sehen, daß sie wirklich Hunger hat. Gehen wir hinunter. Jolande wird schon mit dem Essen auf uns warten. Ich habe nämlich auch Hunger.«

Da Annelie wirklich Appetit zeigte, ließ Hanna sie an diesem Abend unbehelligt. Es war sicher nichts Ernstes gewesen.

Wie an jedem Abend brachte Bea das Mädchen ins Bett. Sie las Annelie noch eine Geschichte vor und wünschte ihr mit einem sanften Kuß auf die Stirn eine gute Nacht.

Zwei weiche Kinderarme schlangen sich plötzlich um ihren Hals.

»Ich habe dich ganz doll lieb, Oma Bea«, sagte Annelie. »Ich möchte immer bei dir bleiben.«

»Ich habe dich auch lieb, Spatz. Jetzt schlaf schön. Und wenn du wieder Bauchweh hast, sagst du es mir sofort, hast du gehört?«

»Ja, Oma Bea, ich verspreche es. Wenn ich nur hier bei euch bleiben darf.«

»Du bist ein kleiner Kindskopf, Spatz. Schlaf jetzt«, entgegnete Bea Martens und streichelte Annelie sanft über die Wangen. Danach ließ sie das Mädel allein und ging wieder hinunter. Die letzten Worte Annelies machten sie sehr nachdenklich.

Hanna war im Wohnzimmer, als sie hinunterkam.

»Schläft sie, Mutti?«

»So gut wie.«

»Hat sie noch etwas gesagt?«

»Als ich ihr sagte, daß sie es mir sofort mitteilen muß, wenn ihr der Bauch wieder weh tut, versprach sie es mir. Ich habe aber das Gefühl, daß sich Annelie davor fürchtet, von uns fort zu müssen.«

»Habe ich nicht ganz genau das gleiche gesagt, Hanna?« sagte Jolande in diesem Augenblick, da sie mit dem Tablett das Wohnzimmer betrat. »Den Zahn müssen wir Annelie aber schnell ziehen. Was meinst du?«

»Wenn es sich so verhält, müssen wir wirklich etwas dagegen tun. Es muß sowieso bald Klarheit geschaffen werden, wie es weitergehen soll. Nun, sag was dazu«, forderte Bea Martens ihre Tochter auf.

»Mir wird schon etwas einfallen, Mutti. In den nächsten Tagen, wenn es drüben in der Klinik etwas ruhiger geworden ist, fahre ich nach Celle zum Jugendamt. Wir werden sehen, was ich da tun kann. Jetzt möchte ich in Ruhe meinen Tee trinken und abschalten. Es war ein harter Tag für mich. Ich will sicher sein, daß ich für Annelie die richtige Entscheidung treffe, darum brauche ich Zeit, um darüber nachzudenken.«

*

Die Operation der kleinen Jutta Dibelius war ohne weitere Komplikation verlaufen. Abgesehen davon, daß das kleine Mädchen noch nicht sprechen sollte und konnte, ging es ihm recht gut.

Die Augen leuchteten, denn die geliebte Mutti war fast den ganzen Tag bei ihr, las dem Mädel jeden Wunsch von den Augen ab.

Zwei Tage war auch Klaus Dibelius den Tag über bei seiner kleinen Tochter in der Klinik, danach mußte er wieder seinem Beruf nachgehen. So waren inzwischen drei Tage vergangen.

Als Hanna am Morgen ihre erste Runde auf der Krankenstation machte und zu Jutta ans Bett trat, kam es leise, etwas mühsam über die Lippen der Kleinen: »Ich habe solchen Durst, ich möchte etwas trinken. Darf ich?«

»Ja, heute darfst du, Jutta. Laß mich einmal in deinen Mund sehen.«

Hanna sah zufrieden, daß die Schwellungen im Rachenraum ziemlich zurückgegangen waren. Da der Operationsschnitt von außen durchgeführt worden war, konnte man dem Mädchen nun schon zu trinken geben und auch weiche Nahrung.

»Da wird sich deine Mutti aber freuen, daß es dir heute schon so viel besser geht. Du bist ein ganz tapferes Mädchen. Ich sage gleich Schwester Laurie Bescheid, damit sie dir Tee bringt. Du darfst nur nicht so viel reden, sonst tut dir der Hals weh.«

Dieses Mal kam nur ein Nicken als Antwort.

Hinter Hanna wurde die Tür geöffnet. Es war Schwester Laurie. Sie rief ihr leise zu: »Telefon für Sie, Frau Doktor. Es ist Ihre Mutter, sie scheint sehr in Sorge zu sein.«

»Danke, Schwester Laurie, ich komme. Bitte, bringen Sie etwas Tee für Jutta. Aber bitte nicht zu heiß. Alles weitere später.«

Mit raschen Schritten eilte Hanna ins Schwesternzimmer und nahm den Hörer auf.

»Mutter, hier ist Hanna. Was gibt es denn so Dringendes?«

»Du mußt sofort kommen. Annelie krümmt sich vor Bauchschmerzen und hat sogar Temperatur. Ich habe Angst um das Kind«, kam Beas erregte Stimme vom anderen Ende der Leitung.

»Bitte, Mutti, reg dich nicht auf. Ich schicke sofort einen Pfleger ins Doktorhaus hinüber, der Annelie in die Klinik holt. Es wird schon alles in Ordnung kommen. Ich sage inzwischen Kay Bescheid.«

»Ja, Hanna, der Pfleger soll sich beeilen.«

»Er wird sofort kommen.«

Hanna legte den Hörer auf die Gabel zurück und setzte sich mit der Ambulanz in Verbindung.

Karsten Famula meldete sich, und Hanna sagte ohne Umschweife: »Nehmen Sie bitte eine fahrbare Trage und gehen Sie hinüber ins Doktorhaus. Es geht um Annelie. Beeilen Sie sich, Karsten.«

»Bin schon unterwegs, Frau Dr. Martens«, antwortete Karsten knapp, und schon war die Verbindung unterbrochen.

Mit wehendem Kittel eilte Hanna hinunter, um Kay Bescheid zu sagen. Er kam gerade aus seinem Sprechzimmer heraus.

