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Gladiatoren auf dem Küchentisch

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Stünde er vor einem Spiegel, würde er dann wohl noch einen jungen Mann in einem alten Körper sehen, so wie er es in den letzten Jahren empfand? Oder sähe er das, was von ihm übrig blieb, das was das Leben hinterließ … nur noch einen alten Mann, der seine innere Jugend verloren hatte, gebrochen, kraftlos, grau und müde, sich nach Ruhe sehnend und das schon mit schlappen 57 Jahren?

Die Badewanne war bisher der letzte Ort um seine Gedanken zur Ruhe zu bringen, sehnsüchtig dahin dämmernd, gleich einem leichten erholsamen Schlaf die sanfte Wärme genießend. Versunken in friedlicher Stille hintreibend, um doch noch einen Hauch Energie zu sammeln, gerade genug für den nächsten Tag. Doch es hatte seine magische Kraft verloren und diente jetzt nur noch einem Zweck, der Körperpflege. Atlantis war versunken, Eden hinter dem Horizont verschwunden. Was für ein Ergebnis eines Lebens, was für ein Jammertal das ihn zwang sich jeden Tag aufs Neue über die alltäglichen Hürden zu hangeln in dem Bewusstsein, dass nur noch seine drei „Mädchen“, Kira, Morgaine und Nana, ihn von dem Schritt abhielten, der ihm immer öfter unausweichlich schien. Die drei Collie Hündinnen, Strohhalme auf vier Beinen, klammern an das, was ihm das Leben noch übrig und lebenswert erscheinen ließ, denn nur sie waren übrig von all den Träumen, Zielen, Wünschen und Sehnsüchten, die er sich so ersehnte und die sein Leben bereichern sollten.

Gedanken, die sein ganzes Dasein ad absurdum führten, Gedanken, die ihn ständig im eisernen Griff hielten. Das Ergebnis eines Lebens, geprüft, gewogen und für zu leicht befunden. Und er stellte sich wieder einmal die Frage, machte es überhaupt Sinn darüber nachzudenken? Machte es Sinn, sich die große Frage zu stellen, wie konnte es soweit kommen?

Woran lag es, sich statt seinen Zielen zu nähern oder sie gar zu erreichen, eben genau das Gegenteil bewirkt zu haben? Machte es Sinn das Risiko einzugehen vielleicht doch zu erkennen, dass er zu schwach für dieses Leben war oder gar psychisch zu labil, um die Zusammenhänge des Lebens zu verstehen? Wäre es vielleicht nicht doch besser gewesen sich jetzt, an dieser Gabelung seines beschissenen Lebens ohne Gegenwehr weiter treiben zu lassen, sich seinem vermeintlichen Schicksal zu beugen und nichts mehr zu hinterfragen, es hinzunehmen so wie es nun mal war und still auf das unausweichliche zu warten?

Oder lag es an den Äußeren, nicht beeinflussbaren Umständen die ihn an diesen Scheidepunkt brachten, an die Weggabelung vor der er jetzt mit gerade mal 57 Jahren stand? Alles nur eine Vermutung oder gar Ausreden, womöglich doch eine Erkenntnis, dass wir unser Leben nicht oder nur zu einem verschwindend kleinen Teil selbst lenken können? Die Aussage, „es gibt keine Zufälle“, nicht mystischer Natur, sondern mehr die logische Konsequenz dessen war, was uns im Leben mitgegeben wurde und daraus resultierend, Entscheidungen immer eine Wirkung hatten, die oft kurzzeitig aber auch viele Jahre auf sich warten ließ, so dass man nicht mehr in der Lage war, gegebenen Falls korrigierend einzugreifen?

Fragen über Fragen, die seine Gedankenwelt füllten, kaum noch Raum lassend für anderes, für schönes, für liebenswertes. Was würde sein, wenn die letzte Bastion gefallen war, der letzte Faden gerissen und auch seine „Mädchen“ von dieser Welt gegangen sind? Reichte die verbliebene Kraft überhaupt noch aus darauf zu warten? Reichte die Kraft danach weiter zu gehen durch diesen Lebens-Dschungel, sich erneut den unerträglichen Schmerz geliebte Wesen gehen zu sehen, aus?

