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Will ich mein altes Leben zurück?

Es sind diese typischen Augenblicke in Corona-Zeiten: Früh, nach dem Aufstehen, male ich mir für einen Moment aus, wie es wäre, wenn das alles nur ein schlechter Traum wäre. Tatsächlich gibt es diese Sekunden, in denen mir wie ein kurzer Gedankenblitz die Idee durch den Kopf schwirrt, ich bewegte mich in einem Film und all das, was ich gerade an Herausforderungen um mich herum wahrnehme, sei nur Teil einer großen Story, also gar nicht real. Als Kinder haben wir uns beim Spielen manchmal gegenseitig gezwickt, um sicher zu sein, dass wir tatsächlich nicht träumen, sondern dass es stimmt, was wir gerade erleben.

Spätestens, wenn ich morgens dann die Nachrichten höre, weiß ich, dass es nicht nur ein böser Traum ist. Die dumpfe Gewissheit meldet sich zurück: Corona ist real. Das Virus hält nicht nur mich und mein Leben im Griff, es hat die ganze Welt erfasst. Es kommt mir so vor, als sei die Welt angehalten worden und sämtliche Alltage auf diesem Globus stünden auf unbestimmte Zeit still. Das Bedürfnis, endlich aus diesem bösen Traum wieder aufzuwachen, oder die Vorstellung, das könne doch jetzt nicht die Realität sein, sind letztlich Anzeichen der eigenen Überforderung, mich der neuen Realität zu stellen. Die heftigste Realitätsflucht, die sich in den Monaten der Pandemie bei manchen Menschen bis in meinen Bekannten- und Freundeskreis hinein herausgebildet hat, ist die Flucht in Verschwörungstheorien. Corona sei eine Erfindung, existiere gar nicht. Abgesehen von denen, die mit solchen Narrativen politische oder andere Ziele verfolgen, gibt es viele Menschen, die Verschwörungstheorien auf den Leim gehen, weil sie für einen Moment die Erlösung von der Realität versprechen. Ich höre auf einmal von Menschen, denen ich das nicht zugetraut hätte, Fragen wie »Sag mal, glaubst du das eigentlich mit Corona?«. Zwischen den Zeilen nehme ich einen unausgesprochenen Hilferuf wahr: »Ich komme mit dieser Situation nicht zurecht. Das kann doch gar nicht wahr sein, was ich da erlebe. Zwick mich mal. Ich will meine alte Realität wieder!«

Auch ich wünsche mir mein altes Leben zurück: meinen gewohnten Tagesablauf, meinen Blick früh in die Zeitung, die einfach von Ereignissen aus der Politik, aus Kultur und Sport berichtet und mich nicht jeden Tag mit neuen Infektionszahlen begrüßt. Ich sehne mich danach, durch eine belebte Fußgängerzone zu schlendern, Gesichter von Menschen wahrzunehmen, ganz ohne Maske. Ich wünsche mir die vielen Begegnungen mit Menschen zurück, die meinen Alltag ausmachen, Händeschütteln und Umarmungen. All das fehlt mir. Zwischendurch muss ich mich selbst und manchmal auch andere Menschen in meinem Umfeld daran erinnern, dass in meinem »alten Leben« ja auch nicht alles besser war und dass dieses Kreisen um die Vergangenheit eigentlich immer negative Gefühle weckt, selbst wenn ich mich an Schönes erinnere. Immer ist es verbunden mit dem Gefühl, dass ich etwas verloren habe. Die Sehnsucht nach dem »alten Leben« bewirkt vor allem eines: Sie führt mich weg von der Gegenwart, von dem, was ich jetzt gerade sehe und erlebe. Diese Gegenwart ist voller Unsicherheit, aber sie ist nicht nur schlecht. Vor allem ist es die einzige Realität in meinem Leben, die ich jetzt wirklich wahrnehmen und gestalten kann.

Wenn ich mit Freund*innen oder im Kreis der Kolleg*innen alten Zeiten nachtrauere, komme ich mir manchmal vor wie das Volk Israel in der Wüste. Es ist nicht umsonst in unseren allgemeinen Wortschatz eingegangen, sich »nach den Fleischtöpfen Ägyptens« zurückzusehnen. Die biblische Geschichte hinter dieser Redewendung beschreibt die Unzufriedenheit der Israeliten nach ihrem Auszug aus Ägypten. Als sie in der Wüste Hunger leiden, beginnen sie sich nach dem Essen im Land ihrer Unterdrückung zurückzusehnen. Ihren Anführern machen sie schwere Vorwürfe: »Die ganze Gemeinde der Israeliten murrte in der Wüste gegen Mose und Aaron. Die Israeliten sagten zu ihnen: Wären wir doch im Land Ägypten durch die Hand des Herrn gestorben, als wir an den Fleischtöpfen saßen und Brot genug zu essen hatten. Ihr habt uns nur deshalb in diese Wüste geführt, um alle, die hier versammelt sind, an Hunger sterben zu lassen« (Exodus 16,2–3). In ihrem aktuellen Hunger vergessen sie beinahe, dass der jetzigen Unsicherheit die Befreiung aus der Sklaverei vorausgegangen ist.