»Nanu, Hanna, warum so eilig? Ist etwas passiert?«

»Mutti hat gerade angerufen. Annelie ist krank. Ich habe schon einen Pfleger hinübergeschickt, der Annelie holt.«

»Du hast was?« Nun erschrak Kay doch.

»Mutti war sehr aufgeregt. Sie sagte, daß Annelie sich vor Schmerzen krümmt. Ich befürchte einen Blinddarmdurchbruch.«

»Gut, ich lasse alles für eine Operation vorbereiten. Wenn du recht behältst, müssen wir schnell handeln. Ich kümmere mich darum, daß alles bereit ist. Du sorgst für Annelie. Wirst du mir assistieren?«

»Nein, nimm Dr. Küsters. Ich bin viel zu aufgeregt.«

»Aber Hanna, es ist doch eine Operation, die wir schon unzählige Male durchgeführt haben.«

»Trotzdem, Kay. Es geht jetzt nicht darum, daß ich es nicht kann, sondern nicht möchte. Ich bin so aufgeregt, als würde es sich um mein eigenes Kind handeln.«

Hanna wandte sich ab und war im nächsten Augenblick in der Ambulanz verschwunden.

Mit einem nachsichtigen Lächeln wandte Kay sich ab, um seine Vorbereitungen zu treffen und um die Anästhesistin und Dr. Küsters zu informieren.

Im gleichen Moment, in dem Hanna das Untersuchungszimmer betrat, schob Karsten Famula die Trage mit Annelie in den Raum.

»Es tut so weh, Tante Hanna. So hilf mir doch«, wimmerte das kleine Mädchen unter Schmerzen.

»Gleich wird alles gut, mein Kleines. Ich werde dir sofort helfen. Ich muß nur nachsehen, was dir fehlt. Tut es hier weh?«

Es war so, wie Hanna es befürchtet hatte. Ein Blinddarmdurchbruch. Es mußte rasch gehandelt werden.

Hanna wurde im Nachhinein manches verständlich, was für sie ein paar Tage unklar gewesen war. Keine Viertelstunde später lag Annelie im Operationssaal. Obwohl ein Durchbruch immer große Gefahren in sich barg, gelang es Kay, Annelie zu helfen. Es dauerte ungefähr zwei Stunden, dann konnte er aufatmen. Zur Vorsicht ließ er Annelie für die ersten vierundzwanzig Stunden auf die Intensivstation bringen.

Als er im Waschraum vor dem Waschbecken stand, dachte er unwillkürlich an Hannas Reaktion. Es war eigentlich das erste Mal, daß sie Nerven gezeigt hatte. Dabei war Kay sicher, daß sie ihre kühle Überlegenheit, ihre Konzentration hundertprozentig gebracht hätte, wenn kein anderer Arzt zur Verfügung gestanden hätte. Auf der anderen Seite zeigte ihre Reaktion jedoch, wie sehr sie schon an dem kleinen Mädchen hing. Sie mußte dabei nur bedenken, daß der Tag sehr rasch kommen konnte, an dem sich für Annelies Leben alles ändern konnte. Dann nämlich, wenn das Jugendamt Pflegeeltern für sie fand. Es sei denn, Hanna würde für sich persönlich etwas erreichen. Hatte sie nicht erst vor ein paar Tagen gesagt, daß sie sich mit dem Jugendamt in Verbindung setzen wollte? Wie es aussah, war es ihr damit sehr ernst. Annelie war zwar ein sehr niedliches Persönchen. Er war jedoch der Meinung, daß es nicht richtig war, was Hanna da vorhatte. Aber durch die plötzliche Erkrankung der Kleinen wurde Hannas Vorhaben zunächst aufgeschoben.

Kay war so mit seinen Gedanken beschäftigt, daß er überrascht herumfuhr, als er Hanna ungeduldig sagen hörte: »Wo bleibst du denn, Kay? Ich warte schon eine ganze Weile auf dich. Kannst du dir nicht denken, daß ich wissen möchte, wie Annelie es überstanden hat?«

»Es geht ihr den Umständen entsprechend, Hanna. Ich habe sie zur Vorsicht auf die Intensivstation bringen lassen. Wenn du Annelie sehen möchtest, mußt du dich dahin bemühen. Ich muß dir sagen, du wirkst heute wie eine aufgescheuchte Glucke.«

Die letzten Worte Kays klangen scherzend, und er mußte sich ein Schmunzeln verbeißen.

Doch Hanna fuhr ihn ärgerlich an: »Zieh mich ruhig auf. Was glaubst du wohl, wie oft Mutti und Jolande schon aus dem Doktorhaus angerufen haben und gefragt haben, wie es Annelie geht?«

»Komm, reg dich wieder ab, Hanna, ich habe es nicht böse gemeint. Ich bin ja selbst heilfroh, daß für die Kleine alles so gut abgelaufen ist. Wenn Annelie die kommende Nacht ohne Komplikationen übersteht, kann sie schon morgen auf die Krankenstation verlegt werden. Ihr könnt sie dann wieder nach Herzenslust verwöhnen. Das kannst du an Mutter und Jolande weitergeben.«

»Das werde ich auch sofort tun, und anschließend sehe ich nach Annelie. Kannst du bitte für mich den heutigen Verbandswechsel bei Jutta Dibelius übernehmen?«

»Klar, Hanna, das geht in Ordnung.«

Lächelnd sah Kay hinter seiner Schwester her, die ihn nun einfach stehenließ.

*

Die Mittagszeit war inzwischen vorbei, und Hanna saß schon eine ganze Weile an Annelies Bett. Ihr lag daran, daß das Mädel ein bekanntes Gesicht erblickte, wenn es wach wurde. Hin und wieder tupfte sie behutsam die feinen Schweißperlen von der Stirn des Mädchens, das immer unruhiger wurde. Sanft streichelte sie seine Wange, und eine warme Zärtlichkeit für das zierliche Mädchen erfüllte sie.

»Ganz ruhig, kleiner Spatz«, murmelte sie leise und hielt die unruhig über die Bettdecke hin und her fahrenden schmalen Kinderhände mit sanftem Druck fest.