Es würde wohl seine letzte tragende Entscheidung sein, die unaufhörlich näher zu rücken schien und um letztlich doch noch ein wenig Klarheit zu schaffen, keinen Aufschub mehr duldete. Die Entscheidung über Kampf oder Resignation, die Entscheidung endlich zu verstehen, was ihn an diesen Punkt brachte.

Wie also unschwer zu vermuten ist, war sein Lebensweg einer, den man nicht gerade als erstrebenswert erachten möchte. Vielmehr war es ein steiniger und beschwerlicher Weg, der kein Ende absehen ließ. Er stützte diesen Gedanken nicht nur auf Äußerlichkeiten, vielmehr auf das, was ihn letztlich als Individuum ausmachte, sein Seelenleben, das was er fühlte, tief im Inneren. Zum wievielten male schon stellte er sich die Frage, gab es das überhaupt noch, Seelenleben?

War er im Grunde schon lange tot oder bestand Hoffnung und es lichtete sich doch noch einmal der Nebel und das Ende des Weges würde in fahlem Licht am Horizont erscheinen? Dennoch, trotz seiner gefühlten Hoffnungslosigkeit, irgendetwas trieb ihn voran, irgendetwas ließ ihn vermuten, dass es womöglich doch ein wichtiger Abschnitt sein könnte, all seine Gedanken aufzuschreiben. Selbst wenn es letztlich nur für ihn alleine von Bedeutung sein mochte. Die Hoffnung endlich zu verstehen, hinter die Kulissen zu schauen , die Zusammenhänge greifbarer zu machen schien diese Mühe, die Qual der Erinnerungen Wert zu sein. Gab es vielleicht im letzten Moment doch noch einen tieferen Sinn zu erkennen und das letzte Quäntchen Lebenskraft das in ihm gerade noch glimmte, würde womöglich noch einmal neue Nahrung finden? War ein weiterer Strohhalm in Sicht, der leise, kaum hörbare Aufschrei, hoffend auf einen neuen Weg? War die Kraft ausreichend und greifbar, den großen Schritt zu wagen sich seiner Vergangenheit zu stellen, auf der Suche nach dem Warum?

Die Weichen seines doch wohl eher nichtalltäglichen oder vielleicht sogar außergewöhnlichen Lebens, wurden nicht erst im Augenblick der Geburt, sondern mit den pränatalen Ereignissen die sein Leben bestimmen sollten, gestellt. Ihm ging durch den Sinn, dass er womöglich der erste Adrenalin Junkie aller Zeiten gewesen sein musste oder zumindest der jüngste, wohl durch Adrenalin geschädigte.

Ein wahrhaft makabrer Gedanke und er entdeckte den leichten Ansatz eines Lächelns auf seinen Lippen. Was diese Form des Sarkasmus bei ihm zu Tage förderte, der sich immer mal wieder an die Oberfläche drängte, waren Ereignisse die 1957 seine Mutter ereilten. Der Tod ihres Vaters und ebenso der unverhoffte Tod der jüngeren Schwester, während sie mit ihm im 6. Monat schwanger war, ließ unzweifelhaft vermuten, dass sie permanentem Dauerstress, Seelenqualen und unerträglichem Leid ausgesetzt war und ihn somit ungewollt buchstäblich im Adrenalin baden ließ.

Im Bauch seiner Mutter dümpelnd, gleich einem Wurm im Einmachglas gefüllt mit Alkohol zur Konservierung, hielt er trotz aller Widrigkeiten weitere drei Monate unerschütterlich durch, bis er schließlich im Dezember 1957 das Licht der Welt erblickte. Nichts ließ vermuten, dass dies der Anfang eines nicht enden wollenden Martyriums werden sollte, denn alles schien in bester Ordnung. Ein kleines Bündel Mensch, gesund und kräftig bereit für das große Abenteuer Leben, hinein geboren in eine kleine Familie, die bereits mit drei Kindern „gesegnet“ war. Und doch, so könnte man vermuten, waren sowohl die Mutter wie auch alle weiteren Anwesenden nicht wirklich auf seine Geburt vorbereitet. So schien es zumindest aus heutiger Sicht, denn niemand konnte auf die Frage des Hausarztes nach einem Namen für dieses Würmchen, wirklich eine Antwort geben. Welch denkwürdige Situation, die im Grunde tief blicken ließ, dachte er. War diese Tatsache denn nicht schon ein Hinweis darauf, dass diese Schwangerschaft kein freudiges Ereignis, sondern eher das Ergebnis eines „Unfalls“ darstellte und die Geburt letztlich nur dem Umstand zu verdanken war, dass zu jener Zeit eine Abtreibung in diesem gesellschaftlichen Umfeld keine Option darstellte? Schließlich war seine Mutter bereits 37 Jahre alt und zu jener Zeit wohl eher eine spätgebärende. Nun wie auch immer, wofür hatte man einen Landarzt zur Stelle, der kurzerhand dieses Manko aus der Welt schaffte. Klaus sollte er heißen, schließlich war der sechste Dezember und somit Nikolaustag.

