Читать книгу Kinderärztin Dr. Martens Box 8 – Arztroman - Britta Frey - Страница 6

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»Guten Tag, Fränzi, ist Paps schon zu Hause?«

Das schlanke Mädchen mit den langen tiefschwarzen Haaren kam wie ein Wirbelwind in die Küche zu Fränzi Sutter gelaufen.

»Saskia, Mädchen, mußt du denn immer so wild sein?« Lächelnd schüttelte die vollschlanke, vierundfünfzigjährige Frau bei diesen Worten den Kopf.

Fränzi Sutter war Haushälterin und zugleich der gute Geist im Hause Behring. Der Hausherr, Hans Peter Behring, lebte seit drei Jahren mit seiner dreizehnjährigen Tochter Saskia allein in seinem großen Haus, das am Stadtrand von Lüneburg lag. Kurz zuvor hatte sich Hans Peter Behring nach langen inneren Kämpfen von seiner Frau Sabine getrennt.

Fränzi Sutter, die schon lange Jahre im Haus gearbeitet hatte, war selbstverständlich geblieben und kümmerte sich seit dieser Zeit auch liebevoll um die inzwischen Dreizehnjährige.

»Ich bin doch überhaupt nicht wild, Fränzi. Sag doch schon, ist Paps daheim oder nicht? Ich hab heute in Mathe eine Zwei geschrieben. Ist das nicht einfach toll?«

»Das ist wirklich toll, Saskia. Da wird sich dein Paps ganz bestimmt sehr freuen. Er ist aber noch nicht hier. Hast du vergessen, daß er heute und auch in den nächsten Tagen später kommt? Er muß doch am Montag wieder auf eine längere Geschäftsreise.«

»Das habe ich total vergessen, Fränzi. Wenn ich erst aus der Schule komme, lerne ich genau den gleichen Beruf wie Paps. Ich kann ihn dann immer begleiten, wenn er auf seine Geschäftsreisen muß.«

»Bring du erst einmal deine Schuljahre zu Ende, Mädchen, danach werden wir weitersehen. Geh jetzt in dein Zimmer und zieh dich um, damit wir zu Mittag essen können.«

Saskia griff nach ihrer Schultasche, die sie achtlos abgestellt hatte, und leichtfüßig eilte sie aus der Küche.

Kaum zehn Minuten später kam Saskia wieder herunter.

»Meinetwegen können wir jetzt essen, Fränzi. Vielleicht schaffe ich sogar noch meine Hausaufgaben, bis Paps zurückkommt.«

»Natürlich können wir essen. Hilf mir den Tisch zu decken, dann geht es rascher.«

Saskia ließ es sich schmecken. Fränzi wunderte sich manchmal, wo das Mädchen alles ließ. So schlank und zartgliedrig die Dreizehnjährige auch war, sie konnte soviel essen und trinken, wie sie wollte, und nahm trotzdem kaum etwas zu.

»Den Abwasch mach ich heute, Fränzi, ruh du dich nur etwas aus. Paps sollte ruhig noch eine Hilfe einstellen, damit du nicht so viel arbeiten mußt.«

»Bist ein liebes Mädchen, Saskia. Ich brauche noch keine Hilfe. Ich bin doch noch nicht alt und tüdelig. Ich habe ja dich, wenn ich wirklich Hilfe brauche. Du kannst mir wohl beim Abwasch helfen. Einverstanden?«

»Na gut, einverstanden, Fränzi.«

Während sie gemeinsam den Abwasch erledigten, plauderte Saskia munter drauflos. Sie erzählte von ihren Schulfreundinnen und auch von deren Vätern und Müttern. Auf einmal sagte sie: »Seitdem Mutti nicht mehr bei uns ist, ist es viel schöner geworden. Keiner schimpft mehr, und Paps hat auch immer gute Laune. Paps ist der liebste und beste Paps auf der ganzen Welt. Ich lasse ihn nie mehr allein.«

*

Hans Peter Behring räumte nach einem Blick auf die Uhr seine Unterlagen zusammen. Es war fast sechzehn Uhr, und er wußte, daß seine Tochter ihn schon voller Ungeduld daheim erwarten würde. Er öffnete die Tür zu einem Nebenraum und sagte freundlich zu der jungen Dame, die an einem Schreibtisch saß und arbeitete: »Ich mach für heute Feierabend, Fräulein Koch. Machen Sie auch Schluß. Morgen ist auch noch ein Tag. Ich bekomme schon ein schlechtes Gewissen, wenn ich Sie weiter jeden Tag länger arbeiten lasse.«

Gerti Kochs Gesicht überzog sich mit verlegener Röte. Hastig antwortete sie: »Es macht mir überhaupt nichts aus, Herr Behring. Ich arbeite auch gern länger. Ich weiß doch, wie wichtig die Arbeiten sind, die Sie in der nächsten Woche mitnehmen wollen. Ich habe sowieso nichts anderes vor.«

»Na, wie Sie wünschen, Fräulein Koch. Arbeiten Sie aber heute nicht mehr zu lange. Also, bis morgen früh.«

»Einen schönen Tag noch, Herr Behring.«

»Wünsche ich Ihnen auch.«

Eine halbe Stunde später fuhr Hans Peter Behring vor seinem Haus vor und stieg aus. Er überlegte einen Moment, ob er den Wagen nicht sofort in die Garage bringen oder ihn stehen lassen sollte, um mit Saskia noch eine Spazierfahrt zu machen.

Bevor er zu einem Entschluß kam, wurde die Haustür geöffnet, und ein gertenschlankes Mädchen kam mit wehenden schwarzen Haaren auf ihn zugelaufen und rief ihm zu: »Du kommst heute aber spät nach Hause, Paps, ich warte schon seit Stunden auf dich.«

Mit einem Jauchzer fiel Saskia ihrem Vater um den Hals.

»Nicht so stürmisch, kleines Fräulein, du wirfst mich gleich um. Du tust ja gerade so, als ob ich eine Ewigkeit fortgewesen wäre. Wir haben doch heute morgen erst gemeinsam gefrühstückt. Wie lief es denn in der Schule? Hast du deine Hausaufgaben schon fertig?«

»Natürlich, Paps, alles ok. Meine Hausaufgaben sind fertig, und ich habe heute meine Mathearbeit zurückbekommen. Rate mal, was ich für eine Zensur dafür bekommen habe!«

»Raten war nie meine Stärke, Saskia. Du mußt es mir schon sagen. Da du dich darüber freust, scheint diese Arbeit jedoch besser ausgefallen zu sein als die letzte. Nun, habe ich recht?«

»Hast du, Paps, viel besser. Stell dir vor, es ist sogar eine Zwei geworden. Ich hatte dir doch versprochen, daß ich mich ordentlich dahinterklemme.«

»Fein, Saskia, ich bin richtig stolz auf dich. Du bist ein lieber Schatz. Wenn du weiter so fleißig lernst, hast du bei mir einen großen Wunsch offen. Jetzt laß uns ins Haus gehen, ich habe ordentlichen Kaffeedurst.«

»Und danach, Paps? Mußt du daheim noch arbeiten, oder hast du heute wieder Zeit für mich?«

»Ich habe heute Zeit. Was sollen wir machen? Möchtest du, daß wir eine Spazierfahrt machen und irgendwo zu Abend essen?«

»Au ja, Paps, das wäre ganz große Klasse. Du und ich, wir beide ganz allein. Ich habe dich so lieb, ich will immer nur mit dir allein sein.«

Hans Peter Behring sagte dazu nichts, denn er wußte ja, wie sehr seine Tochter an ihm hing. Er hatte nach der Trennung und Scheidung von Sabine, Saskias Mutter, alles getan, um zu erreichen, daß das Mädel die Mutter, die außerdem eine miserable Mutter gewesen war, nicht allzusehr vermißte. Er hatte sein Ziel wohl erreicht, aber er hatte vorher nicht mit einbezogen, wie sehr sich die Dreizehnjährige auf ihn fixierte. Sie wäre am liebsten jede Minute des Tages mit ihm zusammen. Er hoffte darauf, daß sich das mit zunehmendem Alter seiner Tochter ändern würde. Sie konnte, wenn sie es darauf anlegte, wirklich mehr als nur besitzergreifend sein.

Als Hans Peter Behring und Saskia das Haus betraten, kam gerade Fränzi in die kleine Eingangshalle.

»Alles klar, Fränzi?«

»Alles klar, Herr Behring. Wohin darf ich den Kaffee bringen?«

»Ins Wohnzimmer, Fränzi. Ich fahre anschließend mit Saskia noch ein wenig hinaus. Wir essen heute abend auch auswärts. Machen Sie sich einen ruhigen Nachmittag und Abend.«

»Gern, Herr Behring, wie Sie wünschen.«

»Ich hole rasch meine Mathearbeit, Paps.«

Schon war Saskia an der Treppe und lief ins Obergeschoß hinauf.

Lächelnd sah ihr Hans Peter nach und sagte zu Fränzi: »Sie ist schon ein kleiner Irrwisch, nicht wahr? Und ich kann ihr einfach nichts abschlagen.«

»Trotzdem sollten Sie das Mädel nicht allzusehr verwöhnen, Herr Behring. Wenn Sie so weitermachen, haben Sie überhaupt keine Zeit mehr für sich selbst.«

»Lassen Sie nur, Fränzi, ich habe ja nur sie und ich liebe mein großes Mädchen sehr. Die Anregung für die Ausfahrt und das Essen kam heute von mir. Ich bin doch ab Montag wieder für vierzehn Tage unterwegs, da muß Saskia sowieso wieder ohne mich auskommen. Sie sehen, Fränzi, es gleicht sich alles aus.«

Fränzi wollte noch etwas dazu sagen, ließ es aber sein, da in diesem Augenblick Saskia wieder die Treppe herunterkam.

Voller Stolz und mit strahlenden Augen präsentierte die Dreizehnjährige dem Vater die hervorragend ausgefallene Mathematikarbeit. Sie konnte auch stolz darauf sein, denn ausgerechnet Mathematik war ihr schwächstes Fach in der Realschule, die sie besuchte.

*

Schon am Sonntagabend, bevor Saskia schlafen ging, verabschiedete sich Hans Peter Behring von seiner Tochter, da er am kommenden Morgen sehr früh abfahren wollte.

»Bleib schön brav und vernünftig und folge Fränzi, hast du gehört, mein Schatz? Du bist ja ein großes Mädchen, und ich verlasse mich auf dich.«

»Ich höre doch immer auf Fränzi, Paps. Trotzdem ist es schade, daß ich nicht mit dir fahren darf. Vierzehn Tage ist so eine lange Zeit.«

»Mußt nicht traurig sein. Wenn deine nächsten großen Ferien kommen, fliegen wir zwei für drei lange Wochen nach Gran Canaria in den Urlaub. Wir können dann allerhand erleben. Auf meine Geschäftsreisen kann ich dich nicht mitnehmen, weil ich für dich nicht viel Zeit übrig ­hätte. Lerne du inzwischen fleißig, die Zeit vergeht dann auch für dich viel rascher. Außerdem hast du ja noch deine Schulfreundinnen, mit denen du dich verabreden kannst. Nun wünsche ich dir eine recht gute Nacht, und träum’ etwas besonders Schönes.«

»Gute Nacht, Paps, und komm ganz schnell zurück.«

Noch einmal schlangen sich Saskia Arme um den Nacken ihres Vaters, und sie hauchte einen Kuß auf seine Wange, dann kuschelte sie sich in ihre Kissen.

Hans Peter Behring fuhr ihr noch einmal ganz zärtlich über das tiefschwarze, glänzende Haar und ging, ihr noch einmal zuwinkend, aus dem Zimmer.

*

Mit raschen Schritten verließ Hans Peter Behring sein Hotel. Mit seinen Gedanken war er schon bei seiner ersten geschäftlichen Verabredung. Nur so konnte es geschehen, daß er an der hohen gläsernen Eingangstür mit einer jungen Dame zusammenprallte, die es gleichfalls sehr eilig zu haben schien.

»Ich bitte vielmals um Verzeihung«, murmelte Hans Peter verlegen. »Ich war unaufmerksam.«

»Es macht überhaupt nichts, ich hatte es wohl auch etwas zu eilig«, entgegnete die junge Dame mit dunkler, melodischer Stimme, und ihre blauen Augen strahlten ihn fröhlich an. Gleich darauf war sie an ihm vorbei durch die Tür gegangen und strebte mit eiligen Schritten davon.

Wie benommen sah Hans Peter ein paar Sekunden hinter der gertenschlanken jungen Frau her. Es waren nur wenige Augenblicke gewesen, die er in ihr Gesicht geschaut hatte, doch diese Augenblicke hatte sich ihm eingeprägt. Das schmale Gesicht mit den großen blauen Augen, umrahmt von langen, welligen hellblonden Haaren. Und dann diese dunkle, melodische Stimme.

»Kann ich bitte vorbei?« hörte er neben sich eine herrische Stimme und zuckte zusammen. Er ließ einen älteren Herrn an sich vorbei und trat dann selbst auf den Bürgersteig.

Nimm dich zusammen, alter Junge, und denk an deine Geschäftsbesprechung, rief er sich innerlich zur Ordnung.

Doch auch während seiner Besprechung tauchte vor seinen Augen immer wieder das Bild der bezaubernden, jungen Frau auf.

»Wo bist du heute bloß mit deinen Gedanken, Hans Peter?« fragte Christian Ahlers, sein Geschäftsfreund, anzüglich. »Du bist überhaupt nicht bei der Sache. Sollen wir die Angelegenheit nicht auf morgen vormittag verschieben?«

»Ach, was, Christian, entschuldige, laß uns weitermachen. Es ist schon wieder in Ordnung. Weißt du, ich hatte heute eine Begegnung, die mir nicht aus dem Kopf geht. Doch wenden wir uns wieder dem Ernst des Lebens zu. Bis wann, sagtest du, sollen die fertigen Pläne für eure neue Anlage vorliegen?«

»In vier Wochen, Hans Peter. Ich denke aber doch, daß du das Rennen machen wirst.«

»Na, mein Lieber, dein Wort in Gottes Ohr. Aber um es ehrlich zu sagen, gefallen würde mir das schon, obwohl ich mich auch so über zu wenig Arbeit nicht beklagen kann.«

»Das freut mich für dich, Hans Peter. Andererseits, eine gewisse Konkurrenz muß schließlich auch sein. Und nun zum nächsten Punkt, damit wir vorankommen.«

Während der nächsten eineinhalb Stunden gelang es Hans Peter, sich nur auf die beruflichen Belange zu konzentrieren.

Christian Ahlers sagte am Ende dieser ersten Besprechung aufgeräumt: »Wie wäre es, Hans Peter, wenn du heute abend zu uns zum Abendessen kommen würdest? Regina würde sich bestimmt sehr freuen, dich einmal wiederzusehen. Außerdem haben wir noch einen Gast. Eine Freundin Reginas, die uns besucht. Sie schläft zwar im Hotel, da wir im Augenblick umbauen, doch über Tag ist sie bei uns, oder die beiden Frauen unternehmen etwas. Eine sehr hübsche und intelligente junge Frau. Sie wird dir gefallen. Da du sowieso noch immer solo bist, könnten wir ja schließlich außerhalb der geschäftlichen Termine gemeinsam etwas unternehmen. Sei kein Frosch und sag schon zu.«

»Ich weiß nicht so recht, Christian. Ich möchte auf keinen Fall stören.«

»Unsinn, Hans Peter, wir kennen uns schließlich schon lange genug. Wie kommst du auf die absurde Idee, daß du stören könntest? Kein Drumherum, oder läufst du lieber allein in der Stadt herum?«

»Gut, Christian, wenn dir soviel daran liegt, ich werde pünktlich kommen. Ich freue mich natürlich auch, deine Frau wiederzusehen. Seit unserem letzten Zusammentreffen ist immerhin inzwischen fast ein Jahr vergangen.«

»Leider, alter Junge, aber das lag ja wohl immer an dir. Nachdem du dich von Sabine getrennt hattest, hast du dich ja immer mehr zurückgezogen von deinen Bekannten und Freunden. Meinst du nicht, daß es langsam Zeit wird, das alles wieder zu ändern? Wir kennen uns lange und gut genug, daß ich dir sagen kann, daß nicht alle Frauen gleich sind. Sabine hat inzwischen wieder geheiratet, und du solltest deiner Tochter wegen schon nicht allein bleiben. Die Kleine müßte doch jetzt auch schon dreizehn sein, oder?«

»Ja, Saskia ist dreizehn und in einem sehr schwierigen Alter. Sie ist so­ auf mich fixiert, daß mir kaum noch genug persönliche Freizeit bleibt.«

»Siehst du, da hast du es schon. Du solltest schleunigst zusehen, daß sich das ändert. Wenn ich da an meine beiden denke, die sind sehr selbständig und hängen weder mir noch Regina zuviel am Rockzipfel. So soll es ja schließlich auch sein. Nun, wie auch immer, du solltest ruhig mal darüber nachdenken. Machen wir jetzt hier Schluß, wir sehen dich dann heute abend bei uns.«

»Genau, Christian. Bestell Regina bitte inzwischen schöne Grüße von mir.«

»Ich werde es bestimmt nicht vergessen.«

Mit einem freundschaftlichen Händedruck trennten sich Hans Peter Behring und Christian Ahlers.

*

Gutgelaunt betrat Christian Ahlers sein Haus. Mit einem zärtlichen Kuß begrüßte er seine junge Frau und fragte: »Wo steckt denn deine Freundin, Regina?«

»Andrea ist noch einmal ins Hotel gefahren, um sich umzukleiden. Es ist aber auch zu dumm, daß sie nicht hier bei uns übernachten kann. Ihr Besuch kommt vier Wochen zu früh. Wie war dein Tag?«

»Alles bestens, Regina. Die Besprechung mit Hans Peter ist völlig zu unserer beider Zufriedenheit verlaufen. Ich denke, es wird auch weiter so sein, auch wenn wir ab morgen vormittag nicht mehr allein verhandeln. Ich habe ihn übrigens für heute abend zum Essen eingeladen. Es ist dir doch recht, nicht wahr? Ich soll dich schon mal recht herzlich von ihm grüßen!«

»Danke, Christian, und selbstverständlich ist mir diese Einladung recht. Hans Peter hat sich sowieso viel zu lange nicht bei uns sehen lassen. Ich freue mich auf ihn. Gleichzeitig haben wir mit ihm auch einen Gesprächspartner für Andrea. Das wäre doch die Gelegenheit, vielleicht nach dem Essen noch etwas zu unternehmen. Was hältst du davon?«

»Ich finde es gut, wenn auch unsere Gäste damit einverstanden sind. Ich werde es schon hinbiegen. Wo stecken Melanie und Dirk?«

»Die sind heute doch auf der Geburtstagsfeier ihrer Klassenkameraden. Bis einundzwanzig Uhr habe ich beiden für heute Ausgang gegeben. Sie sind also gut aufgehoben. Sollten wir das Haus noch verlassen, so wird sich Erna um sie kümmern. Ich muß der Erna Bescheid geben, daß wir heute abend noch einen Gast haben. Was machst du jetzt? Möchtest du etwas trinken?«

»Ich gehe erst nach oben duschen. Anschließend würde ich mich freuen, wenn du mir bei einem Sherry Gesellschaft leisten würdest.«

Als Hans Peter gegen neunzehn Uhr bei Ahlers eintraf, öffnete ihm ein adrett gekleidetes Hausmädchen die Tür und führte ihn ins Wohnzimmer.

Lächelnd reichte er Regina Ahlers einen Strauß weißer Nelken und begrüßte sie herzlich. Als er zur Seite sah, weiteten sich seine Augen verblüfft.

Wie durch einen ganz dicken Wattebausch hörte er Christian sagen: »Darf ich vorstellen? Das ist Reginas Freundin, Andrea Severin. Und das hier, Andrea, ist ein guter Freund und Geschäftspartner, Hans Peter Behring.«

Eine schmale Hand streckte sich ihm entgegen, und ihre dunkle melodische Stimme, die er unter hunderten erkannt hätte, sagte: »Ich freue mich, Sie noch einmal wiederzusehen, Herr Behring.«

»Ihr kennt euch schon, Hans Peter?« kam es erstaunt von Christians Lippen.

»Kennen ist zuviel gesagt. Ich hatte mit Frau Saskia nur eine kurze Begegnung an der Eingangstür meines Hotels. Vereinfacht gesagt, hatten wir es beide sehr eilig und waren an der Tür zusammengeprallt. Um so mehr freue ich mich, Sie jetzt näher kennenzulernen, Frau Severin.«

Es dauerte auch nicht mehr lange, und das Abendessen war angerichtet, in dessen Verlauf sich eine angeregte Unterhaltung entwickelte.

Hans Peter und Andrea waren auch sofort einverstanden, als Christian das Gespräch darauf brachte, später noch auszugehen.

»Fahren wir mit meinem Wagen?« bot Christian sich an.

»Mit deinem und mit meinem«, antwortete Hans Peter. »Es vereinfacht später die Rückfahrt, und da Frau Severin im gleichen Hotel ein Zimmer hat, kann ich dann sofort mit ihr zum Hotel fahren.«

»Prima, so gesehen hast du natürlich recht. Also, auf geht’s, machen wir uns auf den Weg.«

In fröhlicher Stimmung verließen sie das Haus, nachdem sie sich noch abgesprochen hatten, wo es hingehen sollte.

Sie fuhren zu einer kleinen Bar, in der auch getanzt wurde. Vier Menschen, die sich gut verstanden und ein paar fröhliche Stunden verlebten. Es war schon Mitternacht vorbei, als sie den Abend beendeten, denn Christian und Hans Peter mußten ja für den kommenden Vormittag wieder fit sein, um in ihren geschäftlichen Angelegenheiten weiterzukommen.

Hans Peter brachte Andrea bis vor ihre Zimmertür. Ihre Rechte ein wenig länger haltend, sagte er warm: »Es ist recht eigenartig, Frau Severin, aber Sie geben mir das Gefühl, Sie schon recht lange zu kennen. Es war ein so schöner Abend, ich möchte ihn­ gern mit Ihnen wiederholen. Ich würde Sie gern wiedersehen. Bitte, sagen Sie nicht nein. Am liebsten wäre mir wirklich gleich morgen nachmittag.«

»Morgen nachmittag geht es nicht, da ich mit Regina verabredet bin, Herr Behring.«

»Und morgen abend? Bitte, machen Sie mir die Freude und nehmen Sie meine Einladung an. Wir könnten zuerst ein gutes Restaurant aufsuchen und danach entscheiden, wie wir den angebrochenen Abend fortsetzen wollen. Ich möchte Sie näher kennenlernen.«

Einen Moment zögerte Andrea noch, doch sein bittender Blick gab schließlich den Ausschlag. Während sich ihre Wangen färbten, sagte sie leise: »Einverstanden, Herr Behring, ich bin dann so gegen zwanzig Uhr unten in der Halle und warte auf Sie. Ist das früh genug?«

»Ja, und ich freue mich schon jetzt auf den morgigen Abend mit Ihnen. Jetzt will ich Sie nicht länger aufhalten. Ich wünsche Ihnen eine gute Nacht und angenehme Träume.«

Sanft ihre Hand mit seinen Lippen streifend, verabschiedete sich Hans Peter und suchte nun sein eigenes Hotelzimmer auf. In seinem Herzen war ein Gefühl der Sehnsucht und Zärtlichkeit, wie er es lange Zeit nicht mehr gefühlt hatte. Sollte es für ihn doch noch einmal ein neues Glück geben? In dieser Nacht nahm er ihr liebes Lächeln, ihr Gesicht mit den großen blauen Augen mit in seine Träume. Er ahnte nicht, daß einige Türen weiter eine junge Dame mit heftig klopfendem Herzen in den Kissen lag und genau das gleiche empfand.

Dem ersten Abend folgten weitere. Mal verbrachten Hans Peter und Andrea diese Abende mit Christian und Regina, mal allein. Noch vor Ablauf der Zeit, die für alle geschäftlichen Angelegenheiten vorgesehen war, stand für ihn fest, daß nur Andrea seine zweite Frau und damit auch Saskias neue Mutter werden würde.

Andrea war als Frau so, wie er sich vor vielen Jahren Sabine gewünscht hatte. Sie hatte ein sehr weichherziges und liebevolles Wesen, und wie er sein Mädel kannte, würde sich ihr Herz schon sehr schnell Andrea zuwenden.

An seinem letzten Abend saßen sie unten im Hotelrestaurant bei einer Flasche Wein beieinander und sprachen über ihre Zukunft.

Über den Tisch hinweg umspannte er mit zärtlichem Druck ihre schmalen Hände und sah ihr selbstvergessen in die wunderschönen Augen.

»Mein Liebes«, raunte er weich. »Ich kann es kaum erwarten, Saskia die wunderschöne Neuigkeit mitzuteilen. Im Sturm wirst du ihr junges Herz gewinnen.«

Andrea Severin, die lange Zeit als Kindergärtnerin gearbeitet hatte, war sich nach allem, was Hans Peter über seine dreizehnjährige Tochter erzählt hatte, dessen nicht so sicher. Obwohl auch sie ihn von ganzem Herzen liebte und es ihr Wunsch war, ihr Leben und ihre Zukunft mit ihm zu teilen, wußte sie doch aus Erfahrung, daß alles nicht so einfach sein würde. Der Wunsch allein, Hans Peters Tochter eine liebevolle Mutter zu werden, war nicht genug. Sie hatte doch ihre Bedenken. Sie hielt diese auch nicht zurück und sagte sanft: »Das kannst du nicht tun, Hans Peter. Du kannst doch deine Tochter nicht vor vollendete Tatsachen stellen. Du mußt sie ganz behutsam auf die Veränderung in ihrem jungen Leben vorbereiten. Sie sollte mich zuerst ganz unbeeinflußt kennenlernen. Nicht nur einmal, sondern über eine längere Zeit hinweg.

Du darfst eines nicht vergessen, daß Saskia mit dreizehn Jahren kein kleines Kind mehr ist und ihre eigenen Vorstellungen und Wünsche hat. Wir dürfen sie nicht einfach überrumpeln. Du mußt dir alles genau überlegen.«

»Geh, Liebes, du machst dir da unnötige Sorgen. Ich kenne doch meine Saskia«, winkte Hans Peter lächelnd ab und zog mit einer zärtlichen Geste ihre Hände an seine Lippen.