Es schien, als spüre Annelie im Unterbewußtsein, daß da jemand an ihrer Seite war, der es gut meinte. Hannas beobachtender Blick entging nicht, daß die Lider zu zucken begannen, sich unendlich langsam hoben.

»Oma Bea?« kam es kaum hörbar über Annelies trockene Lippen.

»Ich bin es, Tante Hanna, mein kleiner Spatz. Die Oma kommt später«, sagte Hanna mit weicher Stimme.

Annelies Augen öffneten sich nun völlig, und die trüben Blicke wurden klarer.

»Wo bin ich, Tante Hanna? Mir ist so schlecht.«

»Du bist in der Klinik, Annelie. Ganz ruhig atmen, dann fühlst du dich gleich besser. Daß dir ein wenig übel ist, kommt von der Narkose, es vergeht wieder. Du hast uns allen einen schönen Schrecken eingejagt. Jetzt hast du es überstanden. Versuch zu schlafen, dann wirst du ganz schnell wieder gesund.«

»Bin ich denn krank? Ich habe überhaupt kein Bauchweh mehr. Meine Oma Bea soll kommen. Ich will doch…«

Die letzten Worte waren kaum verständlich über Annelies Lippen gekommen, und auf einmal war sie ohne Übergang wieder eingeschlafen.

Ein paar Minuten blieb Hanna weiter beobachtend sitzen, dann verließ sie die Intensivstation. Sie wußte, es würden nun bestimmt einige Stunden vergehen, ehe Annelie erneut wach werden würde. Dann aber würde Annelies geliebte Oma Bea an ihrer Seite sein.

Bevor Hanna ihren Bruder auf suchte, gab sie Schwester Margret noch die Anweisung, jede Veränderung im Befinden des Mädchens unverzüglich zu melden.

Kay war gerade im Begriff, die Klinik zu verlassen, als Hanna in die Halle kam. Aufmerksam sah er ihr entgegen und fragte: »Zufrieden, Hanna? Ist die Kleine schon wach?«

»Sie war kurz wach, und ich konnte einige Worte mit ihr sprechen. Ich bin zufrieden. Gehst du jetzt hinüber ins Doktorhaus?«

»Ja, das hatte ich vor.«

»Fein, dann kannst du ja Mutti Bescheid sagen, daß sie in einer Stunde in die Klinik herüberkommen kann. Annelies erste Frage, kaum, daß sie ihre Augen offen hatte, galt nämlich ihr.«

»Und du, bleibst du noch hier?«

»Ja, ich bleibe hier. Ich möchte mit Schwester Elli besprechen, auf welches Zimmer wir Annelie morgen verlegen.«

»Wenn du meine Meinung hören willst, würde ich dir raten, die Kleine nicht in ein Einzelzimmer zu legen. Denk mal in aller Ruhe darüber nach. Einmal muß sie sich an andere Kinder gewöhnen, und jetzt wäre dafür die beste Gelegenheit.«

»Das hatte ich ohnehin vor, Kay. Ich habe da etwas Bestimmtes im Auge.«

»Die kleine Jutta Dibelius?«

»Genau die, denn da wären zwei ungefähr gleichaltrige Mädchen zusammen. Es wäre Abwechslung und Ablenkung für Annelie.«

»So würde ich es auch sehen. Jetzt muß ich mich beeilen, ich habe noch etwas in der Stadt zu erledigen.«

»Du fährst in der letzten Zeit sehr häufig in die Stadt, Kay. Weißt du, daß mich das neugierig macht?«

»Es ist ganz bestimmt nicht das, was du glaubst. Ich treffe mich heute mit einem ehemaligen Studienkollegen. Er hat mich vor einer Stunde angerufen. Was er von mir will, weiß ich auch nicht genau.«

»Ja, ja, das kennen wir ja. Ein Studienkollege mit zwei hübschen grünen Augen und roten Haaren. Mach mir nichts vor, ich kenne dich ja schließlich nicht erst seit gestern. Schöne Grüße an deinen Studienkollegen.«

Verschmitzt lächelnd trennte sich Hanna von ihrem Bruder und ging die Treppe hinauf zur Krankenstation.

Sie sprach mit der Oberschwester über ein geeignetes Zimmer für Annelie und wunderte sich nicht darüber, daß Schwester Elli, genau wie zuvor Kay, vorschlug, die beiden Mädchen zusammenzulegen. Sie machte noch eine Runde durch die Krankenzimmer, etwas, was sie jeden Tag durchführte, bevor sie die Klinik verließ.

Cora Dibelius war bei ihrer Tochter, als Hanna das Krankenzimmer betrat. Sie machte einen müden und erschöpften Eindruck auf sie.

»Sie sollten etwas kürzertreten, Frau Dibelius. Jutta hat das Schlimmste überstanden und kann auch ein paar Stunden am Tag auf Sie verzichten. Ich habe die Absicht, dafür zu sorgen, daß Jutta Gesellschaft bekommt. Wir haben da ein Meines Mädchen, das gerade fünf Jahre alt ist und heute morgen operiert worden ist. Ein sehr ruhiges und liebes Mädchen. Es lebt seit kurzer Zeit bei uns im Doktorhaus und ist Vollwaise. Sind Sie damit einverstanden, daß wir sie zu Jutta aufs Zimmer legen?«

»Warum nicht, Frau Doktor? Jutta wird es mit jedem Tag besser gehen, und etwas Gesellschaft ist für beide bestimmt zum Vorteil. Wann kommt die Kleine her?«

»Voraussichtlich morgen, Frau Dibelius?«

»Hast du gehört, Jutta? Ab morgen bist du vielleicht nicht mehr allein im Zimmer. Es kommt ein kleines Mädchen, mit dem du immer spielen kannst. Gefällt dir das?«

»Weiß nicht, Mutti«, antwortete Jutta leise.

Ein paar Minuten unterhielt sich Hanna weiter mit Cora Dibelius. Bevor sie das Zimmer verließ, sagte sie mahnend: »Also, Frau Dibelius, gönnen Sie sich etwas mehr Ruhe. Sie werden noch länger gebraucht.«

In der Halle traf Hanna mit ihrer Mutter zusammen.