Sein Schicksal war besiegelt, zumindest was den Namen betraf und um all dem noch eins draufzusetzen, regte sich bei Vater und Mutter ein Hauch von Kreativität. Also dichtete man dem Namen schnell noch zwei weitere hinzu. Klaus Rudolf Johann, … na wenn dies kein Name war! Zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen, der Kleine hatte seinen Stempel, Großvater und Patenonkel waren namentlich in der nächsten Generation verewigt und somit war jedem Genüge getan.

Die ersten zwei Jahre verliefen ohne nennenswerte Zwischenfälle, wenn man davon absah, dass seine Schwester Ursula, sie war die Älteste seiner Geschwister, bereits schon 16 Jahre und „flügge“, den Kleinen des Öfteren aufgedrückt bekam, besonders wenn sie sich mit einem Bewerber um ihre Gunst buhlend, treffen wollte. Und so kam es wohl auch hin und wieder vor, dass sie auf der Straße darauf angesprochen wurde, ob sie selbst schon die Mutter dieses kleinen Schreihalses sei, was sie wiederum sehr empörte. Immerhin schien diese Situation derart prägend für sie gewesen zu sein, dass sie selbst noch nach 50 Jahren immer wieder und bei jeder scheinbar passenden Gelegenheit dies zur Sprache bringen sollte.

Die eigenen Erinnerungen an seine früheste Kindheit begannen etwa im Alter von drei Jahren, denn in diesem Alter wurden unfreiwillig die ersten wirklich entscheidenden Weichen für sein zukünftiges Leben gestellt.

1960; ein Jahr das in den schemenhaften Erinnerungen mit unsäglichen Schmerzen verknüpft war. Es gab nicht viele Erinnerungen, doch sie sollten bis zum heutigen Tag spürbar bleiben. Und so waren immer wieder Momente der Hypersensibilität in Bezug auf schmerzhafte Geschehnisse, sein ständiger Begleiter. Alles begann in jener Zeit damit, dass seine Mutter eines Nachts aus ihrem erholsamen Schlummer gerissen wurde. (Ja, ja... er war schon ein Quälgeist, könnte man vermuten).

Das Weinen und Jammern konnte ja nur eine feuchte Windel sein und so machte sie sich daran, besagte Windel zu wechseln. Weit zu gehen hatte sie nicht, denn das Kinderbett stand im Schlafzimmer der Eltern direkt am Fußende des Bettes und für schnelle Ruhe musste gesorgt werden, so dass Vater weiterschlafen konnte. Immerhin musste er sehr früh aufstehen, um zur Arbeit zu fahren. Gesagt getan, und nach schneller Überprüfung war die Verwunderung seiner Mutter scheinbar groß, denn der Stofffetzen, genannt Windel, war trocken und sauber so dass man sie hätte als Platzdeckchen benutzen können. Dennoch stellte sich keine Ruhe ein und aus dem Wimmern und Jammern wurde ein Weinen und Schreien. Tja, da stimmte doch was nicht und sogleich stellte sich eine gewisse Unruhe ein, die letztlich zu dem Schluss führen sollte, womöglich doch Rat bei einem Arzt zu suchen. So wurde also sein Namensgeber gerufen.

Schnell wurde der Winzling aus dem Bettchen gehievt und nach unten in der Küche auf den Küchentisch verfrachtet. Im Nachhinein eine wirklich merkwürdige Vorgehensweise, die jedoch im Laufe der Zeit zu einer festen Institution werden sollte. Der Arzt rückte an und nach einer kurzen Untersuchung hieß es, man solle sofort ein Krankenhaus aufsuchen, denn der Landarzt war ebenso ratlos wie der Rest der Familie. Jetzt waren alle Beteiligte wach und kurzer Hand wurde der Kleine in Decken eingepackt und schnellstmöglich in das 14km entfernte Krankenhaus verbracht.