»Ich weiß nicht, ich habe da ein ungutes Gefühl, Hans Peter.«

*

Glücklich und zufrieden fuhr Hans Peter Behring am nächsten Tag in Richtung Heimat. Eine kleine Aufmerksamkeit für Fränzi und hübsche Geschenke für Saskia hatte er, wie auf jeder seiner Geschäftsreisen, besorgt. Er freute sich nach diesen Tagen ganz besonders auf das Heimkommen, denn er war schon zu diesem Zeitpunkt sehr gespannt, was Saskia zu der wunderschönen Nachricht, bald eine neue Mutter zu bekommen, sagen würde. Andreas Bedenken schob er weit von sich. Nicht stückweise, sondern sofort im Ganzen sollte sein Mädel an seinem Glück teilhaben und sich darauf freuen, Andrea recht bald kennenzulernen.

Als er am Spätnachmittag in der Heidestraße vor seinem Haus vorfuhr und seinen Wagen verließ, kam Saskia mit wehenden Haaren aus dem Haus gelaufen und fiel ihm um den Hals.

»Endlich, Paps, ich habe schon gedacht, du kommst überhaupt nicht mehr zurück.«

»Na, na, na, mein Mädchen. Wenn ich sage, daß ich am Donnerstag zurückkomme, dann komme ich auch. Du mußt nicht immer gleich so ungeduldig sein. Ich freue mich, dich so gesund und munter zu sehen. Warst du auch brav und vernünftig, während ich fort war, oder muß ich von Fränzi Klagen hören?«

»Aber Vati, du tust geradeso, als ob ich noch ein kleines Baby wäre. Ich bin ganz prima mit Fränzi ausgekommen. Du kannst sie ja gleich selbst fragen.« Entrüstet blitzten Saskias Augen Hans Peter an.

»Es war auch nur ein Scherz, mein Schatz«, beruhigte Hans Peter die Dreizehnjährige und schmunzelte in sich hinein. So war sie eben, seine Tochter. Anlehnungsbedürftig und nach Liebe und Zärtlichkeit verlangend, wie ein kleines Mädchen, und auf der einen Seite dann wieder wollte sie behandelt werden wie eine Große.

»Sei lieb und lauf schon ins Haus. Ich hole nur rasch meinen Koffer und meine Aktentasche aus dem Wagen, dann komme ich auch.«

»Darf ich nicht deinen Koffer ins Haus tragen, Paps?«

»Der ist zu schwer für dich. Wenn du unbedingt willst, nimm meine Tasche.« Hans Peter lächelte verschmitzt, als er den Kofferraum seines Wagens öffnete und sagte: »Da, neben meiner Tasche, die beiden Pakete sind für dich. Mal sehen, ob ich dir von dieser Reise das Richtige mitgebracht habe. Nun lauf schon ins Haus und schau endlich nach.«

»Oh, Paps, du bist der liebste und beste Paps der ganzen Welt. Danke, danke.«

Stürmisch umarmte Saskia ihren Vater und eilte im nächsten Augenblick mit ihren beiden Paketen ins Haus. Es war kein Rede mehr von Koffer oder Tasche ins Haus tragen.

Langsam, sich mit frohen Augen umsehend, folgte Hans Peter seiner Tochter ins Haus. Seine Gedanken gingen dabei zu der geliebten Frau. Schon sehr bald würde er sie zu sich und Saskia in sein Haus holen, und sie würden sehr glücklich sein.

Im Haus wurde er von Fränzi begrüßt, die einen kleinen Imbiß vorbereitet hatte.

»Was ist denn in Saskia gefahren, Herr Behring? Wie ein geölter Blitz ist sie an mir vorbei in ihr Zimmer gerannt«, wollte Fränzi wissen, während sie ihm den Imbiß servierte.

»Was soll schon mit ihr sein, Fränzi. Es ist nur die Neugierde. Sie wollte meine Mitbringsel auspacken. Wir werden sicher gleich von ihr hören. Hier, das ist für Sie. Ich hoffe, es gefällt Ihnen.«

Hans Peter schob Fränzi ein kleines Päckchen zu.

»Das sollen Sie doch nicht machen, Herr Behring. Sie zahlen mir so schon ein großzügiges Gehalt.« Verlegen drehte Fränzi das kleine Päckchen hin und her.

»Es ist nur eine kleine Aufmerksamkeit für Ihre treue Mitarbeit in meinem Haus. Es macht mir Freude. Öffnen Sie es ruhig.«

Lächelnd beobachtete Hans Peter Fränzi, die ihr Päckchen auseinanderwickelte und eine zauberhafte Kameebrosche zutage brachte.

»Das soll für mich sein? Sie ist wunderschön, Herr Behring. Ich bedanke mich sehr.«

Hans Peter kam nicht dazu, noch etwas darauf zu erwidern, denn in diesem Moment kam Saskia ins Zimmer gestürmt und rief strahlend aus: »Fränzi, Fränzi, sieh nur! Ist das nicht irre, was Paps mir von seiner Reise mitgebracht hat?« Kokett drehte sie sich vor Fränzi und ihrem Vater im Kreis herum.

Sie sah aber auch zu reizend aus in dem modischen taubenblauen Jeansanzug und den dazu passenden Westernstiefeletten.

»Habe ich es also richtig gemacht, Mädel?« wollte Hans Peter augenzwinkernd wissen.

»Ganz toll, Paps. Da werden die Mädchen in meiner Klasse aber morgen Augen machen. Ich darf es doch morgen früh zur Schule anziehen, oder?«

»Natürlich, Saskia. Zum Anziehen habe ich es ja schließlich gekauft. Ich freue mich, daß es dir gefällt. Und die beiden Bücher, gefallen sie dir auch?«

»Klar, Paps. Ich lese gleich noch etwas. Du willst dich bestimmt erst von deiner langen Fahrt ausruhen. Ich werde ganz leise sein und dich auch nicht stören. Jetzt ziehe ich mich erst wieder um.« Erneut hatte Saskia es sehr eilig, das Zimmer zu verlassen, und mit einem nachsichtigen Lächeln sah Hans Peter hinter seiner Tochter her.

Fränzi musterte ihn prüfend und sagte: »Sie kommen mir irgendwie verändert vor, Herr Behring. So von innen heraus entspannt. Sie haben sicher Erfolg auf Ihrer Geschäftsreise erzielt, nicht wahr?«

»Kann man so sagen, Fränzi. Es waren erfolgreiche und sehr schöne Tage. Ich kann Ihnen soviel sagen, daß sich hier im Hause in Zukunft einiges ändern wird.«

»Für mich, Herr Behring?«

»Nein, Fränzi, für mich und Saskia. Sie betrifft es nur im weiteren Sinn, ansonsten wird für Sie durch die Veränderung alles beim alten bleiben. Ich muß es Ihnen einfach schon heute sagen. Es wird nicht mehr lange dauern, und Saskia wird eine neue Mutter bekommen. Nun, was sagen Sie zu dieser Neuigkeit?«

»Was soll ich dazu sagen, Herr Behring? Es ist doch wunderbar, wenn Sie endlich ein neues Glück gefunden haben. Es wurde auch langsam Zeit. Wann werden Sie es Saskia sagen?«

»Morgen, wenn Saskia aus der Schule kommt. Ich wünsche mir sehr, daß sie genauso glücklich ist, wie ich es bin. Ich habe eine zauberhafte und warmherzige Frau kennengelernt. Sie werden sie auch sehr mögen, da bin ich mir sicher. Wir werden auch nicht zu lange mit der Hochzeit warten. Lassen Sie sich vor Saskia nichts anmerken. Sie soll es erst morgen von mir hören.«

»Ich werde mich hüten, Herr Behring. Ich möchte Sie aber bitten, es dem Mädel sehr behutsam zu sagen. Man weiß nie, wie so ein junges Ding reagiert. Es ist immerhin eine einschneidende Veränderung für Saskia.«

»Genau die gleichen Worte hat gestern abend auch Andrea, meine zukünftige Frau, zu mir gesagt, aber ich teile diese Bedenken nicht. Ich kenne schließlich mein Mädel gut genug. Sie werden sehen, Fränzi, es wird alles bestens verlaufen. Ich bin da ganz sicher. Mein Mädel liebt mich doch, es wird auch seine neue Mutter liebhaben.«

»Sie müssen es ja wissen, Herr Behring«, entgegnete Fränzi, doch ihre zweifelnden Blicke meinten etwas ganz anderes. Sie persönlich glaubte nicht daran, daß alles so einfach sein würde.

*

Als Saskia am nächsten Tag aus der Schule kam, staunte sie nicht schlecht, ihren Vater anzutreffen.

»Du bist schon daheim, Paps? Das ist aber schön. Fahren wir heute nachmittag wieder spazieren?«

»Ich war heute überhaupt noch nicht aus dem Haus, Mädel. Ich hatte noch so einiges zu erledigen. Wir fahren heute auch nicht spazieren. Wir werden jetzt mit Fränzi zu Mittag essen.

Und ich habe eine wunderschöne Neuigkeit für dich. Wenn du sie hörst, wirst du ganz bestimmt sehr glücklich sein.«

»Erzählst du es mir jetzt, Paps? Was ist es denn? Fahren wir bald in den Urlaub in den Süden?«

»Es ist etwas viel Schöneres, was ich dir zu sagen habe. Hör mir gut zu. Du bist mit deinen dreizehn Jahren ja schon ein großes und vernünftiges Mädchen. Du weißt auch, daß ich dich sehr lieb habe, nicht wahr?«

»Ja, Paps, ich hab’ dich auch sehr lieb.« Zärtlich schmiegte sich Saskia an ihren Paps.

»Das ist auch sehr schön.« Liebevoll legte Hans Peter einen Arm um Saskia. »Aber sieh mal. Ich bin ein erwachsener Mann, und es ist jetzt schon über drei Jahre her, daß ich allein bin und auch du ohne deine Mutti auskommen mußt. Doch bald sind wir zwei nicht mehr allein. Ich habe mich dazu entschlossen, schon sehr bald wieder zu heiraten. Andrea heißt die Frau, die ich sehr liebe und die schon sehr bald deine neue Mutti werden möchte. Nun, mein Mädchen, ist das nicht eine wunderschöne…?«

»Nein, nein, ich will keine neue Mutti! Ich will sie nicht!« unterbrach Saskia ihren Vater mit schriller Stimme und befreite sich mit einem Ruck aus seiner liebevollen Umarmung. Sie sprang hoch und mit flammenden Blicken stieß sie hervor: »Ich will nicht, ich will nicht! Du bist ja so gemein! Es war so schön mit dir, und wir brauchen keine neue Mutti.«

Ehe sich Hans Peter wieder fassen konnte, stürmte sie aus dem Zimmer und schlug die Tür mit einem lauten Knall hinter sich zu.

*

Nachdem der Vater ihr die ungeheure Eröffnung gemacht hatte, war Saskia aufs höchste erregt nach oben in ihr Zimmer gelaufen. Sie warf sich quer über ihr Bett.

Wild trommelten ihre zu Fäusten geballten Hände auf die Bettdecke. Abwehr, Trotz und Furcht wühlten ihr Herz auf. Verzweifelt und zornig zischte sie: »Ich will keine neue Mutti, und wir brauchen auch keine.« Peinigende Gedanken tauchten auf. Gedanken und Erinnerungen an ihre Mutti, die sie überhaupt nicht lieb gehabt hatte. Sie hatte sie immer nur beiseite geschoben und von Saskia verlangt, spielen zu gehen und sie in Ruhe zu lassen.

Saskia Mutter hatte nie Zeit gehabt. Und immer nur hatten sich Paps und Mutti laut angeschrien und gezankt. Alles war so schön gewesen, seit die Mutti fortgegangen war. Es sollte so bleiben. Nur sie, Paps und Fränzi. Jemand anderen brauchten sie nicht.

»Nein, ich will nicht, und ich will nicht!« kam es erneut über Saskias Lippen, und sie begann, hemmungslos zu weinen.

Wie von einer Hummel gestochen fuhr sie hoch, als sich plötzlich eine Hand auf ihre Schulter legte und Fränzi mit weicher Stimme sagte: »Aber, aber, Mädel, was ist denn nur mit dir los? Du warst doch vorhin so fröhlich.«

»Ich hasse sie, ich hasse sie, Fränzi. Warum ist Paps so gemein? Er hat gesagt, daß er heiraten will. Sie soll eine neue Mutter für mich sein. Ich will aber keine neue Mutter haben. Ich habe doch Paps, und er hat mich. Wir brauchen keine Fremde. Ich hasse die Frau, die mir Paps fortnehmen will.«

»Was redest du da nur für einen Unsinn, Saskia? Wie kann man einen Menschen hassen, den man noch nicht einmal kennt? Wer dich hört, muß dich für ein kleines, unvernünftiges Ding halten, dabei bist du schon dreizehn Jahre alt. Mit dreizehn Jahren müßtest du alt genug sein, um zu begreifen, daß dein Paps sich noch einmal ein neues Glück schaffen will. Er wünscht sich eine liebe Frau und dazu für dich eine neue Mutter. Dein Paps hätte vielleicht besser daran getan, nicht so mit der Tür ins Haus zu fallen, doch ich kann ihn verstehen. Sieh mal, Saskia, dein Paps und deine Mutti hatten sich nicht gut verstanden, und es war am Ende das Beste, daß sie sich getrennt hatten. Schau sie dir an, vielleicht magst du sie, und du hast ganz umsonst so ein Theater veranstaltet.«

»Nein, Fränzi, ich werde sie niemals mögen. Meine Mutti wollte mich nicht mehr, und eine andere will ich nicht. Ich will nur meinen Paps.«

Nun war Fränzi doch innerlich sehr betroffen. Die letzten Worte der Dreizehnjährige sagten so viel aus. Sie zeigten, wie es in Wirklichkeit um das Seelenleben Saskias aussah. Da hatten der Vater und auch sie geglaubt, daß sich das Mädel mit der Trennung von seiner Mutter abgefunden hatte, und nun dieser Ausbruch. Einmal so, einmal so, da waren so viele Widersprüche. Sie selbst kam im Augenblick nicht damit klar. Was sollte sie dem Mädel darauf antworten? Es war ja keinem guten Zureden zugänglich. So sagte sie nur sanft: »Nicht alle Frauen sind böse. Du darfst dich da nicht in etwas hineinsteigern. Trockne jetzt deine Tränen, geh zu deinem Paps und sag ihm, daß es dir leid tut. Sei vernünftig.«

»Nein, es tut mir ja gar nicht leid. Geh, Fränzi. Laß mich in Ruhe, ich will allein sein.«

Fränzi sah nun endgültig ein, daß im Augenblick alles Reden keinen Sinn hatte. Je mehr man dagegenhielt, um so mehr steigerte sich Saskia da in etwas hinein.

*

Die Tage vergingen, und Saskia begann sich zunehmend zu verändern. Das Mädel zog sich völlig in sich selbst zurück. Da waren keine Tränen und kein leidenschaftliches Aufbäumen mehr. Während sich Hans Peter Behring in seinem Glauben bestärkt fühlte, daß sich seine Tochter mit der neuen Situation abgefunden hatte, wurde Fränzi immer sorgenvoller. Im Haus war es so still geworden. Wo noch vor kurzer Zeit das glückliche Lachen und die lebhafte Stimme Saskias durch die Räume schallten, war kaum noch etwas zu hören. Das Mädchen sprach nur, wenn es unbedingt sein mußte, ansonsten schlich es mit gesenktem Kopf durch das Haus. Wohin sollte das nur noch führen?

Während Fränzi das alles nicht entging, war Hans Peter darauf bedacht, Andrea sehr bald für immer in sein Haus zu holen. Es waren noch keine vierzehn Tage vergangen, seit er Saskia zum erstenmal von Andrea berichtet hatte, als er am Abend Fränzi in sein Arbeitszimmer bat.

»Bitte, Fränzi, setzen Sie sich doch. Ich möchte gern etwas mit Ihnen besprechen.«

Fränzi ahnte schon, was kam. Sie nahm Platz und sah Hans Peter abwartend an.

»Es geht um Frau Severin, Fränzi. Sie kommt schon in den nächsten Tagen nach Lüneburg und wird am Sonnabend zu uns ins Haus kommen, um Saskia kennenzulernen. Es wird zugleich auch der Tag sein, an dem wir unser Aufgebot bestellen. Ich möchte Sie bitten, dafür zu sorgen, daß es ein gemütlicher Tag wird.«

»Gern, Herr Behring, Sie können sich ganz darauf verlassen. Haben Sie es Saskia schon gesagt? Ich mache mir große Sorgen. Das Mädchen hat sich beängstigend verändert.«

»Das ist alles nur Trotz, Fränzi. Ich bin mir sicher, daß sich das sofort ändern wird, wenn sie am Sonnabend endlich ihre zukünftige Mutter kennenlernt. Wir haben dem Mädchen jetzt lange genug Zeit gelassen, sich an den Gedanken zu gewöhnen. Jeder Tag, den wir ungenutzt vergehen lassen, ist ein verlorener Tag. Je eher alles über die Bühne geht, um so besser wird es für Saskia sein, sich daran zu gewöhnen, eine neue, liebevolle Mutter zu bekommen.«

Hans Peter bemerkte Fränzis zweifelnde Blicke und sagte: »Sie sehen das alles anders, Fränzi, aber ich kann Sie nur bitten, helfen Sie dem Mädel dabei. Und noch etwas. Für Sie ändert sich nichts, wenn wieder eine Frau im Haus sein wird, denn Andreas Hauptaufgabe, die sie sich gestellt hat, ist, sich um Saskia Wohlergehen zu kümmern. Sie wird Ihnen gefallen, wenn Sie sie am Sonnabend kennenlernen.«

»Und die Hochzeit selbst, Herr Behring? Soll es eine große Feier geben?«

»Nein, Fränzi. Wir werden standesamtlich heiraten und im Anschluß daran in der Stadt mit unseren Trauzeugen und Saskia und Ihnen gemeinsam in einem Restaurant ein Sektfrühstück zu uns nehmen. Das ist dann schon alles, und wir fahren in unser Haus zurück. Doch das werden wir noch alles genau besprechen, wenn es soweit sein wird. Mit Saskia werde ich am Freitag reden und sie auf den Besuch vorbereiten. Alles klar, oder haben Sie noch Fragen?«

»Mir ist alles klar, Herr Behring. Ich werde tun, was ich kann.«

Der Freitag kam. Hans Peter Behring verließ sein Büro an diesem Tag schon zur Mittagszeit. Er wollte gleich nach Tisch mit Saskia reden, ihr sagen, daß Andrea am kommenden Tag ihren ersten Besuch in seinem Haus machen würde.

Nach Beendigung der Mahlzeit, Saskia hatte wieder einmal wie ein kleiner Spatz gegessen, wollte sie sich eilig entfernen, um in ihr Zimmer hinaufzugehen.

»Bitte bleib sitzen, Mädel, ich habe mit dir zu reden.«

»Ja, Paps?«

Ein kleiner Hoffnungsschimmer keimte in Saskias Herz auf. Ihr Paps war so ernst, vielleicht wollte er ihr nur sagen, daß er sich alles noch einmal überlegt hätte.

Doch seine nächsten Worte ließen den winzigen Schimmer sofort wieder erlöschen.

»Hör zu, Mädel, ich möchte dir gern sagen, daß wir morgen nachmittag ganz lieben Besuch bekommen. Andrea kann es kaum noch erwarten, dich endlich kennenzulernen. Ich erwarte von dir, daß du dich morgen wie ein wohlerzogenes und vernünftiges Mädel benimmst. Hast du mich verstanden?«

Sekundenlang sah Saskia ihren Paps aus großen, dunklen Augen an, und um ihren Mund lief ein verdächtiges Zucken. Danach senkte sie den Kopf und fragte mit tonloser Stimme: »Darf ich nun in mein Zimmer gehen, Paps?«

»Ich habe dich gefragt, ob du mich verstanden hast? Mein Gott, Mädchen, mach es mir und dir doch nicht unnötig schwer. Ich will für uns beide nur das Beste. Auch wenn wir bald nicht mehr allein sind, habe ich dich noch genauso lieb. Stell endlich das Böckchen in die Ecke und sei wieder mein liebes Mädchen.«

»Ich habe dich verstanden, Paps. Darf ich nun gehen?« kam es ohne Regung von Saskia Lippen und sie hielt weiter beharrlich den Kopf gesenkt.

*

Am Abend saßen Andrea Severin und Hans Peter Behring in einer kleinen Weinstube beisammen, und er berichtete ihr, daß sich im Verhalten Saskias noch immer nichts geändert hatte. Er schloß: »Ich weiß jetzt, daß ich nicht den richtigen Weg eingeschlagen habe, Liebling. Leider läßt es sich nicht mehr ändern.«

»Ich werde alles versuchen, wenigstens die Freundschaft deiner Tochter zu erringen, Hans Peter. Ich glaube daran, daß ich es schaffen werde. Ich habe es in meinem Beruf zwar immer nur mit kleineren Kindern zu tun gehabt, doch da es ja um unser gemeinsames Glück geht, fürchte ich mich auch nicht vor dieser Aufgabe. Ich liebe dich und wünsche mir von ganzem Herzen, daß der Tag recht bald kommt, an dem ich deinem Mädchen eine liebevolle Mutter sein darf.«

»Das wünsche ich mir auch, mein Liebes, und ich zähle schon jetzt die Tage und Stunden, bis du für immer bei mir und Saskia bist. Die erste Hürde morgen wirst du spielend meistern. Jetzt reden wir nicht mehr über Saskia und die damit verbundenen Probleme, sondern nur von uns. Einverstanden?«

»Ja, du Lieber, du, einverstanden.«

Es war fast Mitternacht, als sich Hans Peter zärtlich von Andrea verabschiedete.

Am nächsten Tag war es dann soweit.

Da sich Saskia, wie schon an den vergangenen Tagen, direkt nach dem Mittagessen schmollend in ihr Zimmer zurückgezogen hatte und auch nicht mehr zum Vorschein kam, bis Hans Peter Behring das Haus verließ, bat er Fränzi: »Sorgen Sie bitte dafür, daß Saskia nachher unten ist, wenn ich mit unserem Besuch zurückkomme. Ich hoffe nur, daß sie sich Andrea gegenüber vernünftig benimmt. Wir werden in einer halben bis dreiviertel Stunde hier sein.«

»Fahren Sie nur, Herr Behring, es wird schon alles gutgehen. Saskia wird sich ganz bestimmt nicht daneben benehmen. Ich werde schon dafür sorgen.«

»Gut, ich verlasse mich darauf«, erwiderte der Hausherr und ging aus dem Haus.

Fränzi, die soweit alles vorbereitet hatte, ging auch sofort nach oben und betrat das Mädchenzimmer.

Saskia saß an ihrem Schreibtisch und tat so, als würde sie in einem Buch lesen.

»Saskia, was soll das denn? Du bist ja noch nicht einmal umgezogen. Du willst doch wohl euren Besuch nicht in deinen alten Jeans begrüßen? Komm, sei vernünftig und kleide dich rasch um.«

»Ich mag aber nicht, Fränzi. Wenn Paps die fremde Frau schon mitbringt, dann soll sie mich ganz garstig finden.« Trotzig sah sie Fränzi an. Doch diese erwiderte darauf ganz resolut: »Das kommt überhaupt nicht in Frage. Du willst jemanden ärgern, den du überhaupt noch nicht kennst, und machst damit nur deinen Paps sehr traurig. Du willst doch wohl nicht, daß wir uns für dich schämen müssen? Oder willst du das?«

»Nein, Fränzi«, kam es nun kleinlaut von Saskias Lippen.

»Dann sind wir uns ja einig. Soll ich dir rasch helfen? Ich muß mich nämlich gleich um den Kaffee kümmern.«

»Ich kann das schon allein, Fränzi, geh ruhig wieder hinunter.«

»Gut, ich verlasse mich darauf, daß du heute keinen Ärger machst. Mach dich hübsch, das wird auch deinen Paps freuen.«

Fränzi legte gerade letzte Hand an den hübsch gedeckten Kaffeetisch, als sie den Wagen des Hausherrn vorfahren hörte. Neugierig sah sie durch die Fensterstores und erkannte eine sehr hübsche junge Frau, die gerade ausstieg. Das hellblonde lange Haar fiel in weichen Wellen über die Schultern und glänzte im strahlenden Sonnenlicht. Neben Hans Peter Behring kam die schlanke Frau nun durch den Vorgarten auf das Haus zu, und Fränzi beeilte sich zur Haustür zu kommen, um zu öffnen. Dabei rief sie laut nach oben: »Saskia, komm bitte herunter, dein Paps ist mit eurem Besuch da.«

Fränzi öffnete die Haustür und sah sich dem Hausherrn und seiner zukünftigen Frau gegenüber.

»Da sind wir, Fränzi. Darf ich Ihnen Frau Andrea Severin vorstellen? Und das, Andrea, ist Fränzi, der gute Geist unseres Hauses«, stellte Hans Peter Behring vor.

»Ich freue mich, Sie kennenzulernen, Fränzi. Ich darf Sie doch Fränzi nennen?« sagte Andrea mit dunkler Stimme und streckte Fränzi lächelnd die Rechte entgegen.

»Aber selbstverständlich, Frau Severin. Auch ich freue mich. Herr Behring hat schon viel von Ihnen erzählt.«

Mit zufriedenem Gesicht sah Hans Peter, daß Fränzi und Andrea sich auf Anhieb mochten. Er legte einen Arm um Andreas Schulter, führte sie ins Haus und sagte mit weicher Stimme: »Herzlich willkommen in meinem Heim, Liebes.«

In diesem Moment sah er Saskia von oben herunterkommen.

»Das ist meine Tochter, Andrea«, sagte er lächelnd.

Andrea sah in Saskias Gesicht, die ihr ohne eine Regung zu zeigen, entgegensah. Andrea drängte die leichte Beklemmung zurück, die in ihr hochstieg, und mit weicher Stimme sagte sie, indem sie dem Mädchen mit einem herzlichen Lächeln ihre Rechte entgegenstreckte: »Guten Tag, Saskia. Es ist schön, dich endlich kennenzulernen. Ich heiße Andrea und würde mich freuen, wenn wir Freundinnen werden könnten.«

Auch jetzt regte sich noch immer nichts im Gesicht des Mädchens. Hans Peter sagte mahnend: »Saskia!«

»Guten Tag«, Saskia reichte Andrea die Hand.

Es war nur eine kurze Berührung, und als hätte sie sich verbrannt, zog das Mädchen seine Hand zurück.

Andrea tat so, als bemerkte sie es nicht, dabei hatte sie genug Erfahrung mit Kindern, um zu erkennen, daß Saskias äußerliche Ruhe nur Schau war. Nach allem, was sie von Hans Peter erfahren hatte, konnte sie sich nur darüber wundern, wieviel Selbstbeherrschung in dem jungen Ding steckte. War es Nachgeben oder war es eine heimliche Kampfansage?