»Du kommst früh, Mutti. Annelie schläft noch.«

»Das macht nichts. Ich habe es drüben einfach nicht mehr ausgehalten. Ich setze mich ganz still an ihr Bett und warte, bis sie erneut erwacht. Du hast ja bestimmt nichts dagegen, nicht wahr?«

»Wie sollte ich? Ich gehe jetzt sowieso ins Doktorhaus hinüber, da ich für heute fertig bin. Wenn etwas ist, kannst du mich ja rufen lassen. Ich bleibe den ganzen restlichen Nachmittag im Haus. Bis später.«

*

Nach der Visite am nächsten Vormittag meinte Kay: »Wir können es verantworten, Annelie von der Intensivstation zu nehmen. Du hast nur noch nicht gesagt, in welches Zimmer du sie legen möchtest.«

»Wie wir es gestern schon besprochen haben, Kay. Sie kommt zu Jutta ins Zimmer. Ich habe gestern schon mit Frau Dibelius darüber geredet. Es wird für beide Mädchen gut sein.«

»Hast du es ihr schon gesagt, Hanna?«

»Noch nicht, das werde ich gleich tun. Ich muß mit der Oberschwester sprechen, danach gehe ich sofort zu Annelie.«

Nachdem Hanna alles mit Schwester Elli besprochen hatte, ging sie zu Annelie.

Das kleine Mädchen sah ihr mit klaren Augen entgegen.

»Hallo, mein Spatz, wie fühlst du dich? Ich habe eine gute Nachricht für dich.« Mit einem aufmunternden Lächeln trat Hanna an Annelies Bett und kontrollierte die Werte.

»Darf ich wieder nach Hause, Tante Hanna? Hier ist es überhaupt nicht schön.« Erwartungsvoll sah Annelie die junge Ärztin an.

»Aber Annelie, wo denkst du hin? So rasch geht es nicht. Erst mußt du wieder ganz gesund werden. Wir bringen dich gleich nach oben auf die Krankenstation in ein anderes Zimmer. Wo die Station ist, weißt du ja. Du kommst in ein hübsches Zimmer, in dem noch ein krankes Mädchen liegt. Das Mädchen heißt Jutta und ist genau wie du operiert worden. Sie ist ein kleines bißchen älter als du. Nun, ist das keine gute Nachricht?«

»Kommt die Oma Bea mich dort denn auch besuchen?«

»Natürlich kommt sie dich besuchen. Ist doch klar.«

»Na gut, dann möchte ich in das Zimmer mit dem anderen Mädchen.«

»Siehst du, so ist es fein. Ich freue mich immer, wenn du vernünftig bist. Du bist ein liebes Mädchen.«

»Du bist nicht böse auf mich?«

»Warum sollte ich böse auf dich sein?« Verwundert sah Hanna das Kind an.

»Weil ich… Nun, weil ich dir nicht gesagt habe, daß ich immer Bauchweh hatte.«

»Du kannst ganz beruhigt sein, ich bin dir nicht böse. Ich erwarte nur in Zukunft von dir, daß du immer sofort sagst, wenn dir etwas weh tut. Entweder der Oma Bea, Jolande oder mir. Versprochen?«

»Versprochen, Tante Hanna.«

»Fein, ich verlaß mich darauf. Jetzt befreie ich dich zuerst von den Schläuchen. Bis auf den einen, der da oben zu der Hasche führt, wird alles abgemacht. Das brauchst du nicht mehr.«

»Kann ich Ihnen behilflich sein, Frau Dr. Martens?« fragte Schwester Margret.

»Danke, ich bin gleich soweit. Sagen Sie bitte Schwester Laurie Bescheid, daß sie jetzt herunterkommen kann, um Annelie zu holen.«

Es dauerte keine zehn Minuten, da klopfte es, und Schwester Laurie schob ein Bett in den Raum.

»Hallo, Annelie, kennst du mich noch?« fragte sie fröhlich.

»Ja, du bist die Schwester Laurie«, antwortete Annelie.

»Du machst ja schöne Sachen. Paß einmal auf, ich fahre dich jetzt mitsamt deinem Bett nach oben. Wie gefällt dir das?«

»Geht das denn, mit dem Bett?«

»Und ob das geht. Es sind ja kleine Räder unter deinem Bett. Wir können dich damit im ganzen Haus herumfahren. Ist das nicht eine feine Sache?«

»Weiß nicht, Schwester Laurie. Kann ich nicht erst schlafen, Tante Hanna?« wollte Annelie wissen.

»Nachher kannst du schlafen, solange du willst. Jetzt heben Schwester Margret und Schwester Laurie dich ganz vorsichtig in dein Bett, und danach bringt dich Schwester Laurie mit dem Aufzug nach oben.«

»Kommst du nicht mit?«

»Ich komme etwas später nach, Annelie. Ich habe zuerst etwas anderes zu erledigen.«

Die beiden Schwestern betteten Annelie um, während Hanna die Infusionsflasche ans Bett hängte.

Schwester Laurie sagte lachend: »So, kleines Fräulein, die Post geht jetzt ab«, und schob das Bett hinaus.

Einige Minuten später sah Jutta mit neugierigen Blicken, wie Annelie von Schwester Laurie ins Krankenzimmer geschoben wurde.