Dort angekommen waren die Fachleute nach der Untersuchung des „Delinquenten“ ebenso ratlos wie auch in der misslichen Lage, sich ihre Ratlosigkeit nicht anmerken zu lassen. Demnach war die Lösung des Problems, Eltern samt Mysterium Namens Klaus Rudolf Johann wieder einzupacken und in das 50km entfernte Kinderkrankenhaus nach Gießen zu überstellen. Um dieser Situation den würdigen Rahmen zu verleihen, schließlich hatten seine kleinen Nierchen ja auch nichts Besseres zu tun, produzierten sie während dessen fleißig weiter Urin, der wiederum das Bäuchlein anwachsen ließ. Damit die besorgten Eltern auch ein wenig mehr Enthusiasmus an den Tag legten, entschloss sich klein Klaus Rudolf Johann den Geräuschpegel noch ein kleines Stückchen zu erhöhen.

Nach einer weiteren guten Stunde kam das Trio schließlich im Krankenhaus an. Die Götter in Weiß waren vorab schon informiert und so wurde hektisch der Kleine in ihre heiligen Hallen gebracht. Wohl nach relativ kurzer Zeit, (in späteren Erzählungen aber erst nach einer gefühlten Ewigkeit), kam schließlich ein Arzt zu seinen Eltern und bereitete sie auf das scheinbar Unvermeidliche vor. »Es scheint ein fast Kinderkopf großer Tumor im Bauchraum zu sein und die Prognose ist eher endlich. er sei wohl schon sehr apathisch aber es würde alles getan was noch möglich wäre «, meinte sinngemäß der Arzt, um sich sogleich umzudrehen und sich wieder dem schreienden kleinen Wurm im Behandlungsraum zu widmen.

Frei übersetzt, …. der Kleine hat wohl ausgeschissen, bereiten sie sich darauf vor, dass er die Nacht nicht überstehen wird. Diese Formulierung mag nun etwas unangemessen erscheinen, doch sie dürfte der unsensiblen Art und Gleichgültigkeit dieses Arztes gegenüber dem Ergebnis seiner Worte wie sie wohl aufgenommen wurden, angemessen sein.

Mit dieser Information ließ man Vater und Mutter zunächst erst mal sitzen, so dass sich die entstehenden Emotionen auch richtig und ungestört entwickeln konnten. Nach einer weiteren guten Stunde dann doch noch einmal ein bahnbrechender Gedanke eines eiligst herbeigerufenen Kollegen, der experimentell auf die Idee kam, es mal mit einem Katheter zu versuchen, denn es könne statt eines Tumors womöglich doch etwas anderes sein, wie beispielsweise eine Verkrampfung des Schließmuskels der Blase. So interessant diese Idee wohl auch gewesen sein mag, verursachte sie erneut ein weiteres Problem, denn es gab keinen Katheter der klein genug gewesen wäre, um in dieses winzige etwas zwischen seinen Beinchen zu passen.

Status Quo wieder hergestellt! …

Es stand wieder auf Messers Schneide und da scheinbar ohnehin alles verloren schien, entschloss man sich einfach weiter zu experimentieren. Es wurde ein dünnes Schläuchlein gesucht, sterilisiert und irgendwie passend gemacht. Rein mit dem Ding und siehe da, es lief … und lief ... und lief … Der Winzling wurde ruhiger und es hatte den Anschein, als würde wieder etwas Leben zurückkehren. Der vermeintliche Tumor wurde kleiner und irgendwann teilte man den fast apathisch wirkenden Eltern erleichtert mit, dass die Ursache kein Tumor, sondern eine Blasenlähmung gewesen sei. Wieder einmal war er der Vorreiter von Herausforderungen, die man bisher noch nicht zu lösen hatte, denn er war der erste Säugling, der in dieser Weise die Ärzteschaft fast an ihre Grenzen brachte. So die Aussage der „Götter in Weiß“.