Fränzi, die alles genau beobachtete, wollte keine ungute Stimmung aufkommen lassen. In ihrer netten Art, mit der sie mit Saskia umzugehen pflegte, sagte sie fröhlich: »Kommt du mit mir in die Küche, den Kaffee und deinen Kakao holen, Saskia?«

Ohne zu zögern folgte Saskia Fränzi.

Obwohl sich wenig später außer Fränzi auch Hans Peter und Andrea um eine fröhliche und lockere Stimmung bemühten, wollte eine solche nicht aufkommen. Saskia gab zwar auf Fragen leise Antworten, sagte jedoch nichts von sich aus.

Als sie dann später auf ihr Zimmer wollte, hielt Hans Peter sie auch nicht zurück, denn ihr Schweigen war für ihn nicht leichter als ihr erstes leidenschaftliches Aufbäumen.

»Was sagst du nun zu meinem Trotzkopf, Liebes?« wollte er wissen, als er Andrea am späten Abend zum Hotel brachte.

»Ich mage deine Tochter. Ich hätte mir zwar etwas mehr gewünscht, aber ich habe es mir nach allem, was du mir vorher gesagt hattest, nicht anders vorgestellt. Wir müssen ihr noch Zeit lassen, sich mit der neuen Situation auseinanderzusetzen. Sie ist ja nicht bösartig, sondern nur schockiert. Wenn ich erst für immer bei euch bin, wird sich das schon geben.«

»Ja, darauf hoffe ich auch. Noch zwei Wochen, dann bist du endlich meine geliebte Frau.«

*

Vierzehn Tage waren inzwischen vergangen, die voller Unruhe und Hektik gewesen waren. Vorbereitungen für Andreas Umzug in Hans Peter Haus mußten getroffen werden. Dazu zählte auch, daß Hans Peter den neben dem Schlafzimmer liegenden kleinen Wohnraum, in den sich seine geschiedene Frau oft zurückgezogen hatte, für Andrea neu und nach ihren eigenen Wünschen einrichten ließ. Saskia, die vorher die meiste Zeit im Haus verbracht hatte, änderte auch in diesem Punkt ihr Verhalten. Nach der Schule aß sie zu Mittag, machte danach die Hausaufgaben und ging anschließend zu irgendeiner ihrer Schulfreundinnen. So hatte sich an den vergangenen vierzehn Tagen ihr Tagesablauf eingependelt. Wenn sie beim Abendessen manchmal mit Andrea zusammentraf, war an ihrem Verhalten nichts auszusetzen. Nicht ein einziges Mal hatte sie sich äußerlich etwas davon anmerken lassen, wie es in Wirklichkeit in ihr aussah. Ihren Vater und auch Andrea konnte sie damit täuschen. Doch bei Fränzi sah das anders aus. Fränzi, die Saskia sehr genau beobachtete, die manchen sprühenden Blick aufgefangen hatte, wußte, das alles war so etwas wie die Ruhe vor dem Sturm. Ihr hatte Saskia noch nie etwas vormachen können. Sie hielt sich jedoch abwartend zurück.

Dann brach der Tag an, an dem Hans Peter seine Andrea zum Standesamt führte. Bevor er das Haus verließ, um Andrea zum letztenmal aus dem Hotel abzuholen, frühstückte er gemeinsam mit Fränzi und Saskia, die an diesem Tag vom Schulunterricht befreit war. Da am Vorabend schon alles besprochen worden war, sagte Hans Peter Behring zu Saskia: »Ich freue mich sehr darüber, daß du in den vergangenen vierzehn Tagen so vernünftig gewesen bist. Wir treffen uns dann alle später vor dem Standesamt. Nach unserer kleinen Feier im Ratskeller fahren wir gemeinsam nach Hause und werden ab heute eine Familie sein.«

Mit gesenktem Kopf hatte Saskia ihrem Vater zugehört. Ihm entging so, daß ihr Gesicht mit einem Mal ohne Farbe war.

Als er schwieg, sah sie hoch, und er war nun doch betroffen über den Ausdruck in ihren Augen. Ein Ausdruck, den er nicht richtig zu deuten wußte. Es war kein Trotz, es war eher ein verstörter Ausdruck. Er tauschte einen kurzen Blick mit Fränzi, beugte sich dann seitlich zu Saskia und ergriff ihre Hand. Dabei fragte er besorgt: »Was ist mit dir, Mädel, fehlt dir etwas? Fühlst du dich nicht wohl?«

Mit einem Ruck entzog Saskia ihm ihre Hand und antwortete leise: »Ich habe Bauchweh und mir ist ganz schlecht. Darf ich nicht zu Hause bleiben? Ich kann ja hier warten, bis ihr zurückkommt.«

»Warum schwindelst du, Mädel? Du kommst mit Fränzi mit und damit basta. Ich werde sehr böse, wenn du uns allen den heutigen Tag verderben willst. Fränzi kann dir einen Tee kochen, denn es bleibt noch viel Zeit, bis wir aus dem Standesamt kommen. Was sollen denn unsere Freunde denken, wenn meine einzige Tochter bei der Feier nicht dabei ist? Heute ist doch auch für dich ein besonderer Tag, weil du eine Mutter bekommst. Jetzt wollen wir nicht mehr davon reden. Du kommst mit Fränzi mit, und ich möchte keinen Kommentar mehr hören.«

»Ja, Paps«, kam es tonlos über Saskias Lippen. Sie schob ihren Stuhl zurück, und ehe es jemand verhindern konnte, lief sie aus dem Eßzimmer hinaus.

»Da soll doch einer. Fängt das alles wieder von vorn an, Fränzi? Da haben Andrea und ich nun geglaubt, wir hätten inzwischen das Schlimmste überstanden, und nun das.«

»Bitte, regen Sie sich nicht auf, Herr Behring. Für das Mädel ist der Tag etwas Besonderes, denn auch in ihrem jungen Leben beginnt ein neuer Abschnitt. Und wenn ich so sagen darf, dann ist das Schlimmste überhaupt noch nicht überstanden. Ich fürchte, es fängt erst richtig an. Ich werde Saskia heute ganz besonders unter meine Fittiche nehmen, damit sie keinen Unsinn macht.«

»Dann bin ich einigermaßen beruhigt. Ich kann mich jetzt nicht mehr weiter um das Mädel kümmern. Für mich wird es Zeit, mich fertig zu machen. Saskia ist ja bei Ihnen gut aufgehoben.«

»Ich mach das schon, Herr Behring. Sie werden sehen, daß Saskia den heutigen Tag keinen Ärger mehr machen wird.«

Oben in ihrem Zimmer stand Saskia mit bleichem Gesicht am Fenster. Hinter der Mädchenstirn wirbelten die Gedanken durcheinander. Wieder hatte Paps so böse mit ihr gesprochen, dabei war sie doch überhaupt nicht ungezogen gewesen. Sie hatte Paps nur etwas gefragt. Paps war gemein. Immer dachte er nur an die fremde Frau, nur noch sie hatte er lieb. Es war gar nicht mehr schön zu Hause. Und heute wollte er sie wirklich heiraten. Sie würde dann überhaupt nicht mehr fortgehen. Unwillkürlich ballten sich die Hände der Kleinen, und halblaut murmelte sie: »Ich will nicht, daß sie jetzt immer hier bleibt. Ich hasse sie, sie soll nur kommen und mich herumkommandieren, dann kann sie aber was erleben. Wir brauchen sie überhaupt nicht. Ich hasse sie, ich hasse sie und will sie nicht.«

Saskia steigerte sich so in ihre Gefühle hinein, daß sie völlig überhörte, wie hinter ihrem Rücken Fränzi ihr Zimmer betreten hatte.

»Mädel, Mädel, was brummst du dir da in den Bart hinein?«

Da zuckte Saskia wie ertappt zusammen und sah Fränzi trotzig an.

Fränzi ging zu ihr hin und legte einen Arm um Saskia Schultern. Weich sagte sie: »Du mußt vernünftig sein und darfst dich nicht in etwas hineinsteigern. Du kannst es doch nicht ändern, daß dein Paps Andrea sehr lieb hat. Wenn du erst einige Jahre älter bist, wirst du es bestimmt verstehen. Und sei einmal ehrlich. Andrea ist doch eine sehr nette junge Frau. Auch für sie ist es nicht leicht, auf einmal eine so große Tochter zu bekommen. Sei ein bißchen nett zu ihr, damit dein Paps sieht, daß er ein großes und vernünftiges Mädchen hat. Jetzt mußt du dich langsam umziehen. Wir wollen doch nachher pünktlich am Standesamt sein. Blumen müssen wir auch noch besorgen. Du wirst mich doch nicht enttäuschen, oder?«

»Ich mach doch überhaupt nichts. Was ihr nur immer habt. Soll ich Paps neuer Frau vielleicht auch noch die Füße küssen?« Saskias Augen sprühten, als sie Fränzi ansah.

»Saskia, ich bitte dich, jetzt wirst du aber unverschämt. Das Letzte möchte ich überhört haben. Ich lasse dich jetzt allein und will dich in einer Viertelstunde fix und fertig unten sehen. Ich möchte, daß du das neue Kleid anziehst, das dein Paps und Andrea dir für diesen Tag geschenkt haben.«

Bevor Saskia eine Antwort geben konnte, verließ Fränzi mit eiligen Schritten das Mädchenzimmer.

Bei sich dachte sie: Das kann ja in Zukunft noch heiter werden, wenn das Mädel seine augenblickliche Einstellung behält.

Zur großen Überraschung und Zufriedenheit der Erwachsenen verlief der Tag dann doch noch friedlich und harmonisch, und man begann, erneut aufzuatmen. Nur Fränzi traute dem Frieden noch nicht ganz. Sie kannte Saskia besser.

Die Hochzeit war vorbei und der Alltag wieder eingekehrt. Zwischen Saskia und ihrer Stiefmutter bestand vom ersten Tag an ein recht eigenartiges Verhältnis. Andrea war sanft und freundlich zu der Dreizehnjährigen. Behutsam und mit viel Geduld wollte sie zuerst die Freundschaft des Mädchens erringen. Doch da war etwas in Saskias Benehmen ihr gegenüber, das ihr vom ersten Tag im Haus eine leichte Beklemmung verursachte.

Saskia schien immer vor irgend etwas auf der Hut zu sein. In den dunk­len Augen lag, wenn sie sich unbeobachtet glaubte, ein lauernder Ausdruck. Dieses Abwarten der Dreizehnjährigen dauerte ein paar Tage an. Andrea ahnte in diesen ersten Tagen noch nicht, was da noch alles auf sie zukommen sollte.

*

Es war am Donnerstagmorgen. Saskia brauchte an diesem Tag nicht zur Schule, weil eine Lehrerkonfernz stattfand. Andrea ließ das Mädel aus diesem Grunde auch länger schlafen.

Gegen zehn Uhr sagte Fränzi: »Ich gehe dann jetzt zum Einkaufen, Frau Behring. Soll ich Saskia vorher noch wecken?«

»Gehen Sie nur, Fränzi, ich werde Saskia das Frühstück richten und sie anschließend wecken. Die Einkaufsliste haben Sie ja. Sie können meinen Wagen nehmen, der Schlüssel liegt auf dem Garderobentischchen.«

»Ich soll wirklich…?«

»Selbstverständlich, Fränzi. Ich möchte, daß Sie es in Zukunft mit dem Einkaufen etwas leichter haben«, unterbrach Andrea Fränzi mit einem herzlichen Lächeln.

»Vielen Dank, Frau Behring, dann will ich mich rasch auf den Weg machen.«

Nachdem Fränzi das Haus verlassen hatte, bereitete Andrea für Saskia das Frühstück, stellte die Milch warm und wollte gerade hinaufgehen, um das Mädel zu wecken, als sich die Küchentür öffnete und Saskia erschien.

»Guten Morgen, Saskia, ich wollte gerade zu dir hinauf. Du kannst dich sofort hinsetzen, dein Frühstück wartet schon auf dich. Ich bringe dir sofort deine Milch.«

»Wo ist Fränzi?«

»Fränzi ist zum Einkaufen gefahren, Saskia. Aber willst du mir nicht wenigstens einen guten Morgen wünschen?«

»Nein, und Frühstück mag ich auch nicht.«

»Aber Mädel, was ist denn auf einmal mit dir? Du setzt dich jetzt hin und trinkst wenigstens deine Milch.«

Saskia warf Andrea einen verächtlichen Blick zu und setzte sich an den Tisch.

Andrea holte den Milchtopf, füllte ein Glas und schob es zu Saskia hinüber.

»Ich hab doch gesagt, ich will kein Frühstück«, kam es da unbeherrscht über Saskias Lippen. Mit einer kurzen Handbewegung wischte sie das Milchglas vom Tisch.

»Du hast mir überhaupt nichts zu sagen, du bist nicht meine Mutter. Ich will dich nicht, ich hasse dich.«

»Aber Saskia, Mädchen, was ist denn nur, was habe ich dir denn getan?« Fassungslos kamen die Worte über Andreas Lippen, während sie sich bückte, um die Scherben des Glases aufzusammeln.

»Laß mich endlich in Ruhe. Du hast mir meinen Paps weggenommen. Ich will dich nicht und ich mag dich nicht.«

Ein Stuhl stürzte polternd zu Boden, und um nächsten Moment stürmte Saskia aus der Küche.

Bestürzt sah Andrea hinter dem Mädchen her. Was hatte sie nur falsch gemacht? Was nur war es gewesen, das diese Reaktion der Dreizehnjährigen hervorgerufen hatte? Stillschweigend räumte sie die Glasscherben fort und wischte den Fußboden auf. Anschließend räumte sie den Frühstückstisch wieder ab. Bei sich beschloß sie, den Zwischenfall mit dem Mantel des Schweigens zuzudecken. Sie mußte dem Kind einfach mehr Zeit lassen.

Als Fränzi vom Einkaufen zurückkam, galt ihre erste Frage Saskia.

»Hat Saskia inzwischen gefrühstückt, Frau Behring?«

»Nein, Fränzi, sie wollte nicht frühstücken. Sie ist wieder oben in ihrem Zimmer. Es blieb mir nichts anderes übrig, als alles wieder abzuräumen.«

»Guten Morgen, Fränzi. Kann ich endlich frühstücken? Ich habe großen Hunger.«

»Guten Morgen, Saskia. Ich dachte, du wolltest nicht frühstücken?«

»Wer hat das gesagt?«

»Nun, deine…«

»Sie lügt, Fränzi. Mich hat noch niemand gefragt. Kann ich jetzt was haben?«

»Saskia, warum nur verdrehst du die Sache? Wie kannst du mir so etwas antun?« Andrea war so fassungslos, daß sie einfach aus dem Raum lief.

»Was hat sie denn, Fränzi? Ich habe doch überhaupt nichts getan, ich habe doch nur die Wahrheit gesagt. Vielleicht sind wir sie jetzt endlich los?«

»Was sagst du da?«

»Ist doch wahr, Fränzi.«

»Das kann doch wohl nicht dein Ernst sein. Was soll denn nur dein Paps von dir denken, wenn er das wieder hört?«

»Du mußt es ihm ja nicht sagen, Fränzi. Es ist doch alles in Ordnung. Ich habe jetzt einfach nur Hunger.«

Fränzi schwieg Hans Peter Behring gegenüber von dem Vorfall, und auch Andrea sagte ihrem Mann nichts davon. Sie glaubte, richtig zu handeln und sich nicht ganz den Weg zum Herzen Saskias zu verbauen. Sie wollte nicht die böse Stiefmutter sein. Sie wählte damit den falschen Weg, denn Saskia bekam dadurch nur Oberwasser für ihre kindlichen Rachegelüste.

Es folgten an jedem Tag weitere kleine Intrigen, und Saskia entwickelte sich immer mehr zu einem regelrechten Teufelchen. Andrea ertrug es schweigend, daß das Mädel ihr das Leben im Haus des geliebten Mannes zur Hölle machte. Sie glaubte, je weniger Aufhebens sie davon machen würde, desto eher würde Saskia von sich aus aufgeben. Wenn Hans Peter heimkam, fand er immer eine ausgeglichene junge Frau vor, die ihre Probleme ganz meisterhaft vor ihm verbarg.

So genau Fränzi alles beobachtete, gelang es ihr zunächst doch nicht, Saskia auf die Schliche zu kommen. Wenn sie und der Vater im Haus waren, benahm Saskia sich sehr vernünftig und zurückhaltend. Es verkehrte sich ins Gegenteil, sobald sich das Mädchen mit der verhaßten Stiefmutter allein im Haus wähnte.

Ganz unverhofft zog sich Fränzi eine starke Erkältung zu und mußte für ein paar Tage das Bett hüten. Andrea versorgte allein den Haushalt und übernahm dazu noch die Pflege Fränzis. Es lenkte sie zudem etwas von ihren eigenen Sorgen ab.

Als Saskia gegen vierzehn Uhr aus der Schule kam, hatte Andrea Fränzi schon versorgt und für sich und Saskia in der Küche den Tisch gedeckt.

»Wir können sofort zu Mittag essen, Saskia. Kommst du bitte!« rief Andrea dem Mädel von der Küchentür aus zu.

»Ja, ich komme ja schon«, erwiderte Saskia mürrisch. Sie warf ihre Schultasche achtlos gegen den Garderobenschrank und kam langsam in die Küche, um sich an ihren Platz zu setzen.

»Hat Fränzi gekocht?«

»Nein, du weißt doch, daß Fränzi noch liegen muß. Ich habe gekocht, Grünkohl mit Mettwürstchen. Fränzi sagte mir, daß du das besonders magst. Ich bringe die Schüssel sofort auf den Tisch.«

Andrea stellte die Schüssel mit dem dampfenden Gemüseeintopf auf den Tisch.

»Hältst du den Teller hoch, damit ich dir das Essen aufschöpfen kann, Saskia?«

Saskia nickte und hob ihren Teller hoch. Was Andrea nicht sehen konnte war das böse Aufglitzern in den Augen des Mädchens. Doch genau in dem Moment, in dem Andrea die gefüllte Schöpfkelle über den Teller hielt, fuhr Saskia mit dem Teller hoch, und das heiße Gericht spritzte Andrea über die Arme ins Gesicht. Mit einem Schmerzenslaut ließ sie die Schöpfkelle fallen und eilte zum Spülbecken, um das auf der Haut brennende Gemüse abzuwaschen. Es tat höllisch weh, und zum ersten Mal verlor Andrea die Beherrschung, als sie zum Tisch zurückging und erregt sagte: »Was bist du nur für ein böses Mädchen, Saskia. Man sollte dir wirklich einmal ganz gehörig den Hintern versohlen.« Sie hob in ihrer Erregung die Rechte, ließ sie dann aber sofort wieder sinken, als Saskia sie mit Tränen in den Augen anfauchte: »Ja, ja, hau mich nur. Du bist ganz böse, ich hasse dich. Erst verbrennen und dann noch hauen. Ich erzähle es alles meinem Paps, damit er dich endlich wieder fortschickt. Du, nur du bist schuld daran, daß mein Paps mich überhaupt nicht mehr liebhat. Geh, geh, geh…«

»Mein Gott, Mädel, warum drehst du schon wieder alles um? Dein Paps hat dich noch genauso lieb wie immer. Und ich, ich möchte doch nur deine Freundin sein. Ich nehme dir doch nichts fort.«

Bestürzt sah sie in das aufgewühlte Gesicht ihrer Stieftochter, aus dem ihr jetzt offene Feindschaft entgegenblitzte. Im nächsten Moment stürmte Saskia davon und rief laut in gespielter Panik: »Nicht hauen, du darfst mich nicht hauen! Hilfe!«

Entgeistert starrte Andrea hinter dem Mädel her. Nein, sie kannte sich nicht mehr aus. Hatte es überhaupt noch einen Sinn, es weiter zu versuchen? War es nicht besser aufzugeben, auch wenn der Preis dafür ihr Glück und ihre Zukunft mit Hans Peter war?

Obwohl sich auf ihren Armen schon Brandblasen bildeten und auch ihr Gesicht an verschiedenen Stellen wie Feuer brannte, achtete Andrea nicht darauf. Der seelische Schmerz, den sie in diesen Minuten empfand, überdeckte die körperlichen Schmerzen. Sie sank auf einen Stuhl und vergrub das Gesicht hinter den Händen. So fand Fränzi sie.

*

Nachdem Fränzi die stärkende Hühnersuppe verzehrt hatte, die ihr die junge Hausherrin gebracht hatte, fiel sie in einen leichten Schlaf.

Plötzlich wurde sie unsanft aufgeschreckt. Von unten drangen laute, aufgeregte Stimme bis heraus in ihr Zimmer.

Was da bloß schon wieder los ist? dachte sie, als unten eine Tür geöffnet und gleich darauf wieder zugeschlagen wurde. Saskias Stimme rief erregt: »Nicht hauen, du darfst mich nicht hauen.« Schnelle Schritte kamen die Treppe herauf, und gleich darauf knallte die Mädchenzimmertür laut ins Schloß.

Etwas mühsam rappelte sich Fränzi aus dem Bett und noch immer etwas benommen verließ sie ihr Zimmer, um in Saskias Zimmer nach dem Mädel zu sehen. Sie mußte wissen, was da unten gerade los gewesen war. Ohne zu Zögern betrat sie das Zimmer. Das Mädchen lag über ihrem Bett und trommelte wütend mit den Fäusten auf der Decke herum.

»Ja, sag mal, Mädel, was ist denn mit dir los? Und überhaupt, was war das eben für ein Lärm und Krach unten? Ich möchte, daß du mich anschaust, wenn ich mit dir rede.«

»Ganz böse ist sie. Erst verbrennt sie mich und dann will sie mich auch noch verhauen. Es tut so weh, Fränzi.«

Saskia richtete sich auf und sah Fränzi an, die im Gesicht des Mädchens ein paar kleine rote Flecken entdeckte.

»Hier, auf meiner Hand sind auch ein paar Blasen, wo sie mich verbrüht hat.«

»Das glaube ich nicht, Saskia. Sag mir die Wahrheit.«

»Ich sage die Wahrheit. Wenn du mir nicht glaubst, dann mag ich dich auch nicht mehr.«

»Ich glaube dir nicht, ich gehe jetzt hinunter und frage Andrea. Ich kenne sie inzwischen gut genug, um zu wissen, daß sie dir niemals mit Absicht weh tut.«

»Sie ist nicht meine Mutter, sie ist eine Fremde, hörst du. Meine Mutti lebt noch, ich brauche keine andere.«

»Wir werden sehen, Saskia. Jetzt laß mich zuerst dein Gesicht und deine Hände sehen, damit ich dir Salbe draufgeben kann.«

Wie Fränzi einen Moment später sehen konnte, waren es zwar kleine Brandblasen, jedoch nichts Gefährliches. Sie holte aus dem Badezimmer eine Brandsalbe und behandelte die kleinen Blasen damit.

»So, du bleibst einmal hier in deinem Zimmer, bis ich die ganze Sache aufgeklärt habe. Wenn du mich belogen hast, werde ich nachher mit deinem Paps reden. Du glaubst wohl, daß du immer so weitermachen kannst. Einmal muß doch hier im Haus wieder Frieden und Ruhe herrschen.«

Ein bißchen wackelig war Fränzi doch auf den Beinen, als sie hinunter ging. Zwei Tage ziemlich hohes Fieber hatten sie geschwächt.

Sie klopfte an die Küchentür. Es kam keine Antwort, doch statt dessen drang unterdrücktes Weinen an ihr Ohr. Sie öffnete die Tür und sah verständnislos auf das Bild, das sich ihren Augen da bot. Die Gemüsekelle lag auf dem Fußboden, und an der Seite war alles mit grünen Flecken verkleckert. Und in diesem Durcheinander saß die junge Hausherrin am Tisch, das Gesicht in den Händen verborgen, und weinte ganz verzweifelt.

Fränzi trat hinter Andrea, legte eine Hand auf ihre Schulter und fragte betroffen: »Was ist denn um Himmels willen hier passiert, Frau Behring? So beruhigen Sie sich doch. Das kann man doch alles wieder in Ordnung bringen.«

»Nichts kann man in Ordnung bringen, Fränzi. Ich kann nicht mehr, ich gebe auf«, murmelte Andrea, ohne den Kopf zu heben.

»Sie können doch nicht einfach aufgeben. Sie wollen vor einem dreizehnjährigen Kind kapitulieren, Frau Behring?«

»Ein Kind, Fränzi? Sie führt sich auf wie eine kleine Teufelin. Hier, sehen Sie mich genau an.«

Erst jetzt hob Andrea ihr Gesicht und sah Fränzi an, die bestürzt einen Schritt zurückwich und entsetzt hervorstieß: »O Gott, wie ist das denn passiert? Man muß das sofort behandeln. Soll ich einen Arzt anrufen?«

»Nein, ich brauche keinen Arzt. Es tut zwar sehr weh, aber es wird wieder vorübergehen. Haben wir eine lindernde Salbe im Haus? Meine Arme sind auch betroffen.«

»Natürlich haben wir Brandsalbe im Haus. Ich werde sie sofort holen.«

»Nein, Fränzi, das mache ich schon allein. Sie gehören noch ins Bett. Ich werde schon allein alles in Ordnung bringen und mich danach etwas hinlegen. Bevor Sie wieder ins Bett gehen, kümmern Sie sich um Saskia. Das Mädchen ist blind vor kindlicher Eifersucht und weiß nicht mehr, was es tut. Ich kann ihr jetzt nicht gegenübertreten.«

»Und wenn Herr Behring nach Hause kommt?«

»Ich weiß noch nicht, was jetzt werden soll, Fränzi.«

»Kann ich nicht wenigstens hier in der Küche wieder Ordnung machen?«

»Nein, sehen Sie nach Saskia und legen Sie sich dann wieder hin. Sie werden in der nächsten Zeit noch genug hier gebraucht. Werden Sie erst einmal wieder gesund. Ich schaffe es schon allein.«

Mit zögernden Schritten verließ Fränzi die Küche.

Andrea brachte die Küche in Ordnung, stellte das Essen in die Backröhre, damit Hans Peter eine warme Mahlzeit vorfand, wenn er aus dem Büro kam. Erst danach ging sie hinauf ins Bad und strich die kühlende Salbe auf die schmerzenden Stellen in ihrem Gesicht und auf den Armen. Als sie sich dann in ihr Zimmer zurückzog, das ihr Hans Peter liebevoll eingerichtet hatte, schloß sie sich ein. Sie brauchte jetzt Zeit, um einen Entschluß zu fassen.