»So, Jutta, das ist die Annelie. Sollst sehen, in ein paar Tagen könnt ihr zwei miteinander spielen.«

»Darf die Annelie denn schon aufstehen?«

»Frühestens heute nachmittag. Annelie ist erst gestern operiert worden.«

»Macht nichts, Schwester Laurie. Ich darf ja schon aufstehen, hat die Frau Doktor gesagt. Ich kann mich mit meinem Bilderbuch zu ihr ans Bett setzen, wenn ich darf.«

»Wenn Annelie es möchte, darfst du das gern. Wir müssen aber zuerst die Frau Doktor fragen. Jetzt möchte Annelie schlafen, da mußt du ein bißchen leise sein.«

»Ich bin doch immer leise, Schwester Laurie. Weißt du denn schon, wann meine Mutti heute kommt?«

»Sie hat dir gesagt, daß sie nach dem Mittagessen kommt, also mußt du dich noch etwas gedulden. Du kannst ja auch bis zum Mittagessen schlafen.«

»Ich bin nicht müde, ich spiele mit meiner Puppe.«

»Auch gut, Jutta. Ich laß euch beiden Hübschen jetzt für ein Weilchen allein. Wenn du etwas möchtest, drückst du ganz einfach auf die Klingel. Du kennst das ja schon.«

Schwester Laurie wandte sich an Annelie. »Möchtest du noch etwas haben?«

»Nur schlafen, Schwester.«

»Dann schlaf schön, um so schneller wirst du wieder gesund.«

Sie nickte den beiden Mädchen noch einmal fröhlich zu und verließ das Krankenzimmer.

*

Es war nach der Mittagszeit. Zwei kleine Mädchen warteten sehnsüchtig auf ihre Besucher, Jutta auf ihre Mutter und Annelie auf ihre Oma Bea.

Als sich endlich die Tür öffnete, starrte Annelie die junge Frau, die ins Zimmer kam, wie eine Erscheinung aus einer anderen Welt an. Es waren nur Sekunden, dann rief sie überglücklich: »Mutti, Mutti, da bist du ja, und…« Mitten im Satz brach sie ab, und ihre Lippen schlossen sich. Jeder Tropfen Blut wich aus ihrem schmalen Kindergesicht.

Im gleichen Moment rief vom anderen Bett Jutta selig aus: »Endlich, Mutti. Wo warst du denn nur so lange? Ich warte schon auf dich.«

Cora Dibelius begrüßte zuerst liebevoll ihre kleine Tochter, danach trat sie an Annelies Bett und sagte sanft: »Ich bin die Mutti von Jutta, und du bist sicher Annelie, nicht wahr? Du hast mich gerade wohl mit jemandem verwechselt?«

Annelie schluckte und stockend sagte sie: »Ich dachte doch, du wärst meine Mutti. Meine Mutti, sie…«

»Warum sprichst du nicht weiter, Annelie? Sehe ich deiner Mutti so ähnlich?«

Annelie nickte heftig, dann wandte sie ihren Kopf zur Seite und schloß die Augen.

Bestürzt erkannte Cora die glitzernden Tränen, die langsam unter den Wimpern hervorsickerten.

Ratlos sah Cora auf das zierliche Mädchen hinunter und fühlte heißes Mitleid in sich aufsteigen. Sie wußte wohl von der Ärztin, daß es sich bei Annelie um eine Vollwaise handelte, aber diese Reaktion konnte nur bedeuten, daß die Kleine erst kürzlich ihre Eltern verloren haben mußte. Was sollte sie nur tun? Wie konnte sie dieses kleine traurige Mädchen trösten? Einen Moment zögerte sie, dann beugte sie sich hinunter und fuhr Annelie mit sanfter Hand über das schwarze Lockenhaar.

»Mußt nicht weinen, kleine Annelie«, sagte sie dabei weich.

Annelie hielt ganz still, gab jedoch keine Antwort.

Cora ging zu ihrer Tochter ans Bett und sagte leise: »Ich muß für ein paar Minuten weg, Jutta, ich komme so rasch es geht zurück. Ich muß nur Schwester Laurie etwas fragen.«

»Geh nur, Mutti, ich spiele solange mit meinen Perlen. Ich mach für Annelie auch eine ganz lange Kette. Vielleicht ist sie dann nicht mehr traurig.«

»Tu das Liebling. Bis gleich.«

Mit raschen Schritten ging Cora aus dem Zimmer. Sie zog die Tür hinter sich zu und blieb einen Moment überlegend stehen.

Sollte sie mit einer der Schwestern reden, oder sollte sie sofort nach Frau Dr. Martens fragen, um mit ihr über das kleine Mädchen zu reden?

»Kann ich etwas für Sie tun, Frau Dibelius?« fragte da Schwester Elli und kam ein paar Schritte auf sie zu.

»Ich würde gern mit Frau Dr. Martens sprechen, Schwester Elli. Ist sie um diese Zeit im Haus?«

Die Oberschwester warf einen Blick auf die Uhr und erwiderte: »Ja, Frau Dr. Martens wird unten in ihrem Sprechzimmer sein. Kommen Sie bitte mit ins Schwesternzimmer, ich frage sofort nach, ob sie jetzt Zeit für Sie hat. Ist mit Ihrer Jutta etwas nicht in Ordnung? Vielleicht kann ich Ihnen helfen.«

»Es geht nicht um Jutta, Schwester Elli. Es geht um die kleine Annelie.«

»Da kommt Frau Dr. Martens. Mein Anruf erübrigt sich.«

Schwester Elli sah zum Ende des Ganges, wo in diesem Moment Hanna auftauchte und eilig näher kam.

»Ich wollte Sie gerade anrufen, Frau Doktor. Frau Dibelius möchte gern mit Ihnen sprechen.«

»Sie wollen mit mir sprechen? Gibt es Probleme mit Ihrer Kleinen?«

»Nein, ich bin wegen der kleinen Annelie etwas ratlos und würde Ihnen gern ein paar Fragen stellen.«

»Selbstverständlich können Sie fragen. Gehen wir ins Schwesternzimmer. Im Sitzen läßt es sich besser reden.«

Hanna und Cora folgten Schwester Elli, die schon ins Schwesternzimmer zurückgegangen war.