Für mich persönlich sollte eigentlich der Blick in meinen übervollen Terminkalender vergangener Zeiten genügen, um mir vor Augen zu führen, dass in meinem alten Leben auch viel Unfreiheit steckte. Ich wurde durch das Virus eben nicht aus einer heilen Welt herausgerissen, sondern in manchem auch in eine persönliche Wüste geführt, die nicht nur für schmerzliche Leere, sondern auch für eine neue Klarheit sorgt. Mir werden auch die Augen für das geöffnet, was mich in meinem alten Leben gefangen hielt. Könnte es sein, dass nach der »Wüstenzeit« sogar so etwas wie »Gelobtes Land« auf mich wartet? Damit will ich weder die Phase jetzt schönreden noch will ich mir eine bessere Zukunft herbeiträumen. Aber zumindest will ich mit der Möglichkeit rechnen, die mir die biblische Erzählung von der Wüstenzeit des Volkes Israel ans Herz legt: Die Leere und Verunsicherung, die du jetzt erlebst, ist eine wichtige Phase der Klärung. Es ist eine Durchgangsphase, die aber nicht nur überstanden, sondern gelebt werden will. Es geht also erst einmal darum, wahrzunehmen, was jetzt ist. Dazu gehört auch diese Wahrnehmung: Viele Menschen, mit denen ich arbeite und lebe, sind wie aus meinem Alltag verbannt. Begegnungen finden mit manchen von ihnen nur noch am Telefon, per Mail oder Videokonferenzen statt. Es gibt Phasen, in denen ich mir abends im Fernsehen keine Nachrichten mehr ansehe. Mir tut es nicht gut, kurz vor dem Schlafengehen zu erfahren, dass sich die Welt nur noch um eins zu drehen scheint: um ein Virus, das die Kontrolle über unsere Alltage übernommen hat.

Und während ich noch an meinen alten Gewohnheiten klammere, merke ich, wie schnell ich mich an den Ausnahmezustand gewöhnt habe. Sich nicht mehr die Hand zu geben oder sich zu umarmen, Menschen auf der Straße aus dem Weg zu gehen und sich unzählige Male am Tag die Hände zu waschen, die Arbeit so zu organisieren, dass man sich möglichst nicht treffen muss, all das hat schnell mein Denken und Verhalten umgeprägt. Ich höre mich selbst Sätze sagen, die ich noch vor einem Jahr für Zitate aus einem düsteren Science-Fiction-Roman gehalten hätte: »Wir können uns ja mal zum Essen treffen, wenn es die Behörden wieder erlauben« oder »Meine Corona-App hat mir heute angezeigt, dass ich zwei Begegnungen mit niedrigem Risiko hatte«.

Manchmal spreche ich mit Freundinnen und Freunden darüber, wie es wohl sein wird, wenn Corona vorbei ist. Natürlich wird es wieder einen Alltag geben. Aber wird es einfach wieder so sein wie vorher? Wird es eine Rückkehr ins alte Leben sein? Ich glaube nicht. In meinem Leben wird es eine Zeitrechnung vor und nach Corona geben. Und die Zeit dazwischen wird eine besondere bleiben. Wie werden wir einmal von dieser Zeit erzählen? So wie von dem Tag im Jahr 2001, an dem die Flugzeuge in das World Trade Center in New York rasten? Viele Menschen wissen noch, was sie an diesem Tag getan haben. Und die Welt drehte sich nach dem 11. September anders weiter als zuvor. Welche Geschichten, Bilder und Gefühle werden nach Corona bleiben?