Es war so deprimierend, zu erkennen, daß alles, was sie auch versucht hatte, die Liebe der kleinen Stieftochter zu erringen, wie an einer dicken Mauer abprallte. Mit zunehmender Zeit würde auch die Liebe darunter leiden, die sie und Hans Peter miteinander verband. Das Schlimme war dabei nur, daß sie dieses kratzbürstige Mädchen trotz allem inzwischen liebgewonnen hatte. Wenn es da nur eine schmale Brücke geben würde, würde sie sie sofort beschreiten.

*

»Hallo, keiner daheim?« rief Hans Peter Behring, als er gegen sechzehn Uhr dreißig das Haus betrat und ihn eine beklemmende Stille empfing. Er stellte seinen Aktenkoffer ab und betrat zuerst die Küche, dann die anderen Räume.

Nun, dachte er, Andrea wird sicher mit Saskia einen Einkaufsbummel machen, damit sich Fränzi in Ruhe erholen kann. Werde ich eben zuerst nach Fränzi sehen, ob es ihr heute schon besser geht. Fränzi wird mir bestimmt sagen können, wo Andrea und Saskia abgeblieben sind.

Es war das erste Mal seit seiner Heirat, daß Andrea ihn nicht unten in der Diele empfangen hatte, wenn er vom Büro nach Hause kam.

Leise klopfte Hans Peter an Fränzis Zimmertür.

»Ja, bitte«, kam ihre Stimme von innen.

Als er das Zimmer betrat, sah er verwundert, daß Fränzi aufgestanden war und in einem bequemen Sessel ruhte. Sie wirkte irgendwie bedrückt.

»Nicht im Bett, Fränzi? Es geht also Gott sei Dank wieder aufwärts? Wo sind meine Frau und Saskia?«

Er wunderte sich noch mehr, als er sah, daß sich Fränzis Gesicht bei seiner letzten Frage mit einer dunklen Röte überzog und sie verlegen den Blick abwandte. Zugleich schlug in seinem Inneren eine Alarmglocke an. Er spürte fast körperlich, daß da etwas nicht stimmte.

»Was ist los, Fränzi, wo ist meine Frau? Ich merke Ihnen doch an, daß da etwas nicht stimmt.«

»Ihre Frau befindet sich in Ihrem Zimmer, sie hat sich etwas hingelegt. Saskia ist auch oben in ihrem Zimmer. Mehr kann und möchte ich dazu nicht sagen, Herr Behring.«

»Gut, Fränzi, wie Sie wollen. Ich werde schon allein dahinterkommen, was nicht in Ordnung ist. Ruhen Sie sich nur gut aus, damit Sie bald wieder auf den Beinen sind.«

Hans Peter wartete keine Antwort ab, sondern verließ mit raschen Schritten Fränzis Zimmer.

Leise wollte er Andreas Zimmer betreten, als er bestürzt feststellen mußte, daß sich die geliebte Frau in ihrem Zimmer eingeschlossen hatte.

»Andrea, Liebes, ich bin es. Öffne bitte die Tür.«

Er erhielt keine Antwort.

»Bitte, Andrea, was ist denn los, warum schließt du dich in deinem Zimmer ein? Ich möchte sofort mit dir reden«, bat Hans Peter erneut und spürte die Erregung in sich hochsteigen. Als von innen wieder keine Antwort kam, sagte er ernst: »Wenn du nicht öffnest, trete ich die Tür ein. Ich will endlich wissen, was hier eigentlich gespielt wird.«

Der Schlüssel drehte sich von innen, und Andrea öffnete ihm die Tür.

»Was hat das alles zu bedeuten, Liebes? Ich verstehe es…«

Mitten im Satz brach Hans Peter ab und starrte seiner jungen Frau entgeistert ins Gesicht.

»Um Himmels willen, Liebling, wie ist denn das passiert?« wollte er erregt wissen, als er sich endlich faßte.

»Es ist nichts, ich war nur ungeschickt.«

»Und darum hast du dich eingeschlossen, Liebes? Hast du kein Vertrauen mehr zu mir? Komm, laß mich mal sehen. Das muß ja scheußlich weh tun!« Sanft legte er einen Arm um ihre schmale Gestalt und zog sie näher an sich.

»Mein armer Liebling, jetzt erzählst du mir ganz ausführlich, wie das passieren konnte.«

»Ich kann nicht, Hans Peter. Ich kann auch nicht länger hier bei dir bleiben. Es hat alles keinen Sinn.«

»Was redest du da, Liebes? Ich verstehe dich nicht.«

»Wirklich nicht, Hans Peter?«

»Nein, ich will jetzt von dir hören, was los ist. Liege ich richtig, wenn ich denke, daß es mit Saskia zusammenhängt? Trägt sie die Schuld an den Verletzungen? Bitte, belüge mich jetzt nicht. Ich will die Wahrheit wissen. Du kommst mir schon ein paar Tage so bedrückt vor. Es ist noch gar nicht so lange her, seitdem wir uns das Versprechen gegeben haben, uns immer die Wahrheit zu sagen.«

»Gut, Hans Peter, dann sollst du endlich die Wahrheit erfahren. Ich schaffe es nicht mehr. Ich gebe auf, weil ich erkennen muß, daß Saskia mich haßt. Ich werde aus deinem, aus eurem Leben verschwinden, damit hier wieder Frieden einkehrt.«

Rückhaltlos berichtete Andrea nun über all die kleinen Zwischenfälle und über Saskias Intrigen. Sie schloß: »Verstehst du jetzt, daß ich nicht mehr kann?«

»Ich lasse dich nicht fort. Du bist mein Leben. Und mit Saskia werde ich jetzt ein ernstes Wort reden. Ich hatte ja von allem keine Ahnung. Ich bin gleich wieder bei dir.«

Wütend stürmte er aus dem Zimmer, über den Flur in Saskias Zimmer.

Was er da von Andrea gehört hatte, setzte allem die Krone auf.

Erschrocken sah Saskia ihren Paps an, der aufgeregt in ihr Zimmer gestürmt kam. »Was ist denn, Paps?«

»Das fragst du auch noch? Ich habe immer geglaubt, ein großes und vernünftiges Mädchen zu haben. Jetzt muß ich erkennen, daß du ein kleiner Teufel bist. Sag mir mal, was du dir eigentlich dabei gedacht hast! Meine Geduld ist am Ende. Wenn du noch einmal so böse zu Andrea bist, werde ich es mir überlegen und dich solange in ein Internat schicken, bis du wieder vernünftig geworden bist, hast du mich verstanden? Du gehst jetzt sofort in Andreas Zimmer und entschuldigst dich für alles.«

»Nein, tu ich nicht. Sie soll wieder gehen. Wir brauchen sie doch nicht.«

»Ich brauche sie, und ich liebe sie sehr. Also, meine Tochter, überlege es dir. Entweder du entschuldigst dich, oder du verläßt heute dein Zimmer nicht mehr.«

»Du bist gemein, Paps! Und Andrea mag ich auch nicht. Ich will nicht, ich will nicht und ich will nicht. Mich hat ja auch keiner mehr lieb.«

»Was du da sagst, ist alles Unsinn. Wir alle haben dich sehr lieb. Du machst es uns nur sehr schwer, dir das zu zeigen, wenn du so böse Dinge tust. Du weißt, was ich von dir erwarte, denn du hast Andrea sehr weh getan. Ich muß jetzt wieder zu ihr.«

»Ja, geh nur zu ihr, du denkst ja sowieso nur immer an sie!«

Hans Peters Zorn fiel in sich zusammen, und er fühlte sich völlig ratlos. Was sollte er nur mit Saskia tun, die ihm nun demonstrativ den Rücken zuwandte? Bis jetzt hatte er immer alles im Guten versucht. Gut, wenn es so nicht ging, mußte er es eben mit mehr Strenge versuchen. Nachgeben wollte er nicht. Er ging zur Tür, und bevor er das Zimmer verließ, sagte er ernst: »Du wirst dich entschuldigen, oder du bleibst für den Rest des Tages hier in deinem Zimmer.«

Als er wieder bei Andrea war, sagte er niedergeschlagen: »Ich weiß nicht mehr weiter, Liebes. So geht es mit dem Mädel nicht mehr. Ich muß einen Weg finden, der sie wieder zur Vernunft bringt. Wie fühlst du dich? Soll ich dich nicht besser zu einem Arzt bringen?«

»Nein, Hans Peter. Morgen wird es schon viel besser sein. Ich möchte nicht noch mehr Aufhebens von der ganzen Geschichte machen. Im Grunde tut mir deine Tochter sogar leid. Es ist ja auch für sie nicht einfach. Ich habe es mir inzwischen überlegt. Ich werde noch nicht aufgeben. Jetzt, da du alles weißt, werden wir es gemeinsam versuchen.«

»Ich danke dir für diese Worte. Ich liebe dich dafür um so mehr.«

»Ich liebe dich auch.«

Daß seine Auseinandersetzung mit Saskia schwerwiegende Folgen haben würde, ahnten zu diesem Zeitpunkt weder Hans Peter noch Andrea.

*

»Ist alles für die Operation vorbereitet, Frau Dr. Wilde? Haben Sie genau mit den Eltern des Patienten alles abklären können, was die Anästhesie betrifft?«

»Es ist alles in Ordnung, Herr Dr. Martens. Dem Beginn der Operation steht nichts mehr im Wege«, beantwortete Simone Wilde, die Anästhesistin der Kinderklinik Birkenhain, die Fragen ihres Vorgesetzten.

»Gut, Frau Dr. Wilde, dann bleibt es dabei. Beginn in fünfzehn Minuten«, entgegnete Dr. Kay Martens mit einem kurzen Blick auf die Uhr.

Nachdem Simone Wilde den Raum verlassen hatte, beschäftigte sich Kay noch ein paar Minuten mit dem Untersuchungsbefund des Patienten, eines elfjährigen Jungen, bevor er auch nach hinten in die Operationsabteilung ging, um sich für die bevorstehende Operation vorzubereiten.

Im Waschraum traf er seine Schwester Hanna an, die ihm wie bei vielen anderen Operationen auch dieses Mal wieder assistieren würde.

»Sind die anderen schon vollzählig, Hanna?«

»Ja, wir zwei sind die letzten. Der Patient ist vor wenigen Minuten hineingebracht worden. Wird der Junge es schaffen?«

»Das wollen wir doch hoffen. Die Chancen stehen ganz gut, da die Eltern ihn früh genug zu uns in die Klinik gebracht haben. Oder zweifelst du daran?«

»Keineswegs zweifle ich an einem Erfolg des Eingriffes. Aber, Kay, du mußt selbst zugeben, daß wir bei einem solchen Eingriff auch mit unliebsamen Überraschungen rechnen müssen. Eine Geschwulst in so unmittelbarer Nähe des Rückenwirbels birgt immer Gefahren in sich, die sich vorher nicht zeigen.«

»Gewiß, da muß ich dir zustimmen, Hanna. Gehen wir es also an, ich bin soweit.«

Während des kurzen Wortwechsels hatte auch Kay seine letzten Vorbereitungen getroffen. Schwester Jenny hielt ihm die hauchdünnen Operationshandschuhe hin, in die er hineinfuhr, und einen Augenblick später betrat er neben Hanna den Operationsraum.

Die Operation an dem Jungen konnte beginnen.

Kurz nach halb zwölf war es geschafft, und der Patient, der elfjährige Mark Kolbe, konnte auf die Intensivstation gebracht werden.

Nachdem Kay noch einige Anweisungen gegeben hatte, folgte er Hanna in den Waschraum.

»Gott sei Dank, das wäre geschafft, Hanna. Wenn keine Komplikationen eintreten, wird der Junge es schaffen, und es wird auch nichts zurückbleiben.«

»Ich bin auch sehr froh darüber, daß es sich nur um eine Fettgeschwulst gehandelt hat, Kay. Möchtest du diese Nachricht der Mutter des Jungen selbst überbringen, oder soll ich es übernehmen?«

»Mach du das bitte, Hanna. Von Frau zu Frau redet es sich immer besser, auch wenn es sich um eine gute Nachricht handelt. Geh und erlöse sie aus ihrer Ungewißheit.«

Hanna, die sich inzwischen einen frischen weißen Kittel übergezogen hatte, während Kay sich noch ein paar Minuten mit den anderen Ärzten des Teams über die durchgeführte Operation unterhielt, ging erst danach in sein Sprechzimmer.

In seinem Zimmer machte er noch einige Eintragungen in Mark Kolbes Krankenunterlagen und wartete auf Hanna.

Als Hanna wenig später lächelnd den Raum betrat, wollte er wissen: »Nun, Schwesterherz, wie hat Frau Kolbe es aufgenommen?«

»Wie schon, Kay? Sie war natürlich überglücklich. Ich habe ihr erlaubt, bei ihrem Jungen zu bleiben, bis er wieder völlig klar ist.«

»Was hast du jetzt vor? Gehst du schon zum Mittagessen hinüber ins Doktorhaus?«

»Nein, es ist erst halb eins. Ich werde noch einmal hinauf auf die Krankenstation gehen. Wie ich sehe, hast du ja auch noch zu tun. Ich will dich nicht weiter stören.«

Hanna war schon an der Tür, als das Telefon läutete. Kay nahm den Hörer ab, lauschte einen Moment, und die Muschel mit der Hand abdeckend, rief er Hanna zu: »Warte bitte, Hanna!« Dann hörte er wieder aufmerksam zu und gab eine Anweisung.

Hanna wartete, bis Kay den Hörer wieder auflegte.

»Was ist los?« Fragend sah sie ihn an.

»Ein Notfall, Hanna. In der Nähe von Soltau ein Unfall. Ich habe sofort den Rettungswagen auf den Weg geschickt. Also, mit der Mittagspause wird es wohl nichts werden. Wir müssen das Team wieder zusammentrommeln und den Operationssaal für eine Notoperation vorbereiten lassen. Ich werde mich um das Team kümmern, übernimm du bitte den OP. Wir treffen uns dann in ein paar Minuten in der Notaufnahme.«

»In Ordnung, Kay, dann wollen wir mal. Übrigens, konntest du schon näheres erfahren?«

»Nur, das es sich um ein Kind handelt, ein Mädchen. Wie und was da passiert ist, konnte man mir noch nicht sagen.«

»Nun, es spielt im Augenblick auch keine Rolle. Bis gleich, denn wenn ich es noch schaffe, möchte ich drüben im Doktorhaus Bescheid sagen, damit Mutter und die Füchsin nicht auf mich warten.«

Mit raschen Schritten verließ Hanna nun das Sprechzimmer ihres Bruders, während dieser ein paar kurze Telefonate führte. Nachdem er alles erledigt hatte und wußte, daß seine Mitarbeiter wieder voll zur Verfügung standen, verließ auch er sein Sprechzimmer und strebte mit langen, ausgreifenden Schritte der Notaufnahme zu.

Auch dort mußte alles auf das Unfallopfer vorbereitet sein.

Nur wenige Minuten nach ihm kam Hanna in die Notaufnahme.

»Es ist alles vorbereitet, Kay. Der Rettungswagen müßte nun auch in wenigen Minuten kommen. Es wäre ja zu wünschen, daß keine lebensgefährlichen Verletzungen vorliegen. Vielleicht haben wir Glück.«

»Auf jeden Fall stehen Karsten und Schwester Dora schon mit der fahrbaren Trage auf dem Sprung.«

»Wer ist eigentlich mitgefahren?«

»Dr. Küsters.«

Hanna horchte plötzlich auf.

»Es ist soweit, sie kommen. Der Wagen wird in wenigen Augenblicken hier sein.«

Wie es Hanna gesagt hatte, fuhr kurz darauf der Rettungswagen der Kinderklinik vor der Notaufnahme vor. Noch bevor er hielt, eilten der Pfleger Karsten und Schwester Dora mit der fahrbaren Trage hinaus, um das Unfallopfer in Empfang zu nehmen.

Hanna, die den beiden gefolgt war, sah auf der Trage ein lebloses Mädchen liegen, daß sie so auf zwölf, dreizehn Jahre schätzte. Genaues konnte sie nicht erkennen, denn das Gesicht war halb von einer dicken Mullkompresse verdeckt.

Michael Küsters, der die Infusionsflasche hielt, sah Hanna ernst an.

»Was ist passiert, Dr. Küsters? Sind Angehörige da oder benachrichtigt?«

»Nein, Frau Dr. Martens, es sind keine Angehörigen da. Ein Autofahrer hat das Mädchen gefunden. Es könnte sein, daß sie angefahren worden ist und der Fahrer Unfallflucht begangen hat. Die Kleine hat das Bewußtsein bis jetzt noch nicht wiedererlangt. Alle Anzeichen deuten auf innere Verletzungen hin. Der junge Mann, der das Mädchen gefunden hat, muß noch bei den Polizeibeamten ein Protokoll aufnehmen lassen, danach kommt er hierher zur Klinik.«

Während des kurzen Gesprächs wurde die verletzte Patientin ins Innere der Notaufnahme gebracht, denn es war keine Zeit zu verlieren.

Es wurden alle Sofortmaßnahmen ergriffen, und Kay fragte Dr. Küsters, was er außer der Infusion und dem Intubieren noch für erste Maßnahmen am Unfallort und im Rettungswagen unternommen hatte.

In knappen Worten gab der junge Assistenzarzt seinem Vorgesetzten die geforderte Auskunft.

»Sieht nicht gerade gut aus, nicht wahr, Kay?« fragte Hanna ernst, wobei sie die Verletzte behutsam entkleidete.

»Leider, Hanna. Es schaut so aus, als ob die Kleine ziemlich viel Blut verloren hat. Dabei bestehen immer noch innere Blutungen. Die Anzeichen deuten auf eine Milzverletzung hin. Hilfst du mir mal? Und Sie, Herr Dr. Küsters, besorgen schnell eine Plasmakonserve, bis die Blutgruppe bestimmt ist.«

»Sofort, Chef.«

»Schnell, Kay, die Herztöne werden schwächer. Ich bereite Adrenalin vor.«

»Ja, rasch, Hanna.« Unverzüglich injizierte Hanna das Mittel.

»Herztöne werden stabiler, aber immer noch sehr schwach. Wir müssen schnellstens operieren. Ich muß sofort mit den Angehörigen sprechen. Ohne ihr Einverständnis sind uns die Hände gebunden.«

»Es sind keine Angehörigen da, Kay. Dieses Kind wurde schwerverletzt von einem Autofahrer auf der Landstraße gefunden. Keinerlei Hinweise, wer die Kleine ist oder woher sie kommt. Wir tappen da völlig im Dunkeln. Es ist ein Notfall, da müßten wir doch so operieren können.«

»Es geht nicht, Hanna. Wir müssen versuchen, das Befinden der Kleinen zu stabilisieren, bis wir die Angehörigen gefunden haben. Wenn wir so operieren, machen wir uns, wenn es schiefgeht, strafbar.«

»Aber es geht um das Leben eines Menschen, eines Kindes. Wir können nicht tatenlos zusehen!«

*

Nach der Auseinandersetzung mit ihrem Paps fühlte Saskia sich zutiefst getroffen. So zornig war er nie vorher ihr gegenüber gewesen. Und schuld war ihrer Meinung nach nur die Frau, die ihr ihren Paps fortgenommen hatte. Ich werde es ihr schon heimzahlen. Und Paps, ihm würde es noch leidtun, daß er sie so angeschrien und wie ein kleines Kind behandelt hatte. Ja, das war es, sie würde es den beiden schon zeigen. Und Paps, er sollte ordentlich Angst um sie bekommen, dann würde diese Fremde für immer ausgespielt haben. Im Kopf der Dreizehnjährigen setzte sich ein ganz bestimmter Gedanke fest. Wenn der Paps erwarten würde, daß sie sich auch noch entschuldigte, dann konnte er aber lange warten. Saskia verließ ihr Zimmer an diesem Abend nicht mehr.

Am nächsten Morgen fühlte sich Fränzi schon viel besser. So entschloß sie sich, aufzustehen und dafür zu sorgen, daß das Frühstück pünktlich auf den Tisch kam. Sie mußte sich um die junge Hausherrin kümmern, die am Vortag soviel wegen Saskia gelitten hatte. Und überhaupt, Saskia sollte lieber einen Tag der Schule fernbleiben und erst einmal zur Ruhe kommen.

Es war Saskia, die als erste in die Küche kam.

»Guten Morgen, Fränzi. Kann ich rasch frühstücken, damit ich pünktlich zur Schule komme?«

»Das Frühstück ist gleich fertig, Mädel. Du solltest jedoch heute lieber nicht zur Schule gehen, sondern ausruhen.«

»Ich will aber zur Schule, Fränzi. Wenn ich hier den ganzen Tag nur im Haus herumlaufe, schnappe ich noch über. Ich will sie nicht sehen, ich muß erst einmal hier heraus.«

»Wie du willst, Saskia, ich kann dich schließlich nicht im Haus anbinden. Setz dich, ich hole dir gleich deine Milch.«

»Kann ich heute nicht eine Tasse Kaffee haben?«

»Natürlich, Saskia, ich habe schon welchen fertig.«

Zehn Minuten später verließ Saskia das Haus.

Was Fränzi nicht sah, war, daß Saskia noch hinter das Haus ging, ihre Schultasche in den kleinen Gartenpavillon brachte und danach durch die schmale Gartentür das Grundstück verließ. Sie fuhr wie immer mit dem Bus zur Realschule, doch schon eine Haltestelle früher stieg sie aus. Darauf achtend, von keiner ihrer Mitschülerinnen gesehen zu werden, strebte sie durch kleine Nebenstraßen dem Stadtrand zu. Saskias Vorhaben war, per Anhalter nach Celle zu gelangen. Durch einen Zufall hatte sie herausgefunden, daß ihre Mutter seit der Scheidung von Paps in dieser Stadt in der Heide mit einem anderen Mann lebte.

In der Dreizehnjährigen hatte sich der Gedanke festgesetzt, ihrem Paps genauso weh zu tun, wie er ihr am vergangenen Tag wehgetan hatte. Obwohl Saskia ihre Mutter seit der Scheidung nicht mehr gesehen hatte, weil diese sich nie um ein Treffen bemüht hatte, glaubte Saskia in ihrer Verbohrtheit, den richtigen Weg gefunden zu haben. Die Mutter mußte ihr helfen, die verhaßte Stiefmutter zu vertreiben.

Es war gar nicht so einfach, per Anhalter vorwärts zu kommen. Fast zwei Stunden versuchte Saskia es vergeblich. Auto um Auto fuhr an ihr vorbei, und es machten sich langsam die ersten Anzeichen von Müdigkeit bemerkbar, da sie in der vergangenen Nacht kaum geschlafen hatte. Die Füße begannen zu schmerzen, da sie einen so langen Fußmarsch nicht mehr gewohnt war. Hinzu kam noch, daß es im Verlauf des Tages immer wärmer wurde.

Saskia setzte sich an den Straßenrand auf einen Kilometerstein, um ein paar Minuten auszuruhen. Da sah sie plötzlich aus einem Waldweg einen Trecker mit Anhänger auf die Landstraße biegen. Sie hatte Glück und durfte auf den Anhänger steigen und ein Stück mitfahren. Der Treckerfahrer, ein älterer Bauer, sagte mahnend: »Wo willst du denn hin, Mädchen? Haben deine Eltern denn nichts dagegen, wenn du so allein unterwegs bist? Es ist doch für ein Mädchen in deinem Alter viel zu gefährlich.«

»Mein Paps hat nichts dagegen. Ich will nur meine Mutter besuchen. Ich bin ja bald da.«

»Na, wenn das so ist, Mädchen, dann sei nur schön vorsichtig. Ich fahre nur bis zum nächsten Ort, danach mußt du sehen, wie du weiterkommst. Ich fahre nur bis Soltau.«

Kopfschüttelnd fuhr er weiter.

Saskia war froh, daß der freundliche Bauer nicht noch mehr Fragen stellte. Dabei hätte sie jedoch zu gern gewußt, wie weit es noch bis Celle war. An den Straßenschildern konnte sie noch nichts erkennen. Eine halbe Stunde später war es dann auch mit der Herrlichkeit des Fahrens vorbei, und Saskia mußte zu Fuß weiter. Es war mühsam, denn ihre Füße schmerzten noch mehr. Je länger sie lief, um so zorniger wurden ihre Gedanken. Sie steigerte sich noch weiter in ihre Haßgefühle hinein und begann vor lauter Zorn zu weinen.

Kurze Zeit später führte die Straße durch ein Waldgebiet. Bis dicht an den Straßenrand zu beiden Seiten stand hoher, dichter Wald, und zum ersten Mal stieg ein beklemmendes Gefühl in Saskia hoch.

Als die Straße vor ihr auf einmal eine scharfe Kurve machte, wollte sie auf die andere Straßenseite laufen. Sie hatte die Mitte der Straße noch nicht erreicht, als plötzlich in rasendem Tempo ein Wagen durch die Kurve auf sie zugeschossen kam, der zudem noch heftig schlingerte. Vor Angst und Entsetzen wie gelähmt, war Saskia nicht imstande, auch nur einen Schritt zu machen. Erst als der Wagen sie schon fast erreicht hatte, kam wieder Leben in die schmale Gestalt. Sie machte einen Schritt zur Seite, um noch aus der Gefahrenzone zu gelangen, doch es war schon zu spät. Saskia bekam einen heftigen Schlag und wurde zur Seite geschleudert. Sie spürte noch einen irrsinnigen Schmerz, danach versank sie dann in einen dunklen, bodenlosen Schacht.

Einige Meter weiter hielt der Wagen, in dem zwei junge Männer saßen.

»Mensch, Lothar, hast du gesehen? Du hast gerade ein kleines Mädchen angefahren. Wir müssen doch helfen. Komm, laß uns nachsehen.«

»Spinnst du, Frank? Willst du, daß man uns mit dem gestohlenen Wagen erwischt? Mein alter Herr schlägt mich zusammen, wenn er davon erfährt. Nein, wir müssen machen, daß wir schnell von hier wegkommen, bevor wir erwischt werden.«

»Nein, da mache ich nicht mit, wir müssen…«

»Wir müssen überhaupt nichts. Willst du eingesperrt werden? Ich habe die Kleine nur gestreift. Ihr ist bestimmt nichts passiert.«

So abgebrüht die Worte des Fahrers auch klangen, sein Gesicht war grau und seine Hände zitterten so heftig, daß er nur mit Mühe den Wagen wieder starten konnte. Im nächsten Augenblick trat er das Gaspedal so heftig durch, daß der Wagen mit einem Satz davonschoß und sich immer weiter vom Unfallort entfernte.