Nachdem Hanna der jungen Frau Platz angeboten hatte, fragte sie: »Was kann ich also für Sie tun?«

Mit bedrückter Stimme erzählte Cora der verwundert aufhorchenden Ärztin von dem Vorfall im Krankenzimmer. Sie schloß: »Ich war doch sehr betroffen über die Reaktion, Frau Dr. Martens. Kannten Sie die Mutter? Ist es vielleicht so, daß die Kleine ihre Eltern erst kürzlich verloren hat?«

»Ja, Frau Dibelius. Was Ihre erste Frage betrifft, ich kannte weder den Vater noch die Mutter. Annelie wurde vom Kinderheim in Celle bei uns eingeliefert. Es ist eine lange und traurige Geschichte. Annelie lebt im Augenblick bei mir und wird liebevoll von meiner Mutter umsorgt. Das Kinderheim kann für sie nicht mehr in Frage kommen. Trotz der liebevollen Fürsorge würde sie dort seelisch zugrunde gehen. Das ist die traurige Tatsache. Wenn Annelie Sie im ersten Moment mit ihrer Mutter verwechselt hat, müssen Sie ihr sehr ähnlich sehen. Damit konnte niemand rechnen. Vielleicht war der Schock gut für das Mädel, und es akzeptiert nun, daß es die Mutter nicht mehr wiedersehen kann. Wir können Letzteres nur hoffen.«

»Armes kleines Mädchen, es hat ja schon sehr viel durchmachen müssen. Haben Sie Einwände, wenn ich mich mit Annelie beschäftige, solange die beiden Mädchen zusammen in einem Zimmer liegen?«

»Nein, auf keinen Fall. Ich habe ja Annelie mit der Absicht zu Ihrer Jutta ins Zimmer legen lassen, damit beide einen Ansprechpartner haben, sich anfreunden und gut vertragen. Bei uns im Doktorhaus ist Annelie leider nur mit Erwachsenen zusammen. Es war ein Drama, als sie im Kinderheim mit Gleichaltrigen zusammenkam. Wir hoffen, daß sich das durch Ihre Jutta etwas ändert. Wenn Sie Annelie erst näher kennenlernen, werden Sie erkennen, daß sie ein sehr liebes Kind ist. Lieb, aber sehr sensibel, was jedoch nach all den Ereignissen kein Wunder ist.«

»Ich danke Ihnen für dieses Gespräch, Frau Dr. Martens. Ich kann mich nun wenigstens auf die Kleine einstellen. Jetzt muß ich aber wieder ins Krankenzimmer zurück, sonst kommt Jutta noch auf dumme Gedanken.«

Mit ernstem, nachdenklichem Gesicht ging Cora Dibelius zu den beiden Mädchen zurück.

*

Cora Dibelius war gerade mit Hanna Martens hinter der Tür zum Schwesternzimmer verschwunden, als Bea Martens die Treppe heraufkam und ein paar Augenblicke später das Krankenzimmer betrat, in dem sich Annelie und Jutta befanden.

»Guten Tag, ihr beiden Hübschen. Geht es euch gut?« fragte sie mütterlich.

»Wer bist denn du?« wollte Jutta wissen.

»Ich bin die Oma Bea und möchte Annelie besuchen. Du bist wohl Jutta, nicht wahr?«

»Ja, ich heiße Jutta und bin sechs Jahre alt. Du mußt ganz lieb zu Annelie sein. Sie ist nämlich traurig. Weißte was, die Annelie hat gedacht, daß meine Mutti ihre Mutti ist. Ist das nicht komisch?«

Bea Martens erschrak. War Juttas Mutter etwa eine Doppelgängerin von Annelies verstorbener Mutter? Das hatte gerade noch gefehlt.

Leise trat sie an Annelies Bett. Das Mädchen lag mit geschlossenen Augen in den Kissen, das Gesicht tränennaß.

»Hallo, Annelie, mein Spatz. Jutta sagt, daß du traurig bist?« Liebevoll beugte sich Bea Martens über Annelie.

»Oma Bea, Oma Bea, daß du nur da bist.« Unverhofft schlangen sich zwei weiche Kinderarme um ihren Nacken.

»Ist ja schon gut, mein kleiner Spatz. Du mußt nicht mehr traurig sein, ich bin ja jetzt bei dir.«

»Aber, aber Juttas Mutter sieht genauso aus wie meine Mutti. Ganz ehrlich, Oma Bea. Warum ist das so?«

»Das kommt häufig vor, daß sich zwei oder auch manchmal mehrere Menschen zum Verwechseln ähnlich sehen. Das ist ein Spiel der Natur. Es hat nichts zu bedeuten.«

»Meinst du, sie mag mich auch ein bißchen?«

»Ganz bestimmt, Annelie. Ich bin sicher, daß Juttas Mutti eine sehr liebe Mutti ist. Wie gefällt dir denn Jutta?« versuchte Bea Martens das Mädchen abzulenken.

Es gelang ihr, denn Annelie antwortete: »Jutta ist lieb, Oma Bea. Wenn ich erst wieder aufstehen darf, dann spielen wir mit unseren Puppen. Bringst du mir meine Pamela, wenn du das nächste Mal kommst? Ich möchte sie so gern bei mir haben.«

»Ich gebe sie morgen früh Tante Hanna mit. Einverstanden?«

»Ja, danke, Oma Bea. Darf ich dich noch etwas fragen?«

»Was denn, mein Spatz?«

»Ich habe solchen Durst. Wann darf ich denn etwas trinken?«

»Ich frage gleich Schwester Laurie, ob du heute schon etwas haben darfst. Wenn nicht, hole ich dir ein Teeschwämmchen und feuchte dir damit etwas die Lippen an. Morgen darfst du ganz sicher wieder trinken, und du bekommst eine warme Haferschleimsuppe.«

»Die mag ich aber nicht.«

»Wenn man Hunger hat, mag man alles. Wir werden sehen.«

Annelie wollte gerade etwas darauf erwidern, da öffnete sich erneut die Tür.

Mit großen Augen starrte Bea Martens auf die junge Frau, die lächelnd das Zimmer betrat.

»Mutti, Mutti, das ist die Oma Bea«, sagte Jutta und zeigte auf Bea Martens.

Mit einem herzlichen Lächeln streckte Bea Martens der jungen Frau ihre Rechte entgegen und stellte sich vor. Das gleiche tat Cora Dibelius.

Zwischen denen im Alter so unterschiedlichen Frauen entspann sich ein Gespräch, an dem sich Jutta lebhaft beteiligte. Nur Annelie blieb stumm, aber sie ließ Cora nicht aus den Augen.

Hoffentlich bleibt das nicht so, sonst kommt erneut eine Krise auf Annelie zu, dachte Bea besorgt.