Über einen Liter Urin lief aus dem mickrigen Bläschen und alles war wieder in Ordnung. Noch schnell eine Blasenentzündung überstehen und es ging nach einigen Tagen wieder ab nach Hause. Nachdem er dieses nachtfüllende Programm und das dazugehörende Martyrium überstanden hatte, wurde dieses Manko zu einer dauerhaften Erlebnisreihe für die nächsten Jahre. Was ihm jedoch erspart blieb, waren die Krankenhausaufenthalte, denn wenn die Schlacht um jeden Tropfen Pipi eröffnet wurde, sollte der Küchentisch grundsätzlich zum Ort des Geschehens werden. Diese Episode war der Auftakt einer Reihe von Erzählungen seiner Mutter in späteren Zeiten. Er selbst hatte natürlich noch keine eigenen Erinnerungen an dieses Unterfangen. Zumindest glaubte er dies eine ganze Weile, als er begann alles zu Papier zu bringen. So unwahrscheinlich dies sein mag, er fing an sich mit jeder Zeile die er nun schrieb, immer deutlicher daran zu erinnern. Zumindest an den Schmerz! Das ganze Szenario war wieder abrufbar und er hatte alles noch einmal deutlich vor seinem inneren Auge. Decken wurden auf den Tisch gelegt, Mutter stand meist seitlich am Tisch, Vater hielt ihm von hinten die Beinchen fest und spreizte sie. Der herbeigerufene Hausarzt fummelte dann mit dem kleinen Katheter hektisch hin und her, bis er endlich dieses Monstrum durch dieses mickrige „Würmchen“ in die Blase eingeführt hatte. Unsägliche Schmerzen empfand er und wenn der Druck der Blase endlich nachließ, riss der Arzt das Ding einfach wieder heraus. Ja, zimperlich war der Herr Doktor nun wirklich nicht. Und so wie sein Erscheinungsbild vermuten ließ, war auch seine Art und Weise mit gewissen Gegebenheiten umzugehen. Er war halt ein großer, grob geschnitzter, forsch wirkender Mann.

Es hatte sich im Laufe der Zeit jedoch eingespielt, dass der Arzt, nachdem er den Katheter gelegt hatte, mit dem Hinweis einfach wieder verschwand, dass seine Eltern auch selbst das Schläuchlein entfernen könnten wenn alles erledigt sei. So also übernahm schließlich Vater diesen Part. Auch er war ein Mann der Tat und erledigte dies selbstsicher und entschlossen mit den Worten, »Du hast ja schon das schlimmste überstanden«, was letztlich nicht wirklich dazu beitrug, seine Angst zu schmälern. Natürlich wurde bei solch „sensiblem“ Vorgehen grundsätzlich eine Blasenentzündung verursacht, die es dann wieder auszukurieren galt.

Die Jahre vergingen und der Kleine entwickelte die Fähigkeit durch verbissenes, mehr oder weniger aufgezwungenes Training, die ständig auftretenden Lähmungen zu meistern. Eine gewisse Routine in Sachen Schmerverträglichkeit und wichtiger, Gelassenheit wenn es wieder einmal so weit war, stellten sich ein, sofern man von Gelassenheit sprechen mochte.

Der Küchentisch wurde wie immer zum Ort der Aktion, der Hausarzt wurde gerufen. Mittlerweile bekam man die richtige Größe für das kleine „Würmchen“ zwischen seinen Beinchen(oder war es womöglich etwas gewachsen?), alles wurde gereinigt und koste es was es wolle, die Pipeline verlegt. Das kostbare „Gut“ abgelassen und Schwups, dann alles wieder rausgezogen. Blasenentzündung ausgeheilt und alles funktionierte wieder für einige Wochen. Immerhin musste sein an den Tag gelegtes Verhalten in diesen Situationen seine Mutter derart beeindruckt haben, dass sie selbst viele Jahre später noch erzählte, wie tapfer und vernünftig der kleine Klaus Rudolf Johann doch war, wenn es wieder in die Küchen-Arena ging.