Knapp fünf Minuten später näherte sich erneut ein Wagen der scharfen Kurve.

Gerd Neuendorf, ein junger Mann von sechsundzwanzig Jahren, war auf dem Weg nach Soltau. Vor der Kurve minderte er das Tempo noch einmal, denn er wußte aus Erfahrung, daß es das Beste war, eine solche Kurve mit niedriger Geschwindigkeit zu durchfahren. Gerade als er das Tempo wieder etwas erhöhen wollte, irritierte ihn ein hellgrüner Fleck im Straßengraben. Er trat auf die Bremse, und mit einem Ruck stand der Wagen. In der nächsten Sekunde riß er entsetzt die Wagentür auf und sprang auf die Straße.

Mein Gott, da liegt ja ein Kind im Straßengraben! Schon war er an der Seite der leblosen Gestalt. Als er sich über die Gestalt beugte, hielt hinter seinem Wagen ein Motorradfahrer mit seiner Maschine an.

»Was ist denn los?« rief dieser ihm zu.

»Hier liegt ein verletztes Mädchen im Straßengraben. Bitte, fahren Sie zum nächsten Ort und informieren Sie die Polizei und den Rettungswagen. Es scheint, als sei das Mädchen schwerverletzt. Ich habe es nur durch einen Zufall im Vorbeifahren entdeckt. Sie sind mit der Maschine schneller.«

»Bin schon unterwegs.« Sekunden später fuhr der Motorradfahrer davon.

Gerd Neuendorf legte dem verletzten Mädchen seine zusammengelegte Jacke unter den Kopf, brachte es in die Seitenlage und versuchte die starken Blutungen an Kopf und Gesicht des Mädchens mit einer Mullkompresse aus seinem Verbandskasten zu stillen.

Keine fünf Minuten später war der Motorradfahrer wieder zurück und sagte: »Der Rettungswagen der Kinderklinik Birkenhain kommt, und die Polizei ist auch schon unterwegs. Lebt die Kleine noch?«

»Ja, aber es müßte schnellstens Hilfe kommen«, antwortete Gerd Neuendorf dem hilfreichen jungen Mann und sah ratlos auf das leblose Mädchen.

»Sie sagten, daß Sie das Mädchen gefunden haben? Können Sie sich denn vorstellen, wie das Mädchen da in den Straßengraben gekommen ist?«

»Nein, wie sollte ich? Ich habe keine Ahnung. Das wird sicher die Polizei gleich feststellen.«

Die Polizei kam und kurz darauf der Rettungswagen der Kinderklinik, der das verletzte Mädchen abholte. Der Motorradfahrer konnte, nachdem er einige Fragen beantwortet hatte, weiterfahren, und von Gerd Neuendorfs Aussagen wurde ein Protokoll aufgenommen.

Einer der Beamten, der die Umgebung der Stelle, an der das verletzte Mädchen gefunden worden war, nach Spuren absuchte, war fündig geworden: ein Lacksplitter von einem beigefarbenen Wagen, an dem ein winziger Fetzen von dem hellgrünen Kleid des verletzten Kindes hing.

»Also doch ein Unfall mit Fahrerflucht«, stellte der Polizeibeamte fest und gab über Funk alles an seine Dienststelle weiter. Gerd Neuendorf unterschrieb das Protokoll und konnte weiterfahren.

*

Mittags, gegen vierzehn Uhr, kam Hans Peter Behring zu Fränzi in die Küche. Er war an diesem Tag nicht in sein Büro gefahren, weil er Andrea vor weiteren Unbesonnenheiten Saskias schützen und mit Saskia nach Schulschluß noch einmal ein ernstes Wort reden wollte.

»Dauert es noch lange bis zum Essen, Fränzi?«

»Es ist alles soweit fertig. Saskia müßte eigentlich schon hier sein. Ich verstehe überhaupt nicht, wo das Mädel so lange bleibt.«

»Wir warten noch eine Viertelstunde. Wenn Saskia bis dahin noch nicht da ist, können Sie das Essen auftragen. Das Mädel muß dann eben allein essen. Entweder bockt Saskia noch, oder sie hat sich mit einer Schulfreundin verplaudert. Also, Fränzi, noch eine Viertelstunde.«

Sie aßen ohne Saskia, und Fränzi stellte das Essen für sie warm.

Es wurde fünfzehn Uhr, sechzehn Uhr, und Saskia kam noch immer nicht nach Hause.

Fränzi, die von Minute zu Minute unruhiger wurde, hielt es schließlich nicht mehr aus. Sie ging hinüber zum Wohnzimmer und klopfte an die Tür.

»Ja, kommen Sie nur herein, Fränzi«, forderte Hans Peter Behring sie zum Eintreten auf. Er und Andrea, die sich auch gerade über das lange Ausbleiben Saskia unterhalten hatten, sahen Fränzi an, und Hans Peter fragte: »Was ist, Fränzi?«

»Sie müssen etwas unternehmen, Herr Behring. Ich halte diese Ungewißheit nicht mehr länger aus. Da muß etwas passiert sein. So lange ist Saskia noch niemals nach der Schule fortgeblieben.«

»Aber Fränzi, Saskia ist immerhin schon dreizehn Jahre alt, also kein kleines Kind mehr. Ich denke, sie will uns mit ihrem langen Ausbleiben nur Angst einjagen. Seit gestern nachmittag weiß ich ja nur zu genau, was für ein raffiniertes Mädchen sie sein kann. Wir sollten es ihr nicht zu leicht machen. Was sagst du, Liebes?« Zärtlich lächelnd sah Hans Peter Andrea an, auf deren Gesicht die Brandwunden mit Mull abgedeckt und deren Arme verbunden waren.

»Ich weiß nicht, Hans Peter. Du solltest wenigstens die Lehrerin anrufen, wann das Mädel heute mittag die Schule verlassen hat. Ich kenne Saskia noch nicht so gut, aber es könnte doch sein, daß ihr etwas zugestoßen ist. Vielleicht ist sie auch nur aus Trotz davongelaufen. Weißt du, mit dreizehn Jahren sind diese jungen Dinger in einem ganz besonderen Alter. Halb noch Kind, wollen sie auf der anderen Seite schon erwachsen sein und auch als Erwachsene behandelt werden. Unternimm etwas, damit wir alle beruhigt sein können. Ich bitte dich.«

»Nun gut, ich werde zuerst ihre Klassenlehrerin anrufen. Die Nummer habe ich mir irgendwo aufgeschrieben. Ich sehe sofort nach. Ich habe da außerdem auch noch einige Nummern von Schulfreundinnen. Ihr werdet sehen, bei einem der Mädchen hält sich Saskia auf, macht mit ihm zusammen ihre Hausaufgaben. Ich glaube, ich muß mit ihr noch einmal ein ernstes Wörtchen reden, wenn sie wieder hier ist.«

»Kann ich hier warten, bis Sie alle angerufen haben, Herr Behring?«

»Selbstverständlich, Fränzi, setzen Sie sich nur.«

Hans Peter fiel aus allen Wolken, als er Saskias Klassenlehrerin fragte, ob der Unterricht an diesem Tag pünktlich beendet gewesen wäre, und ob seine Tochter auch um diese Zeit mit ihren Klassenkameradinnen das Schulgebäude wirklich verlassen hätte.

Denn Frau Horbach antwortete erstaunt: »Ich verstehe Ihre Frage nicht ganz, Herr Behring. Saskia hat heute überhaupt nicht am Unterricht teilgenommen. Sie war abwesend. Da sie schon einige Tage still und verschlossen war, nahm ich an, das Mädel wäre krank.«

»Saskia ist wie an jedem anderen Tag pünktlich aus dem Haus gegangen, Frau Horbach. Daß sie nicht in der Schule war, ist mir unbegreiflich. Wir machen uns über ihr langes Ausbleiben große Sorgen. Vielen Dank für die Auskunft. Ich werde nun bei ihren Schulfreundinnen nachfragen. Auf Wiederhören, Frau Horbach.«

»Es tut mir leid, daß ich Ihnen nicht weiterhelfen konnte, Herr Behring. Ich wünsche Ihnen, daß sich alles ganz harmlos aufklärt.«

Hans Peter war blaß, als er den Hörer auflegte und sich Andrea und Fränzi zuwandte.

»Ihr habt es sicher mitbekommen, nicht wahr? Saskia war heute überhaupt nicht in der Schule. Ich verstehe nicht, warum. Wo könnte sie denn hingegangen sein?«

»Ich weiß es auch nicht, Herr Behring. Ich habe sie heute morgen noch gefragt, ob sie nicht einen Tag daheim bleiben möchte, doch sie wollte unbedingt zur Schule. Ich habe ja gleich gesagt, da ist bestimmt etwas passiert. Ich habe plötzlich Angst um Saskia.«

Auch in Andreas Augen lag plötzlich Betroffenheit, und leise sagte sie: »Ruf jetzt bitte auch Saskias Schulfreundinnen an. Irgendwo muß sie ja sein. Es darf dem Mädel einfach nichts geschehen sein.«

Nachdem Hans Peter noch etliche Telefonate geführt hatte, die jedoch alle keine Klarheit brachten, sagte er: »Es gibt für mich nur noch eine Möglichkeit, Andrea. Saskia könnte sich an Sabine, meine geschiedene Frau, gewandt haben. Sie lebt mit ihrem Partner in Celle. Es bleibt mir nichts anderes übrig, als Sabine in Celle anzurufen.«

»Das glaube ich nicht, Herr Behring. Wie soll Saskia denn nach Celle gekommen sein?«

»Mit der Bahn, Fränzi. Sie hat dafür vielleicht ihre Spardose geplündert. Bitte, gehen Sie hinauf in Saskias Zimmer und schauen Sie mal nach. Ich rufe inzwischen bei Sabine an.«

Als Fränzi wieder herunterkam, sah sie schon im Gesicht des Hausherrn, daß sein Gespräch mit Celle auch nichts gebracht hatte.

»Saskias Sparschwein ist heil, Herr Behring. Sie kann also nicht nach Celle gefahren sein.«

»Ja, ich weiß, sie ist dort auch nicht aufgetaucht. Ich weiß auch nicht mehr, wo ich sie noch suchen soll. Es wird wohl das Beste sein, wenn ich zur Polizei gehe und eine Vermißtenanzeige aufgebe. Sie muß sich ja irgendwo aufhalten. Wir dürfen jetzt nicht den Kopf verlieren, sondern wir müssen Ruhe bewahren.«

»Es ist alles meine Schuld, Hans Peter«, kam es leise über Andreas Lippen.

»Was redest du da nur für einen Unsinn, Liebes? Wenn überhaupt, dann trage ich wohl die Schuld, weil ich das Mädel in den vergangen drei Jahren zu sehr verwöhnt habe. Wir kommen jedoch nicht weiter, wenn wir uns auch noch mit Schuldzuweisungen auseinandersetzen. Auch wenn ich mir um Saskia große Sorgen mache, so hoffe ich auf der anderen Seite, daß sich alles ganz harmlos auflöst. Ich fahre jetzt zum Kommissariat. Fränzi bringt dir eine Erfrischung, und danach legst du dich etwas hin und ruhst dich aus. Einverstanden?«

»Eine Erfrischung, ja, aber ich kann mich nicht hinlegen. Ich hätte sowieso keine ruhige Minute. Ich warte, bis du zurückkommst. Beeil dich bitte.«

»Das werde ich tun, Liebes. Vielleicht taucht Saskia inzwischen hier auf.«

Kurze Zeit später waren Andrea und Fränzi allein im Haus. Beide fragten sich voller Sorge: Wo ist Saskia?

*

In der Kinderklinik war die schwerverletzte Patientin inzwischen in den Operationssaal gebracht worden. Da jede Minute, die verging, kostbare verlorene Zeit war, hatten Kay und Hanna Martens gemeinsam eine Entscheidung getroffen. Sie würden ohne das Einverständnis der Angehörigen den operativen Eingriff wagen. In anderen Fällen hatte man sich eine gerichtliche Verfügung besorgt, doch selbst dafür war keine Zeit mehr, wenn man das Leben des Mädchens erhalten wollte.

Alle bis zu diesem Zeitpunkt durchgeführten Untersuchungen wiesen auf eine Milzruptur hin. Also kam nur eine Splenektomie in Frage. Das bedeutete, daß die Milz sofort operativ entfernt werden mußte.

»Bist du soweit, Kay? Ich verstehe nicht, warum du noch zögerst. Jede Sekunde ist kostbar. Ich möchte dir vorschlagen, daß wir unsere Parts tauschen. Du hast schon eine sehr schwierige, ermüdende Operation hinter dir. Oder traust du mir diesen Eingriff nicht zu?«

»Selbstverständlich, Hanna, ich habe nur nicht gewagt, dich darum zu bitten. Also tauschen wir unsere Parts. Du operierst, und ich übernehme die erste Assistenz.«

Als Kay und Hanna ein paar Augenblicke später ihre Plätze am Operationstisch einnahmen, war da bei den anderen Mitgliedern des Teams weder Überraschung noch Erstaunen. Es war für sie alle etwas Selbstverständliches.

Nur Sekunden sah Hanna auf die stille Gestalt des schwerverletzten Mädchens. Lieber Gott, laß es gelingen, erhalte das Leben dieses Kindes, betete sie. Nur Sekunden, dann war in ihr nur noch Konzentration und alles andere trat in den Hintergrund zurück. Da eine sichere Diagnose vorlag, kam für Hanna auch nur der linksseitige Rippenbogenschnitt als Zugang in Frage. Mit der Präzision eines Uhrwerks arbeitete sich Hanna weiter vor. Kaum war das Wort ausgesprochen, lagen auch schon die geforderten Instrumente in ihrer Hand. Hanna, Kay, Dr. Küsters sowie Simone Wilde, die Anästhesistin, und auch die anderen Mitglieder des Teams wußten, worauf es ankam. Hin und wieder ertönten das leise Klirren eines abgelegten Instruments und Hannas kurze Kommandos unterbrachen die Stille. Von außen beginnend unterband die Chirurgin alle Gefäße, um die Blutung zu stoppen. Immer wieder wurden neue Tupfer benötigt. Doch dann war es soweit und die letzte Verbindung der Milz, das Band von ihrem oberen Pol, war durchtrennt und die verletzte Milz konnte entfernt werden. Zwischendurch erfolgte immer wieder ein Blick der Verständigung mit der Anästhesistin, die ihre Aufgabe ausgezeichnet durchführte. Nach über zwei Stunden war der schwere Eingriff beendet. Eine Redondrainage wurde in die Milzloge eingelegt und danach die Bauchwunde verschlossen. Ein letztes Mal tupfte Schwester Maria Hanna die feinen Schweißperlen von der Stirn, dann trat Hanna vom OP-Tisch zurück, und Kay übernahm den Rest.

»So, das wäre geschafft, Kay. Jetzt können wir nur hoffen, daß keine Komplikationen auftreten, dann haben wir die Kleine über den Berg.«

»Kann man wohl sagen, Hanna. Du hast es auf jeden Fall wieder einmal großartig geschafft. Zu wünschen wäre jetzt natürlich, daß man die Angehörigen der Kleinen findet.«

»Vielleicht erfahren wir von dem Mädel selbst, wie es heißt und woher es kommt, wenn es wieder bei vollem Bewußtsein ist. Meiner Meinung nach ist das Mädchen nicht jünger als zwölf, oder nicht viel älter als dreizehn Jahre.«

»Da könntest du recht haben. Mir ist eben, als sie umgebettet und zur Intensivstation gebracht wurde, aufgefallen, daß sich in ihrem Gesicht kleinere Wunden befanden, die eigentlich nicht vom Unfall herrühren können. Es sah mir eher nach kleinen Brandblasen aus. Ich werde es mir später genau ansehen. Es ist nichts Schwerwiegendes, aber es ist immerhin vorhanden. Nun, wir müssen uns noch etwas gedulden.«

»Und wie sieht es jetzt aus? Machst du zuerst eine Pause, oder kann ich?«

»Geh du ruhig ins Doktorhaus hinüber, ich halte hier die Stellung, falls man bei der Polizei schon etwas über die Angehörigen herausgefunden hat.

Wenn du möchtest, kannst du auch für heute drüben bleiben.«

»Nein, ich komme wieder zurück. Ich möchte nur etwas essen. Ich hätte drüben sowieso keine Ruhe, solange ich nicht weiß, was es mit der neuen Patientin auf sich hat. Außerdem brauchst auch du eine Pause. Dein Tag war genauso anstrengend wie meiner.«

»In Ordnung, Hanna. Du kannst ja Frau Sanders Bescheid sagen, daß sie mir das Essen warm macht. Sagen wir, so in einer Stunde.«

»Mach ich doch gern, Kay. Also, bis nachher. Ich gehe jetzt, bevor noch einmal etwas dazwischen kommt.«

Hanna hatte es nun eilig, die Klinik zu verlassen, und ging durch den Klinikpark zum Doktorhaus.

»Du kommst spät, Hanna. Was war los?« empfing Bea Martens ihre Tochter, als diese das Wohnzimmer betrat.

»Wie ich heute mittag schon am Telefon sagte, ein Unfall, Mutti. Da ist doch auf der Landstraße in der Nähe von Soltau ein schwerverletztes, etwa dreizehnjähriges Mädchen gefunden worden. Wir mußten operieren, sonst wäre das Mädchen verblutet. Das Schlimme daran ist, daß sich bis jetzt keinen Angehörigen gemeldet haben. Wir haben operieren müssen ohne die Einwilligung der Eltern oder sonstigen Angehörigen. Es war ein Notfall, und wir durften nicht länger warten.«

»Habt ihr das Mädel retten können?«

»Ja, sonst wäre ich jetzt noch nicht hier. Wo ist die Füchsin? Ich wollte sie bitten, mir etwas zu essen zu machen.«

»Die Füchsin ist in der Küche und macht dir etwas zurecht. Sie hat dich vom Fenster aus kommen sehen.«

»Prima, Mutti, ich habe nämlich Hunger bekommen.«

»Und Kay?«

»Kay wird eine Pause einlegen, wenn ich zurückkomme. Ich werde gleich drüben bei Hella Sanders Bescheid sagen.«

»Das wird die Füchsin machen, Mädel. Du setzt sich jetzt erst einmal bequem hin und ruhst dich aus. Du wirkst abgespannt.«

»Halb so wild, Mutti. Wenn ich erst etwas im Magen habe, werde ich mich wieder wie neu fühlen.«

Jolande brachte für Hanna das aufgewärmte Essen, und während Hanna es sich schmecken ließ, ging Jolande zu Hella Sanders, um die Bitte Kays weiterzugeben.

Erst nachdem Jolande wieder abgeräumt hatte, wollte Bea Martens wissen: »Du sagtest vorhin, daß das Mädchen im Straßengraben gefunden wurde. Weiß man schon, wie der Unfall geschah?«

»Nein, Mutti, aber ich denke, spätestens morgen vormittag wissen wir mehr, denn die Polizei wird sich wohl darum kümmern und auch bei uns in der Klinik auftauchen. Es muß wie in all diesen Fällen ein Protokoll aufgenommen werden. Für uns ist es am wichtigsten, daß sich die Angehörigen melden. Wie ist denn dein Tag heute verlaufen?« ging Hanna auf ein anderes Thema über.

»Heute vormittag habe ich einen langen Spaziergang unternommen und nach dem Mittagessen war ich wie immer drüben in der Klinik. Die kleine Laura hatte heute keinen Besuch, da habe ich mich ein wenig länger mit ihr beschäftigt. Als ich sie verließ, hatte sie ihren Kummer vergessen. So, und jetzt laß ich dich allein, damit du dich auch wirklich ausruhen und etwas abschalten kannst.«

*

»Hat sich inzwischen schon etwas Neues ergeben, Kay?« fragte Hanna, als sie in die Klinik zurückkam, um ihn abzulösen.

»Ein Kriminalbeamter war inzwischen hier, um unsere kleine Patientin zu befragen. Da es unmöglich war, wird er morgen vormittag noch einmal vorsprechen. Ich bin sehr besorgt, denn das Mädel hat das Bewußtsein noch nicht zurückerlangt. Es sieht auch nicht danach aus, als würde sich das in absehbarer Zeit ändern. An den Verletzungen, die am Kopf vorhanden sind, kann es eigentlich nicht liegen, die sind relativ harmlos. Ich denke, daß die Ursache für die Bewußtlosigkeit der Unfallschock ist. Die Werte haben sich leicht stabilisiert, soweit es im Augenblick zu beurteilen ist. Wenn wir keine Komplikationen mehr erwarten müssen, werden wir noch eine Computertomographie durchführen. Doch wie schon gesagt, da werden wir noch etwas abwarten. Ich habe darüber schon mit Dr. Mettner gesprochen. Er befindet sich jetzt in der Intensivabteilung.«

»Und in puncto Angehörige, hat sich da schon etwas ergeben?«

»Nein, noch alles beim Alten, Hanna.«

»Das begreife ich nicht, Kay. Es ist doch noch ein Kind. Es müßte doch inzwischen schon vermißt werden?«

»Das ist nicht gesagt, Hanna. Noch ist die Dunkelheit nicht hereingebrochen. Es gibt Jugendtreffs, an denen auch schon Dreizehnjährige teilnehmen. Vielleicht haben die Eltern das Mädel bis zu diesem Zeitpunkt auch noch nicht vermißt. Alles ist da möglich. Jedenfalls lasse ich dich jetzt erst einmal für eine Weile allein, sonst tritt mir meine Frau Sanders auf die Füße. Du kennst sie ja, sie kann sehr resolut sein.«

»Das muß sie wohl bei dir auch manchmal sein, Bruderherz. Geh nur, laß dich durch mich nicht aufhalten.« Lächelnd sah Hanna ihm nach.

Zu Schwester Regine, die den Abenddienst in der Aufnahme übernommen hatte, sagte Hanna: »Falls ich benötigt werde, ich bin in der nächsten halben Stunde im Sprechzimmer zu erreichen.«

»In Ordnung, Frau Dr. Martens.«

Hanna zog sich in ihr Sprechzimmer zurück und erledigte einige schriftliche Arbeiten, zu denen sie wegen des Notfalls nicht gekommen war. Zwischendurch irrten ihre Gedanken immer wieder zu dem kleinen Mädchen auf der Intensivstation. Sie hatte ganz vergessen, Kay danach zu fragen, ob er von dem Kriminalbeamten erfahren hatte, wie es zu dem Unfall gekommen war. Wie Dr. Küsters gesagt hatte, war das Mädchen an einer ziemlich einsamen Stelle gefunden worden. An einer Stelle, an der sich kein Haus in der Nähe befand. Aber irgendwo mußte das Mädchen hergekommen sein. Als sie ihre Eintragungen beendet hatte, ging sie hinüber zur Intensivabteilung, um­ noch einmal nach dem Befinden des frischoperierten Mädchens zu sehen.

Schwester Margret war gerade damit beschäftigt, eine neue Infusionsflasche anzuschließen.

»Wie schaut es aus, Schwester Margret? Gibt es inzwischen eine Veränderung?«

»Nein, Frau Doktor, noch immer alles unverändert.«

»Und wo befindet sich Dr. Mettner?«

»Er ist drüben im Bereitschaftszimmer. Soll ich ihn holen?«

»Danke, Schwester Margret, das ist nicht nötig. Ich gehe selbst zu ihm, da ich mit ihm reden möchte. Lassen Sie nur die kleine Patientin nicht aus den Augen. Noch ist sie nicht außer Gefahr.«

Hanna kontrollierte noch einmal die Werte der Kleinen und beobachtet sie einen Augenblick, bevor sie ins Bereitschaftszimmer ging.

Dr. Mettner sah erstaunt auf die Eintretende.

»Sie sind noch im Haus, Frau Dr. Martens?«

»Schon wieder, Herr Dr. Mettner, und ich werde auch vorläufig noch bleiben. Ich habe mich gerade davon überzeugt, daß wir im Augenblick nicht mehr für die Patientin tun können, als nur abzuwarten. Ich würde sagen, machen Sie für heute Feierabend. Es war auch für Sie ein langer Tag, und Ihre normale Dienstzeit ist schon um ein paar Stunden überschritten. Ich übernehme, bis Dr. Dornbach seinen Spätdienst antritt. Ihre Frau wird sicher schon voller Ungeduld auf Sie warten. Mein Bruder kommt auch noch einmal herüber. Sie sehen also, für eventuelle Notfälle ist wirklich genug Personal im Haus.«

»Haben sich denn noch immer keine Angehörigen gemeldet, Frau Doktor?«

»Nein, leider noch nicht. Eine Sache, die uns wohl alle hier im Haus beschäftigt. Wir haben auch in der Kleidung der Patientin keinerlei Anhaltspunkte gefunden. Das Mädel hatte nichts bei sich. Wir können also nur abwarten. Ich will Sie nun aber nicht länger aufhalten. Fahren Sie nach Hause und grüßen Sie Ramona und Inka recht herzlich von mir.«

»Ich werde es bestimmt nicht vergessen, Frau Doktor.«

Nachdem Hanna allein war, fielen ihr plötzlich die Worte des Bruders ein. Er hatte da von kleinen Brandwunden im Gesicht der jungen Patientin gesprochen. Sie würde sich diese mal ein wenig genauer ansehen.

Als sie sich einen Augenblick später über das Mädchen beugte, mußte sie ihrem Bruder recht geben. Es sah aus, als wäre dem Mädchen etwas ins Gesicht gespritzt. Hanna entdeckte auch auf dem rechten Unterarm ein paar dieser kleinen Brandblasen.

Hanna wurde nachdenklich, als sie die Kleine so betrachtete. Armes Ding, dachte sie. Wenn du doch bloß erwachen und reden würdest.

Eine Möglichkeit fiel Hanna noch ein. Dieses junge Ding konnte von daheim fortgelaufen sein. Und sie ahnte nicht, wie nahe sie mit ihren Überlegungen der Wahrheit kam.

Bis Hanna gegen einundzwanzig Uhr die Klinik verließ, war keinerlei Veränderung bei Saskia zu erkennen, und auch Angehörige hatten sich bis zu diesem Zeitpunkt nicht in der Klinik gemeldet. Die Hoffnungen schoben sich nun auf den kommenden Tag.

*

Gegen acht Uhr am nächsten Morgen betrat ein Mann mittleren Alters die Eingangshalle der Kinderklinik.

»Sie wünschen bitte?« Fragend sah Martin Schriewers den Besucher an.