Ich bin mir bewusst: Ich stelle diese Fragen aus einer privilegierten Position heraus. Ich habe das Glück, dass ich bisher noch nie in meinem Leben eine solche Phase weltweiter Verunsicherung und Ängstlichkeit erlebt habe. Es ist kein Verdienst, sondern ein Geschenk, dass ich so lange selbstverständlich mit einem Gefühl grundsätzlicher Sicherheit leben konnte. Das wird mir zum einen dadurch bewusst, dass meine Eltern und andere alte Menschen, die ich augenblicklich erlebe, häufig viel gelassener auf diese Ausnahmesituation reagieren und konkrete Einschränkungen der persönlichen Freiheitsrechte, ja sogar allgemeine Ausgangssperren erst einmal hinnehmen. Einige können das für sich auch bewusst erklären. Sie fangen dann an, vom Krieg oder von der Flucht zu erzählen, von nächtlichen Ausgangssperren oder Monaten, in denen sie wegen des Krieges nicht zur Schule gehen konnten. Eine ähnliche Haltung entdecke ich bei Freund*innen, die in den letzten Jahren auf der Flucht aus ihrer Heimat nach Deutschland gekommen sind. Sie bewegen sich in einer gewissen Souveränität und Selbstverständlichkeit in diesem Ausnahmezustand.

Manchmal beneide ich sie um diese Gabe. Die Psychologie nennt diese Art von Widerstandsfähigkeit »Resilienz«. Es ist der Prozess, der Menschen ermöglicht, sich auf der Grundlage ihrer Erfahrungen so an herausfordernde Situationen anzupassen, dass sie dabei psychisch gesund bleiben. Sie wirken so, als pralle das, was andere überfordere, ein Stück an ihnen ab. Weil sie ihr Verhalten anpassen können, bewältigen sie kritische Situationen besser als jemand, der nicht lernen musste, in Unsicherheit zu leben.

Dabei ist mir bewusst: Nicht alle haben die Chance, diese Widerstandskraft zu entwickeln und die persönlichen Bedrohungen gesund zu überstehen. Für viele Menschen ist längst entschieden, dass ihr Leben nach Corona ein anderes sein wird. Sie haben mit dem Einzug des Virus in ihren Alltag längst die Rückfahrkarte ins alte Leben verloren. Aus meiner Umgebung ist über viele Monate hinweg niemand ernsthaft am Virus erkrankt oder gar gestorben. Meine berufliche Existenz ist nicht in Gefahr. Mein Gehalt fließt weiter auf mein Konto. Für viele andere Menschen, deren Einkünfte weggebrochen sind, die mit Corona ihren Arbeitsplatz oder ihre Selbstständigkeit verloren haben, ist schnell klar, dass nach Corona nicht einfach alles so weitergehen wird wie vorher. Für zahllose Menschen in benachteiligten Ländern oder in Flüchtlingslagern an den EU-Außengrenzen stand schon seit Beginn der Pandemie fest: Es wird kein Danach geben. Sie werden sterben, weil sie keine Chance auf eine angemessene medizinische Versorgung haben.

Und selbst in dem Moment, in dem mit Impfstoffen eine Erlösung nahe zu sein scheint und wieder für einen Augenblick die Hoffnung auf eine Rückkehr in mein altes Leben aufflammt, wird mir bewusst: Auch nach Eindämmung der Infektionszahlen stehen wir immer noch am Anfang einer Phase, von der wir nicht genau wissen, wie sie unsere Welt verändern wird. Aber schon jetzt beginnen wir täglich damit, Geschichten zu leben, die wir später weitererzählen werden. Ja, es sind auch Geschichten von Menschen, die abends auf ihren Balkonen stehen und zusammen mit ihren Nachbarn Lieder singen oder zu einer bestimmten Uhrzeit gemeinsam klatschen, um den vielen, die in medizinischen Berufen für andere da sind, zu danken. Es sind berührende Geschichten von kreativen Ideen, die geholfen haben, die schwierigen Zeiten zu überstehen. Schon nach den ersten Wochen macht sich in manchen Erzählungen und vor allem in privilegierten Kreisen sogar so etwas breit wie eine Art »Corona-Euphorie«. Sie berichten von einer Zunahme an Mitmenschlichkeit, beschwören gar eine Läuterung der Gesellschaft herauf oder sehen den Abschied vom kalten Kapitalismus gekommen. Ich misstraue diesen Narrativen, die sehr schnell aus dem Boden schießen und die mir doch auch nur wieder wie eine Variante von Realitätsflucht erscheinen. Ich will nicht schönreden, was mich überfordert. Und ich will nicht mal eben einer Situation einen Sinn anheften, die Millionen Menschen das Leben kostet, Existenzen zerstört und Menschen ihre Liebsten nimmt. Ich will nicht die Realität verdrängen, in der es eben nicht nur um das Tragen von Stoffmasken oder um den Verzicht auf eine Party geht. Und diese Realität erzählt mir täglich verstörende Geschichten.