Schwester Laurie kam zwischendurch auf ihr Klingeln ins Zimmer und brachte Tee für Annelie. Doch Beas Versuche, Annelie in die Unterhaltung mit einzubeziehen, blieben erfolglos. Sie wirkte von einer Minute zur anderen ziemlich erschöpft und schlief schließlich ein.

»Armes, bedauernswertes Ding«, sagte Cora voller Mitgefühl zu Bea Martens.

»Annelie hat heute einen Schock erlebt. Ich werde alles tun, damit sie schnell darüber hinwegkommt.«

»Ich helfe Ihnen dabei, denn wenn auch ungewollt, trage ich die Schuld daran. Es ist eigenartig, aber ich mochte dieses Kind vom ersten Augenblick an.«

*

Von diesem Tag an kümmerte sich Cora Dibelius genauso liebevoll um Annelie wie um ihr eigenes Kind. Die beiden kleinen Mädchen wurden immer mehr ein Herz und eine Seele.

Was niemand vorausgesagt hätte, trat nun ein. Annelie, die ihre Oma Bea zärtlich liebte, zeigte immer mehr ihr eigenes ich, wurde selbständiger. Sie hing nicht mehr nur an ihrer Oma Bea. An einem Nachmittag überraschte sie Bea Martens ganz besonders.

Als diese den Mädchen ein Märchen vorlesen wollte, sagte Annelie plötzlich: »Jetzt nicht, Oma Bea. Wir haben jetzt keine Zeit, wir spielen doch gerade Mutter und Kind, und ich darf die Mutti sein. Morgen darfst du uns wieder ein Märchen vorlesen.«

An diesem Nachmittag kam auch Klaus Dibelius in die Kinderklinik, um seine kleine Tochter zu besuchen. Er war eine lange Woche unterwegs gewesen und wußte nur durch Telefongespräche mit seiner Frau von Annelie Feldner. Stürmisch begrüßte Jutta ihren Vater.

»Vati, Vati, ich habe jetzt auch eine Freundin. Die Annelie ist ganz lieb. Frag die Mutti.«

»Ich glaube es dir ja, Schätzchen. Ich freue mich, daß es dir wieder gut geht.«

Er beugte sich zu Annelie hinab, streckte ihr seine große Hand entgegen und sagte freundlich: »Guten Tag, Annelie. Ich bin Juttas Vater. Ich habe euch beiden etwas mitgebracht. Hier, für jede von euch ein Päckchen.«

»Wirklich für mich?« fragte Annelie mit glänzenden Augen.

»Ja, für dich, Annelie. Pack es aus, es wird dir bestimmt gefallen. Dir auch, Schätzchen.« Zärtlich küßte er Jutta auf die Wange.

Mit fliegenden Fingern nestelten die beiden kleinen Mädchen ihr Päckchen auf.

»Oh, Vati, danke.« Schon hing Jutta am Hals ihres Vaters. Er hatte für beide Mädchen ein Kettchen mit einem Herzmedaillon mitgebracht.

»Langsam, langsam, Schätzchen, du tust dir noch weh. Dein Hals, du mußt aufpassen«, wehrte Klaus seine stürmische Tochter ab.

Sein Blick fiel auf Annelie, die andächtig auf das hübsche Geschenk starrte.

»Nun, gefällt es dir, Annelie?«

»Ja, es ist wunderschön. Darf ich dir dafür einen Kuß geben?«

Ehe Klaus sich versah, schlang Annelie die Anne um seinen Hals und gab ihm ein feuchtes Küßchen auf die Wange.

»Du bist vielleicht ein liebes Schätzchen, Annelie.« Sanft streichelte er ihre Wange.

Als Klaus und Cora Dibelius an diesem Tag die Klinik verließen, blieben zwei glückliche kleine Mädchen zurück.

Im Doktorhaus sagte Bea Martens zu Hanna: »Ich glaube, ich bin bei unserem Schatz langsam abgemeldet. Ich frage mich nur, wie soll das jetzt mit ihr weitergehen? Der Tag wird kommen, an dem Jutta entlassen wird. Ich habe große Angst davor, daß das ganze Elend noch einmal von vorn beginnt. Was können wir nur tun?«

»Du machst dir zu früh Sorgen, Mutti. Noch ist es nicht so weit. Wir wollen abwarten. Vielleicht geht alles viel besser aus, als wir erwarten.«

»Ich weiß nicht, Hanna, ich bin da nicht so sicher. Die Vergangenheit hat es uns deutlich genug gezeigt. Annelie hängt schon viel zu sehr an Herrn und Frau Dibelius. Es macht mir einfach Angst, und ich kann nicht dagegen an.«

*

Am darauffolgenden Tag kam Cora Dibelius allein in die Kinderklinik.

Jutta war allein im Zimmer, denn man hatte Annelie zum Fädenziehen geholt.

»Wo ist denn Vati?« wollte Jutta wissen.

»Vati mußte etwas für die Firma erledigen. Ein Eilauftrag. Morgen kommt er dich wieder besuchen. Und ihr zwei, wart ihr heute wieder brav?«

»Ja, Mutti. Weißt du, was die Frau Doktor heute gesagt hat?«

»Nein, was denn?«

»Ich darf vielleicht nächste Woche nach Hause. Warum nehmen wir Annelie nicht einfach mit zu uns? Ich möchte es so gern.«

»So einfach, wie du dir das vorstellst, geht das nicht, Schätzchen. Bis zur nächsten Woche ist auch noch viel Zeit.«

Cora konnte ihre Tochter ablenken, doch in ihrem Innern entstand ein ganz bestimmter Plan.

Der Nachmittag mit den Mädchen verging ihr an diesem Tag nicht schnell genug. Es trieb sie heim zu ihrem Mann, mit dem sie unbedingt über ihr Vorhaben reden mußte.

Klaus Dibelius kam gegen neunzehn Uhr heim. Ihm fiel sofort auf, daß Cora sehr angespannt war.