»Mein Name ist Morbeck, Kommissar Morbeck aus Soltau. Ich möchte gern den Chefarzt der Klinik sprechen.«

»Wenn Sie sich einen Moment gedulden würden, Herr Kommissar, ich sage Herrn Dr. Martens sofort Bescheid.«

Martin wußte, daß Kay sich noch in seinem Sprechzimmer befand, und wählte dessen Nummer.

»Entschuldigen Sie die Störung, Kay. Hier ist ein Kommissar Morbeck, der Sie sprechen möchte.«

»Schicken Sie ihn bitte zu mir durch, Martin. Es geht bestimmt um die Unfallpatientin von gestern nachmittag. Sagen Sie dem Herrn, daß ich ihn erwarte.«

Ein paar Minuten später begrüßte Kay den Kommissar höflich und fragte auch sofort: »Bringen Sie mir gute Nachrichten, Herr Morbeck? Haben sich Vater oder Mutter des Mädchens inzwischen bei Ihnen gemeldet?«

»Nein, leider noch nicht. Kann das Mädchen denn noch immer keine Auskunft geben? Ich bin auch hier, weil ich der Kleinen einige Fragen stellen möchte. Wir wissen inzwischen wohl, daß es sich um einen Unfall mit Fahrerflucht handelt, aber von dem oder den Schuldigen haben wir bis jetzt noch keine weitere Spur, außer einigen Lacksplittern. Es wäre immerhin möglich, daß uns das Mädchen weiterhelfen kann.«

»Es tut mir leid, Herr Morbeck, aber eine Befragung der Patientin ist unmöglich. Sie liegt immer noch in einem komaähnlichen Schlaf. In dieser Richtung sind uns die Hände noch gebunden. Uns wäre es andersherum auch lieber. Warum sich noch keine Angehörigen bei uns gemeldet haben, ist uns unbegreiflich. Der Kleidung nach muß das Mädchen aus guten Kreisen kommen. Es befindet sich nun seit gestern mittag in unserer Obhut. Es müßte doch spätestens seit den späten Abendstunden vermißt werden.«

»Das schon, Herr Dr. Martens. Doch selbst wenn das Mädchen noch am Abend als vermißt gemeldet worden wäre, läuft der ganze Suchapparat doch erst heute an. Meistens merken die Eltern von halbwüchsigen Kindern erst spät, daß mit ihren Sprößlingen etwas nicht stimmt. Wenn jedoch eine Vermißtenmeldung vorliegt, wird heute mittag in den Tagesnachrichten im Fernsehen ein Aufruf gesendet. Ich werde mich bei meiner Rückkehr auch weiter mit den umliegenden Polizeidienststellen in Verbindung setzen. Sobald wir etwas Neues hören, werden wir uns sofort mit der Klinik in Verbindung setzen. Ich erwarte jedoch, daß auch Sie mir Bescheid geben, sollte die Patientin erwachen. Wir müssen den Schuldigen finden. Menschen, die nach einem Unfall Fahrerflucht begehen, sich nicht um das Unfallopfer kümmern, können meiner Meinung nach nicht hart genug bestraft werden. Wir müssen ihn nur finden. Ich kann mich also auf Sie verlassen, nicht wahr?«

»Das ist doch selbstverständlich, Herr Morbeck. Sobald die Kleine wieder bei klarem Bewußtsein ist, lasse ich es Sie wissen. Nur, wann es soweit sein wird, läßt sich im Augenblick leider nicht sagen.«

Kommissar Morbeck nickte und sagte dann: »Ich möchte Ihre Zeit jetzt nicht länger in Anspruch nehmen und mich verabschieden. Noch eine letzte Frage. Besteht noch Lebensgefahr?«

»Wenn die Patientin die nächsten vierundzwanzig Stunden ohne Komplikationen übersteht, bekommen wir sie über den Berg. Mehr kann ich dazu im Augenblick nicht sagen. Es tut mir leid.«

»Diese Auskunft reicht mir schon aus, Herr Dr. Martens. Also, wir hören auf jeden Fall noch voneinander.«

Mit einem herzlichen Händedruck verabschiedete sich der Kommissar von Kay und ließ diesen allein.

Als Hanna ihn kurze Zeit später aufsuchte, wollte sie wissen: »Wer war der Herr, der mir gerade in der Eingangshalle entgegenkam?«

»Ein Kommissar Morbeck, Hanna. Er wollte die Patientin befragen. Wie du ja selbst weißt, ist es zur Zeit nicht möglich. Es steht jedenfalls schon fest, daß es sich bei dem Unfall um einen Unfall mit Fahrerflucht gehandelt hat.«

Ausführlich gab Kay die Unterhaltung mit dem Kommissar weiter.

»Du siehst also, wir sind noch keinen Schritt weitergekommen.«

»Mein Gott, Kay, es ist doch schrecklich, einen verletzten Menschen einfach liegenzulassen und sich davonzumachen. Es ist herzlos und grausam.«

»So ist es, und leider Gottes gibt es von dieser Sorte Mensch viel zu viele auf unserer schönen Welt. Ich denke, wir sollten unsere Unterhaltung über dieses Thema jetzt beenden. Ich habe das Gefühl, daß wir uns im Augenblick nur im Kreis bewegen.«

»Das Gefühl habe ich auch. Trotzdem brauchen uns auch unsere anderen Patienten. Für mich steht gleich die Untersuchung bei Nils Wernicke an. Über die Ergebnisse werde ich dich im Anschluß an die Untersuchungen informieren. Hast du nicht gleich die Besprechung mit Frau Dr. Andergast?«

»Ja, wir wollten die Therapie besprechen, die wir bei der kleinen Patientin von Zimmer sieben anwenden werden. Bevor du deine Untersuchung beginnst, sag doch bitte drüben im Doktorhaus Bescheid. Es würde mich interessieren, ob in den Nachrichten im Fernsehen vielleicht doch etwas über ein vermißtes Kind gesendet wird. Kommissar Morbeck deutete an, daß, wenn von Eltern eine Vermißtenanzeige gemacht wird, dann in der Regel etwas darüber in den Nachrichten gebracht wird. Bitte Mutti darum, etwas darauf zu achten.«

»Das tue ich auf jeden Fall. Je eher wir etwas erfahren, um so besser ist es. So, und nun werde ich anrufen und danach an meine Arbeit gehen. Wenn auf der Intensivabteilung eine Änderung eintritt, wird man einen von uns sofort verständigen.«

Bea Martens versprach ihrer Tochter, keine Nachrichtensendung zu versäumen, und Hanna widmete sich beruhigt ihren anderen Aufgaben. Nils Wernicke, das war auch so ein Problempatient. Ein sechsjähriger kleiner Bursche, der bei seiner Großmutter lebte, nachdem seine Mutter vor ungefähr einem Jahr bei einem tragischen Unfall ihr Leben hatte lassen müssen. Liselotte Wernicke war unverheiratet gewesen und hatte den Namen von Nils’ Vater nie preisgegeben. Das alles wußte Hanna von Luise Wernicke, der Großmutter des Jungen, der vor drei Tagen in die Klinik gebracht worden war. Ein zierlicher, sehr scheuer Junge, der immer ein trauriges Gesicht hatte. Wann immer Hanna in den vergangenen Tagen das Krankenzimmer betreten hatte, das der Kleine mit einem anderen Jungen teilte, nie war auch nur der Anflug eines Lächeln in seinem Gesicht zu erkennen gewesen. Als Luise Wernicke den Jungen gebracht hatte, war sie völlig ratlos gewesen. Sie sagte Hanna, daß der ständig über Bauchschmerzen klagte. Doch die bis jetzt durchgeführten Untersuchungen waren erfolglos verlaufen. Hanna hatte keine organische Erkrankung feststellen können. Heute wollte sie noch einige Untersuchungen durchführen, um eine endgültige Diagnose stellen zu können. Der Verdacht lag nahe, daß der Kleine psychosomatisch erkrankt war. Ein kleiner, bedauernswerter Junge, der den Verlust der Mutter noch nicht verarbeitet hatte. Er bekam wohl von seiner Oma nicht die Liebe, nach der sich sein kleines Herz sehnte. Luise Wernicke war eine sehr kühle Frau. Sie brachte dem Jungen wohl keine tieferen Gefühle entgegen. Wenn Hanna erst sicher war, daß dem Jungen wirklich organisch nichts fehlte, hatte Wenke Andergast, die Kinderpsychologin der Klinik, einen kleinen Patienten mehr.

Mit diesen Gedanken beschäftigte sich Hanna, als sie darauf wartete, daß Schwester Laurie den kleinen Buben von der Krankenstation ins Untersuchungszimmer herunterbrachte.

*

Gegen Mittag bat Hanna Wenke Andergast zu sich.

»Sie wollten mich sprechen, Frau Dr. Martens?« Fragend sah die junge Kinderpsychologin Hanna an.

»Ja, ich wollte mich mit Ihnen über den kleinen Nils Wernicke unterhalten.«

»Gibt es Probleme mit dem kleinen Kerl?«

»Ich habe den Jungen heute noch einmal gründlich untersucht. Organisch fehlt ihm nichts. Die Seele ist krank. Die Symptome sind psychosomatisch. Nehmen Sie den Jungen unter Ihre Fittiche. Versuchen Sie bei ihm Ihr Glück. Sie sind Psychologin und haben in diesem Fall mehr Einfluß.«

»Ich werde mich bemühen, dem kleinen Kerl zu helfen. Ich möchte mich jedoch mit der Großmutter unterhalten, um mir ein genaues Bild vom persönlichen Umfeld des Kindes zu machen. Die bedauerliche Tatsache, daß der Junge seine Mutter verloren hat, ist mir ja schon von Ihnen gesagt worden.«

»Dann ist soweit alles klar, Frau Dr. Andergast. Hier sind die gesamten Unterlagen, und ich kann Ihnen nur Erfolg wünschen. Sie halten mich auf dem laufenden, nicht wahr?«

»Natürlich, darauf können Sie sich verlassen.«

»Gut, ich sage Martin Schriewers noch Bescheid, daß er Frau Wernicke zu Ihnen schickt, falls sie zur Klinik kommt, um Nils zu besuchen.«

Wieder allein, sah Hanna auf die Uhr. Es ging schon auf zwölf Uhr zu. Sie dachte: Ich werde noch hinauf auf die Station gehen und mit Schwester Elli den Dienstplan für die kommende Woche besprechen, danach mache ich erst einmal Mittagspause und gehe zum Essen ins Doktorhaus hinüber.

Sie hatte gerade die Tür ihres Sprechzimmers hinter sich zugezogen, da sah sie ihre Mutter durch die hohe Glastür, die zur Eingangshalle führte, auf sich zukommen. Sie

schien es sehr eilig zu haben, und Hanna konnte auch schon von weitem erkennen, daß sie sehr aufgeregt war.

Hanna blieb stehen und wartete, bis die Mutter bei ihr war.

»Du kommst um diese Zeit in die Klinik, Mutti? Was ist los?«

»Hanna, stell dir vor, da kam gerade im Radio eine Meldung durch. Ich habe mir alles notiert und dachte, es ist besser, wenn ich dir die Notizen persönlich bringe, anstatt anzurufen. Ich bin schon vor lauter Aufregung ganz kribbelig.«

»Das sehe ich, Mutti. Komm in mein Sprechzimmer.«

Hanna öffnete die Tür und ließ ihre Mutter an sich vorbei eintreten.

»Nun zeig mir schon, was du dir notiert hast, und berichte von der Meldung. Es handelt sich doch um unsere kleine Unfallpatientin, oder?«

»Ja, da wird ein dreizehnjähriges Mädchen vermißt. Das Kind heißt Saskia Behring, wohnhaft in Lüneburg. Hier, lies selbst die Beschreibung. Ich hoffe, es geht wirklich um das verletzte Mädchen, das hier bei euch auf der Intensivabteilung liegt.«

Bea Martens reichte Hanna ein Blatt mit ihren Notizen. Da stand als Beschreibung:

Saskia Behring, dreizehn Jahre alt, schmale Figur, langes tiefschwarzes Haar. Bekleidet mit einem hellgrünen Sommerkleid, wei­ßer Strickweste, weiße Söck­chen und ebensolchen Sandaletten.

»Nun, Hanna, könnte es eure Patientin sein?« fragte Bea Martens und sah Hanna gespannt an.

»Ja, Mutti, es ist das Mädchen, es muß es sein. Die Beschreibung paßt ganz genau. Gott sei Dank, endlich kommen wir in dieser Sache weiter. Es ist eine ziemliche Strecke bis Lüneburg. Doch im Augenblick ist das nicht so wichtig. Hast du dir auch gemerkt, an welche Stelle man sich wenden muß, Mutti?«

»An das Kriminalkommissariat in Lüneburg oder an jede andere Polizeidienststelle.«

»Ich danke dir, Mutti, daß du sofort gekommen bist. Ich werde mir von Martin die Nummer der Kriminalpolizei in Lüneburg heraussuchen lassen und mich sofort telefonisch mit ihr in Verbindung setzen. Von dort werde ich ja dann die Anschrift der Eltern in Erfahrung bringen. Nimm doch bitte Platz. Wenn du möchtest, kannst du ja so lange hier bleiben, bis ich Genaueres weiß.«

»Da fragst du noch, Hanna?«

Hanna wählte schon die Nummer der Aufnahme. Und als sich Martin Schriewers meldete, sagte sie: »Suchen Sir mir doch bitte sofort die Telefonnummer der Kriminalpolizei in Lüneburg heraus, Martin, und verbinden Sie mich. Ich bin in meinem Sprechzimmer und warte auf das Gespräch.«

»Wird sofort erledigt, Hanna, ich melde mich gleich bei Ihnen.«

Hanna legte gerade den Telefonhörer wieder auf die Gabel zurück, als es kurz klopfte und Kay den Raum betrat.

Lächelnd sagte er: »Hallo, Mutti, Familienversammlung um die Mittagszeit hier in der Klinik? Du bist doch wohl nicht krank?«

»Sehe ich etwa so aus, mein Sohn?« fragte Bea Martens lächelnd zurück.

»Nein, eigentlich nicht, Mutti. Darf man denn erfahren, warum du hier bist?«

»Hier, Kay, es geht um unsere Patientin. Da ist die Beschreibung, die Mutti notiert hat. Im Radio kam eine Suchmeldung durch. Martin stellt mir schon eine Verbindung mit der Kriminalpolizei in Lüneburg her. Du kommst gerade zum richtigen Zeitpunkt.«

Kay las sich die Notizen durch, die seine Mutter gemacht hatte, und sagte erleichtert: »Das ist sie, haargenau. Damit kommen wir ja schon einen riesigen Schritt weiter. Wie gehst du jetzt vor, Hanna?«

»Ich werde mir die Anschrift und die Telefonnummer der Eltern des Mädchens geben lassen und mich danach sofort mit ihnen in Verbindung setzen. Die ganze Geschichte wird sowieso ein großer Schock für die Angehörigen sein, der sich aber leider nicht verhindern läßt.«

Kay wollte etwas darauf erwidern, doch in diesem Moment läutete das Telefon. Hanna nahm den Hörer ab und hörte Martin Schriewers sagen: »Ich verbinde, Hanna, es ist Lüneburg, Kommissar Nölting.«

Eine Moment später meldete sich eine sonore Männerstimme: »Hier Kommissar Nölting. Was kann ich für Sie tun?«

»Mein Name ist Martens, Dr. Martens, und ich rufe aus der Kinderklinik Birkenhain in Ögela an. Es handelt sich um das vermißte Mädchen, Saskia Behring. Bin ich da mit Ihnen richtig verbunden?«

»Ja, ich bearbeite diese Angelegenheit, Frau Dr. Martens. Was können Sie mir über das Mädchen sagen? Der Vater hat gestern abend eine Vermißtenanzeige gemacht.«

»Wir haben gestern in der Mittagszeit eine Unfallpatientin in unsere Klinik bekommen. Ein Mädchen, auf das die Beschreibung genau paßt. Das schwerverletzte Kind wurde von Lüneburg aus gesehen hinter Soltau in einem Straßengraben gefunden. Wie wir von der hiesigen Polizei erfahren konnten, soll es sich um einen Unfall mit Fahrerflucht gehandelt haben. Liegt Ihnen darüber noch keine Meldung vor?«

»Nein, denn normalerweise gehen diese Meldungen zuerst an andere Abteilungen, die den Verkehrsbereich behandeln. Was ist mit dem Kind? Sind die Verletzungen lebensgefährlich?«

»Wir mußten operieren, um das Leben des Mädchens zu erhalten, Herr Kommissar. Leider konnte es uns bis zu diesem Zeitpunkt selbst keinerlei Angaben machen, da es noch immer im Koma liegt. Wäre es möglich, die Anschrift und die Telefonnummer der Eltern der Patientin zu bekommen? Ich möchte mich gern persönlich mit ihnen in Verbindung setzen. Es liegt mir daran, sie möglichst behutsam auf alles vorzubereiten, damit der Schock nicht zu groß wird.«

»Selbstverständlich, Frau Dr. Martens. Ihr Wunsch kommt mir sehr entgegen. Haben Sie etwas zum Notieren zur Hand?«

»Ja, natürlich.«

Der Kommissar gab Hanna nun die Adresse und Telefonnummer durch und verabschiedete sich.

Hanna legt den Hörer auf die Gabel zurück und wandte sich Kay und ihrer Mutter zu.

»Nun, was ist, Hanna?« fragte Kay.

»Es handelt sich bei unserer Patientin wohl tatsächlich um das vermißte Mädchen. Der Vater hat gestern abend eine Vermißtenanzeige erstattet. Ich habe die Anschrift und Telefonnummer. Ich werde mich jetzt auch sofort mit den Eltern in Verbindung setzen. Es ist immerhin besser, die Eltern erfahren die Sachlage von mir als von der Polizei. Ihr müßt mir da wohl recht geben, oder?«

»Natürlich, Hanna«, stimmten Kay und die Mutter zu, und Bea sagte: »Ich lasse euch jetzt wieder allein. Wenn Hanna ihr Gespräch beendet hat, wird sie sicher zum Mittagessen ins Doktorhaus hinüberkommen. Bis die Eltern des Mädchens hier sind, werden sowieso noch Stunden vergehen. Also, Hanna, bis nachher.«

Nachdem Bea Martens Hanna und Kay alleingelassen hatte, wählte Hanna die Nummer, die sie von Kommissar Nölting erhalten hatte.

*

Im Hause Behring hatte man die ganze Nacht kein Auge zugemacht. Während Hans Peter ruhelos auf und ab ging, ließ Andrea das Telefon nicht mehr aus den Augen.

Hans Peter hatte zwar immer wieder versucht, Andrea dazu zu bewegen, sich hinzulegen, doch seine Bemühungen waren zwecklos gewesen. Sie hatte geantwortet: »Ich kann nicht. Ich kann doch nicht ruhig schlafen, solange das Mädchen irgendwo draußen herumirrt. Es ist meine Schuld, daß es erst soweit hat kommen können. Ich bin nicht geduldig genug gewesen.«

»Unsinn, ich habe die junge Dame zu sehr verwöhnt. Etwas, was sich ganz rasch ändern wird, wenn sie erst wieder zu Hause ist. Mit dreizehn Jahren müßte sie eigentlich schon vernünftig genug sein«, hatte er geantwortet und sein ruheloses Hin- und Herwandern erneut aufgenommen.

Erst als der Morgen graute, war Andrea vor Erschöpfung wieder eingenickt.

»Wollen Sie nicht wenigstens die Polizei anrufen, ob man inzwischen schon eine Spur von Saskia gefunden hat, Herr Behring?« drängte Fränzi, die bei Hans Peter und seiner jungen Frau ausgeharrt hatte.

»Wozu, Fränzi? Wenn man schon etwas wüßte, hätte man uns sofort informiert. Besorgen Sie mir einen starken Kaffee, damit ich etwas munter werde. Ich halte es hier im Haus nicht mehr aus. Dieses untätige Herumsitzen, so gar nichts tun können, es bringt mich noch um den Verstand. Ich fahre etwas durch die Gegend und suche nach Saskia. Draußen wird es langsam hell, da sind die Aussichten viel besser.«

»Das sollten Sie nicht tun, Herr Behring. Wo wollen Sie denn anfangen? Ihre Frau braucht Sie jetzt auch.«

»Sie ist, Gott sei Dank, eingeschlafen. Kümmern Sie sich um sie, solange ich nicht im Haus bin.«

»Ich schlafe nicht mehr, Hans Peter«, sagte Andrea leise.

»Ich habe mitbekommen, daß du Saskia auf eigene Faust suchen willst. Tu es, wenn es dich dazu treibt, aber versprich dir davon nicht zuviel. Die Polizei hat doch ganz andere Möglichkeiten.«

»Das sagst du, Andrea. Was machen die denn aus ihren Möglichkeiten? Eine lange Nacht ist inzwischen vorübergegangen, und was hat sie bisher gebracht? Ich glaube schon nicht mehr daran, daß alles wieder in Ordnung kommt.«

»Was redest du da, Hans Peter? Du darfst doch so schnell nicht die Hoffnung aufgeben. Ich bin über Saskias Verschwinden genau so verzweifelt, denn ich habe sie trotz ihrer Ablehnung liebgewonnen.«

»Die Nacht ist vorbei, und ein neuer Tage beginnt, an dem sich ganz bestimmt alles aufklärt. Wir dürfen die Hoffnung nicht aufgeben. Was bleibt uns denn noch übrig?«

»Laß nur, Andrea. Ich muß jetzt weg. Versuche, es zu verstehen.«

Hastig wandte sich Hans Peter ab und verließ mit langen Schritten das Haus. Augenblicke später hörten die beiden zurückbleibenden Frauen, wie sich sein Wagen in schneller Fahrt entfernte.

»Was machen wir jetzt, Frau Behring?«

»Was können wir tun, Fränzi?« entgegnete Andrea resignierend.

»Ich besorge frischen Kaffee, und Sie fragen bei der Polizei nach. Ich habe Ihren Mann schon darum gebeten, aber er wollte nicht.«

»Es wird zwar nicht viel nutzen, aber auch nicht schaden, Fränzi. Ich versuche es.«

Als Fränzi mit dem Kaffee zurückkam, legte Andrea gerade den Telefonhörer wieder auf.

»Haben Sie schon etwas erfahren können, Frau Behring?«

»Nein, noch keine Spur, Fränzi. Man wird heute die Bemühungen verstärkt fortsetzen und uns informieren, sobald es etwas Neues gibt. Man hat mir nahegelegt, es noch einmal bei allen Bekannten zu versuchen. Wir müssen also weiter warten. Es ist zum Verrücktwerden. Ich fühle mich so hilflos.«

Zwei Stunden später kam Hans Peter zurück, und seinem Gesicht sah Andrea sofort an, daß er keinerlei Erfolg bei seiner Suche gehabt hatte. Hans Peter wiederum erkannte, daß Andrea ebenfalls ziemlich am Ende war.

Zärtlich nahm er sie in den Arm und sagte bestimmt: »Du legst dich jetzt hin und versuchst zu schlafen. Ich bestehe darauf. Wenn es etwas Neues gibt, werde ich dich sofort wieder wecken. Bitte, Andrea, ich brauche dich doch gesund.«

»Wenn du darauf bestehst, gut. Ich gehe hinauf und versuche zu schlafen. Ich weiß allerdings nicht, ob es mir gelingt. Du bräuchtest auch dringend etwas Ruhe und Schlaf.«

»Einer muß die Stellung halten, Liebes. Geh schon und tu, um was ich dich gebeten habe.«

Sanft schob Hans Peter Andrea in Richtung Tür. Mit zögernden Schritten verließ sie den Raum und ging ins Schlafzimmer hinauf.

Obwohl sie sich noch dagegen wehrte, fiel sie, kaum hatte sie sich hingelegt, auch sofort in einen tiefen, traumlosen Schlaf.

Die kommende Stunde verbrachte Hans Peter erneut damit, noch einmal herumzutelefonieren. Doch wie am vergangenen Nachmittag war es vergebens. Er versuchte es auch noch einmal in Celle, bei seiner geschiedenen Frau Sabine, doch dort war wohl niemand zu Hause, denn es nahm niemand ab.

Gegen halb eins läutete plötzlich das Telefon. Wie elektrisiert sprang Hans Peter auf und war im nächsten Augenblick am Telefonapparat.

»Ja, hier Behring«, meldete er sich mit belegter Stimme.

»Herr Hans Peter Behring, Lüneburg?«

»Ja, Sie sind richtig verbunden. Mit wem spreche ich?«

»Mein Name ist Hanna Martens, Dr. Hanna Martens, Chefärztin der Kinderklinik Birkenhain in Ögela. Es geht um Ihre vermißte Tochter, Herr Behring. Ihre Adresse und Telefonnummer habe ich von Kommissar Nölting in Lüneburg.«

»Es geht um mein Mädel, und sie sagten Kinderklinik, Frau Dr. Martens. Um Gottes willen, was ist mit meinem Kind passiert? Wie kommt es in eine Kinderklinik? Wo liegt diese Klinik überhaupt?«

»Viele Fragen auf einmal Herr Behring. Bitte, Sie dürfen sich nicht aufregen. Ihre Tochter hatte einen Unfall. Es geht ihr den Umständen entsprechend. Sie lebt. Und wo die Kinderklinik liegt, kann ich Ihnen genau sagen. Kinderklinik Birkenhain, Ögela. Das ist ein kleiner Ort in der Nähe von Celle.«

»Was ist passiert, Frau Dr. Martens?«

»Am Telefon würde es zu lange dauern, wenn ich Ihnen alles genau erklären würde, Herr Behring. Ich halte es für dringend erforderlich, daß Sie zu uns kommen. Persönlich kann ich Ihnen alles ausführlich berichten.«

»Ich komme, so rasch es mir möglich ist, Frau Dr. Martens.«

»Gut, ich erwarte Sie und die Mutter des Mädchen dann im Laufe des Nachmittags.«

Hans Peter wollte noch etwas erwidern, doch am anderen Ende der Leitung war schon wieder aufgelegt worden.

Als er sich umwandte, sah er Fränzi in der offenen Tür stehen.