Und so wie die Gladiatoren mutig zum Kampfe in die heiligen Hallen einmarschierten, so machte er sich mutig auf den Weg zum Küchentisch, um eine weitere Katheter Schlacht zu schlagen (…nur der Beifall fehlte…).Nun, soviel sei angemerkt, es veränderte ihn. Er wurde trotz seiner jungen Jahre ein ruhiges, fast als vernünftig zu bezeichnendes Kind. Er war behütet und vielleicht auch etwas kränklicher oder besser, ein wenig sensibler als andere Kinder in seinem Alter ... aber dies sollte ja nicht wirklich ein Nachteil sein oder? Ob er tatsächlich ein vernünftiges Kind in diesem Sinne war, sei dahingestellt, denn diese Beurteilung und Behauptung seiner Mutter dürfte mehr als subjektiv gewesen sein. Wie auch sollte sie wissen, was wirklich in ihm vorging, wenn es wieder soweit war.

Es heißt, man soll in jeder noch so schlimmen Lage immer nach dem positiven Kern suchen .

Machen wir aus dieser These eine Tatsache und gehen auf die Suche. Nun, wenn er sich diese Zeit, diese Erfahrungen auf der Zunge zergehen ließ, fiel es ihm schwer in all diesen schmerzhaften Erlebnissen etwas Positives zu finden. Dennoch, das Durchhaltevermögen in manchen Situationen war gestählt und wenn es auch seine Zeit brauchte, er fand etwas Positives. Nicht nur, dass er im Erwachsenenalter durch dieses aufgezwungene Blasentraining an der Theke derjenige war, der so gut wie nie den Ort des Geschehens ständig wegen Blasendrang verlassen musste und so der witzigen Behauptung, er habe ein Konfirmantenbläschen, den Boden entzog, nein … schon im Kleinkindalter hatte er es dem Umstand zu verdanken so oft in Krankenhäusern gewesen zu sein, dass er, sagen wir mal auf gewisse Kleidungsstücke sensibel zu reagieren pflegte. Dies alleine war zwar nicht unbedingt als Positiv anzusehen, doch man sollte ja schließlich in die Zukunft schauen. Dies wirkte sich in der Weise aus, dass er sofort anfing zu weinen, wenn er eine Krankenschwester, mehr jedoch eine Nonne sah. Nonnen waren schließlich eine feste Institution in Krankenhäusern, besonders in katholischen.

Als hätte er bereits eine Vorahnung auf zukünftige Zeiten, deren Tragweite er jedoch zu diesem Zeitpunkt nun wirklich nicht absehen konnte, intensivierte er diese Eigenschaft der kompromisslosen Abneigung in der Weise, dass er gegenüber schwarz-weiß gekleideten Frauen, die einem watschelnden Pinguin ähnelten und auf ihn zuliefen, als festen Bestand seines Wesens.

Wie auch immer, diese Tatsache verschaffte ihm letztlich ein Stück Freiheit. Denn das Thema Kindergarten stand irgendwann im Raum und musste angegangen werden. Natürlich hatte man versucht ihn zwangszurekrutieren, doch auf Grund seiner unzähligen „Begegnungen der dritten Art“ und hieraus resultierenden sehr ausgeprägten Stimme, waren seine Schreie für den halben Ort unüberhörbar, so dass ihm dieses Elend „Kindergarten“, letztlich erspart blieb. So also verbrachte er die Jahre bis zur Einschulung zu Hause bei Mutter. Die Tatsache, dass er nur sehr wenig Spielkameraden hatte, stellte für ihn kein wesentliches Problem dar. Er liebte es in sich gekehrt still zu spielen oder auch nur aus dem Küchenfenster zu schauen, um dem täglichen Treiben auf der Straße zuzusehen. Er malte sehr gerne und besonders lange konnte er sich mit dem Hauskätzchen oder auch mit seinen Bausteinen beschäftigen. Die Zeiten zwischen den Blasenlähmungen, in dieser zurückgezogenen Atmosphäre, waren für ihn schöne Momente und so gab es kaum Augenblicke, die für seine Mutter anstrengend gewesen wären. Kurzum, Klein Klaus Rudolf Johann war relativ problemlos. Sich seinen Gedanken hingebend, kam ihm plötzlich die Frage in den Sinn, weshalb er sich nicht ebenso gut an seinen Vater erinnerte und selbst wenn die ein oder andere Erinnerung zum Vorschein kam, warum nur schemenhafte Bilder? So versuchte er seine Erinnerungen noch ein wenig mehr zu intensivieren. Doch auch wenn er sich noch so bemühte, es gelang einfach nicht die Ereignisse mit Gedanken an seinen Vater zu verknüpfen.

 








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