Dazu gehört die einer Bekannten, die ihre Mutter über einige Wochen hinweg nicht im Seniorenheim besuchen konnte. Die alte Frau, die vorher schon an Demenz erkrankt war, hat beim direkten Wiedersehen ihre Tochter nicht mehr erkannt. Das Wiedererkennen kehrte auch nicht mehr zurück. »Ich habe meine Mutter in diesen Wochen der Kontaktbeschränkungen verloren, obwohl sie noch lebt«, sagt mir meine Bekannte. Andere erzählen Geschichten vom Sterben ohne Abschied, von Beerdigungen im kleinsten Kreis. Und immer wieder sind es Geschichten vom Verlieren.

Ohne vorschnell dieser neuen Realität einen Sinn anzudichten, ahne ich doch: Es geschehen längst Dinge, die Bedeutung gewinnen für das Leben, das uns nach Corona erwartet. Vielleicht werden wir später einmal davon erzählen, dass sich in dieser Zeit Maßstäbe verschoben haben. So erleben wir schon jetzt zumindest eine besondere Gemeinsamkeit: Es ist die Erfahrung, wie brüchig und gefährdet unsere Gesundheit, eigentlich sogar unsere ganze Existenz ist. Diese Erfahrung bewegt sich jenseits von Meinungen oder gar politischen Konflikten. Sie ist nicht neu, aber für viele Menschen ist sie auf bisher nicht gekannte Weise in ihren Alltag eingebrochen.

Wir erleben, wie Populisten und selbstverliebte Staatsführer, die mit Lügen oder mit der Leugnung von Fakten Politik machen, durch ein Virus bloßgestellt werden. Die neue Realität zwingt zu einer neuen Ehrlichkeit. Und noch etwas wird sichtbar: Das Virus entfacht Diskussionen über den Stellenwert von Begegnungen, von Kultur und Bildung. Auf was können oder wollen wir eine Zeit lang verzichten? Was ist für eine Gesellschaft unverzichtbar? Der Begriff »systemrelevant« gehört schnell zu den aussichtsreichen Kandidaten für das »Wort des Jahres 2020«. Hinter diesem sehr technisch wirkenden Begriff verbirgt sich die Suche nach dem, was wichtig ist und bleibt, wenn vertraute Sicherheiten verlorengehen. Sehr bald wird deutlich, dass Berufe, die bisher schlecht bezahlt und zu wenig beachtet wurden, auf einmal als »systemrelevant« gelten. Die Diskussion um die Arbeitsbedingungen und um den Verdienst von Menschen, die in der Pflege arbeiten, rückt in den Vordergrund.

Die Hoffnung keimt auf, dass sich nach diesem Ausnahmezustand etwas ändert. Und zwar ganz konkret, zum Beispiel in der Frage einer besseren und damit angemessenen Entlohnung der systemrelevanten Arbeit in der Kranken- und Altenpflege. Es sind eben nicht nur die Banken und die florierenden Märkte, die das Funktionieren einer Gesellschaft ausmachen. Maßstäbe können sich in einer Gesellschaft auch wieder verschieben. Und es gibt die Möglichkeit, dass sie aus einer Schieflage wieder in eine Balance finden, ausgelöst durch eine Krise, die zunächst alles aus dem Gleichgewicht bringt.

Meine Hoffnung ist, dass die Geschichten, die von Mitmenschlichkeit und Solidarität erzählen, nachhaltiger sind als Verschwörungstheorien. Denn diese Erzählungen behalten Bedeutung für die Zeit nach der Krise.

Es wird nicht mehr, wie es vorher war. Das begreife ich von Tag zu Tag mehr. Diese Erkenntnis steckt voller Verunsicherungen. Langsam öffnen sich in dieser neuen Realität aber vielleicht Räume für neue Möglichkeiten. Auch wenn es mir noch schwerfällt, mir das vorzustellen. Vielleicht ist es gar nicht so erstrebenswert, einfach nur mein altes Leben wiederhaben zu wollen. Ich will zumindest die Zeit der Verunsicherung nutzen, um das zu entdecken und zu stärken, was für mich persönlich und für das Zusammenleben in der Gesellschaft Bedeutung behalten könnte.

Mir fällt ein Satz ein, der im letzten Buch der Bibel steht und an dem ich mich wie an einer Verheißung festhalte, wenn ich meinem »alten Leben« nachtrauere: »Denn was früher war, ist vergangen. Er, der auf dem Thron saß, sprach: Seht, ich mache alles neu« (Offenbarung 21,4–5).

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