»Hatte der Anruf mit unserer Saskia zu tun, Herr Behring?«

»Ja, Fränzi, ich weiß endlich, wo das Mädel ist. Ich muß sofort meine Frau wecken. Wir fahren dann gleich los.«

»Ja, wo ist Saskia denn?«

»Sie ist in der Kinderklinik Birkenhain. Die Chefärztin dieser Klinik hat mich angerufen. Saskia hatte einen Unfall.«

»Um Gottes willen, einen Unfall? Ist Saskia schwer verletzt?«

»Ich weiß es nicht, Fränzi. Ich weiß nur, daß ich mit meiner Frau auf dem schnellsten Weg zur Klinik Birkenhain fahren werde. Die Kinderklinik liegt in der Nähe von Celle. Das sagt mir ja wohl sehr deutlich, daß Saskia zu ihrer Mutter wollte. Ich begreife zwar nicht, warum, aber es ist eine feststehende Tatsache. Ich kann mich jetzt nicht weiter mit Ihnen darüber unterhalten, Fränzi. Ich muß meine Frau wecken. Wenn wir genaueres wissen, rufen wir sofort von der Klinik aus an und informieren Sie. Ich weiß ja, daß Sie sich genauso große Sorgen um Saskia machen wie wir.«

*

»Andrea, Liebes, du mußt wach werden.«

Zärtlich beugte Hans Peter sich über Andrea und hauchte einen sanften Kuß auf ihre Stirn.

Schlaftrunken fuhr die junge Frau in die Höhe.

»Was ist los, Hans Peter? Hast du inzwischen etwas über unser Mädel erfahren? Ich sehe es dir doch an. Nun sag schon endlich, spann mich nicht unnötig auf die Folter.«

»Ja, Liebes, ich habe etwas erfahren. Ich weiß endlich, wo sich Saskia befindet. Ich hatte vor wenigen Minuten einen Anruf. Du mußt dich sofort fertig machen, damit wir fahren können. Ich möchte keine Zeit verlieren.«

»Ich werde mich beeilen. Sag mir wenigstens, wo das Mädel ist, und ob es ihr gut geht.«

»Saskia hatte einen Unfall und liegt in einer Kinderklinik in der Nähe von Celle, Liebes. Die Chefärztin der Kinderklinik hat mich gerade angerufen. Bitte, du darfst dich nicht aufregen, Saskia lebt.«

»Dem Himmel sei Dank, Hans Peter. Geh schon hinunter, ich beeile mich, damit wir uns sofort auf den Weg machen können. Saskia braucht uns doch jetzt.«

Eine knappe Viertelstunde später startete Hans Peter seinen Wagen.

Winkend stand Fränzi an der Straße und sah dem Wagen nach, bis er hinter einer Straßenbiegung ihren Blicken entschwand.

Während der Fahrt fragte Andrea leise: »Du sagtest, daß sich Saskia in einer Kinderklinik in der Nähe von Celle befindet. Sie wollte demnach zu ihrer Mutter, nicht wahr?«

»Ich nehme es an, Liebes, obwohl ich es nicht ganz verstehe. Sabine war dem Mädel nie eine liebende oder zärtliche Mutter. Das Kind war ihr schon als Säugling eher lästig. Ich kann mit gutem Gewissen behaupten, daß ich alles getan habe, um Saskia die Gleichgültigkeit und die Lieblosigkeit Sabines vergessen zu lassen. Ich sehe jetzt, nach all den Zwischenfällen der letzten Zeit ein, daß ich in dieser Hinsicht zu viel des Guten getan habe. Ich hätte einen guten und gesunden Mittelweg wählen sollen.«

»Vielleicht, Hans Peter. Wer kann das schon mit Gewißheit sagen? Ich werde nicht aufgeben und es weiter versuchen. Doch das Wichtigste wird sein, daß Saskia erst einmal wieder gesund wird. Ein wenig Angst habe ich schon davor, was uns in dieser Kinderklinik erwartet. Überhaupt, es sind da so viele offene Fragen.«

»Wir dürfen uns noch keine Sorgen machen, Liebes. Vielleicht ist es ja nicht so schlimm, und wir dürfen Saskia mit nach Hause nehmen.«

»Das wäre wunderbar. Daheim hätte sie noch die beste Pflege. Wann werden wir am Ziel sein?«

»Genau kann ich es nicht sagen, Liebes, da ich nicht genau weiß, wo Ögela liegt. Der Name sagt mir nicht viel. Ich rechne insgesamt mit zwei Stunden, wenn wir weiter zügig vorankommen.«

»Wie mag Saskia nur dorthin gekommen sein? Für ein Kind ist das doch eine ziemlich weite Strecke, nicht wahr?«

»Wir werden es bald erfahren. Es dauert ja nicht mehr lange.«

»Wirst du deine geschiedene Frau informieren?«

»Wenn wir Saskia mit nach Hause nehmen dürfen, rufe ich sie von zu Hause aus an. Wir werden sehen. So, wie ich Sabine kenne, wird sie sich so und so nicht um Saskia kümmern. Ich muß mich da wiederholen, aber Sabine ist eine sehr egoistische Person. Reden wir aber jetzt nicht mehr von ihr, denn für mich ist dieses Kapitel schon sehr lange abgeschlossen.«

»Und für Saskia?«

»Ich weiß es nicht. Es kann gut sein, daß die Auseinandersetzung, die ich mit dem Mädel hatte, der auslösende Moment für ihr kopfloses Handeln gewesen ist. Wenn wir durch die nächste Ortschaft kommen, müssen wir uns nach einem hübschen Mitbringsel für Saskia umsehen.«

»Wir haben es so eilig gehabt, uns auf den Weg zu machen und haben dabei nicht bedacht, daß wir für Saskia Nachtzeug und Wäsche hätten mitnehmen sollen, Hans Peter. Wir sind ja keineswegs sicher, daß wir sie mitnehmen dürfen, oder?«

»Und wenn schon, dann besorgen wir bei Bedarf etwas Neues.«

Je näher sie ihrem Ziel kamen, um so stiller wurde Andrea. Und als sie eine Weile später durch den hohen, schmiedeeisernen Torbogen auf das Klinikgebäude zufuhren, klopfte ihr Herz zum Zerspringen.

Was würden die kommenden Minuten für sie beide bringen? Ein verstohlener Blick in Hans Peters Gesicht ließ Andrea erkennen, daß es ihm auch nicht viel besser erging.

Andrea griff nach Hans Peters Hand, als sie kurz darauf durch die hohe Eingangstür die Halle der Kinderklinik betraten und an den Aufnahmeschalter traten.

»Sie wünschen bitte?« fragte Martin Schriewers freundlich.

»Mein Name ist Behring. Wir werden von Frau Dr. Martens erwartet. Können Sie uns sagen, wo wir sie finden?« antwortete Hans Peter.

Da Hanna Martin Schriewers über den zu erwartenden Besuch informiert hatte, erwiderte er: »Wenn Sie sich bitte ein paar Minuten gedulden würden? Frau Dr. Martens befindet sich im Augenblick oben auf der Krankenstation. Ich sage ihr Bescheid. Bitte, nehmen Sie solange in der Besucherecke Platz.«

Hans Peter führte Andrea zu der bequemen Sesselgruppe, und Martin Schriewers griff zum Telefonhörer und wählte die Nummer des Schwesternzimmers.

Es dauerte keine fünf Minuten, und Hans Peter und Andrea sahen eine junge Frau die Treppe herunter- und auf sie zukommen.

»Guten Tag. Ich bin Dr. Martens, und Sie sind Herr und Frau Behring, nicht wahr?«

»Guten Tag, Frau Dr. Martens. Wir hatten telefoniert. Wir sind so schnell gekommen, als es uns möglich war. Wie geht es meiner Tochter?«

»Bitte, wenn Sie mir in mein Sprechzimmer folgen würden? Was ich Ihnen beiden sagen muß, ist nicht mit wenigen Worten abgetan.«

Schweigend folgten Hans Peter und Andrea Hanna in ihr Sprechzimmer. Hanna bat die beiden, Platz zu nehmen.

Mit ernstem Gesicht sagte sie: »Wie ich Ihnen am Telefon schon sagte, ist Ihre Tochter nach einem Unfall zu uns in die Klinik gebracht worden. Ein junger Mann fand das Mädchen in der Nähe von Soltau verletzt in einem Straßengraben und informierte die Polizei. Wie wir inzwischen wissen, muß ein Wagen Ihre Tochter angefahren haben, und danach wurde Fahrerflucht begangen.«

»O Gott, nein, das ist ja entsetzlich«, entfuhr es Andrea, und mit aufgerissenen Augen sah sie Hanna an.

Hans Peter aber fragte heiser: »Ist meine Tochter schwer verletzt? Bitte, sagen Sie uns die Wahrheit.«

»Außer einigen kleineren Platzwunden und Abschürfungen hat sie schwere innere Verletzungen. Wir mußten operieren, um dem Mädel das Leben zu erhalten. Es war ein Milzriß mit starken inneren Blutungen. Ich kann Ihnen aber sagen, daß die Operation sehr gut verlaufen ist.«

»Mein armes Mädchen muß so leiden! Können wir zu ihr?«

»Ich bin noch nicht ganz fertig, Herr Behring. Da ist noch etwas, was Sie wissen sollten.«

»Bitte, so reden Sie schon weiter, Frau Doktor«, drängte Andrea nun mit zitternder Stimme.

»Es geht darum, daß Ihre Tochter bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht erwacht ist. Sie liegt noch immer in einem komaähnlichen Schlaf. Wie wir es sehen, eine Auswirkung des Unfallschocks. Es kann sich jedoch von einer zur anderen Stunde ändern.«

»Nein, nein, das darf doch nicht sein, das ist doch unmöglich! Nein, nicht auch noch das!«

Fassungslos sah Andrea von Hanna zu ihrem Mann und konnte nicht verhindern, daß ihr plötzlich Tränen über die Wangen rollten.

Mit fremd klingender Stimme stieß nun auch Hans Peter hervor: »Wollen Sie uns damit zu verstehen geben, daß Saskia uns überhaupt nicht erkennt, Frau Dr. Martens?«

»So ist es, und wir können im Augenblick auch nichts daran ändern. Bitte, Frau Behring, beruhigen Sie sich. Ich bin mir ganz sicher, daß mit Ihrer Tochter alles wieder in Ordnung kommen wird.«

»Saskia ist nicht meine leibliche Tochter, Frau Dr. Martens. Ich bin nur ihre Stiefmutter. Das soll aber nicht bedeuten, daß mir das Wohl und die Gesundheit des Mädchens nicht am Herzen liegt. Sie sollten es nur wissen.«

»Das ist schön zu hören, Frau Behring. Es bestehen da jedoch noch einige offene Fragen. Wie kam das Mädchen hierher in diese Gegend? Wohin wollte es?«

»Darauf kann ich Ihnen antworten, Frau Doktor. Meine Frau und ich haben erst vor sehr kurzer Zeit geheiratet. Saskia kann sich noch nicht damit abfinden und sie lehnt meine Frau ohne ersichtlichen Grund ab. Das heißt, es geschieht aus kindlicher Eifersucht. Ich habe mich vor drei Jahren von Saskias Mutter getrennt und in den vergangenen Jahren war ich nur für Saskia da, habe sie wohl zu sehr verwöhnt. Sie ist inzwischen so auf mich fixiert, daß sie niemanden akzeptiert. In Folge einiger Zwischenfälle hatte ich eine ziemlich heftige Auseinandersetzung mit meiner Tochter. Daraufhin verließ sie gestern morgen wie an jedem anderen Tag das Haus, um zur Schule zu gehen. Doch sie war gestern gar nicht in der Schule. Wir haben sie erst am Nachmittag vermißt, da wir dachten, sie würde sich vielleicht bei einer ihrer Schulfreundinnen aufhalten. Heute weiß ich, daß sie wohl aus Trotz fortgelaufen ist, um ihre Mutter aufzusuchen, die mit ihrem Partner in Celle wohnt. Damit Sie alles besser verstehen, muß ich Ihnen noch sagen, daß meine geschiedene Frau nach der Trennung jede Verbindung zu Saskia abgebrochen hatte. Sie war dem Kind auch vorher nie eine liebevolle Mutter. Ich sage das nicht gern, aber auch das sollten Sie wissen. Jetzt möchte ich mit meiner Frau zu meiner Tochter. Dürfen wir sie sehen?«

»Selbstverständlich, Herr Behring. Ihr Mädel befindet sich noch auf der Intensivabteilung. Wenn Sie und Ihre Frau mir folgen würden? Ich bringe Sie hin. Ich danke Ihnen auch noch für das Vertrauen, das Sie mir beide entgegengebracht haben.«

*

Auf Zehenspitzen betraten Hans Peter und Andrea hinter Hanna das Zimmer auf der Intensivabteilung, in dem Saskia lag. Die viel zu weiten, sterilen Kittel schlotterten an ihren Körpern, aber das alles waren Dinge, denen man sich unterziehen mußte, bevor man die Intensivabteilung betreten durfte. Hanna zog sich diskret zurück und ließ sie allein.

Betroffen sah Hans Peter auf die stille Gestalt hinunter. Wie hilflos und verloren sie dalag.

»Meine Maus, mein armer Liebling«, kam es leise, voller Zärtlichkeit über seine Lippen, und mit einer unendlich sanften Geste hauchte er einen Kuß auf die Mädchenstirn.

»Mein Liebling, so wach doch auf, schau mich nur einmal an. Ich bin es doch, dein Paps. Es wird ganz bestimmt alles wieder in Ordnung kommen. Bitte, mein kleines Mädchen, wach doch auf.«

Mit verzweifelten Blicken sah Hans Peter Andrea an.

»Wir dürfen sie nicht verlieren, Andrea. Sie ist doch noch so jung. Sie hat noch ihr ganzes Leben vor sich. Was soll ich denn jetzt nur tun? Wenn ich den zwischen meine Finger bekomme, der das alles auf dem Gewissen hat, den…«

»Pst, leise, Hans Peter, so darfst du nicht reden. Nicht hier. Wir wissen doch nicht, ob das Mädel uns vielleicht doch hören kann. Sie wird es schaffen, daran dürfen wir nicht eine Sekunde lang zweifeln. Wenn es einen Herrgott gibt, wird er uns unser Mädel nicht nehmen. Ich werde darum beten. Ich habe sie doch auch lieb. Sie ist jetzt auch meine Tochter.«

Sich an den Händen haltend, standen Hans Peter und Andrea noch eine ganze Weile schweigend an Saskias Krankenbett.

Dann kam Hanna und bat leise: »Lassen Sie es für heute genug sein. Sie muß jetzt für die Nacht versorgt werden.«

Schweigend folgten beide der jungen Ärztin, während Schwester Margret, die sich die ganze Zeit im Hintergrund gehalten hatte, sich jetzt wieder um die junge Patientin kümmerte.

»Kann man denn überhaupt nichts tun, Frau Dr. Martens?« fragte Andrea leise.

»Nein, nur warten, Frau Behring. Wir tun hier alles für das Mädchen, was in unseren Kräften liegt.«

»Ich möchte gern jeden Tag bei Saskia bleiben. Wäre das nicht möglich? Wenn sie spürt, daß da jemand an ihrer Seite ist, der sie liebt und sich um sie sorgt, würde das nicht helfen und dazu beitragen, sie aus diesem Tiefschlaf zu holen?«

»Das könnte durchaus sein, Frau Behring. Wir werden das Mädel schon morgen von der Intensivabteilung in ein Einzelzimmer oben auf der Krankenstation verlegen, denn die Operation an sich ist erfolgreich gewesen und läßt keinerlei Komplikationen mehr befürchten. Herz und Kreislauf sind stabil, und alle anderen Werte haben sich inzwischen normalisiert. Was der Körper sonst noch benötigt, wird ihm über die Infusionsflasche zugeführt. Ursache für diesen Tiefschlaf ist, wie gesagt, unserer Meinung nach nur der Unfallschock. Wie ich schon sagte, kann sich das von einer Minute zur anderen ändern.«

»Dann bleibe ich hier in der Nähe der Klinik und komme morgen früh wieder her. Ich bleibe so lange bei unserem Mädchen, bis es auch diese Phase überstanden hat. Besteht die Möglichkeit, hier in der Nähe ein Zimmer zu bekommen?«

»Ja, in Ögela. Das ist ein Fußweg von fünfzehn Minuten. Im Heidekrug am Marktplatz werden Sie ein Zimmer bekommen. Wenn dort nichts mehr frei ist, dann gibt es im Ort noch eine ganz kleine Familienpension.«

»Vielen Dank, Frau Dr. Martens, wir werden uns sofort darum kümmern.«

Hans Peter und Andrea verabschiedeten sich und verließen die Klinik.

Erst als sie wieder im Wagen saßen, sagte Hans Peter: »Es ist dir also wirklich ernst damit, Liebes?«

»Ja, ich werde nicht von Saskias Seite weichen. Du bist doch damit einverstanden?«

»Ja. Wenn ich dich nicht an meiner Seite hätte, ich wüßte nicht, was ich ohne dich tun würde. Wir besorgen dir jetzt erst einmal ein Zimmer. Ich werde anschließend nach Hause fahren und dir morgen schon sehr früh einen Koffer mit Sachen bringen. Ich werde auch versuchen, so oft ich kann, hierherzukommen, um bei unserem Mädel zu sein.«

»Da ist noch etwas, was du nicht vergessen darfst, Hans Peter.«

»So, was denn?«

»Du mußt Saskias Mutter Bescheid sagen, was mit dem Mädel passiert ist. Sie hat ein Recht darauf, es zu erfahren.«

»Hat sie nicht, Andrea. Sie hat sich ja auch vorher nicht um das Mädel gekümmert. Außerdem habe ich das alleinige Sorgerecht für mein Kind.«

»Trotzdem, sie ist die Mutter. Tu es, damit du dir nichts vorzuwerfen hast. Du hast sie gestern abend angerufen und nach Saskia gefragt. Du kannst sie jetzt nicht übergehen. Vielleicht ist sie gar nicht so herzlos, und in ihrem Inneren ist noch etwas Liebe für ihr Kind.«

»Davon kann mich niemand überzeugen, Andrea. Aber gut, ich werde nachher einen Umweg über Celle machen und bei ihr vorbeifahren. Dabei weiß ich schon jetzt, daß meine Mühe vergeblich sein wird. Ich tue es nur, weil du mich darum bittest. Jetzt möchte ich nicht mehr weiter über dieses Thema reden. Wichtig ist nun, daß wir uns zuerst um ein Zimmer bemühen. Dann werde ich bei Fränzi zu Hause anrufen. Ich habe es ihr doch versprochen.«

Hans Peter startete den Wagen, und sie fuhren nach Ögela zum »Heidekrug«.

Wie Hanna es ihnen gesagt hatte, bekam Hans Peter dort ein Zimmer für Andrea.

Rita Berger, die kleine, mollige Wirtin, brachte ihnen noch eine Mahlzeit, danach begleitete Hans ­Peter Andrea in ihr Zimmer und verabschiedete sich für diesen Tag von ihr.

»Schlaf dich aus, Liebes, und morgen früh bin ich wieder bei dir.«

*

Sabine Behring saß gerade mit ihrem jetzigen Partner beim Abendbrot, als es an ihrer Wohnungstür klingelte.

»Wer kann da denn noch um diese Zeit sein, Egon?«

»Werden wir gleich wissen. Bleib nur sitzen, ich gehe schon nachsehen«, sagte Egon Werl, mit dem Sabine seit drei Jahren zusammenlebte, und erhob sich, um zur Tür zu gehen.

Einen Augenblick später kam er zurück und sagte: »Da ist Besuch für dich, Sabine. Dein früherer Mann, der dich unbedingt sprechen will. Ich habe ihn ins Wohnzimmer geführt. Sieh zu, daß du den Herrn schnell wieder los wirst.«

»Schick ihn weg, ich will nicht mit ihm reden.«

»Geh schon, stell dich nicht so an, er sagt, es sei wichtig. Und laß dich bloß auf nichts ein, du hast nichts mehr mit ihm zu schaffen. Hast du verstanden?«

»Na, meinetwegen, rede ich eben mit ihm. Konnte er nicht einen Tag später hier aufkreuzen, dann wären wir schon unterwegs in unseren Urlaub.«

Mit zusammengezogenen Brauen betrat Sabine ihr Wohnzimmer und stand Hans Peter gegenüber. »Was willst du hier? Wir haben nichts mehr miteinander zu schaffen«, begrüßte sie ihn mit kühler Stimme.

Hans Peter sah sie einen Moment schweigend an. Sie war noch genauso aufreizend und hübsch wie vor drei Jahren, als er sich von ihr getrennt hatte. Das lange, tiefschwarze Haar, die dunklen Augen. Beides hatte Saskia von ihr geerbt. Aber er erkannte auch überdeutlich die Kälte in diesen dunklen Augen. Das war sie, die er einmal über alles geliebt hatte. In ihm war auch nicht mehr ein Funke eines Gefühls vorhanden.

»Starr mich nicht so an, sag schon, was du von mir willst«, riß ihn ihre kalte Stimme aus seinen Gedanken.

»Ich komme nur wegen Saskia, Sabine. Du wirst ja wohl nicht vergessen haben, daß ich dich gestern abend angerufen habe, oder?«

»Natürlich nicht. Du mußt sie ja fein erzogen haben, daß sie dir einfach davonläuft. Meiner Meinung nach hat sie dafür eine ordentliche Tracht verdient. Bei mir war sie jedenfalls nicht.«

»Darum geht es nicht. Sie wollte wohl zu dir und hat auf dem Weg hierher einen Unfall gehabt. Ich hielt es für meine Pflicht, dich davon in Kenntnis zu setzen, daß Saskia schwerverletzt hier in der Nähe in einer Kinderklinik liegt.«

»Und was hat das mit mir zu tun? Saskia ist immer mehr deine Tochter gewesen als die meine. Ich wollte nie ein Kind. Was soll ich also deiner Meinung nach jetzt tun? Ich habe sie immerhin drei Jahre nicht gesehen. Sie ist mir völlig fremd geworden.«

»Mein Gott, Sabine, du bist doch ihre Mutter. Es ist geschehen, als sie zu dir wollte. Ist denn in dir überhaupt kein Gefühl mehr für Saskia? Willst du sie nicht wenigstens einmal besuchen? Es geht ihr nicht gut, sie liegt im Koma.«

»Nein, ich will nicht, und außerdem fahren Egon und ich schon um Mitternacht von hier fort in den Urlaub.«

»Was bist du nur für eine gefühlskalte Frau, Sabine. Und dich habe ich einmal geliebt.«

»Laß mich in Ruhe. Ich habe es nicht nötig, mich auch noch in meiner eigenen Wohnung beleidigen zu lassen. Geh, und laß dich niemals wieder hier sehen. Wir haben nichts mehr miteinander zu tun, und dabei wollen wir es auch belassen. Du kannst Saskia ja von mir grüßen. Und jetzt verlaß bitte meine Wohnung.« Mit wütend funkelnden Augen öffnete sie ihm die Tür. Hans Peter sah Sabine noch einmal von oben bis unten mit verächtlichen Blicken an und ging dann ohne ein weiteres Wort an ihr vorbei aus der Wohnung.

Erst draußen konnte er wieder aufatmen. Er stieg in seinen Wagen und fuhr davon.

»Was wollte er von dir, Sabine?« fragte Egon, als sie in die Küche zurückkam. »Sucht er noch immer nach eurer gemeinsamen Tochter?«

»Nein, er hat Saskia schon gefunden. Stelle dir einmal vor, die Göre wollte doch tatsächlich zu mir. Sie hatte auf dem Weg einen Unfall und liegt hier in der Nähe in einer Kinderklinik. Ich soll sie besuchen, das erwartet er von mir. Er sagt auch, daß sie im Koma liegen würde.«

»Und, Sabine, was wirst du tun?«

»Was schon? Wir fahren wie vorgesehen in Urlaub. Ich habe nun mal zu Saskia keine innere Bindung. Wir standen uns nie besonders nahe, da ich nie ein Kind gewollt hatte. Kinder sind lästig.«

»Du mußt es selbst entscheiden, Sabine. Wir könnten unseren Flug ja noch umbuchen.«

»Nein, Egon, das will ich nicht. Und wenn er mich tausendmal eine gefühlskalte Frau nennt. Ich will durch nichts mehr an diesen Abschnitt meines Lebens erinnert werden.«

»Gut, dann soll es halt so sein, Sabine. Ich werde dich nie zu etwas überreden, was nicht auch dein eigener Wunsch ist. Wenn das Mädel im Koma liegt, kannst du ja sowieso nichts tun. Laß uns das also ganz schnell vergessen. Noch ein paar Stunden, und wir haben für einige Wochen alles hinter uns gelassen. Ich liebe dich, so wie du bist. Wir werden uns nie Kinder anschaffen, denn ich mag diese kleinen, ewig schreienden Wesen auch nicht. So wie es jetzt ist, so soll es immer bleiben.«

Wenn Hans Peter diese Worte gehört hätte, wäre seine Verachtung für die Frau, die er einmal geliebt ­hatte, sowie für ihren jetzigen Partner noch größer geworden.

*

Fränzi erwartete den Hausherrn schon voller Ungeduld. Zwar hatte er sie noch von Ögela aus angerufen und über das Wichtigste informiert, aber sie brannte darauf, alles ganz genau zu erfahren. Sie hatte die Zwischenzeit schon dazu benutzt, um für Andrea und auch für Saskia einen Koffer mit Kleidung und Wäsche zu packen.

»Wie geht es unserer Kleinen, Herr Behring?« empfing sie Hans Peter auch sofort, als er zu später Stunde sein Haus betrat.

»Wie ich Ihnen schon am Telefon sagte, Fränzi. Ich habe Saskia doch auch nicht mehr gesehen. Warum sind Sie überhaupt noch auf? Sie sollten schon längst zu Bett gegangen sein. Sie sind seit gestern noch nicht richtig zur Ruhe gekommen.«

»Ich habe heute mittag, nachdem Sie mit Ihrer Frau das Haus verlassen hatten, zwei Stunden geschlafen, Herr Behring. Es war mir ein Bedürfnis, auf Sie zu warten. Ich möchte doch ganz genau wissen, was mit dem Mädel passiert ist. Ich habe inzwischen auch schon alles für Ihre Frau und Saskia gepackt. Die Koffer stehen an der Garderobe.«

»Das ist gut, Fränzi. Sie sind ein Engel. Wenn wir Sie nicht hätten, dann würde im Augenblick hier alles drunter und drüber gehen.«

»Was ich tu, das ist doch selbstverständlich, Herr Behring«, wehrte Fränzi verlegen ab. »Darf ich Ihnen vielleicht eine Erfrischung bringen? Haben Sie Hunger?«

»Nein, Fränzi, ich bin nur ziemlich erschöpft. Aber ich werde mich erst zurückziehen, wenn Sie alles genau wissen. Hören Sie zu.«

Hans Peter berichtete der guten Fränzi nun alles ausführlich. Fassungslos hörte sie ihm zu, und als er fertig war, sagte sie mit Tränen in den Augen: »Das arme Kind, warum nur muß es jetzt so leiden? Weiß denn Ihre geschiedene Frau schon Bescheid?«

»Ja, aber mein Weg zu ihr war vergeblich. Ich hatte es geahnt.«

Hans Peter berichtete nun auch noch von seinem kurzen Besuch bei Sabine.