»Was ist mit dir, Liebes? Stimmt mit Jutta etwas nicht?«

»Mit Jutta ist alles in Ordnung, Klaus. Ich muß unbedingt mit dir über eine bestimmte Angelegenheit reden. Unser Mädchen hat dazu den letzten Anstoß gegeben.«

»So, was ist es denn?«

»Ich möchte die kleine Annelie in unser Haus holen, Klaus. Sie ist ein so liebes Ding. Sie wäre doch die ideale Schwester für unsere Jutta. Die beiden Mädchen hängen inzwischen so sehr aneinander, daß es einen Sünde wäre, sie wieder auseinanderzureißen. Und ich, ich habe die Kleine so liebgewonnen, als wäre sie mein eigenes Kind. Du magst sie doch auch, oder?«

»Ich weiß nicht, Liebes. Es ist eine große Verantwortung, ein fremdes Kind aufzunehmen. Ich kann mich mit dem Gedanken noch nicht anfreunden. Willst du dir die Sache nicht noch einmal gründlich überlegen?«

»Nein, Klaus, ich wünsche es mir so sehr. Du weißt, wie sehr ich mir noch ein Kind gewünscht habe. Ein Schwesterchen oder Brüderchen für Jutta. Ich bitte dich von ganzem Herzen, sag ja. Du würdest mich damit unendlich glücklich machen. Ist das nicht ein Wink des Schicksals für uns?«

»Wenn dir so viel daran liegt, Liebes, gut, ich bin einverstanden. Ich mag die Kleine ja auch. Sie ist wirklich ein liebes Ding. Du darfst dir das aber nicht so einfach vorstellen. Sie hat Menschen um sich, die sie liebhaben und sich um sie sorgen. Es hat alles seine zwei Seiten. Wir können es versuchen und mit Frau Dr. Martens sprechen. Wenn es nicht geht, müssen wir uns damit abfinden. Wenn du damit einverstanden bist, gut, reden wir gleich morgen mit der Ärztin. Und denkst du vielleicht auch daran, daß Annelie vielleicht gar nicht will?«

»Daran habe ich noch nicht gedacht. Wir werden es erfahren, sobald wir alles andere geklärt haben.«

»Also gut, versuchen wir es.«

*

Hanna war sehr überrascht, als Martin Schriewers ihr am nächsten Morgen das Ehepaar Dibelius meldete.

Aufmerksam sah sie den beiden entgegen, als sie ihr Sprechzimmer betraten.

»Was kann ich für Sie tun?« fragte sie nach einer herzlichen Begrüßung.

Mit glänzenden Augen brachte Cora Dibelius ihr Anliegen vor, und Hanna fiel buchstäblich aus allen Wolken.

»Es ist unser beider Wunsch, Frau Dr. Martens«, sagte Klaus Dibelius, als Hanna nicht sofort antwortete.

»Haben Sie sich das auch gut überlegt? Es würde für Annelie erneut eine große Veränderung bedeuten.«

»Das wissen wir, Frau Doktor. Aber Annelie hätte dann wieder eine richtige Familie. Wir lieben die Kleine schon jetzt wie unser eigenes Kind. Wir möchten sie zuerst als Pflegekind, und wenn das Vormundschaftsgericht seine Zustimmung gibt, als unser Kind adoptieren.«

»Ich muß das erst mit meinem Bruder und meiner Mutter besprechen. Ich hatte selbst vor, mich mit dem Jugendamt in Verbindung zu setzen, um eine Dauerpflegschaft zu erreichen. Wie dem auch sei, ich geben Ihnen Bescheid. Ich gebe die Kleine nicht gern her. Aber es kommt nicht auf meine Wünsche an. Ich werde immer Annelies Wohl und Glück an die erste Stelle setzen.«

»So sollte es auch sein, Frau Doktor«, sagte Cora leise. »Überlassen wir doch Annelie die Entscheidung. Was sie möchte, das soll geschehen. Wenn sie lieber in Ihrem Haus bleiben möchte, treten wir zurück. Wenn sie aber zu uns möchte, bitten wir Sie, daß Sie nicht versuchen, sie zu halten.«

»Ich bin einverstanden, möchte das aber nicht allein entscheiden. Kommen Sie bitte morgen um die gleiche Zeit wieder zu mir. Wir werden anschließend gemeinsam zu den beiden Mädchen gehen und Annelie fragen. Halten wir es so?«

Klaus und Cora waren einverstanden und verabschiedeten sich von Hanna.

Als Hanna am späten Nachmittag mit Kay ins Doktorhaus ging, sagte sie zu ihm: »Hast du Zeit, Kay? Ich möchte gern etwas sehr Wichtiges mit dir, Mutter und Jolande besprechen.«

»Für dich habe ich immer Zeit. Um was geht es denn?«

»Um Annelies Zukunft.«

Überrascht sah Kay sie an, stellte jedoch keine Fragen mehr, bis sie alle im Wohnzimmer versammelt waren.

Nachdem Hanna alles berichtet hatte, entbrannte zuerst eine heftige Diskussion. Es war Kay, der einen klaren Kopf behielt und sagte: »Denkt nur an Annelie. Laßt das Kind selbst entscheiden.«

*

Es fiel Hanna schwer, ihre eigenen Wünsche zurückzustellen, denn sie hätte das Kind am liebsten nicht mehr fortgegeben.

Sie war dabei, als Cora und Claus Dibelius Annelie fragte, ob sie Juttas Schwester werden wollte.

»Und du, bist du dann meine Mutti?«

»Ja, du hast dann einen Vati und eine Mutti, Annelie.«

Das selige Leuchten in Annelies Augen sagte mehr als tausend Worte hätten ausdrücken können.

Annelie war nicht wiederzuerkennen, als sie eine Woche später, Jutta an der Hand, zwischen Cora und Klaus Dibelius die Kinderklinik verließ. Die strahlenden Kinderaugen zeigten Hanna, daß es für Annelie wieder so werden würde, wie zu Lebzeiten ihrer Eltern. Schön daran war, man würde in Verbindung bleiben und miterleben, daß vor dem kleinen Mädchen eine glückliche Zukunft lag…

Kinderärztin Dr. Martens Box 9 – Arztroman

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