»Das ist ja, das ist ja…« Vor lauter Empörung stockte Fränzi und schüttelte nur fassungslos den Kopf. Als sie sich wieder gefangen hatte, sagte sie: »So eine Frau verdient das Wort Mutter überhaupt nicht. Da liegen Welten zwischen dieser und Ihrer jetzigen Frau. Ich finde es rührend, wie sehr sie sich um unser Kind sorgt. Der Tag wird ganz bestimmt kommen, an dem Saskia erkennt, wie lieb Andrea sie hat.«

»Es wäre schon sehr schön, wenn es wahr würde, Fränzi. Was würde ich darum geben, wenn Saskia endlich aus diesem unnatürlichen Schlaf erwachen würde.«

»Es wird schon werden, Herr Behring. Jetzt sollten Sie sich hinlegen. Wir wissen ja alle nicht, was uns die kommenden Tage noch bringen werden. Hoffentlich findet die Polizei auch diesen Menschen, der das Kind angefahren und es dann ohne Hilfe einfach liegengelassen hat. So ein Mensch kann nicht hart genug bestraft werden.«

»Sie kennen doch die Redewendung, Fränzi. Gottes Mühlen mahlen langsam, aber sicher. Ich bin davon überzeugt, daß die Polizei den Schuldigen, wer immer es auch ist, finden wird. So, und nun wollen wir beide schlafen gehen. Ich bin fix und fertig. Ich wünsche Ihnen trotz allem eine gute Nacht. Morgen früh brauchen Sie auch nicht wegen mir aufzustehen. Ich werde schon sehr zeitig das Haus verlassen und nach Ögela fahren. Mein Büro rufe ich von unterwegs oder von Ögela aus an. Und wenn ein Anruf von der Polizei kommen sollte, ich bin am Spätnachmittag wieder von Ögela zurück.«

Hans Peter nickte Fränzi noch einmal zu und ging dann in sein Schlafzimmer hinauf.

Es dauerte nur noch wenige Minuten, dann verlöschte auch das letzte Licht im Haus, und es kehrte Ruhe ein.

Als die Morgendämmerung die Dunkelheit der Nacht ablöste, fuhr Hans Peter schon wieder in Richtung Ögela davon.

Nur wenige Stunden Schlaf waren für ihn ausreichend gewesen. Da ihn kein starker Straßenverkehr behinderte, erreichte er sein Ziel, als Andrea gerade bei der Wirtin des Heidekruges ihr Frühstück bestellte.

Zärtlich begrüßte er sie.

»Wie schön, dich schon so früh zu sehen, Hans Peter. Soll ich gleich für dich ein Frühstück mitbestellen? Wir können uns dabei ein wenig unterhalten, denn für die Klinik ist es noch zu früh.«

»Ja, bitte, Liebes. Ich werde mich in der Zwischenzeit mit meinem Büro in Verbindung setzen, damit auch da alles normal weiterläuft. Du entschuldigst mich doch ein paar Minuten?«

»Natürlich, es ist ja wichtig für dich. Es dauert sowieso noch ein paar Minuten, bis Frau Berger das Frühstück für uns bringt.«

Hans Peter ging zum Telefon und setzte sich mit seinem Büro in Verbindung, um einige sehr wichtige Anweisungen durchzugeben.

Als er sein Gespräch beendet hatte, brachte die mollige Wirtin gerade das Frühstück an den Tisch. Sie wünschte guten Appetit und zog sich wieder zurück.

Während Hans Peter und Andrea ihr Frühstück verzehrten, fragte Andrea mit ernstem Gesicht: »Bist du gestern abend noch bei deiner geschiedenen Frau vorbeigefahren? Weiß sie darüber Bescheid, was mit ihrer Tochter passiert ist?«

»Ja, ich war da, Liebes. Und es war ganz genauso, wie ich es vorher geahnt habe. Sie ist so abgebrüht, so kalt und herzlos. Das einzige, was mir dieser kurze Besuch gebracht hat, ist, daß ich Saskia von ihr grüßen könnte. Was sagt man zu solch einer Frau?«

»Ich kann es nicht glauben.«

»Du kannst es glauben, Liebes. Diese Frau ist keines tieferen Gefühls fähig. Dabei habe ich einmal geglaubt, mit ihr das große und immerwährende Glück gefunden zu haben. Sie ist noch in der Nacht mit ihrem Partner in Urlaub gefahren. Das Kapitel gehört nun endgültig der Vergangenheit an.«

»Mit unserer Liebe werden wir es schaffen, daß Saskia nicht mehr an sie erinnert wird«, erwiderte Andrea leise und fuhr mit einer zärtlichen Geste über seine Wange.

»Ich liebe dich und ich liebe unser großes Mädchen. Ich werde alles dafür tun, daß Saskia mir vertraut und mich als Mutter und nicht als böse Stiefmutter anerkennt.«

»Ja, so soll es sein, Liebes. Ich bin so froh und glücklich darüber, daß es dich in meinem Leben gibt. Ein Leben lang werde ich dich nicht mehr von meiner Seite lassen. Ich liebe dich, und ich brauche dich.«

Über den Tisch hinweg zog Hans Peter Andreas schmale Hände an seine Lippen, und voller Liebe blickten sie sich in die Augen.

»Komm, fahren wir zu unserer Tochter in die Klinik«, bat Andrea nach einigen Minuten, und sie verließen kurz darauf den Heidekrug, um nach Birkenhain zu fahren.

*

Zwei Tage waren inzwischen vergangen, an denen Andrea kaum eine Minute von Saskias Bett wich, die inzwischen auf die Krankenstation verlegt worden war.

Bis auf den Tropfgalgen mit den Infusionsflaschen waren alle Zuleitungen und Schläuche inzwischen verschwunden.

Als Andrea, es war der dritte Tag, eine kleine Pause einlegte und in der Kantine der Klinik eine Erfrischung zu sich nahm, trat Hanna an ihren Tisch.

»Darf ich mich ein paar Minuten zu Ihnen setzen, Frau Behring?«

»Bitte, nehmen Sie doch Platz, Frau Dr. Martens. Es gibt doch keine Probleme mit Saskia?« In Andreas Augen trat ein ängstlicher Ausdruck.

»Nein, nein, da können Sie ganz unbesorgt sein, Frau Behring. Aber ich würde mich gern ein paar Minuten mit Ihnen über Sie selbst unterhalten. Über das augenblickliche Verhältnis zwischen Saskia und Ihnen. Ich mische mich nicht gern in private Belange meiner Patienten, und ich möchte auch nicht, daß Sie mich vielleicht für aufdringlich halten.«

»Fragen Sie, ich halte Sie nicht für aufdringlich, sondern ich kann verstehen, daß Sie um das Wohl Ihrer kleinen Patientin besorgt sind.«

»Als Sie und Ihr Mann das erste Mal zu uns in die Klinik kamen, sagte Ihr Mann etwas von Zwischenfällen in der letzten Zeit. Mir ist aufgefallen, daß Sie auch Brandwunden im Gesicht und an Ihren Armen haben, wie Saskia. Hängt das mit einem dieser Zwischenfälle zusammen? Ich wüßte gern Nähere darüber.«

»Ich glaube, es war der Zwischenfall, der alles erst auslöste, Frau Doktor. Sie können mir glauben, daß ich dieses widerspenstige Mädchen sehr liebgewonnen habe. Es hat, soviel ich von meinem Mann weiß, von seiner Mutter nie die Liebe und Zärtlichkeit erfahren, die so wichtig für einen heranwachsenden Menschen ist. Saskia hat mich sofort abgelehnt, und wir glaubten, daß es nur kindliche Eifersucht sei, die Angst, den Vater zu verlieren. Es muß aber mehr dahinterstecken. Zu dem letzten Zwischenfall kam es am Tag vor ihrem Davonlaufen. Als ich ihren Teller füllen wollte, schlug sie ihn hoch, und ich bekam die noch sehr heiße Speise ins Gesicht und auf die Arme. Es konnte nicht ausbleiben, daß Saskia etwas davon mitbekam. Nun, um es kurz zu machen, mein Mann hatte mit Saskia eine heftige Auseinandersetzung. Wie wir ja durch die folgenden Vorgänge wissen, lief sie davon und wollte aus unerfindlichen Gründen zu ihrer Mutter, zu der schon seit drei Jahren keinerlei Verbindung mehr besteht. Mehr kann ich dazu auch nicht sagen.«

»Weiß die Mutter denn inzwischen schon Bescheid?«

»Ja, mein Mann fuhr noch am gleichen Abend, nachdem wir hier zum ersten Mal bei Ihnen waren, zu ihr. Sie lehnte es ab, ihre Tochter in der Klinik zu besuchen, und fuhr wohl in der gleichen Nacht noch mit ihrem neuen Lebenspartner in den Urlaub. Du kannst Saskia ja von mir grüßen, das hat sie gesagt. Jetzt frage ich Sie, handelt so eine Mutter?«

»Nein, aber das alles, was Sie mir sagten, bringt mich auf einen ganz bestimmten Gedanken, Frau Behring. Ich bin zwar keine Kinderpsychologin, doch ich könnte mir vorstellen, daß die ganze Ablehnung gegen Sie nur ein Selbstschutz ist. Saskia ist ja trotz ihrer dreizehn Jahre noch ein Kind. Sie sehnt sich nach der Liebe einer Mutter und zugleich fürchtet sie sich davor, erneut enttäuscht zu werden. Ein Selbstschutz, dessen sie sich nicht bewußt ist und der sich bei ihr durch heftige Ablehnung ausdrückt. Es wäre jetzt das falscheste, wenn Sie Ihre Bemühungen abbrechen und aufgeben würden. Kinder haben sehr empfindsame Seelen und erfassen ganz genau, was um sie herum vor sich geht. Das Fortlaufen kann eine Trotzreaktion gewesen sein, um den Vater und Ihnen weh zu tun, oder um sie beide zu erschrecken. Verstehen Sie, was ich Ihnen damit sagen möchte?«

»Ich verstehe Sie, Frau Dr. Martens, und was immer noch geschieht, ich habe nicht vor, aufzugeben. Ich will, daß Saskia wieder ein glückliches und unbeschwertes junges Mädchen wird. Ganz egal, wie weit und steinig der Weg bis dahin auch sein wird.«

»Ich glaube Ihnen, Frau Behring, und ich erkenne an Ihren Worten, daß Sie Ihrer jungen Stieftochter sehr zugetan sein müssen. Es wird bestimmt alles in Ordnung kommen. Wenn man sich etwas aus tiefstem Herzen wünscht, geht es meistens auch in Erfüllung.«

»Sind Sie mir böse, wenn ich jetzt wieder hinauf auf die Krankenstation möchte?«

»Nein, Frau Behring, auch ich muß wieder an meine anderen Pflichten und Aufgaben denken. Ich möchte Sie noch darauf hinweisen, daß mir Saskia heute etwas verändert erscheint. Ihr Gesicht hat etwas Farbe bekommen, und sie scheint mir irgendwie von innen heraus unruhig zu sein. Es ist wirklich ein gutes Zeichen.«

»Es wäre wunderbar, wenn sie endlich aus diesem unnatürlichen Tiefschlaf erwachen würde. Ich will dann bei ihr sein.«

»Auch, wenn sie sich erneut ablehnend verhalten würde?«

»Ja, auch dann, Frau Dr. Martens. Wenn es stimmt, wenn man sagt, daß das Unterbewußtsein eines so tief schlafenden Menschen äußere Einflüsse erfaßt, dann muß das Mädel fühlen, daß da jemand bei ihr ist, der sie liebt und der ihr nichts Böses will. Darauf vertraue ich.«

»Es ist alles möglich. Lassen Sie sich daher durch mich nicht aufhalten. Ich schaue später noch einmal nach dem Mädchen.«

»Ich danke Ihnen für dieses Gespräch, Frau Dr. Martens. Ich vertraue Ihnen und fühle mich jetzt nicht mehr so unsicher wie vor unserem Gespräch.«

Ein feines Lächeln huschte über Andreas Gesicht, als sie nun mit ­festen Schritten dem Ausgang der Kantine zustrebte.

*

Als Andrea erneut an Saskia Bett saß, beobachtete sie das Mädchen noch genauer als zuvor. Es fiel auch ihr auf, daß auf den Wangen ein rosiger Hauch lag.

Andrea beugte sich dichter über Saskia und umspannte mit warmem Druck die schmalen Hände. Leise hauchte sie dabei: »Mein Mädchen, wenn du doch endlich erwachen würdest. Wir haben dich alle sehr lieb. Ich möchte so gern deine Mutter sein und dich immer vor allem Bösen behüten und beschützen.«

Andrea konnte nicht anders. Sie hob die Rechte, und mit einer un­endlich sanften Geste streichelte sie über die Wangen des schlafenden Mädchens. Danach beugte sie sich tiefer und hauchte einen zarten Kuß auf Saskias Stirn.

Doch da, was war das? Andrea hielt plötzlich den Atem an und ließ ihren Blick nicht mehr von dem schmalen Mädchengesicht. Die Augenlider zuckten leicht und hoben sich langsam.

Das ganze dauerte nur wenige Augenblicke, dann sanken die Lider erneut herunter. Leise, wie ein Hauch kam über Saskia Lippen ein einziges Wort: »Mutti.«

Andrea zögerte keine Sekunde. Sie legte ganz dicht ihre Lippen an Saskias Ohr und flüsterte beschwörend: »Ich bin ja bei dir, mein Mädchen, jetzt wird alles wieder gut. Bald bist du wieder gesund.«

Obwohl Saskia jetzt wieder so still in den Kissen lag, traten Andrea Tränen der Erleichterung in die Augen, rollten langsam ihre Wangen hinunter. Saskia hatte die Augen geöffnet, sie hatte etwas gesagt. Die Hoffnung, daß sie bald erwachen würde, wurde in Andreas Herzen zu einer hochlodernden Flamme.

Um ihre Fassung zurückzuerlangen, erhob sich Andrea leise von ihrem Platz, um einen Moment auf den Gang hinauszugehen.

Mit geschlossenen Augen, ein Dankgebet zum Himmel schickend, stand sie mit dem Rücken an die Wand gelehnt.

»Ist Ihnen nicht gut, Frau Behring?« drang da eine besorgte Stimme an Andreas Ohr und ließ sie zusammenzucken.

Sie öffnete die Augen und sah vor sich Schwester Laurie stehen.

»Mit mir ist alles in Ordnung, Schwester Laurie. Ich war vor lauter Glück nur überwältigt. Stellen Sie sich vor, Saskia hatte für Sekunden die Augen geöffnet. Sie hat sogar schon gesprochen. Nur ein Wort, aber es hat mich unendlich glücklich gemacht.«

»Das ist wirklich eine fantastische Neuigkeit, Frau Behring. Das muß die Chefin sofort wissen. Ich muß es ihr sagen.«

»Was müssen Sie mir sofort sagen, Schwester Laurie?« fragte in diesem Moment Hanna, die aus dem Ärztezimmer trat und Schwester Lauries letzte Worte noch gehört hatte.

Andrea berichtete nun wie kurz zuvor Schwester Laurie, was sich vor wenigen Minuten ereignet hatte.

»Sehen Sie, Frau Behring, ich habe doch gesagt, daß sich alles sehr schnell ändern kann. Nur dürfen Sie etwas nicht überbewerten. Mit dem Wort ›Mutti‹ müssen nicht unbedingt Sie gemeint gewesen sein.«

»Darüber bin ich mir schon im klaren, Frau Doktor. Für mich zählt allein die Tatsache, daß sie etwas gesagt hat. Jetzt erst kann ich wirklich glauben, daß alles wieder gut wird. Diese Nachricht wird auch meinen Mann überglücklich machen, wenn er nachher kommt. Jetzt muß ich wieder hinein, vielleicht wird sie noch einmal wach.«

Im nächsten Augenblick war Andrea schon wieder in Saskias Krankenzimmer verschwunden.

*

Wie Andrea es schon Hanna gegenüber ausgesprochen hatte, war Hans Peter überglücklich, als er die wunderbare Nachricht von ihr erfuhr.

Neben Andrea saß er dann an Saskias Bett, und beide hofften, daß sie erwachen würde.

Es war nur wenige Minuten, bevor Andrea und Hans Peter an diesem Tag die Klinik verlassen wollten, als Saskia zum zweiten Mal erwachte.

Ohne Übergang öffnete sich ihre Augen. Es dauerte einige Sekunden, bis die trüben Blicke klarer wurden. Andrea und Hans Peter warteten mit angehaltenem Atem auf die erste Reaktion in dem schmalen Gesicht des Mädchens.

Plötzlich öffneten sich die Lippen und mit dünner, aber klarer Stimme sagte sie: »Du, Paps? Wo bin ich denn hier? Ich bin doch…« Mitten im Satz brach Saskia ab, und die Augen bekamen einen ängstlichen Ausdruck.

Hans Peter griff nach den schmalen Händen seiner Tochter: »Es ist alles gut, mein Liebling. Du bist hier in einer Klinik, weil du einen Unfall hattest. Du hast sehr, sehr lange geschlafen. Andrea und ich, wir haben uns solche Sorgen um dich gemacht. Bald bist du wieder gesund, und wir holen dich heim.«

»Andrea?« Erst jetzt fiel Saskias Blick auf Andrea, und das schmale Gesicht verschloß sich jäh.

»Geh du weg, meine Mutti war doch hier. Sie soll wiederkommen. Du bist nicht meine Mutti.«

Andrea wurde blaß, und mit ernstem Gesicht sah sie Hans Peter an. Sie begriff sofort, daß Saskia sich in dem Glauben befand, ihre Mutter sei bei ihr gewesen.

Hans Peter fühlte, was Andrea von ihm erwartete. Er beugte sich zu Saskia und sagte mit ruhiger Stimme: »Warum willst du Andrea schon wieder fortschicken, Saskia? Sie war es, die immer hier bei dir war. Ich weiß, du wolltest zu deiner Mutter nach Celle, als du fortgelaufen bist. Sie war nicht hier bei dir, es war immer nur Andrea.«

Andrea hörte die letzten Worte ihres Mannes schon nicht mehr, denn sie hatte das Krankenzimmer bedrückt verlassen.

»Ist sie jetzt böse, Paps?«

»Nein, nur sehr traurig, weil du ja gesagt hast, sie soll weggehen. Du brauchst jetzt auch Ruhe, damit du ganz schnell wieder gesund wirst. Morgen komme ich wieder zu dir. Denk einmal über alles nach, was ich dir gesagt habe.«

»Ich möchte jetzt auch schlafen, Paps.«

»Dann laß ich dich allein, denn ich muß noch mit der Frau Doktor reden.«

Liebevoll nahm Hans Peter Saskia in die Arme und verabschiedete sich von ihr.

Als er aus dem Zimmer trat, kam mit eiligen Schritten Hanna den Gang entlang. Sie war von Schwester Laurie über das erneute Erwachen der Patientin informiert worden.

»Wissen Sie schon, daß…?«

»Ja, darum bin ich hier, Herr Behring«, unterbrach Hanna ihn lächelnd.

»Wenn Sie beide noch einen Moment hier auf mich warten würden? Ich möchte nur zuerst nach Ihrer Tochter sehen, ob auch wirklich alles in Ordnung ist.« Im nächsten Moment war Hanna im Krankenzimmer verschwunden.

»Du mußt nicht traurig sein, Liebes. Saskia wird schon erkennen, daß du sie sehr lieb hast.« Tröstend zog Hans Peter Andrea in seine Arme.

»Es geht schon wieder vorbei, Hans Peter. Wichtig ist nur, daß das Mädel endlich wieder bei vollem Bewußtsein ist.«

Schon nach wenigen Augenblicken kam Hanna aus Saskias Zimmer und sagte mit beruhigendem Lächeln: »Es ist alles in Ordnung. Von nun an kann es mit jedem Tag nur noch besser werden. Aber Sie, Frau Behring, Sie sehen so bedrückt aus. Kann ich Ihnen vielleicht helfen?«

Aufhorchend hörte Hanna zu, was ihr Andrea berichtete, dann sagte sie: »Ich würde sagen, bleiben Sie dem Mädel einen Tag fern. Es ist möglich, daß ihm dann schon klar wird, daß Sie es waren, die die letzten Tage an ihrer Seite war. Es ist im Augenblick der einzige Rat, den ich Ihnen geben kann. Sie werden es erleben, es funktioniert.«

»Sie haben recht, Frau Dr. Martens. So und nicht anders werden wir es machen. Ich werde heute nacht hierbleiben und morgen allein zur Klinik kommen. Morgen werde ich auch besser mit meiner Tochter reden können. Ich weiß noch nicht, wie ich es ihr beibringe, daß ihre Mutter sich nicht mehr für sie interessiert, aber ich finde, mit dreizehn Jahren ist sie alt und vernünftig genug, um alles zu begreifen.«

»Das überlasse ich Ihnen, Herr Behring. Nur, gehen Sie schonend vor, und vor allen Dingen, sie sollte sich nicht aufregen. Sie werden sicher erkennen, wie weit Sie gehen dürfen. Sie kennen Ihre Tochter besser als ich.«

*

Am nächsten Morgen fuhr Hans Peter allein zur Kinderklinik, aber erst nach der Mittagszeit.

»Du kommst aber spät, Paps. Ich habe schon so sehr auf dich gewartet. Mir geht es schon wieder ganz gut. Frau Dr. Martens hat mir heute bei der Visite gesagt, daß die Operationswunde gut verheilt und ich keine vierzehn Tage mehr hier bleiben muß. Und stell dir vor, da war heute auch schon jemand von der Polizei hier und hat mir ganz viele Fragen gestellt.«

»Prima, Saskia, ich freue mich sehr, daß es dir schon wieder so gut geht. Wenn du etwas haben möchtest, werden Andrea und ich es dir besorgen. Du mußt es uns nur sagen.«

Mit voller Absicht hatte Hans Peter Andrea erwähnt. Er wollte ihre Reaktion sehen.

»Kommt sie heute nicht?«

»Nein, Saskia, du hast ihr gestern sehr weh getan. Da es dir heute aber schon wieder so gut geht, möchte ich mit dir reden, damit endlich etwas geklärt wird. Du bist jetzt dreizehn Jahre alt, Saskia. Drei Jahre hast du deine Mutter nicht gesehen, haben wir nichts von ihr gehört. Warum wolltest du zu ihr? Hast du solche Sehnsucht nach ihr gehabt? Du mußt es mir ganz ehrlich sagen, hörst du?«

»Ich war wohl sehr dumm, nicht wahr, Paps? Ich wollte zu ihr, weil ich dir auch wehtun wollte. Du hattest so mit mir geschimpft. Ich habe keine Sehnsucht nach ihr gehabt, weil sie sowieso nie lieb zu mir gewesen ist. War sie es denn nicht, die bei mir war?«

»Nein, Saskia, es war so, wie ich es dir schon gestern gesagt habe. Es war immer nur Andrea, die bei dir gewesen ist. Was ich dir jetzt noch sagen muß, wird dir vielleicht sehr weh tun, aber du bist alt genug, es zu verstehen.«

Sehr behutsam berichtete Hans Peter seiner Tochter nun alles über die Reaktionen ihrer Mutter.

»Tut es sehr weh, mein Mäd­chen?«

»Nein, Paps, es tut nicht weh. Ich weiß es doch schon so lange, daß sie mich nie liebhatte. Ich möchte etwas allein sein, Paps, ich muß nachdenken. Du kannst ja später wiederkommen.«

»Allein, mein Mädel?«

»Du, du kannst Andrea ruhig mitbringen«, erwiderte Saskia leise und ihr schmales Gesicht überzog sich mit einer glühenden Röte.

»Bist ja doch mein großes und vernünftiges Mädchen.« Zärtlich nahm Hans Peter Saskia in seine Arme und bei sich dachte er: Sollte es endlich wahr werden, daß sich das Verhältnis zwischen Andrea und Saskia besserte? Es wäre beinahe zu schön.

*

»Sie hat wirklich gesagt, daß du mich mitbringen sollst?« Freudig erstaunt sah Andrea Hans Peter an.

»Habe ich dich schon einmal belogen, Liebes?«

»Nein, es kommt nur so überraschend.«

Als sie dann zwei Stunden später zur Klinik fuhren und Saskias Krankenzimmer betraten, ließ Andrea das Gesicht des Kindes nicht aus den Augen. Es kam ihr so vor, als ob in den Augen der Dreizehnjährigen ein ganz ängstlicher Ausdruck liegen würde.

Als sie ihr die Hand reichte, huschte ein verlegenes Lächeln um Saskias Lippen.

Mit weicher Stimme sagte Andrea, um die Verlegenheit zu überbrücken: »Paps hat mir schon erzählt, daß es dir heute sehr gut geht. Ich freue mich sehr darüber.«

»Ich, ich möchte dich gern um Verzeihung bitten. Es tut mir leid, daß ich so garstig zu dir gewesen bin«, kam es auf einmal über Saskia Lippen.

Andreas Augen leuchteten auf. Sanft fuhr sie über das schwarze Haar des Mädchens und weich sagte sie: »Wir wollen es vergessen und nicht mehr daran denken. Ich bin sehr glücklich darüber, daß ich heute wiederkommen durfte. Ich habe dich sehr lieb und ich wünsche mir nichts mehr, als mit dir und Paps eine glückliche Familie zu sein. Wollen wir es noch einmal versuchen?«

Saskia nickte, und ganz plötzlich schlangen sich ihre Arme um Andreas Nacken, und sie stammelte: »Ich war ja so dumm. Jetzt erst habe ich erkannt, daß ich dich sehr mag. Du sollst auch meine Mutti sein. Aber du darfst mich niemals mehr allein lassen, so wie meine Mutter es getan hat.«

»Mein großes Mädchen. Ich verspreche dir, ich werde dich nie allein lassen. Wir drei, du, dein Paps und ich, wir gehören jetzt für immer zusammen. Ganz großes Ehrenwort.«

*

Eineinhalb Wochen nach diesem Tag konnten Hans Peter und Andrea Saskia aus der Klinik nach Hause holen. Und Hans Peter wußte: Es würde nun alles so werden, wie er sich eine glückliche Familie erträumt hatte.

Andrea wurde Saskia nicht nur eine liebevolle, zärtliche Mutter, sondern auch die beste Freundin der Dreizehnjährigen.

Ein langer Umweg zum Glück war damit zu Ende.

Kinderärztin Dr. Martens Box 8 – Arztroman

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